Henry Benrath
Ball auf Schloß Kobolnow
Henry Benrath

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Als Carlo Sennewitz, der es vor Ungeduld kaum erwarten konnte, seinen Freund Adalbert von Elten als Yvonne Pavart oder Frau Benrath wiederzusehen, mit mir in die Halle des »König von Preußen« trat, geschah uns beiden das Gleiche: wir hatten beim ersten Anblick der Dame, die da auf uns wartete, in einen wundervollen Abendmantel aus Velours de Lyon gehüllt, überhaupt nicht mehr die Empfindung, einer anderen Person gegenüber zu stehen als eben dieser Dame. Und diese Dame – welche natürlich infolge ihrer exotischen und außergewöhnlichen Eleganz die Aufmerksamkeit des gesamten Vestibüls auf sich gelenkt hatte, vom Pagen bis zum Hoteldirektor, vom Kind bis zur Matrone – begrüßte uns mit einer Grazie, einer Zurückhaltung und leichten Koketterie, als ob sie in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan habe, als auf Herren zu warten und sich von ihnen in Empfang nehmen zu lassen. Die Unterhaltung wurde sogleich auf Französisch geführt – Madame erbat sich einen weiteren schweren Gin-Cocktail, nachdem sie eben ihren ersten geleert hatte, musterte sich in einem emailleumrahmten Spiegel, den sie ihrer goldenen Handtasche entnahm, schien zufrieden, kreuzte die blassen, ringbeladenen Hände über den Knien und warf uns aus glühend schwarzen Augen, denen Atropin ein zweites Feuer über das ursprüngliche gelegt hatte, lange Blicke zu. Sennewitz war nicht nur erstaunt, er war betroffen, ja fast verwirrt . . . 206

– Wie ist das nur möglich? flüsterte er, die Blicke nicht von der zauberhaften Frauengestalt lassend, die da vor ihm saß – wie ist das nur möglich?

– Ja, Carlo, du hast recht. Ich verstehe selbst nicht, wie das möglich ist, sagte Adalbert. Ich habe fast Angst vor mir selbst!

– Holla hopla, sagte ich. Das fehlte gerade noch, daß wir hier psychoanalytische Erwägungen anstellen! Hier wird ein Scherz gemacht – – und um halb zwölf heute abend ist alles aus! Der zweite Cocktail und der nachfolgende Champagner werden schon ihr Nötiges tun! . . .

Sie taten es – und als kurz vor halb neun Yvonne Pavart, von Eugo und Laura an der Dielentür empfangen und vorwärts geleitet, vor den Ballgästen erschien, war sie so sehr mit ihrer Rolle verwachsen, daß eine wahre Woge des Entzückens über die Herzen schlug. Nein: das hatte man bestimmt nicht erwartet . . . Das übertraf alles, was man sich vorgestellt hatte.

– Und das nennt Ihre Frau ein kleines Abendkleid? flüsterte mir Gerda von Tuch ins Ohr – –

Die Männer aber waren eingeschüchtert. Sie waren auf Bühnenaufmachung gefaßt gewesen – und fanden sich einer großen Dame gegenüber, von der sie die kaum überschreitbare Kluft der fremden Sprache trennte. Der Leutnant Bormuth, welcher noch eben ganz im Bann der einfachen und etwas deutlichen Reize Frieda Äscherischs befangen gewesen war, schien aus 207 allen Wolken gefallen und ganz bedenklich in seinem Unwiderstehlichkeitsbewußtsein erschüttert, Elsenburg hatte die Brauen hochgezogen und den Zeigefinger zwischen die Lippen genommen. Bentok starrte aus fast erschrockenen Augen auf das fremde Wesen, das man eben gerade mit der Fürstin bekannt machte.

Die Fürstin, durch mich in das Spiel eingeweiht und von dem gesamten Plane begeistert, hatte ihre huldvollste Miene aufgezogen. Sie stand auf den Arm der Gräfin Woltersthal gestützt und lächelte zu Yvonne nieder, die ihr die Hand gab.

– Donnerwetter, hörte ich Heinrich Mottau in einer vor mir stehenden Gruppe sagen: sie hat keinen Knix gemacht und keinen Handkuß gegeben!

Die Kommentare der Familie Gericke wurden mir von Mechthild von Schönfeld berichtet. Sie mußten ungefähr so gewesen sein:

– Sieh doch nur diese Toilette, sagte die Pastorin zu ihrem Gatten. Wie streng! Es ist kaum etwas zu sehen, nicht einmal im Rücken halb soviel wie bei uns!

– Das Kleid ist wunderbar, sagte der Pastor, sehr vornehm . . .

– Letzter Chic, sagte die Witwe Malrisch. Ich habe ein ähnliches Modell in der »Dame« abgebildet gesehen . . . Es ist ja im Grunde ganz einfach: Ein kirschrotes Unterkleid – es sieht mir fast aus, als ob das ganz weite orientalische Hosen wären – schwarzer Tüllüberwurf mit zwei eingewobenen Schmetterlingen, 208 und leichter Goldbrokatumhang mit langen, fallenden Ärmeln . . . Das schönste am Ganzen ist der kirschrot ausgefütterte Kragen am Umhang. Seht doch nur mal, wie das gegen den Hals steht, wie das den Kopf und das Haar herausbringt I

– Wie ist sie denn eigentlich frisiert? fragte die Pastorin, den Hals reckend.

– Sie trägt einen einfachen Knoten im Nacken, sagte Gericke.

 

– Es ist phantastisch, sagte Laura zu Adalbert, als wir uns an unserem Mitteltisch niedergelassen hatten, wie Sie sich in diese Rolle hineingefunden haben. Nicht der Hauch eines Verdachtes ist aufgekommen. Aber die Herren sind alle etwas befangen. Sie hatten sich das anders vorgestellt.

– Und die Damen auch, sagte Michael. Mit dem Naserümpfen ist es nichts geworden. Ich fürchte sogar beinahe, daß vor der Enthüllung das Fest nicht so ganz in die Ausgelassenheit emporwirbeln wird, die man ihm wünschen sollte . . .

– Das schadet nichts, antwortete ich. Je ruhiger es in seiner ersten Hälfte verläuft, desto wilder wird es in seiner zweiten werden. Man muß immer darauf bedacht sein, daß die Steigerungen nicht zu früh kommen.

– Aber auch nicht zu spät, sagte Adalbert. Es wäre mir viel lieber, der Scherz ginge schon um elf zu Ende. 209 Ich werde von zehn bis elf doch die Beute all dieser Männer sein – und eine Stunde genügt mir.

– Sie werden keineswegs die Beute dieser Männer sein, sofern Sie ihnen nicht besondere Avancen machen, sagte Michael. Sie sind zu sehr entfernt. Sie sind zu fremdartig. Sie werden viele Wünsche aufsteigen lassen: aber die Aussichtslosigkeit ihrer Erfüllung wird die Unternehmungslust hemmen. Vielleicht bei einem nicht: bei Bormuth.

– Richtig erkannt. Er hat mich schon um einen »recht langen Tango alten Stils« gebeten. Auch hat er gefragt, wie lange ich noch in Augustenburg bleibe und sich mir zur Verfügung gestellt, falls ich etwas nötig habe.

– Und was haben Sie geantwortet? fragte Laura.

– Was sollte ich antworten? Sie sind sehr freundlich, habe ich gesagt.

– Und was haben Sie sich gedacht? fragte Michael.

– Darüber, mein Lieber, schweigt des Sängers Höflichkeit.

Permettez-moi, Madame, sagte Michael ziemlich laut, als er bemerkte, daß man unseren Tisch zu beobachten anfing, de boire à vos inexprimables charmes et à votre beauté troublante!

