Henry Benrath
Ball auf Schloß Kobolnow
Henry Benrath

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vorspiel: Lunch auf dem Lande

Ich gehe im Winter des öfteren zu meinen Freunden Friedrich und Mechthild von Schönfeld-Wöllendorf, welche ihr Schloß im Osten Deutschlands haben. Ich kann dort in Ruhe arbeiten und bin mir – die beiden Mahlzeiten ausgenommen – selbst überlassen. Ich lege vor dem Schlafengehen einen Zettel vor die Tür, auf dem die Stunde meines Aufstehens vermerkt ist. Man bringt mir dann das Frühstück herauf und bekümmert sich nicht weiter um mich. Gegen halb eins mache ich einen kurzen Gang durch den Park, um eins wird gegessen, um zwei sitze ich wieder an meinem Arbeitstisch, sofern mich nicht eine Schlittenfahrt in das verschneite Land oder ein Spaziergang in bewaldete Hügel lockt. Um acht findet das Abendessen statt, zu dem häufig die Bewohner der benachbarten Landsitze erscheinen. Da ich niemals Bridge spiele, kann ich mich meistens schon sehr früh zurückziehen. Es sei denn, daß ein wenig getanzt wird oder ein Gast eine Unterhaltung den Karten vorzieht. Oft auch werde ich mit meinen Freunden zu einem Diner oder Ball auf ein Schloß in der Nähe eingeladen. Ich bin als Mensch aus dem Westen eine Kuriosität. Der Umstand, daß ich viel in der Welt herumreise und zu allem Überfluß auch noch in Paris wohne, erweckt bei den Landjunkern – besonders bei ihren Frauen – eine Neugierde, die mit einer angenehmen, etwas mißtrauischen Scheu durchsetzt ist. Daß ich weder den Hirsch im wilden Forst, noch die Ente auf dem See 12 schieße, niemals spiele oder trinke (um zu spielen oder zu trinken), würde wahrscheinlich eine heftige Abneigung gegen mich hervorrufen, wenn nicht die Unbedingtheit meiner eigenen Haltung diesen Feudalen gegenüber zu einer deutlichen Achtung vor meiner anderen Art, »Herr« zu sein, zwänge. Ich kann also nirgends besser als in dieser Umgebung, wo man mich anerkennt und gleichzeitig unbehelligt läßt, meiner Arbeit obliegen. Denn ich lebe abgeschlossen und fern von den Erscheinungsformen des Lebens, welche mich unmittelbar angehen und also auch aus der Sammlung schöpferischer Arbeit herausheben könnten. Nur manchmal gibt es eine unerwartete Unterbrechung in der Gleichförmigkeit der Tage: und von einer solchen will ich hier berichten.

 

Eines Morgens – es war im Januar – wurde schon um halb neun an meine Tür geklopft, obwohl ich wegen langer Nachtarbeit erst zehn als Stunde des Weckens angegeben hatte.

– Entschuldigen Sie tausendmal, Henry, sagte die Stimme der Hausfrau vor der Tür, daß ich selbst Sie vor der Zeit wecke, aber ich bin in einer schrecklichen Lage, und Sie müssen mir rasch helfen. Werfen Sie Ihren Schlafrock über, und kommen Sie in Ihr Arbeitszimmer nebenan, wo ich auf Sie warte.

Die Stimme klang wirklich sehr besorgt. Wenige 13 Minuten später stand ich der aufgeregten und blassen jungen Frau gegenüber, welche mit den Fingern auf den Rand meines Schreibtisches trommelte und durch das Fenster in den Rauhreif der Baumkronen starrte, über denen eben die ersten Sonnenstrahlen aufzuckten.

– Stellen Sie sich vor, sagte sie, mir eine Depesche reichend, die Kaatzenstein kommt heute zum Lunch. Sagt sich heute morgen von Rappenfeld aus an – sicher hat sie wieder einmal die Ehe Randow begutachtet – und will uns hier um halb zwei überfallen. Sie macht wieder ihre berühmte Schlittenreise durch das Land und nimmt die Parade über sämtliche Schlösser ab.

– Wer ist die Katzenstein? fragte ich.

– Was, Sie wissen nicht, wer die Fürstin Kaatzenstein ist? Kaatzenstein mit zwei a?

– Was geht mich die Kaatzenstein mit zwei a an, sagte ich. Ich kann doch nicht alle Fürstinnen kennen!

– Sie Glücklicher! Sie kennen nicht die Kaatzenstein! Sie wissen nicht, daß das ganze Land vor ihr zittert? Daß sie die unumschränkte Herrscherin über alle Adelsfamilien der Provinz ist? Daß man verloren ist, wenn man es mit ihr verdorben hat?

– Es geschieht euch ganz recht, daß sie euch tyrannisiert! Warum laßt ihr es euch denn gefallen? Werft sie doch zum Haus hinaus, wenn sie schandmault oder Unfrieden stiftet!

– Die Kaatzenstein hinauswerfen? Ich glaube, Sie haben den Verstand verloren, Henry! Vergessen Sie 14 denn, wo wir hier leben? Vergessen Sie denn, daß ich einen Ostjunker geheiratet habe? Glauben Sie denn, Sie sind hier in Franken oder in Baden oder im Rheinland? Sie sollten wirklich keinen solchen Blödsinn sagen!

– Also gut, Mechthild. Aber was soll denn nun geschehen? Und was sagt überhaupt Friedrich zu der ganzen Sache?