Ah, oui, troublante! entgegnete Adalbert. A quoi est-ce qu'elle me sert, tant qu'on ne s'en sert pas!

– Eigentlich doch schade, meinte Michael, daß der Bormuth nicht an diesem Tische sitzt! Es gäbe ein köstliches Experiment zu machen . . . 210

– Besser nicht, meinte Adalbert. Es könnte zu meinen Ungunsten ausgehen . . .

Laura hatte uns nicht zugehört. Sie schaute – wie hingebannt – nach dem Tische Giselas . . . und mußte gerade entdecken, daß Alexander von Renken seine Hand auf diejenige Giselas gelegt hatte. Ein leichtes Zucken ging durch Lauras Gesicht.

– Was ist? fragte Michael.

– Nichts . . . Die Jugend scheint schon sehr den Sekt zu spüren! Es ist vielleicht doch nicht gut, daß ich Henrys Rat gefolgt bin und nur Champagner gebe . . . Was macht eigentlich Blanche da oben an ihrem Tisch? Sie kommt mir immer noch etwas blaß vor . . . Und auffallend still . . .

Sie suchte Blanches Blick zu erhaschen. Vergebens. Blanche schien der Unterhaltung ihrer Tischgesellschaft zu folgen, ohne selbst daran teil zu nehmen.

– Unser Tisch ist nicht sehr fröhlich, sagte plötzlich Adalbert.

Laura schreckte auf.

– Wieso nicht fröhlich? Schließlich muß man ja auch einmal in Ruhe etwas essen und sich seinen Gedanken überlassen können. Wir haben ja alle, so wie wir hier sitzen, heute schon manches geleistet . . . Wollen Sie eigentlich morgen mit zu Schwennemanns gehen? wandte sie sich an Michael.

– Aber ich denke nicht daran. Sie wissen, daß ich schon ein Fest wie das heutige nur bis zu dem Grad 211 ertrage, den mir die Übersättigung mit ähnlichen Dingen aus meiner Kavalleristenzeit noch gestattet. Um Mitternacht versage ich. Da hilft kein Gott. Und seit ich in meiner polnischen Einsamkeit lebe, ist das Bedürfnis nach zeitiger Ruhe noch viel stärker geworden.

– Und Sie wollen auch heute nicht eine Ausnahme machen? fragte Laura.

– Wenn Sie es mir erlauben, möchte ich mich gerne nach der Entlarvung Madame Pavarts zurückziehen. Von Ihnen habe ich ja doch heute abend nichts mehr. Sie sind heute Eigentum aller. Je besser ich mich heute ausschlafe, um so frischer werden Sie mich morgen finden.

– Ich erlaube Ihnen, was Sie wollen, lieber Freund, lächelte Laura. Aber dieses Lächeln war so müd und so fern, daß selbst Adalbert, der die Zusammenhänge weder kannte noch kennen sollte, erstaunt aufschaute.

– Ich habe, fuhr sie fort – seit ich Henry kennen lernte und in seine Schule gegangen bin – immer nur das Gesetz der Freiwilligkeit anerkannt.

– Auch angewendet? fragte ich . . .

– Man kommt am weitesten damit, sagte Adalbert.

– Wissen Sie das auch schon?

– Ja, Laura. Ich weiß es ohne die Schule Benrath. Jeder weiß es, der auf vieles verzichtet hat, sofern er den Mut hat, aus seinen Enttäuschungen die nötigen Schlüsse zu ziehen. 212

– Allerdings, ergänzte Michael. Die gesamte westeuropäische Erziehung ist falsch. Man bläut uns, wenn wir jung sind, Forderungen an das Leben ein, zu denen uns nichts berechtigt. Und man überschätzt ganz außerordentlich die Tatsache, daß einer jung ist. Man wird eine gewaltige Schwenkung machen müssen. Es ist nicht einmal nötig, so sehr die persönlichen Freiheiten zu beschneiden. Aber es ist unerläßlich, das Täterische ganz bedeutend geringer zu bewerten.

– Ist es schon lange her, daß Sie diesen Weg nach China angetreten haben? fragte Adalbert.

– Ich habe keinen Weg nach China angetreten. Ich bin nur eine Straße gegangen, die ich in mir selbst entdeckte.

– Und die Straßen, die unerbittlichen, welche uns das äußere Leben vorschreibt? fragte Laura, ihre Hand auf die Solduans legend und ihn ein wenig von unten ansehend . . .

– Kreuzen sich niemals mit denen, von denen soeben die Rede war.

– Darüber, Michael, werden wir morgen noch sprechen. Von jetzt bis Mitternacht bitte ich Sie alle, den Gedanken Urlaub zu geben.

Sie leerte ihr Glas und winkte dem Diener, der es wieder füllte. 213

 

Schon einige Minuten vor der angesetzten Zeit konnte man sich vom Tisch erheben. Da das Fest für Gisela gegeben wurde, hatte Eugo – sich dem fast fordernden Wunsche seiner Tochter fügend – keine Rede gehalten.

– Räumen wir doch endlich einmal mit diesem Schwindel auf, hatte Gisela gesagt. Die Jugend will tanzen, aber nicht angetoastet werden. Und auf die Madamen kommt es diesmal nicht an.

Der Kaffee und die Liköre wurden in der Halle, im Musiksalon und im gelben Salon gereicht. Die Spieltische waren, wie man es vorgesehen hatte, im Billardzimmer aufgestellt: zwei für Skat und zwei für Poker. Aber man konnte keine besondere Neigung der Herren feststellen, sich schon vor Beginn des Tanzes zurückzuziehen: es wollte sich niemand entgehen lassen, Yvonne Pavart mit Michael den Ball eröffnen zu sehen.

– Polen und Frankreich werden diesen Ball eröffnen, sagte die Dorwall zu Friedrich, und absichtlich so laut, daß ich es hören mußte.

– Nein, entgegnete Friedrich scharf: eine Dame, die Deutsche geworden, und ein Herr, der Deutscher geblieben ist, werden vielleicht zusammen tanzen.

Es wurde keine zweite Polonaise gegangen. Die Klänge des ersten Englischen Walzers ertönten . . . Ganz allmählich nur sah man die Paare der Musik folgen . . . Michael und Yvonne dachten nicht daran, einen »Ball zu eröffnen«, Laura wollte nicht tanzen, 214 die älteren Paare waren an den fremden Rhythmus nicht gewöhnt, und wer sich von den jüngeren nicht ganz sicher fühlte, versuchte es mit Bostonschritten . . . Plötzlich aber waren Yvonne und Michael unter den Tanzenden . . . plötzlich beherrschte eine rotgoldene Toilette alle lichten und duftigen Kleider, plötzlich die unnachahmliche Haltung eines Großen Herren die allzu betonte Freude an der Bewegung, welche das Tanzen der männlichen Jugend kennzeichnete . . .

– Donnerwetter, rief Elsenburg von der Türe des Tanzsaales aus in den Musiksalon nach rückwärts, kommen Sie doch mal her! Das muß einer gesehen haben . . .

Und alle ließen ihre Kaffeetassen oder Likörgläser und drängten sich in die Türöffnung des Tanzsaales . . .

Mit großen, stillen Schritten und vielen, ruhigen Halbdrehungen, tanzten Michael und Yvonne im Kreise an der Wand hin, die Mitte des Saales vermeidend. Sie tanzten, als ob sie ihr Leben lang nichts anderes getan hätten. Sie tanzten so vollkommen, daß der Rhythmus ihrer sicheren, ebenmäßigen Bewegungen wieder in den Kapellmeister zurückschlug, ihn begeisterte, anfeuerte und sich den anderen Spielern als dunkler Zwang auferlegte. Die traurige Süße der Musik war fast schon zur Beklemmung geworden, das Crescendo und Decrescendo der Taktführung mußte die weniger gewandten Tänzer verwirren, die guten aber 215 geradezu verzaubern. Die Zuschauer waren fast verstummt. Sie waren ganz Ohr und ganz Auge . . . Immer weniger Paare drehten sich noch . . . Und schließlich waren es Michael und Yvonne allein, die dahin glitten, als ob sie Zeit, Ort und alle Anwesenden vergessen hätten. Die Musik wollte und wollte nicht schweigen – die Tänzer konnten sich nicht mehr aus dem Bann der Rhythmen lösen. So wurde aus einer doppelten Notwendigkeit eine doppelte Vollkommenheit – – und der Abend hatte seinen neuen und entscheidenden Auftakt bekommen. Als dann schließlich der Kapellmeister den Geigenbogen senkte, als Michael seine Tänzerin in einem zögernden Knieschritt gegen sich heranholte und mit ihr fast vor der Tür zum Musiksalon stehen blieb, gab es unter den Zuschauern keine Zurückhaltung mehr. Das in sich Schöne hatte gesiegt.

Nur der alte Mediumbeschwörer Rumpler, der in Begleitung seiner drei Schwestern auf mich zukam, pfiff durch die dünnen, senilen Lippen – sss – sss – sss – und sagte, während er die Brauen über den erloschenen Augen hochzog:

– Wissen Sie . . . wissen Sie . . .

Weiter kam er nicht. Und was er eigentlich hatte sagen wollen, das ließ sich kaum erraten.

Er sah mich an – sss – sss – sss – und segelte mit seinem Gefolge davon.

Yvonne nahm meinen Arm und zog mich abseits: 216

– Bitte sorgen Sie dafür, daß jetzt Foxtrots und Steps gespielt werden, damit ich mit keinem von diesen Männern zu tanzen brauche. Ich werde jede Aufforderung zu diesen Zweivierteltakttänzen ablehnen. Und dann bitte richten Sie alles so ein, daß das Spiel um elf Uhr aufhört.

– Fühlen Sie sich unsicher?

– Nicht im geringsten. Aber Rollen, die man spielt. dürfen nicht zu lange dauern!

– Also ich werde für die Erfüllung aller Ihrer Wünsche Sorge tragen . . . Ich überlasse Sie nun Michael und den anderen Eingeweihten. Ich werde in den gelben Salon gehen. Dort oder auch in der Halle, werden Sie mich finden, falls Sie mich brauchen.

– Was mache ich nur mit diesem Bormuth? Der Mann frißt mich ja geradezu mit seinen Blicken auf . . . Oder meinen Sie, er riecht Lunte?

– Ach was! Halten Sie ihn hin, versprechen Sie ihm einen Tanz nach elf Uhr . . .

– Ich möchte überhaupt höchstens noch zweimal tanzen, und zwar mit Sennewitz: einen Tango und einen Paso doble . . .

– Ich lasse die Tänze in zehn und in zwanzig Minuten spielen . . .

Leute kamen auf uns zu . . . Ich küßte Yvonne lange die Hand . . . Dann die Stelle, wo der Puls schlägt . . . Sie lächelte mir in die Augen . . .

Donc, ma chérie, à tout à l'heure! 217

A tout à l'heure, sagte sie und wandte sich zu Mechthild, Friedrich und Michael, die sie mit sich fortnahmen.

Ich ging in den Musiksalon hinüber, wo sich um die Fürstin eine Gruppe gebildet hatte. Die Dorwall hielt mich an der Tür an:

– Wollen Sie uns denn nicht auch einmal einen Tanz mit Ihrer Frau vorführen?

– Nein, Baronin. Ich tanze niemals mit meiner Frau.

– So . . . Na, Sie werden wissen, warum . . .

– Aber warum machen Sie uns eigentlich nicht das Vergnügen, einmal mit dem Baron Dorwall einen Tango zu tanzen?

– Das könnte Ihnen so passen, was?

– Weniger mir als einigen anderen Anwesenden . . .

– Zanken Sie sich denn schon wieder? fragte Schwennemann, während er zu uns trat.

– Nein, Herr von Schwennemann. Wir haben nur die Formel für unseren Verkehr gefunden, sagte ich.

Die Dorwall wurde von Meyenburg zum Tanzen geholt.

– Erlauben Sie mir eine Bemerkung, sagte Schwennemann: binden Sie sich nicht mit der Dorwall an. Sie ist eine tüchtige Person – aber ein verdammtes Miststück. Auf wen sie's gepackt hat, dem brockt sie die unangenehmsten Dinge ein. Sie vergißt nichts und trägt alles nach. 218

– Na–meinen Segen hat sie. Soll sie mir ruhig etwas einbrocken! Sie würde – am Ende – diese Suppe selbst auslöffeln müssen. Die Welt ist groß, der Kreis Augustenburg ist klein.

– Da haben Sie allerdings recht. Übrigens: ich muß mich ja noch bedanken bei Ihnen: Sie haben mir vorhin fabelhaft aus der Patsche geholfen, als ich in meiner Tapsigkeit vor Dritten die Frage an Sie richtete, ob Sie – er dämpfte die Stimme – ob Sie Bolschewistenführer kennen. Ich will die Frage auch hier nicht wieder aufrollen, denn wir können ja jede Minute gestört werden . . . Und dann: glauben Sie mir auch darin: diese Junker sind mißtrauisch – mißtrauisch, was das Zeug hält. So, wie eben alle Bauern. Immer wittern sie bei Leuten unserer Art ein Geschäft, das auf ihre Kosten geht . . .

– Aber lieber Herr von Schwennemann: was sollen sie denn bei mir schon für ein Geschäft wittern?

– Was? Haben Sie 'ne Ahnung! Die Leute halten Sie für den gerissensten Businessman, den man sich denken kann. Von Kunst und Künstlern haben die doch keine blasse Ahnung. Kunst: so nebenher, verstehen Sie? 'Ne Laune, 'n Sport, 'n Mäntelchen, das man sich umhängt, 'n Etikett, das man sich aufpappt, um das wahre Gesicht zu verbergen. Aber auch das kann Ihnen ja schließlich wurscht sein. Sie werden ja Ihre Tage nicht im deutschen Osten beschließen wollen – und sich voraussichtlich ja auch hier keine Klitsche kaufen, 219 selbst wenn Sie sie – demnächst – um 'n Bachinnem bekommen können . . .

– Nein, das werde ich allerdings nicht.

– Na sehen Sie! Also jetzt hören Sie mal: Wie lange sind Sie denn noch im Lande?

– Ein paar Tage noch. Ich muß nach dem Westen, und die Abreise läßt sich nicht verschieben.

– Könnten Sie am nächsten Dienstag mit Bentok und seinem Bruder Martin – Martin Bentok, Eisen und Kupfer – bei mir zu Mittag essen? Und ließe sich dann nicht einmal über die Möglichkeit sprechen, durch Ihre Beziehungen zu prominenten Russen selbst Verbindung mit diesen Leuten zu bekommen? Wir müssen ins Russengeschäft, Herr Benrath, wir müssen hinein! Es sind da Riesenaufträge bei den beiden Bentoks eingegangen. Aber wir wollen Sicherungen. Glückt das Geschäft, werden wir uns nicht lumpen lassen . . . Und wenn Sie sich beim nächsten beteiligen wollen, steht dem nichts im Wege . . .