– Das ist doch auch noch so eine Geschichte! Friedrich ist heute morgen schon um sieben auf das Sägewerk Obelnow gefahren. Ich kann ihn dort nicht mehr erreichen, denn er ist schon unterwegs nach Gnadenberg, wo er mit Schütz – Sie wissen: Schütz von der Torfgesellschaft – zu tun hat. Er muß unterrichtet werden. Er muß auch beizeiten zurück. Bei diesen Geschäften wird manchmal im »Goldenen Löwen« getrunken. Sie verstehen? Das darf heute nicht sein! Allmächtiger Himmel! Wenn ich mir nur vorstelle, Friedrich, der wenig vertragen kann, käme angesäuselt zurück! Sie haben es doch erlebt, daß er dann leicht etwas keß wird! . . . Henry! Sie müssen mir helfen! Sie müssen sofort nach Gnadenberg fahren, der Achtzigpferdige wartet schon auf Sie. Sie müssen Friedrich mit hierher bringen und außerdem allerhand Besorgungen für mich machen. Ich kann niemand von den Leuten schicken und auch selbst nicht fahren, da ich hier darüber wachen muß, daß alles tadellos sei!

– Aber es ist doch hier immer alles tadellos! Diese 15 Kaatzenstein kann doch nicht erwarten, daß man ihretwegen Umstände macht, wenn sie sich vormittags um acht auf mittags um eins anmeldet!

– Sie verlangt es aber! Haben Sie eine Ahnung! Also Sie fahren gleich? Ja? Da kommt Ihr Kaffee. Ihre Post lesen Sie im Auto. Und um halb eins sind Sie mit Friedrich zurück? Bestimmt? Denn Sie sollen sich mit dem Umziehen nicht hetzen und auch noch einen Blick über das Ganze werfen.

– Mit dem Umziehen?

– Na selbstverständlich! Sie können doch nicht in kurzen Hosen und Wolljacke vor der Kaatzenstein erscheinen!

– Aber die Kaatzenstein erscheint doch vor uns! Liebste Mechthild, hören Sie: wenn Sie sich jetzt hier abhetzen und auf Ihrer zarten Gesundheit herumreiten, dann reise ich morgen von hier ab. Weil ich nämlich so etwas nicht mit ansehen kann. Weil ich es einfach unwürdig finde! Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, so wäre ich ganz einfach – in Geschäften – nach Gnadenberg gefahren, hätte mit Friedrich gegessen, mir am Nachmittag »Sous les toits de Paris« angesehen und die Kaatzenstein mit ihrem Schlitten auf den Blocksberg fahren lassen!

Mechthild brauste auf.

– Also nun Schluß mit diesem Unfug! Ich weiß besser als Sie, was in dieser Sache sein muß und was nicht. Ziehen Sie sich an und fahren Sie! Ich habe 16 noch in meiner Kinderkrippe nach dem Rechten zu sehen. Schwester Luise klagt wieder über Ischiasschmerzen. In den Nähstuben müssen die frischgewaschenen Vorhänge aufgemacht werden, in der Molkerei muß ich den kommunistischen Halbermann bearbeiten, daß er sich anständig benimmt, den Forsteleven muß ich die nötigen Winke geben, die Kamine in der Halle und in den Galerien sind auszuputzen und einzuheizen, meine beiden Jungen muß ich selbst anziehen, da Fräulein Käthe vor eins nicht vom Zahnarzt aus Siegenfeld zurück sein kann, der guten alten Mamsell muß ich zureden, damit sie den Kopf nicht verliert, wenn sie aus heiterem Himmel heraus den Lunch römisch drei kochen muß, das heißt den Lunch für hohe Gäste . . . Verstehen Sie jetzt vielleicht, wie es mir zumute ist?

– Nein. Aber ich nehme Ihren Zustand und die etwas spießbürgerlichen Gepflogenheiten dieses Schlosses als Gegebenheit . . . Noch eine Frage: geht denn die Kaatzenstein auch in die Nähstuben und in die Molkerei?

– Aber in alles geht sie! weinte Mechthild plötzlich auf. In alles! Und so hinterlistig fädelt sie das alles ein, daß man zum Neinsagen gar nicht mehr kommt! Bis in Friedrichs Schlafzimmer geht sie! Von meinem ganz zu schweigen!

– Geht sie auch in meines?

– Ein Glück, daß Sie die Frage stellen! Tun Sie um 17 Gottes willen diese Bilder von Ihrem Toilettentisch fort!

– Was? Ich werde noch ein paar andere dazu stellen . . .

– Das werden Sie nicht!

– Das werde ich, so wahr ich hier vor Ihnen stehe! Wenn Sie in Ihren Räumen mit der Kaatzenstein nicht fertig werden, so werde ich es bestimmt in den meinen! Bei weitester Schonung meiner Gastgeber! Wir wollen doch einmal etwas Westwind durch dieses Haus wehen lassen!

– Frau Baronin werden von der Konditorei Gelnow in Gnadenberg angerufen. Es ist wegen der Schlagsahne mit Ananas, meldete Anton.

Mechthild ging.

– Anton, sagte ich zu dem Diener, einem niedlichen, aufgeweckten Jungen Berliner Schulung, Anton: Legen Sie meine grauen Knickerbockers zurecht, den hellgrauen Pullover und die Tweedjacke. Dazu die passenden Strümpfe, den einfarbigen dunkelblauen Binder und das weiße Oxfordhemd. Sodann, wenn Sie später hier aufräumen, tragen Sie den kleinen Tisch neben dem Diwan in mein Wohnzimmer. Stellen Sie alle Bilder darauf, die ich Ihnen heraustue. Sie werden das schon schön machen. Sie haben ja Sinn für solche Bosseleien. Ich habe keine Zeit mehr, es selbst zu tun. Ich muß rasch nach Gnadenberg. 18

– Ich weiß schon, lächelte Anton, was hier gespielt wird. Ich freue mich, die schönen Bilder endlich wieder einmal betrachten zu können . . .

 

Während ich, von Eugen, dem Musterchauffeur, gefahren, durch die sonnenüberflutete Winterlandschaft der Kreisstadt Gnadenberg zuflog, las ich die Liste der Besorgungen, die mir Mechthild aufgetragen hatte: Konditorei Gelnow: Schlagsahne mit Ananas und Pralinés. Schuhhaus Esma: die wildledernen Schuhe. Friseur Schmilowsky: der bestellte Puder, zwei Flacons Eau de Cologne 4711, drei Stück Nelkenseife Roger und Gallet. Strumpfgeschäft Seiler: die Strümpfe für die Kinder. Apotheke: die Rezepte für die Schwester Luise und eine Schachtel Schweizer Pillen. Blumenhaus Lobstein: ein Dutzend weißer Nelken, ein Bündel Mimosenzweige, zwei Bündel Narzissen. Friedrich soll sich die Haare schneiden und maniküren lassen. An Mama telegraphieren, daß halbes Reh abgesandt.