– Sie überschätzen ganz gewaltig meinen Einfluß, Herr von Schwennemann. Ich will gerne kommen und mir die Sache anhören, will auch gerne mit einem mir bekannten Herrn der Außenhandelsstelle reden. Aber ich verspreche mir keinen Erfolg in dem von Ihnen gewünschten Sinne. Allerdings wüßte ich – möglicherweise einen Umweg über eine Wiener Stelle.

Schwennemanns Augen blitzten auf:

– Über Wien, sagen Sie? Fängt der Name mit P an? 220

–Ja.

– P. A. L.?

– Ja.

– Donnerwetter! Wenn Sie das vermitteln könnten! Das würde ja noch ganz andere Aussichten eröffnen . . .

– Sie meinen doch den Bruder des P. A. L. in der Tschechoslowakei?

– Heiliger Bimbam! Mir wird ganz mulmig . . . Das müßt' ich dann vorsichtig im Handelsteil der Zeitung vorbereiten lassen . . . Aber machen Sie um Gottes willen keine Andeutung hier im Hause. Zu keinem Menschen. Auch nicht zu Eugo! Es geht da nämlich noch um ein Holzvermittlungsgeschäft, an dem sich glatt 'ne halbe Million verdienen ließe, wenn . . . ja wenn . . . Hören Sie, Herr Benrath: das mit Wien müssen Sie drehen . . . bestimmt? Ja? Aber noch einmal: keine Silbe, kein Sterbenswörtchen hier im Haus . . .

– Für wen halten Sie mich denn?

– Entschuldigen Sie. Das war mir so herausgeschlüpft. Wissen Sie, bei meinem Temperament! Sehen Sie, diese Leute hier . . . na, Sie wissen doch, wie der Landadel denkt. Brave, prächtige Leute! Nichts weiter dagegen zu sagen. Aber von gestern. Hoffnungslos von gestern. Passé. Völlig passé. Keinen blassen Dunst vom heutigen Geschäft. Man muß mit den Wölfen heulen, wenn man unter ihnen wohnt, aber seine Geschäfte muß man auch machen! Ganz egal, wo. Wovon soll'n 221 der Ofen rauchen? Und es gibt ja schließlich noch andere Fragen als die landwirtschaftlichen.

– Das läßt sich für Deutschland wohl behaupten. Schwennemann versank in Nachdenken.

– Wissen Sie, sagte er nach geraumer Zeit, ich werde doch vielleicht auch noch Eugo bitten. Er ist ein heller Kopf. Es sind da Rechtsfragen. Ein vorzüglicher Mann? Was?

– Ein ausgezeichneter Mann!

– Es freut mich, daß Sie das auch sagen. Ich muß den guten Eugo hier manchmal verteidigen. Er ist den Heißspornen nicht scharf genug. Er ist ihnen nicht preußisch genug! Sie hätten mal hören sollen, was es da neulich für Debatten gab bei dem Jagdessen der Fürstin Ponim! Gezecht haben sie wie die Schweden – und dann ging's los. Heinrich Mottau war wie aus Rand und Band! Schreit den Eugo an, er sei entweder ein halber Polacke, wie ja auch sein Name beweise – oder er paktiere innerlich mit dem faulen deutschen Westen. Westen, Westen, brüllte er, Westen her, Westen hin. Ab dafür, wenn's nicht anders geht! Aber Preußen, das alte preußische Kernland, das muß gerettet werden! Das wird, wie schon einmal, die Ordnungszelle eines ganz neuen Deutschlands! Und wenn es nur Preußen bleibt: auch gut, auch gut . . . Dann weiß man doch, woran man ist! Jawohl, Herr Benrath! Da sperren Sie Mund und Nase auf? Was? Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich . . . 222

– Aber das ist doch ein Ausnahmefall! So etwas gibt es doch nicht mehr! So denkt doch der Osten nicht!

– Gott sei Dank nicht! Aber so etwas gibt es doch noch, wie Sie sehen! In vino veritas! Heinrich ist ein grundanständiger Mensch. Der sagt, was er denkt. Andere aber – und es gibt deren allerhand – denken das Gleiche und sagen es nicht!

– Nehmen Sie mir eine Frage nicht übel, Herr von Schwennemann: warum erzählen Sie mir das eigentlich?

– Ja, weil ich denke, es gibt Ihnen ein paar Pinselstriche mehr in dem Bild, das Sie sich von dem deutschen Osten machen?

– Ein paar Pinselstriche mehr: ja! Aber keine wesentlichen! Denn sehen Sie, Herr von Schwennemann: so sehr ich die Menge hasse: gerade in der von Ihnen angeschnittenen Frage entscheidet doch, Gott sei Dank, das Gefühl der Menge. Und ich glaube, daß dieses Gefühl auch hier im Osten in erster Linie deutsch und dann erst preußisch ist. Wehe, wenn das Gegenteil der Fall wäre! Denn dann hätten wir Westdeutsche, welche immer und immer wieder betonen, wie sehr es nötig ist, daß unser bewegterer und hellerer Geist sich um Erkenntnis des Ostens und seine langsame Durchdringung bemühe, einen wirklich schweren Stand.

Meyenburg kam vom Tanzen zurück und stellte sich zu uns. 223

– Sagen Sie mal, Herr von Schwennemann, haben Sie denn auch den Quatsch in Ihrer Zeitung gebracht, den da der olle Duisberg neulich losgelassen hat? Die Landwirtschaft soll sich auf Weizen umstellen? Der Mann hat 'ne Ahnung! Umstellen! Das geht nur so . . . Von Roggen auf Weizen! Weil die verwöhnten Herrschaften aus dem Westen kein Graubrot essen mögen?

– Ich glaube nicht, Herr von Meyenburg, daß es sich Herr Duisberg so leicht gemacht hat. Er meinte, ganz allgemein, der Landwirt solle es halten wie der Industrielle: er solle seine Erzeugung den Bedürfnissen anpassen. Daß dazu eine gewisse Zeit gehört, weiß ein Mann wie Duisberg auch. Es besteht ja auch nicht der geringste Grund, warum der Bauer anders handeln solle als der Kaufmann. Solange die deutsche Bevölkerung in ihrer Gesamtheit nicht von des Bauers Gnaden abhängt – was der Herrgott verhüten möge –: solange läßt sie sich nicht vorschreiben, was sie gerne ißt und was nicht.

– Na wollen Sie denn vielleicht die Notwendigkeit der Landwirtschaft für ein gesundes Staatswesen leugnen?

– Wer spricht denn davon?

– Lieber Meyenburg, sagte Schwennemann, Sie wollen die Unterhaltung auf ein anderes Geleise schieben. Aber das gibt es nicht. Wir sind auf einem Ball. Solche grundsätzlichen Gespräche passen da nicht hin. 224

Laura, an der Seite Solduans, durchquerte den Raum, ging in den gelben Salon weiter, verweilte auch dort nicht, sondern verschwand in dem Billardzimmer, dessen Spieltische noch leer waren.

– Ich glaube, sagte Meyenburg, dem Paar nachschauend, der Solduan hat's auch nicht leicht mit seiner Erbschaft in der Polackei.

– Warum soll er es leicht haben? warf ich ein. Sie wissen doch, wie auch dort die Lage ist . . . Besitz verpflichtet. Heute mehr wie je.

Blanche kam. Sie legte ihren Arm in meinen:

– Haben Sie etwas Zeit für mich?

– Ich habe immer Zeit für Sie . . .

– Dann kommen Sie mit mir.

Wir gingen in die Halle, die fast leer war, und setzten uns vor die Flammen.

– Ich bin immer noch nicht recht bei mir, sagte Blanche. Ich habe gerade Eugo gesagt, man solle mir Glühwein machen. Es fröstelt mich . . . Haben Sie Laura gesprochen? Ich glaube, Michael hat ihr Andeutungen gemacht . . .

– Es scheint mir auch so.

– Wenn sie nur nicht merkt, daß Gisela mit Renken draußen im Park spazieren geht . . . Sie sind eben durch die Tür der Gerätekammer hinausgeschlüpft.

– Ich werde sie zurückholen. Das geht nicht. Lauras wegen, deren Nerven geschont werden müssen. 225

– Ja, bitte, tun Sie es.

– Ob ich sie finde?

– Sie sind bestimmt die Tannenschneise nach Peythen zu gegangen.

– Kommen Sie doch mit, Blanche . . .

– Weiß Gott, ein guter Gedanke. Die Duft wird mir gut tun.

Wir holten unsere Pelze und gingen hinaus. Die Luft war von milder Frische, die Kälte hatte nachgelassen und ein Duft von nahendem Schneewetter mischte sich mit dem Arom der Tannen. Wir gingen die Peythener Schneise entlang. Von Gisela und Alexander war nichts zu sehen. So kehrten wir um, und bogen auf einen schmäleren Weg ein, der das Schloß in ziemlicher Entfernung als Halbkreis umlief. Plötzlich faßte Blanche meine Hand und hielt mich zurück. Etwas abseits von dem Pfad, gegen eine dichte Tannengruppe, stand das Paar.

Wir blieben regungslos . . . Ich spürte, daß Blanche weinte. Ohne uns gesehen zu haben, Schulter an Schulter lehnend, mit Schritten, die unwirklich schienen, gingen Gisela und Alexander weiter . . .

– Und diese beiden Menschen, hauchte Blanche, sollte einer den Mut haben, zurückzurufen?

– Ja, sagte ich, Sie haben recht . . .

Als wir gerade wieder vor dem Schlosse ankamen, sahen wir Laura mit Michael an der Einfahrtrampe stehen. 226

– Ach, ihr seid es, sagte Laura. Seid ihr lange draußen gewesen?

– Aber nein! Zehn Minuten.

– Habt ihr eine Ahnung, wo Gisela steckt –?

– Ja, sagte Blanche, sie ist uns mit Renken ein Stück vorangegangen und muß schon wieder durch die Zwingertür in das Haus gelangt sein.

– So, sagte Laura, ihre Hand auf den Granit des Geländers stützend.

– Der Himmel hat sich zugezogen, sagte Michael. Es wird heute nacht noch schneien. Wir haben Südwind.

In diesem Augenblick kamen Gisela und Alexander von der Flanke des Schlosses her gegen das Eingangstor zu. Ganz still, getrennt nebeneinander schreitend, in irgendein Gespräch versunken, wie gute Kameraden. Kein Erschrecken, nicht das geringste Erstaunen, als sie uns gewahrten.

– Ich hoffe, ihr habt euch nicht um mich geängstigt? sagte Gisela mit jener für ihr Alter unwahrscheinlichen Ruhe, die sie jeder Lage gewachsen sein ließ. Ich habe mit Alexander einen kleinen Gang gemacht, weil ich mich nach Luft sehnte. Ich möchte auch noch ein wenig weiter gehen.

Und ohne eine Antwort ihrer Mutter abzuwarten, schlug sie die Richtung nach Runkendorf ein.

– Was sagen Sie zu dieser meiner Tochter? wandte sich Laura an Michael. 227

– Darf ich offen sein? fragte Michael. Wir sind ja hier im allerengsten Freundeskreis? Ich wünschte Ihnen, Laura, dieselbe Sicherheit.

– Das ist stark, erwiderte Laura.

– Nein. Das ist ehrlich, sagte Michael.

Und er legte seinen Arm in ihren und ging mit ihr wieder in das Innere des Hauses. Blanche und ich folgten.

Die Musik tobte in einem Step. Die Paare schossen durcheinander.

– Da ist ja Herr Benrath, rief Carlo Sennewitz zu Yvonne, die sich gerade vom Paso doble ausruhte.

Ich ging zu Yvonne, nahm ihr Kinn in meine Hände, lächelte:

– Na?

Délicieux! sagte sie. Tout simplement délicieux. Je m'amuse!

– Also, sagte ich zu Sennewitz, während gerade Bormuth herantrat, übernehmen Sie weiter die Aufgabe, meine Frau zu solchen Bekenntnissen zu bringen!

– Was in meinen schwachen Kräften steht, lieber Herr Benrath, soll gewiß geschehen, sagte Sennewitz und schlug die Hacken zusammen.

Bormuth verzog sich. – –

Da ich annahm, daß die Fürstin kaum noch sehr lange bleiben würde, ging ich in den Musiksalon, wo sie Cercle hielt. Da sie jedoch sehr aufmerksam spiritistischen Auslassungen des Grafen Rumpler zuhörte, 228 warf ich einen Blick in das Billardzimmer, wo mittlerweile die Pokertische Liebhaber gefunden hatten. Friedrich Schönfeld, Heinrich Mottau, der Bankier Wollenkamp und Elsenburg hatten sich häuslich niedergelassen. An dem Rande des Billards lehnten Schwennemann und Bentok, beide die Linke in der Hosentasche und in der Rechten, zwischen Zeige- und Mittelfinger, eine schwere Importe haltend.

– Also bitte – Scherz beiseite – also bitte: nu rechnen Se aus, sagte Bentok. Nur zwei Pfennige im Lohn runter pro Stunde macht 5000×2 Pfennige, das sind 10 000 Pfennige, nach Adam Riese, das sind 100 Reichsmark pro Stunde. Das sind 800 Reichsmark am Tag, das sind 4800 Reichsmark die Woche zu sechs Tagen. Das sind in einem Monat 19 200 Reichsmark. Das sind in einem Jahr 230 400 Reichsmark. Glattverdientes Geld! Na, kann ich meinen Standard nicht ganz gewaltig ändern? Kann ich nicht kaufen, kann ich nicht umsetzen? Kann ich nicht Geld unter die Leute bringen? Verdienen lassen? Jawohl, verdienen lassen? Bin ich je ein Knauser gewesen? Sag ich nicht immer: laßt das Geld laufen! Laßt das Gold laufen! Was aber ändern am Standard des Arbeiters 16 Pfennige am Tag? 96 Pfennige in der Woche? 384 Pfennige im Monat? 45,08 Reichsmark im Jahr? Nichts. Gar nichts. Wo also bleibt die Vernunft? Wo bleibt die Großzügigkeit? Warum also eröffnen Se nicht endlich die Campagne in Ihrer Zeitung? Weil Sie keine Courage haben! 229 Weil Sie für keine großen Ideen mehr eintreten! Partei, Partei – und nochmals Partei! Eine so viel wert wie die andere. Der Bonze befiehlt, der Bonze gehorcht. Wer nicht pariert, fliegt raus! wird boykottiert, verliert die Kundschaft!

– Na, selbstverständlich verliere ich die Kundschaft, wenn ich eine Campagne eröffne, die von der Partei nicht gut geheißen wird. Und hetze mir die christlichen Gewerkschaften auf den Hals. Ich danke für Obst und Südfrüchte!

– Na, da haben wir's ja! Ich hab's ja immer gesagt: der olle Bethmann hatte recht mit seinen gottgewollten Abhängigkeiten. Keiner kann, wie er will –, aber frei sein möchten se alle!

– Ich will im übrigen ja gar nicht, sagte Schwennemann. Fünfundvierzig Mark mehr oder weniger im Jahr macht für den Arbeiter sehr viel aus!