Nach der gewissenhaften Erledigung aller Aufträge wollte ich eben in den »Goldenen Löwen« fahren, um Friedrich abzuholen. Als ich aber an der »Eisernen Krone« vorbeikam, wurde ein Fenster aufgerissen und eine Stimme brüllte hinter dem Wagen her:

– Hallo! Hallo! Eugen, halten!

Es war Friedrichs Stimme unter der eben 19 beginnenden Wirkung des Alkohols. – Ich trat in die niedrige, braungetäfelte Weinstube. Friedrich, schlank, schön, rassig wie immer, aber mit gerötetem Gesicht und etwas allzu strahlenden Augen, kam mir entgegen und schloß mich in seine Arme:

– Junge, Junge, mir bleibt die Spucke weg – du in Gnadenberg morgens um elfe und mit meinem achtzig PS – was soll denn das bedeuten? Komm, erzähl, setz dich her, wir saufen eine tolle Marke! Das Geschäft blüht. Ich habe den Schütz an die Kandare genommen, an die Kandare, sag' ich dir. Dreizehn Mille sind glatt verdient.

Ich bin nicht gerne grausam. Ich löste mich aus Friedrichs Arm, sah ihm streng in die guten blauen Augen, schlug ihm mit der Hand auf die Schulter und sagte:

– Komm! Es ist die höchste Zeit! Die Kaatzenstein hat sich bei dir um halb zwei zum Lunch angesagt. Du mußt dir die Haare schneiden und dich maniküren lassen.

– Was? Das alte Aas? Bei mir angesagt? Der ist wohl der Heilige Geist daneben gerutscht! Und deshalb soll ich heim? Wir fangen doch eben gerade an! Der Hauptschlag kommt erst nachher im »Goldenen Löwen« mit Jürgen Schmettow und Wenzel Sellenthin . . . Ich habe sie doch hinbestellt.

– Das ist ganz gleich! Die mögen auf deine Kosten auf dein Wohl saufen. Ich werde dir jetzt einen 20 schwarzen Kaffee bestellen – und dann geht es zum Friseur. Um halb eins müssen wir zu Hause sein. Nicht wegen der Kaatzenstein, sondern wegen Mechthild, die vor Aufregung vergeht.

Selbst wenn Friedrich drei Flaschen Burgunder herunter hatte, genügte der Name Mechthild, um ihn zu sich zu bringen. Um wieviel mehr nun, wo er erst eine geleert hatte: eine Volnay 1921.

– Mechthild, hauchte er . . . ja natürlich, Mechthild.

 

– Wenn es sich nicht um Mechthild drehte, sagte ich zu Friedrich, als wir gegen zwölf im achtzig PS nach Hause rasten, so hätte ich dir geholfen, dieser Kaatzenstein einen Streich zu spielen. Aber die Rücksicht auf Mechthild schließt so etwas aus. Außerdem: ist denn das mit der Kaatzenstein wirklich so schlimm wie ihr es hinstellt. Mir scheint, ihr schüttet da etwas das Kind mit dem Bade aus!

– Die olle Ziege, murmelte der angesäuselte Friedrich, besoffen hätt' ich se gemacht, daß se auf meiner Klitsche liegen geblieben wär' wie 'n Findelkind! Und 'ne Notiz hätt' ich ins Kreisblatt gesetzt, sie wär' im Schnee verschütt gegangen . . . Kirsch kann se nich vertragen beim Kaffee. Aber Cognac säuft se uff Deuwel komm 'raus! Ich hätt' ihr puren Alkohol 'reingepulvert, der ollen Kontrollziege . . . 21

Dann sank er plötzlich in einen leichten Schlummer, aus dem er gerade bei der Ankunft vor dem Schloßportal völlig gesundet und aller seiner Sinne mächtig erwachte.

Mechthild kam uns in der Halle entgegen, wo im Kamin ein mächtiges Feuer aus Buchenwurzeln hochflammte. Sie flog Friedrich an den Hals:

– Gott sei Dank, daß du da bist! Ich habe dir schon ein Bad richten lassen. Anton hat dir schon alles herausgelegt, die gestreifte Hose und den schwarzen Sakko. Entschuldigt mich, ich muß noch einmal rasch in der Küche nachsehen, ob die Cumberland-Sauce nicht mißraten ist. Die Mamsell flucht und wettert, daß die Wände wackeln . . .

Und fort war sie.

– Willst du immer noch behaupten, daß wir hier im Paradies leben? sagte Friedrich, als wir die Treppe hinaufstiegen.

– Allerdings! Was kann ich dazu, wenn ihr es euch selbst zur Hölle macht!

– Hast du eine Ahnung! Lebe du mal hier als Eingesessener und noch in solchen Zeiten! Glaubst du, ich würde mich fügen, wenn ich nicht müßte. Feindschaft mit der Kaatzenstein können wir uns hier nicht leisten. Darin hat Mechthild mehr als recht! Sie hat überhaupt immer recht, verstehst du. Immer! Das weiß keiner besser als ich, wenn ich es ihr auch nicht immer zugeben darf! Ohne ihr Köppchen hätt' ich 22 heute das Ding mit dem Schütz auch nicht gedreht! – Daß du mir keine Zicken bei Tisch machst, hörst du? Und daß du dein freches Maulwerk nicht zu weit spazieren lässest!

 

Um ein Uhr schon versammelten wir uns in der Diele, wo ebenfalls ein großes, offenes Feuer flammte. Ein Entsetzen kam in Mechthilds Züge, als sie sah, daß ich nicht umgezogen war.

– Henry, wollen Sie mir das antun?

– Ja. Ich will euch auf meine Weise ein wenig behilflich sein. Laßt mich nur machen. Ihr wißt ja, wer ich bin.

Friedrich sah nach mir herüber, verschluckte etwas – und las in seiner Zeitung weiter . . . Die Kinder kamen, Franz und Eberhard, in weißen Wollanzügen, von Fräulein Käthe geführt, die ihr Zahnweh heldenhaft unterdrückte. Franz war fünf und Eberhard drei Jahre alt. Franz war blond und dem Vater ähnlich, Eberhard glich der schwarzen Mutter. Beide hatten schon gegessen. Sie sollten nur die Honneurs machen. Nun humpelte auch Schwester Luise aus der Galerie heran. Sie war dick, klein, rund und hatte ein Gesicht wie ein Borsdorfer Apfel. Sie wollte sofort von ihren Ischiasschmerzen berichten, aber Mechthild schnitt ihr einfach das Wort ab:

– Schwester Luise: heute hat niemand Schmerzen. Auch gehinkt wird heute nicht. Ich darf Sie bitten, 23 nachher das Tischgebet zu sprechen . . . Übrigens . . . wo ist Waldmann? Daß mir der Hund nicht ins Eßzimmer kommt! Anton, nehmen Sie ihn in die Küche hinunter.

Auf der Uhr des Schloßturmes rasselte das erste Viertel mit blechernem Schlag. Der Schnee vom Sims des Daches tropfte in der Sonne. Die Nelken, welche die Kinder der Fürstin reichen sollten, dufteten vom Tisch herüber, wo sie zu welken begannen. Friedrich gähnte. Mechthild besah ihre Fingernägel. Anton warf ein paar neue Scheite ins Feuer und sah mich, ohne mit der Wimper zu zucken, an. Mein Blick sagte ihm, daß auch ich mit seiner Arbeit in meinem Zimmer vorbehaltlos zufrieden war. Wir dösten vor uns hin. Es fing an sehr heiß zu werden . . . Da drang gedämpftes Schellengeläut zu uns herauf.

– Sie ist da, sagte Mechthild leise und wandte sich mit Friedrich zur Treppe . . .

 

Nach einigen Minuten wurde von Friedrich und Mechthild ein beigefarbenes Etwas die Treppen zur Diele heraufbefördert, ein nach Eau de Cologne duftendes, blondgefärbtes, verrunzeltes Etwas in einem mustergültigen Tailormade, ein weibliches Etwas mit strengen, hochmütigen Zügen und ungemein lebendigen, listigen Augen, eine Frau, die nun, oben angekommen, das Lorgnon vor die Augen nahm und um sich sah, ohne etwas zu sagen . . . 24

Die Kinder wurden vorgeführt. Sie verneigten sich tief. Eberhard trug den Strauß, Franz ging einen Schritt näher und sprach:

»Fürstin, hochwillkommen, tretet ein,
Unser Haus soll stets das Eure sein.
Möge Gott Euch Glück und Frieden geben,
Kraft, Gesundheit und ein langes Leben.«

Eberhard gab seinen Strauß ab.

– Zu niedlich, sagte die Fürstin. Danke schön, ihr lieben Kinder! Danke schön! Aber Franz, liebe Mechthild, muß noch etwas deutlicher sprechen lernen.

Die Kinder wurden von Fräulein Käthe zurückgenommen. Sie starrten mit großen Augen auf die Fürstin. Eberhard steckte den Finger in den Mund, als ob er weinen wollte, Franz trat hinter Fräulein Käthe . . . Nun kam Schwester Luise heran, in ihrer tiefen Ergebenheit noch kleiner, und machte mit ihrem Ischiasbein einen Knicks, während ihr die Fürstin die Hand zum Kusse hinreichte.

– Schwester Sabine, wenn ich nicht sehr irre?

– Luise, Durchlaucht. Schwester Luise aus Wallenbach in der Uckermark, jetzt von dem Mutterhaus in den Osten versetzt.

– Aus Wallenbach? Ach ja, aus Wallenbach in der Uckermark. Sie arbeiteten doch bei Pastor Göbel? 25

– Ich bin gerührt, daß Durchlaucht sich noch erinnern. Durchlaucht haben doch so viele Menschen kennen müssen . . .

– Ja, viele, viele . . . Liebe Schwester Sabine, Pastor Göbel spricht mir oft von Ihnen, wenn ich in Mecklenburg bin . . .

Das Lorgnon war bei den letzten Worten schon auf mich gewandert.

– Darf ich Euer Durchlaucht unseren Freund Benrath vorstellen, der ein paar Wochen in unserer Winterstille verbringt?

Das Lorgnon blieb auf mich gerichtet. Es ging von den Schuhen zum Kopf und vom Kopf zu den Schuhen. Ich hätte mich verneigt, wäre auch zum Handkuß bereit gewesen – da sich mir aber keine Hand entgegenhob, richtete ich nun meine unbebrillten Augen kerzengerade auf mein Gegenüber, um es mir einmal ganz genau anzusehen. Von oben bis unten und von unten bis oben. Und ich übersah völlig die Hand, die sich mir dann schließlich noch entgegenhob, wie nach langem Besinnen, und in der Luft stehen blieb, da niemand von ihr Gebrauch machte. Schließlich sank sie – einsam und unberührt – wieder an die Tasche der Jacke. Auch das Lorgnon sank nun – –

Die Apéritifs wurden gereicht. Dann meldete Joseph, der erste Diener, daß angerichtet sei. 26

Ich führte die Fürstin.

– Sie sind Sportsmann? fragte sie.

– Nein, Fürstin. Aber es ist angenehm, sich auf dem Land so bequem anzuziehen wie in Sankt Moritz oder Grindelwald . . . Besonders hier, wo soviel Schnee liegt und man soviel durch Wälder spazieren geht.