– Wenn er se hat! Wenn er se zusammenhat, auf einem Klumpen, stimmt! Aber wo hat er se denn? Legt er vielleicht jeden Tag 16 Pfennige in die Sparkasse? Sie laufen ihm zwischen den Fingern durch wie Äppelgelee! Er will se ja gar nich halten! Gott, Schwennemann, von der Praxis verstehen Se nich viel! Sie sind ja nur noch Leitartikel! Jawoll! Leitartikel sind Se! Wer liest heute noch Leitartikel? 'n pensionierter Major in Wiesbaden und 'n Etagenchef bei Tietz! Hab ich recht, Herr Benrath? Hab ich recht?

Wladimirs Kommen enthob mich der Antwort. 230

– Ich habe Sie ja überhaupt noch gar nicht gesehen, sagte er, und ich möchte Ihnen doch endlich einmal guten Abend sagen.

– Das ist lieb von Ihnen. Ich hätte mich auch bestimmt schon um Sie gekümmert, aber ich vermutete Sie in guter und lustiger Gesellschaft.

– Ach Gott.

– Was ist denn?

– Mir macht das nicht viel Freude.

– Tanzen Sie denn nicht?

– Nicht gern und nicht gut.

– Haben Sie nicht ein wenig mit Michael gesprochen?

– Er hat ja keine Zeit! Er ist ja dauernd mit Beschlag belegt. Wenn das in den wenigen Tagen, die er noch hier ist, so weiter gehen soll, wäre es mir lieber, er wäre gar nicht gekommen. Was habe ich denn von ihm?

– Geduld, Geduld, mein Junge. Das kommt noch!

– Ja, wann denn? Ich werde doch nicht die ganze Nacht hier unten bleiben! Wenn der Witz mit Yvonne Pavart zu Ende ist, mache ich mich fort. Ich möchte nur noch die langen Nasen sehen! Diese Männer sind ja unbeschreiblich! Sie sollten nur sehen, wie sie sich benehmen. Der Bormuth ist halb übergeschnappt. Die Äscherisch heult in einer Ecke. Mit der scheint er etwas gehabt zu haben. Glauben Sie denn, daß Michael ad libitum hier unten bleibt?

– Bestimmt nicht. Lassen Sie das alles meine Sorge sein. Ich muß jetzt noch einmal zur Fürstin. Sie wissen 231 doch, daß wir Dienstag abend bei ihr sind? Michael, Blanche, Gisela, Sie und ich?

~ Ich auch?

– Jawohl, Wladimir. Sie wird es Ihnen noch sagen oder sagen lassen. Ich will jetzt zu ihr gehen. Kommen Sie doch mit.

– Meinen Sie?

– Aber selbstverständlich.

Ich legte ihm die Hand auf den Arm und ging mit ihm in den Musiksalon zurück.

– Sie kommen mir wie gerufen, sagte die Fürstin, als wir eintraten. Guten Abend, mein lieber Junge, rief sie Wladimir zu, der zu ihr trat, sich über ihre Hand beugte und die Fingerspitzen küßte Ich freue mich ganz besonders, Sie zu sehen. Ich bin eigentlich schon im Aufbruch. Also lassen Sie sich rasch noch sagen, daß Sie Dienstag abend um acht zu Tisch bei mir sind. Es kommen etwa zwölf Leute. Und dann lassen Sie sich sagen, daß Sie mich auch ohne Einladung besuchen können, wann es Ihnen Spaß macht.

Alle Blicke richteten sich auf Wladimir, der errötete und sich dankend zurückzog. Ich sah eben noch, wie Michael auf ihn zutrat und dann mit ihm in den gelben Salon ging.

– Sie haben viel versäumt, Henry, sagte sie zu mir. Graf Rumpler hat uns sehr seltsame Dinge erzählt. Man lernt eben niemals aus, und es ist immer entzückend, Neues zu hören. Es ist dabei ganz gleichgültig, 232 ob man das Gehörte glaubt oder nicht. Nur Spaß muß es machen, und langweilig darf es nicht sein. Aber man hört ja heute leider so wenig Dinge, die einem etwas Spaß machen.

Sie hatte die Brauen hochgezogen und verharrte, ein ergreifend schmerzliches, von einem überbelasteten Leben fast verwüstetes Gesicht den Blicken ihrer Umgebung bietend, in Schweigen. Der Pastor Gericke hielt es für nötig, sich als Seelsorger zu erweisen:

– Darf man sich erkundigen, wie es Eurer Durchlaucht jüngster Enkelin geht, der Prinzessin Beate von Kulm?

Wütend verzog die Fürstin den Mund.

– Diese Frage hat mir gerade noch gefehlt, sagte sie. Wissen Sie, Herr Gericke, die und ihr Mann fangen an, mir unsympathisch zu werden. Die können das Kinderkriegen nicht lassen. Ich habe neulich zu Beate gesagt, als sie mir wieder einmal ein »süßes Geheimnis« ins Ohr flüsterte, es werde ihr eines Tages gehen wie der Ludmilla Potocky, welche vor lauter Segen von oben schließlich nicht mehr wußte, wie ihre vierzehn Rangen hießen.

– Aber Euer Durchlaucht werden sich doch nicht zu der unchristlichsten aller Auffassungen bekennen wollen . . . Euer Durchlaucht werden doch nicht sagen wollen, daß . . .

– Ich sage, was ich sage, Herr Gericke. Und was ich sagen will, bleibt abzuwarten. Es ist in den heutigen 233 Zeiten – mit oder ohne das Christentum der Herren Pastoren – ein grober Unfug, wenn nicht eine Nichtsnutzigkeit, mehr Kinder in die Welt zu setzen, als man anständig erziehen kann. Verstehen Sie mich? Anständig, sage ich, nicht etwa standesgemäß, wie jede Bezirkskommandeuse früher gesagt haben würde. Ich bin mein Leben lang für die Qualität und nicht für die Quantität gewesen. Die Qualität entscheidet. Wer diese Binsenwahrheit nicht begreifen will, ist dumm. Sei er, wer es sei.

– Ich verstehe Euer Durchlaucht durchaus und würdige auch voll und ganz – voll und ganz – die Offenheit, mit der Euer Durchlaucht zu sprechen belieben: ich darf aber doch vielleicht daran erinnern, daß Gott schon in der Schöpfungsgeschichte an alle lebendige Kreatur die Mahnung richtet: Seid fruchtbar und mehret euch!

– Er hat vollkommen recht gehabt, seine Geschöpfe an ihre Pflichten zu erinnern! Soweit ich unterrichtet bin, hat es ja auch damals noch keine Völker ohne Raum und noch keine Arbeitslosen gegeben. Ich bin immer sehr skeptisch gewesen gegen die Bibelausdeutungen der Herren Pastoren.

– Die allgemein wenig freundliche Haltung Euer Durchlaucht gegen uns ist bekannt.

– Ich habe Grund zu dieser Haltung! In mein Haus ist viel Unfrieden durch ungewünschte Einmischung getragen worden! Aber das gehört nicht hierher – und 234 es war sehr ungeschickt von Ihnen, an diese Dinge zu rühren. Ihr Vorgesetzter, der Superintendent Blasius, versteht es besser wie Sie. Sie sollten sich bei ihm erkundigen, wie er es anstellt, sich meine Sympathie zu sichern.

Laura fühlte sich verpflichtet, einzugreifen.

– Herr Pastor, wie ist denn eigentlich die Kollekte für das geplante Haus des Jungfrauenvereins ausgefallen?

– Leider Gottes muß ich sagen: erbärmlich, Frau Baronin, ganz erbärmlich!

– So, so, lachte die Fürstin böse. Man sollte sich doch lieber freuen, daß das Volk noch ein gesundes Gefühl dafür hat, was nötig ist und was überflüssig ist. Wo sind denn diese allerchristlichsten Jungfrauen seither untergebracht gewesen?