Wir stellten uns hinter unsere Stühle um den ovalen Tisch, Schwester Luise sagte das Galagebet für besondere Gelegenheiten auf, das dem Lunch römisch drei entsprach:

»Was wir trinken, was wir speisen,
Gabst du, Herr, aus gütiger Hand.
Wolle weiter uns erweisen
Deine Gnade, eh' wir reisen
Heim zu dir ins ewige Land. Amen.«

– Sie sollen eine neue Art Sägemehl auf den Markt bringen, wie ich höre, wandte sich die Fürstin zu Friedrich, als wir uns gesetzt hatten. Gustav Heinichen sprach mir davon. Er meint, Obelnow rentiere sich gut?

– Heinichen meint das immer bei den Werken seiner Bekannten.

– Weichen Sie mir nicht aus. Ja oder nein!

– Mittelmäßig, Durchlaucht.

– Nennen Sie Zahlen!

– Etwa zu zehn bis fünfzehn Prozent.

– Das ist doch unter mittelmäßig.

– Ja eben. Heinichen irrt. 27

– Heinichen ist ein Phantast! Er wollte mir Bernauer Stahlwerke aufschwätzen. Ich sagte ihm: ich unterrichte mich nie so gut wie bei Ihnen. Denn was Sie mir nennen, das kaufe ich ganz bestimmt nie. Haben Sie übrigens gehört, daß Löbichau von dem Juden Rosenberg geschluckt wird? Ich gönne es der Marianne. Sie wird nun einmal lernen, was die Härten des Lebens sind.

– Marianne? Aber wissen denn Durchlaucht nicht, daß sich Marianne gestern mit Rosenberg in aller Stille hat trauen lassen? fragte Friedrich.

– Ist das wahr? schrie die Kaatzenstein.

– So wahr wie unsere Anwesenheit an diesem Tisch. Sie hat durch ein großes gesellschaftliches Opfer ihrem Jungen Haus und Hof gerettet! Man wird sie in unseren Kreisen nicht mehr empfangen – aber man wird sie bewundern müssen.

– Pfui, pfui! Wissen Sie was? Marianne hatte immer diese semitischen Neigungen! Opfer? Daß ich nicht lache! Sinnlichkeit, nichts als Sinnlichkeit! Schwester Sabine: Sie haben sie doch damals gepflegt, als sie das Jagdunglück hatte. Sie müssen doch wissen, daß dieser Rosenberg ihr schon Besuche machte und sogar auf dem Rande ihres Bettes saß.

– Schwester Sabine hat die frühere Gräfin Wehlen gepflegt. Durchlaucht haben meinen Namen einen Augenblick lang verwechselt . . . Schwester Luise ist mein Name. Aus Wallenbach. 28

– Dieser Rosenberg soll in Holland fabelhafte Kautschukgeschäfte gemacht haben. Fabelhafte Geschäfte! Er soll den Kaiser heute noch beraten . . . Ach wissen Sie: wir schicken dem Kaiser dieses Jahr Leberblümchenpflanzen aus unserer Erde. Sie müssen sich beteiligen . . . Mein Schwiegersohn will sie hinbringen . . .

 

Plötzlich, unvermittelt, wandte sich die Fürstin zu mir:

– Haben Sie heute morgen das herrliche Geleitwort von Superintendent Blasius im »Aufrechten« gelesen?

Ich war gerade mit meinem Rehrücken beschäftigt und erschrak fast vor der Nähe der harten, etwas glucksenden Stimme. Ich hob das Gesicht in die Lorgnongläser:

– Im »Aufrechten«? Was ist denn das?

Mechthild wurde bleich, Friedrich verbarg sein Erröten für mich, indem er sein Glas vor das Gesicht hob. Schwester Luise zog mißbilligend die Brauen hoch.

– Sie wissen nicht, was der »Aufrechte« ist? herrschte mich die Fürstin an. Wo kommen Sie denn her, junger Mann?

– Wie wir alle, Fürstin, aus der Mutter Schoß. Der Landschaft nach aus dem Rheinland. 29

– Aus dem Rheinland? Dann mag Ihnen verziehen sein. Diese pflaumenweichen Westmenschen werden nie begreifen, was der preußische Osten bedeutet.

– Ich glaube, Fürstin, man kann den Spieß auch herumdrehen. Man kann auch sagen, daß der Osten keinen blassen Dunst von unserem weiten Lebensgefühl hat. Bei uns würde Frau Rosenberg, erloschene Gräfin Wehlen, noch empfangen werden.

– Sind Sie judenfreundlich?

– Ich habe keinen Grund, judenfeindlich zu sein.

– Haben Sie Einschlag?

– Nicht im geringsten. Ich bin genau so unsemitisch im Blut wie Sie, obwohl wir beide etwas verdächtige Namen haben. Im übrigen: wie will man heute so etwas noch feststellen? Die Menschheit ist bekanntlich sehr alt, sehr, sehr alt. Viel älter als der älteste Adel.

– Ich habe Ihren Namen nicht verstanden. Wie heißen Sie doch?

– Benrath, Benrath aus Köln.

– Benrath . . . Benrath . . . Warten Sie einen Augenblick . . . Warten Sie einen Augenblick . . . Und was sind Sie von Beruf?

– Schriftsteller.

– Mein Gott . . . wie interessant! Mir dämmert etwas . . . Benrath . . . Benrath . . . Ach ja, ich hab's . . . Sind Sie etwa der Benrath, welcher das 30 ganz entzückende Buch über die Schnepfenjagd geschrieben hat?

Friedrich brüllte aus vollem Halse, Mechthild lachte laut auf und warf sich in ihren Stuhl zurück, Schwester Luise, innerlich entsetzt, wahrte die Würde der Stunde, indem sie gesenkten Kopfes weiteraß.

– Verzeihen Durchlaucht diesen Ausbruch, sagte Friedrich, aber der Gedanke allein, daß unser guter Freund der Verfasser eines Buches über die Schnepfenjagd sein könne, ist für jeden, der ihn kennt, so ungeheuerlich, wie es ungeheuerlich wäre, wenn – na, sagen wir, wenn wir beide, Durchlaucht, zusammen hebräisch redeten.

– Aber ich weiß doch bestimmt, daß ein Benrath ein solches Buch geschrieben hat. Ich habe es doch gelesen! Mathilde Larisch hat es mir geliehen, und ich habe mir Auszüge daraus gemacht.

– Sie haben recht, Fürstin, warf ich ein. Ich weiß, daß es einen Vogel- und Jagdschriftsteller Otto Benrat gibt, übrigens ohne h am Ende, auf das meine Sippe (nicht ich) so stolz ist.

– Sehen Sie, daß ich recht hatte! Sehen Sie! Aber wie heißen Sie denn nun mit Vornamen?

– Ich heiße Clemens Henry. Mein Rufname ist Henry.

– So, so. Aber das ist ja ein englischer Name.

– Ganz recht. Es ist der Name meines Paten und Onkels. Dieser Onkel – der Bruder meines Vaters – ist Engländer. 31

– Engländer? Dann kennen Sie wohl England? Dann sprechen Sie wohl englisch?

– Aber selbstverständlich! Ich war sogar einmal auf einer englischen Schule.

 

In diesem Augenblick vollzog sich das Wunder auf Schloß Schönfeld-Wöllendorf: Das welke, überschminkte, überpuderte Gesicht der Fürstin spannte sich, die Iris des listigen grauen Auges bekam einen leichten Glanz, die gekniffenen Lippen blühten ein wenig auf, weil sie sich über den blauweißen Zähnen endlich ein wenig geöffnet hatten, die Waffe des Lorgnons sank klirrend an der goldenen Kette bis fast auf den Erdboden nieder – die ganze Gestalt dreht sich mir zu, und eine fast weiche Stimme sagte zu mir:

I simply love England! I love the English language, I love to talk English. I'm delighted so speak English with you. It changes me all! It makes me so different from what I am here in this country . . .

Eine alte englische Lady aus einem Lustspiel von Wilde hatte zu mir gesprochen. Eine ostdeutsche Fürstin, eine »Aufrechte«, eine Judenfeindliche, eine Wilhelminische hatte das Gesicht wiedergefunden, das sie als Erbteil einer englischen Großmutter heimlich hinter ihrem anderen Gesichte trug. Ein Nichts hatte genügt, dieses Gesicht aus seinem Versteck hervorzuzaubern. 32 Die Dame, die sich nun mit mir in eine lebhafte Unterhaltung einließ, hatte völlig vergessen, wo sie war. Sie nahm von ihrer Umgebung keine Notiz mehr, sie sprach englisch mit mir weiter, als ob niemand mehr außer ihr und mir an diesem Tische säße. Sie lachte, lächelte, kokettierte, plänkelte, schlug mir manchmal mit dem Papierfächer, den sie wegen ihrer Blutwallungen im Gesicht immer bei sich trug, auf die Schulter oder die Wange, sie machte zweideutige Anspielungen und fand, daß ich etwas sehr Englisches an mir habe. Es sei ihr sofort beim Eintritt in die Diele aufgefallen, und ihr Instinkt täusche sie niemals, niemals, niemals.

Friedrich und Mechthild saßen wie im Zuschauerraum vor der Bühne, nicht mehr recht wissend, ob sie wachten oder träumten. Schwester Luise, der diese ganze Geschichte doch etwas zu mulmig wurde, bat um die Erlaubnis, gehen zu dürfen. Ihre Arbeit rufe sie.

– Aber gewiß, meine gute Schwester Sabine, sagte die Fürstin, aber gewiß. Ich liebe Menschen, die sich ihrer Pflichten bewußt sind. Und grüßen Sie mir recht schön den Pastor Göbel, hören Sie? Recht schön . . .

Schwester Luise knickste wieder mit dem Ischiasbein und verschwand als kleine schwarze Kugel durch die Flügeltür. 33

 

– Wir waren gerade bei Ihren Büchern, fuhr die Fürstin auf englisch fort, als Schwester Luise sich aus dem Staube gemacht hatte . . . Ich bin trostlos, nie etwas von Ihnen gelesen zu haben . . . Welche Art Bücher schreiben Sie denn?

– Ach Fürstin, ein Künstler kann über seine eigenen Sachen schlecht aussagen. Es ist peinlich. Aber wenn es Ihnen recht ist, will ich Ihnen einige dieser Bücher zeigen, die ich gerade da habe. Sie sind in meinem Zimmer. Vielleicht erlaubt uns die Baronin, den Kaffee oben bei mir zu trinken.

Mechthild schrak auf.

– Liebes Kind, sagte die Fürstin, indem sie sich erhob, würden Sie uns erlauben, den Kaffee im Arbeitszimmer Ihres Gastes zu nehmen? Ich liebe die Arbeitszimmer von Künstlern . . .

Mechthild sagte leiser als sie wollte – denn Betroffenheit und Angst vor der Fortsetzung dieses Nachmittags drückten ihre Stimme:

– Aber Durchlaucht brauchen doch nur zu befehlen. Selbstverständlich nehmen wir den Kaffee oben . . . Es wird uns eine kleine Abwechslung machen.

– Danke, mein Kind. Sie sind sehr gütig. Überhaupt: es ist reizend bei Ihnen, reizend, reizend. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ich diese Stunden genieße.

Joseph riß die Flügeltüren auf, und unser Zug bewegte sich langsam gegen die Treppe zu den oberen 34 Stockwerken. Ein feiner Geruch von Holzasche füllte die Luft. Das Gold des Nachmittags drängte an die beschlagenen Scheiben.

– Wissen Sie, sagte die Fürstin, während sie an meinem Arme auf die unterste Stufe trat, ich habe berühmte Künstler in meinem Leben gekannt. Ich habe in den Arbeitszimmern vieler Großen halbe Nächte verplaudert. Ich habe Georg Ebers gekannt, der uns die »Ägyptische Königstochter« geschenkt hat. Wildenbruch hat mir aus seinen Dramen vorgelesen. Anton von Werner hat mich zweimal gemalt. Eberlein hat meine Büste gemacht . . .