– Denken Sie nur, Durchlaucht, in zwei armseligen Zimmern über dem Spritzenhaus der Gemeinde Kaminze! Ein wirklich unwürdiger Aufenthaltsort!

– Ich denke, Herr Pastor, die Würde oder Unwürde dieses Ortes hängt weit mehr von den Jungfrauen als von den ein Stockwerk tiefer befindlichen Spritzen ab! Im übrigen würde doch sicher der Graf Rumpler ein paar Räume seiner zum Teil unbenutzten Wirtschaftsgebäude zur Verfügung stellen, wenn man ihn nur darum bäte! Aber das darf wahrscheinlich der hohe Klerus nicht zulassen, weil ihm der Graf Rumpler nicht genehm ist. Okkultismus und Orthodoxie: das reimt sich nicht zusammen. 235

– O nein, Durchlaucht, es ist nicht dieses, was uns seither davon abgehalten hat, an den Grafen Rumpler heranzutreten! Die Mädchen müßten, wenn die Bibel- und Gesangsabende auf dem Hofgut des Grafen Rumpler stattfänden, abends durch den sogenannten Lummerbusch nach Hause gehen. Da sie von den jungen Leuten der Kaminzer Gemeinde abgeholt werden, könnte gerade dieser Heimweg doch zu unerwünschten Dingen Anlaß geben.

– Sie meinen, die Würde der so unwürdig untergebrachten Damen würde gewissen Versuchungen nicht standhalten? Herr Pastor, Sie sind kein Diplomat! Ich will einmal mit dem Superintendenten Blasius über den Fall sprechen und ihm nahelegen, die Fräuleins den Weg durch diesen – wie sagten Sie? ach ja – Lummerbusch nehmen zu lassen. Ich gebe ihm die Garantie im voraus, daß sich die Bibelstunden eines guten Besuches erfreuen werden. Und die armen Bauern werden zufrieden sein, wenn durch unsinnige Kollekten kein weiterer Angriffsversuch auf ihre paar Spargroschen mehr erfolgt. Es scheint mir, in dieser ganzen Jungfrauen- und Feuerspritzen-Angelegenheit will sich jemand einen roten Rock verdienen. Im übrigen muß ich sagen, daß mich dieses Gespräch langweilt. Wo ist denn Herr Benrath? Ach, da ist er ja! Meine Augen werden jeden Tag schlechter. Herr Benrath, erzählen Sie uns doch mal lieber eine schlüpfrige Geschichte. Sie sollen eine neue auf Lager 236 haben: die Geschichte da mit dem Erzbischof von Düsseldorf.

– Um Gottes willen, Fürstin! Welcher Geist kommt über Sie! Wenn ich im Sommer zu Ihnen auf Ihr Schloß komme, erzähle ich Ihnen Geschichten so viel Sie wollen. Hier ist das unmöglich.

– Und wenn ich Ihnen den Befehl gäbe, zu erzählen?

– Würde ich von diesem Befehl überhaupt keine Notiz nehmen,

– Und wenn ich Sie bäte?

– Würde ich Sie bitten, von Ihrer Bitte Abstand zu nehmen, und Ihnen unter vier Augen begründen, warum ich Sie darum bitte.

– Man könnte mir einmal einen Cognac bringen, sagte die Fürstin. Es schuckert mich etwas. Es wird Zeit für mich, nach Hause zu fahren.

Anton rannte davon, um den Wunsch der Fürstin zu erfüllen. Er wäre fast mit Tante Malwine von Lagosch zusammengeprallt, welche aus dem Tanzsaal herüberkam, um der Fürstin ihre sehr verspäteten Honneurs zu machen. Die beiden Frauen konnten sich nicht ausstehen.

– Ach, Sie sind auch hier? fragte die Fürstin, ihr Lorgnon auf Malwine richtend.

– Ja, Durchlaucht, ich bin schon seit vier Uhr hier.

Anton brachte eine Flasche Henessy und ein großes, gewölbtes Cognacglas. 237

– Wünschen Durchlaucht den Cognac gekühlt oder chambriert?

– Gießen Sie ein. Flaschentemperatur ist mir gerade recht.

Sie trank. Tante Malwine, berstend vor Wut, sah auf die Schluckbewegungen der dünnen, hautigen Gurgel, welche unter dem Halsband hervortrat.

– Gießen Sie noch einmal ein.

Sie trank abermals und stellte das Glas auf das Tablett zurück.

– Ach, da sind Sie ja noch, wandte sie sich an Tante Malwine. Verzeihen Sie meine Unaufmerksamkeit, aber über einem guten Cognac vergesse ich die Menschen. Ja, es ist schade, daß ich Sie nicht früher zu Gesicht bekam. Ich hätte mich gerne einmal mit Ihnen über Ihre interessanten Zuchten unterhalten. Sagen Sie mir doch, Baronesse Malwine, was machen denn Ihre Schafe und Säue?

– Danke der gnädigen Nachfrage. Sie befinden sich wohl und wundern sich immer noch über die dummen Fragen, welche manchmal Menschen stellen.

– So. Da haben sie aber sehr recht! Ich muß sagen, bewundernswert kluge Schafe und Säue, ganz besonders sympathische Schafe und Säue . . .

 

Die Fürstin hatte das Schloß verlassen . . . Zwei Schulfreunde Giselas hatten sich bereit erklärt, einige 238 im Kreise bekannte Personen nachzuahmen: Schauspieler, Schauspielerinnen, Universitätsprofessoren, Politiker, Originale. Da sich solche Scherze immer und überall großer Beliebtheit erfreuen, drängte sich die Menge sogleich im Tanzsaale zusammen. Als ich eben eintrat, kamen mir ein paar junge Leute entgegen:

– Herr Benrath, wir müssen Ihnen sagen, daß wir alle in Ihre Frau verliebt sind. Ihre Frau ist einfach entzückend! Und ganz besonders, wenn sie deutsch spricht!

– So? Hat sie deutsch mit Ihnen gesprochen?

– Ja, sagte einer der Nachahmer. Sie hat zu mir gesagt: Olen Sie mich doch bitte ein Sänwisch, isch abe Unnschär, weil isch nicht viel gespissen abe . . .

Die Jungen schüttelten sich vor Lachen . . .

Yvonne kam auf mich zu. Sie sah frisch und schön aus, wie in der ersten Minute ihres Auftretens. Nichts verriet, daß sie viermal getanzt hatte. Keine Schminke war zerflossen, kein Puder verweht, keine Haarsträhne abgerutscht. Eine sehr zarte Woge von Molyneux, die den Weg von der Haut durch das Gewebe der Seide genommen hatte, umgab ihre Erscheinung und folgte ihrem Schreiten.

Ah, c'est toi! rief sie. Enfin je te vois! Je m'amuse à tout casser! Reste un peu près de moi. Tiens, voici la princesse Satulin . . . Une femme très élégante! Et quelles perles! Princesse, vous avez des perles 239 admirables, tout simplement admirables. Est-ce permis de les toucher? Merci! Venez, allons nous asseoir làbas pour mieux voir . . .

Die beiden Frauen faßten sich um die Hüfte und gingen auf zwei Sessel zu, welche an der Flanke des Flügels, den man aus dem Musikzimmer in den Tanzsaal geschoben hatte, aufgestellt waren.

– Zum Verrücktwerden, sagte Bormuth. Sehen Sie sich nur dieses Bild an! Die beiden Damen vom Rücken, mit den schlanken Hüften und den markierenden Kleidern . . . Zum Überschnappen. So was sollte verboten sein.

Die Lichter waren auf Wunsch der Vortragenden auf Halbdunkel herabgedreht worden, weil ihnen, wie sie sagten, die gedämpfte Helle eine größere Sammlung ermögliche. Ich hatte mich hinter Yvonne aufgestellt, welche ihren Arm um Mauds Schulter gelegt hatte . . . Zwei, drei, vier Nummern waren schon abgerollt, mit ungeheurem und berechtigtem Beifall quittiert.

– Ich werde jetzt, rief der eine der Studenten, Madame Pavart zu Ehren die Mistinguett vorführen, oder, wie die Fürstin Kaatzenstein sagen würde, welche niemals einen ausländischen Namen behalten kann, die Distelfink . . .

Eine Woge von Lachen stob durch den Raum. Der Student, ermutigt durch den Beifall, zog ein Lorgnon aus der Tasche, hob es vor die Augen, sah in die 240 Versammlung und wagte, eine halbe Minute lang, das Ungeheuerliche: er fiel in den Ton der Fürstin und sagte:

– Ach ja – und dann ist da diese Person, diese Chanteuse mit den Federbüschen auf dem Kopf, Gott, wie heißt sie nur, diese Distelfink . . .

Eine Salve brach los: Grölen, Heulen, Schluchzen, Schreien . . .

– Weiter, weiter, riefen die Dorwall, Heinrich Mottau, Elsenburg . . .

Eugo warf mir einen verzweifelten Blick zu . . .

– Wir gehen zur Mistinguett über, sagte der Student, ohne sich um die Zurufe zu kümmern. Darf ich bitten, den Kronleuchter ganz zu löschen.

Während es geschah, drapierte er sich eine Tischdecke über, die auf einem Stuhl bereit lag, setzte sich die Federkrone eines Siouxhäuptlings auf und begann, indes sein Freund ihn auf dem Flügel begleitete, das bekannte Chanson der Mistinguett nachzuahmen: »Cherchez l'issue de ce labyrinthe.«

Tiefe Stille herrschte im Saale. Die Mistinguett selbst hätte die Aufmerksamkeit aller nicht tiefer fesseln können. Plötzlich, mitten in der Wiederholung des Refrains, gellte ein Schrei durch den Raum:

– Licht! Licht! Licht! Meine Perlen, meine Perlen! Licht! Licht!

Dem Vortragenden war die Stimme in der Kehle wie abgebrochen – im Nu flammten die Birnen auf – 241 die völlig verstörten Gäste starrten sich an, unfähig ein Wort hervorzubringen . . .

Maud Satulin war aus ihrem Sessel hochgesprungen . . .

– Meine Perlen sind mir gestohlen worden, während es dunkel war –

– Um Gottes willen, Prinzessin! rief Laura, überlegen Sie, was Sie sagen! Ihre Perlen gestohlen in meinem Haus! Vielleicht ist die Schnur zerrissen, vielleicht ist das Schloß aufgegangen und die Kette zu Boden gefallen . . .

– Nein, nein! Nichts von alledem. Gestohlen sind sie worden – und ich weiß, von wem! Ich habe die Hand an meiner Schulter gespürt, welche die Kette verschwinden ließ . . . ich scheue nicht den Skandal . . . ich werde sagen, wer sie gestohlen hat: Madame Pavart hat meine Perlen gestohlen und im Ausschnitt ihres Kleides verschwinden lassen!

– Donnerwetter, Prinzessin, fuhr ich auf: Wie können Sie sich unterstehen, eine solche Ungeheuerlichkeit zu behaupten und meine Frau eines solchen Verbrechens zu bezichtigen?

– Wie können – Sie sich unterstehen, Herr Benrath, mich als Lügnerin zu brandmarken?

Ah, mégère, schrie nun Yvonne und hob die Hände gegen die Prinzessin . . . mégère, trois fois mégère! Vous osez dire que c'est moi qui ai volé vos misérables perles fausses? Oh, l'impudence! A-t-on jamais vu un scandale pareil? Une telle outrecuidance? 242 Pouvez-vous prouver ce que vous dites? J'ai caché les perles dans ma robe?

Und sie rannte in die leere Mitte des Saales, unter den Kronleuchter.

J'ai été offensée comme jamais une dame! S'il est vrai que j'ai fait disparaître les perles dans ma robe, il faudra bien qu'elles s'y trouvent! Et bien, Mesdames et Messieurs, je me déshabillerai ici, devant vos yeux, jusqu'à la chemise!

Laute Schreie fuhren an die Wände des Saales, Frauen deckten die Hände vors Gesicht, die kleine Elsenburg war einer Ohnmacht nahe, Laura rannte von einem Gast zum anderen, suchte zu beschwichtigen, Eugo, zum Mitspielen gezwungen, gestikulierte in einer Gruppe von Herren, die Dorwall, außer sich vor Freude, sagte ganz laut zu Rumpler:

– Das kommt davon, wenn man sich solche Leute einlädt, was ich ihr mit einem:

– Unterstehn Sie sich, das zu wiederholen! quittierte.

Bormuth hatte das Monokel eingeklemmt und starrte auf Yvonne.

– Um Gottes willen, sie zieht sich ja wirklich aus! rief die Witwe Malrisch.

Der Pastor Gericke wollte in die Mitte des Saales stürzen, um Yvonne an ihrem Vorhaben zu verhindern.

– Gehn Sie auf der Kanzel! schrie Yvonne, während sie am Schlußband des Goldbrokatumhanges nestelte, ier bei mich aben Sie nischts zu suchen! 243

Laura rang die Hände.

Ivo, der diese ganze Geschichte überwältigend fand, rief ganz laut:

– Mutti! Mutti! Sie fängt an!

Flan! flog der Goldbrokatkragen auf den Parkettboden. Ratsch! öffnete sich der seitliche Reißverschluß des Tüllüberkleides. Schon lag es am Boden, und nur das kirschrote Pyjama blieb übrig. Flan! zum zweitenmal, flog die Perücke nach hinten und ließ einen mit Gomina argentina und Vaseline tadellos frisierten schwarzen Jungenskopf erscheinen – und Flan! zum drittenmal, flatterte die rote Pyjamajacke in den Saal. Was übrig blieb, war ein hübscher, bräunlicher Männerkörper, Beine in weiten, rotseidenen Hosen und Füße in Goldbrokatschuhen. Was übrig blieb, war der zurechtgeschminkte Adalbert von Elten.

Ich trat zu ihm:

– Meine Damen und Herren! Ich habe die Perlenkette gestohlen. So war die Spielregel. Die Prinzessin Satulin hat neben ihren vielen anderen Talenten heute abend auch ihre schauspielerische Begabung erwiesen, zur Belohnung erhält sie von mir die gestohlene Kette zurück. Meine Frau aber darf wohl den Anspruch darauf erheben, auch in männlicher Gestalt, den Vogel abgeschossen zu haben. Verantwortlicher Leiter dieses Films ist der im Anzug begriffene Prinz Karneval aus Köln. Kulissen und Dekorationen sind aus dem Hause Lagosch. Wer sonst noch an ihm beteiligt war und 244 wie, wird es selber wissen. Verschwiegenheit ist zugesichert.

Mit Johlen und Juchzen stob die Jugend, eine Kette bildend, in den Saal. Eugo und Laura wurden zu Maud, Adalbert und mir in die Mitte getrieben, die Musik setzte ein – und der Huldigungsreigen um unsere Gruppe begann . . .


Das Fest strudelte in eine Höhe hinauf, wie sie nie ein ostdeutsches Fest auf einem Schloß gesehen hatte. Bormuth, nach dem Zusammenbruch des Pavartschen Unternehmens an Frieda Äscherischs wieder stabilisierte Valuta angeschmiegt, eröffnete mit einem gedehnten Blues diesen zweiten, allgemeinen Teil. 245

 

 


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