– Ich fürchte, ich werde Sie dann sehr enttäuschen, entgegnete ich. Denn ich bin sehr verschieden von denen, die Sie mir eben nannten.

– Man soll nicht allzu bescheiden sein, mein Bester, meinte sie, während wir langsam weitergingen . . . Ah, es riecht nach Kaffee! Schon der Geruch belebt! Köstlich! Menschen, welche Kaffee nicht lieben, dürfen nicht in meine Nähe. Friedrich, haben Sie noch den prachtvollen Cognac, den ich im Oktober bei Ihnen trank?

– Er wartet auf Euer Durchlaucht . . .

– Ah, das ist schön, das ist lieb von Ihnen . . . Ar'nt they charming people? flüsterte sie an meinem Ohr, quite charming people? 35

 

Als wir an meinem Wohnzimmer ankamen, schlug uns ein milder Sandelduft entgegen. Anton, das kleine Aas, hatte in aller Eile die Räucherkugel in Brand gesetzt und Feuer im Kamin gemacht. Er hatte den Tisch mit den Bildern in einer geradezu herausfordernden Weise hergerichtet und ihn mit Alpenveilchen und Primeln aus dem Gewächshaus geschmückt. Mechthild erbleichte. Friedrich machte »Fju«, was er immer tat, wenn ihm etwas allzu »doll« erschien.

– Ah, machte die Fürstin, oh – in welche Welt trete ich ein . . . Oh . . .

Und schon stand ihr Lorgnon auf den Bildern, die sich im vollen Licht der Fenster dem Blick der Eintretenden boten . . .

Langes, wollüstiges Schweigen . . .

– Welche köstlichen, sagte die Fürstin, welche köstlichen – sie senkte den Kopf abermals gegen das »Mädchen von Kyrene« und den Apollotorso aus Agrigento, die zuvorderst standen – welche köstlichen Nuditäten . . . Haben Sie schon einmal den Besuch des Pastors Muntermeyer aus Wöllendorf hier oben gehabt? Wer ist denn diese entzückende Frau dort mit dem nackten Rücken?

– Eine Freundin aus Paris. Kennen Sie sie nicht? Josephine Baker . . .

– Um Gottes willen – die Negerin?

– Aber nein! Bezaubernde Mischrasse . . . 36

– Herrlich ! Aber wie kann man . . .! Und wer ist dieser nackte junge Mann mit dem Lendengurt?

– Ein javanischer Tänzer, der Prinz Yatawara . . .

Ganz leise hatte sich Friedrich, der Ablenker, ein Glas Cognac in der Hand, herangemacht. Die Fürstin hob den Kopf wie aus der Luft eines anderen Planeten . . .

– Danke, danke tausendmal, sagte sie und leerte das Glas in einem Zug . . . Fabelhaft . . . Wo bin ich? Berauschung rechts, Berauschung links . . .

– Die Fürstin in der Mitte, ergänzte ich, dem Befehl der Rhythmen gehorchend.

– Aber Henry! rief Mechthild, aber Henry!

– Filou! sagte die Fürstin, während ich sie zum Sofa geleitete . . . Sind denn alle Menschen Ihrer Heimat so – wie soll ich sagen – so entzückend ungezogen?

– Alle! Ich bin noch einer der zahmsten. Deshalb hat mich ja auch Friedrich noch nicht hinausgeworfen!

Die Fürstin ließ sich langsam auf dem Sofa hin. Mechthild goß ihr Kaffee ein. Ich öffnete ein Lederetui und bot ihr eine kleine schlanke Zigarre an, wie sie Damen von Welt jetzt manchmal zu rauchen pflegen. Sie starrte mich an:

– Eine Zigarre? Sie verwechseln mich wohl mit dem verrückten Biest Clarissa Taworska, welche Importen qualmt wie ein Mannsbild und abends einen Smoking und eine steife Hemdenbrust trägt? 37

– Aber eine Zigarette befehlen vielleicht Durchlaucht? fragte hastig Mechthild, von einer tödlichen Angst befallen, das Gespräch könne nun eine wirklich gefährliche Wendung nehmen.

– Danke, mein Kind, jetzt nicht. Aber ich möchte gerne, daß mir dieser ungezogene und mit allen Wassern gewaschene Rheinländer seine Bücher zeigt . . .

Ich holte vier Bände. Ein Versbuch, eine Sammlung von Aufsätzen, ein Buch über Großgriechenland und den satirischen Roman: »Der Segen der Dummheit.« Dieses Buch besah sich die Fürstin zuerst.

– Sie halten also die Dummheit für einen Segen?

– Unbedingt. Ich bin gern mit dummen Menschen zusammen. Sie sind so bequem, so beruhigend. Ich habe auch schon manchmal dumme Frauen ehrlich geliebt. Sie machen unsere Körper so glücklich, so kampflos glücklich . . . Denn sie geben sich so gerne und so süß.

– So . . . Es freut mich, diese mir nicht ganz unbekannte Litanei wieder einmal von berufener Stelle zu hören . . . Sie haben wohl viele Frauen gekannt?

– Oh . . . sehr viele.

– Wie alt sind Sie jetzt?

– Neununddreißig.

– Man würde Ihnen höchstens dreißig geben.

– Ich gebe mir selbst nicht mehr.

– Ich glaube, daß Sie das Recht zu diesem Betrug haben. Noch einen Cognac, liebe Mechthild. Danke. 38 Ein seltsamer Tag, liebe Kinder. Lassen Sie mich weiter diese Bücher sehen.

Sie nahm das Versbuch, das den lateinischen Titel trug: »Nec spe, nec metu«. Sie blätterte. Sie las, verlor sich, versank . . .

Ganz langsam hob sie den Kopf aus den Seiten:

– Solche Verse schreiben Sie? So etwas gibt es heute in Westdeutschland?

– Wie Sie sehen: ja, Fürstin.

– Ein merkwürdiger Tag heute. Ich finde mich nicht mehr recht aus. Es trifft so vieles Gegenwendige aufeinander. Ich möchte beinahe sagen: meine ganze Vergangenheit begegnet sich mit sich selbst. Wollen Sie sehr freundlich sein mit einer alten, kranken Frau? Wollen Sie mir dieses Versbuch schenken?

Ich neigte mich zu ihrer vielberingten Hand, die von langen Gichtschmerzen wissen mußte:

– Ich bin glücklich, es Ihnen geben zu dürfen. Aber ich möchte Ihnen lieber einen schönen neuen Band schenken. Dieser hier ist nicht mehr tadellos.

– Ich möchte gerade gerne diesen, lächelte sie. Die Erinnerung an diese Stunde ist an ihm . . . an diesen Raum . . . an Sie . . .

– Ihr Wunsch ist mir Befehl, Fürstin . . . Ihr Wunsch beschämt mich . . . sehr . . .

Sie senkte die Augen wieder in die Seiten. Ich weiß nicht, ob sie las. Ich weiß nur, daß sie den Kopf gebeugt hielt und daß das Buch auf ihren Knien 39 lag . . . Ich weiß auch, daß sie kurzsichtig war . . . Friedrich rauchte an seiner Brasilzigarre. Mechthild stand neben mir am Fenster und sah in die Bläue über dem Schnee, in die sich langsam ein kaltes Lila legte . . .

 

Im Rahmen der Tür erschien Amsel, der Diener der Fürstin.

– Euer Durchlaucht haben mir befohlen, den Schlitten auf halb vier bereitzuhalten.

– Ich komme. Sind die Wärmflaschen in Ordnung? Die Mäntel angewärmt?

– Es ist alles in bester Ordnung, Durchlaucht.

– Darf ich vielleicht nach Mallinkenau melden lassen, daß Euer Durchlaucht um halb vier Schönfeld verlassen haben?

– Gerne, Friedrich. Und sagen Sie, daß man gut einheize. Man friert sich bei Hermine Masow immer die Knochen aus dem Leib. Ich muß zu ihr, um einmal mit ihr über diese Schweinereien zu reden, die ihr edler Schwiegersohn in Riga gemacht hat. Was? Ihr wißt nicht? Schecks ohne Deckung! Vielleicht kann mein Schwager einspringen, sofern sich Hermine bereit findet, den Forst von Luchow als Pfand zu lassen . . . Saubere Vermittlungen!

Wir gingen zur Treppe.

– Wie lange bleiben Sie noch hier? fragte sie mich. 40

– Noch vier Wochen. Dann muß ich zu Vorträgen nach Westdeutschland fahren.

– Noch vier Wochen? Dann werden wir uns ja noch sehen. Ich komme auf der Rückreise wieder hier vorbei. Darf ich anklopfen, Mechthild?

– Aber Durchlaucht! Welche Frage! Durchlaucht müssen kommen!

– Ja, ja, mein Kind, ich muß kommen. Euer Haus ist im weiten Umkreis das einzige, in dem man atmen kann, weil seine Besitzer Menschen sind! Und Sie, Herr Benrath, Sie sind hier in diesem Land der einzige, der weiß, wie man sich anzieht! Friedrich, Sie sollten wirklich nicht, wenn ich mich an einem solchen Tag zum Lunch ansage, in gestreiften Hosen und schwarzem Sakko erscheinen! Überlassen Sie so etwas doch Generaldirektoren oder vortragenden Räten im Auswärtigen Amt . . . Wollen Sie mich zur Toilette führen, Mechthild, ich möchte mich noch etwas erfrischen.

Friedrich ließ sich die Verbindung mit Mallinkenau geben, ich wartete in der Halle. Als die Fürstin, von Amsel, ihrem Diener, begleitet, wieder zum Vorschein kam, glich sie einer vermummten Lappenfrau. Dicke Pelzgamaschen an den Beinen, einen Pelzmantel über einem Wollmantel, eine Pelzkapuze, die Hände in unförmigen Pelzhandschuhen . . .

Wir brachten sie zu ihrem Schlitten, der wie eine Troika mit drei Pferden bespannt war. Amsel packte 41 seine Herrin in Decken und sah, ob der Koffer auf den Tragleisten fest angeschnallt war. Dann stieg er zu dem Kutscher auf den Bock.

– Ich danke euch, sagte die Fürstin zu Friedrich und Mechthild. Auch Ihnen danke ich, Herr Benrath, und befehle Sie im Sommer zu mir nach Selnau. Sie können bleiben, solange Sie wollen.

– Wenn es die Umstände erlauben, Fürstin, komme ich mit der größten Freude.

– Sie werden dafür Sorge tragen, daß es die Umstände erlauben!

Schon wollten die Pferde anziehen – da rief sie:

– Halt, halt! Amsel: gehen Sie rasch in das Badezimmer der Baronin, ich habe mein Gebiß in dem Glas auf dem Waschtisch stehen lassen . . . Was ist der Mensch ohne seine Zähne!

Amsel verschwand noch einmal im Innern des Hauses und brachte das Gebiß, in Seidenpapier gewickelt, nach wenigen Minuten. Er schob es vorsichtig in die Manteltasche der Fürstin.

– So, sagte sie, jetzt bin ich wieder beieinander! Los!

Der Schlitten glitt im Bogen um das verschneite Rondell und verschwand durch das steinerne Barocktor unter hellem Schellgeläut.

Friedrich sah mich an – Mechthild sah mich an – Keiner sprach ein Wort. Wir schauten schweigend in die eiskalten, basaltblauen Horizonte, gegen die sich eine kupferne Sonne senkte. 42

– Ich danke dir, sagte Friedrich schließlich. Was du uns da Gutes getan hast, muß gefeiert werden. Um fünf steht der Wagen bereit. Wir fahren heute abend nach Augustenburg. Die »Bohême« wird gegeben. Und essen dann bei Helfter. Der Volnay, um den ich heute morgen gekommen bin, wird heute abend getrunken. Aber du wirst dich umziehen, mein Guter! Ich kann ja nun bleiben, wie ich bin.

Und er drängte uns in das Haus.

 

 


 << zurück weiter >>