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Einleitung.

Die Kinder der Arnoldschen Familie waren es schon gewohnt, an langen Winterabenden bei ihrem freundlichen Lehrer Unterhaltung zu suchen und zu finden. Er war ein sehr erfahrner Mann, der viele Länder und Menschen gesehen und viele Bücher gelesen hatte. Da erzählte er ihnen denn bald von seinen Reisen, bald aus seinen Büchern, und er gab sich rechte Mühe, von allem, was er wußte, etwas Passendes, Verständliches und Lehrreiches für seine lieben kleinen Freunde herauszusuchen. Ja, er verschaffte sich manches Buch, das er um seiner selbst willen nicht würde gekauft haben, bloß um daraus Stoff zu seinen traulichen Abendunterhaltungen zu schöpfen. War ein Buch so hübsch geschrieben, wie etwa die launigen Volksmärchen, die den Kindern über die Maßen gefielen, so las er es ihnen auch wohl geradezu vor, und da er ebensogut las wie erzählte, so war ihnen das eine so wie das andere willkommen.

Aber auf die Länge wollte zuletzt die Quelle doch so ergiebig nicht mehr fließen; denn Kinder sind doch immer Leute, die noch recht beschränkte Kenntnisse haben, und denen unter hundert vortrefflichen Büchern gewiß neunundneunzig noch zu hoch sind. Von den herrlichsten Sachen, die für verständige Männer anziehend sind, kann man mit Kindern gar nicht sprechen, weil ihnen zu ihrem Verständnisse noch eine Menge nötiger Vorkenntnisse fehlt, und man muß sie daher oft aus künftige Zeiten vertrösten, wo sie älter, verständiger und gebildeter geworden sein werden und recht, recht viel Schönes gelernt haben. So machte es auch dieser gute Lehrer. Und wenn nun seine unruhigen Kleinen zuweilen seinen ganzen Büchervorrat durchstöberten und bei jedem herausgezogenen Buche fragten: »Lieber Herr Lehrer, ist hier nicht etwas für uns drin?« so mußten sie fast immer die traurige Antwort hören: »Nein, Kinder, das ist nichts für euch.«

Eines Morgens fanden sie ihn bei einem griechischen Buche. Es war der alte Homer, sein Lieblingsdichter, den er wohl schon zwanzigmal durchgelesen hatte, aber an dem er sich doch nimmer satt lesen konnte. Als sie sich nun um ihn her stellten, legte er das Buch aus der Hand und sah sie bedeutungsvoll an. Sie sprachen dies und jenes; nur Wilhelm zog schweigend das Buch an sich, legte den Finger an die Nase und machte ein so kluges Gesicht, daß man hätte schwören mögen, er verstehe Griechisch wie Deutsch.

»Was denkst du dir denn bei dem Buche?« fragte lächelnd der Lehrer. – »Ach,« sagte der Kleine treuherzig, »ich dachte nur, wie das hübsch sein müßte, wenn alle die garstigen Haken und Krähenfüße deutsche Buchstaben würden und sich in lauter Volksmärchen verwandelten.« – »Ja, ja! das glaub' ich, das wäre etwas für dich. Aber wie, wenn ich das möglich machte?« – »Ach, das geht ja doch nicht! Das ist ja so gelehrtes Zeug!« – »Es erfordert nur ein wenig Gelehrsamkeit; aber hat man die, so hat man den Talisman, der alle diese Krähenfüße in die herrlichsten Märchen verwandelt.« – »Wie meinen Sie das, lieber Herr Lehrer?« – »Diese Verse sind griechische Volksmärchen, schon über drittehalb tausend Jahre alt, aber schön und lesenswert für ewige Zeiten.« – »Das sollte man ihnen gar nicht ansehen,« sagte Anton. »Ich dachte immer, alles Gelehrte müsse trocken sein, so daß es kein Mensch lernen würde, wenn er nicht müßte.« – »Sehr irrig gedacht, mein Kind! Die Gelehrsamkeit ist gar nichts wert, die nicht aus freier Wahl, aus reiner Liebe erworben ist. Was man durch die Gelehrsamkeit erlangt, sind Schätze, die uns bereichern und beseligen, und zu denen sich also der Mensch, der sie zu schätzen weiß, ebensowenig durch ein Muß erst zwingen läßt, wie ein gemeiner Mensch sich zwingen läßt, Geld oder andere sichtbare Güter anzunehmen. Ihr begreift das freilich nicht, weil ihr den Wert der Geistesbildung noch nicht so deutlich einseht; und wenn ihr einen Mann seht, der Bücher aus allen Sprachen durchforscht und mathematische und philosophische Betrachtungen anstellt, so denkt ihr, das muß doch recht schwer und recht langweilig sein. Nichts weniger, das ist des Mannes größtes Vergnügen.« – »Vergnügen?« fragte Julius. – »Ganz gewiß, das größte Vergnügen, und ich hoffe, das sollt ihr einst selbst erfahren. Nicht, daß ihr finstere Schulmeister oder trockene Wortklauber werden sollt, nein; aber gebildete Männer sollt ihr werden, die sich jeder neuen Aufklärung herzlich freuen, die ihr Verstand erhält. Ja, meine Kinder, merkt euch das: Vergnügen, nichts als Vergnügen, das edelste, reinste, menschlichste Vergnügen ist der letzte Zweck alles Lernens, aller noch so trocken scheinenden gelehrten Forschung. Ich spreche aus Erfahrung. Ich esse auch gern, was gut schmeckt; ich trinke gern recht schönen Wein; ich mache manchmal gern mit, was man so angenehme Zerstreuung nennt: aber das alles, so sehr es meine Sinne reizt, würde mich doch nur halb glücklich machen, wenn ich die Vergnügungen des Geistes nicht kennte, die freilich vielen Tausenden verschlossen sind.«

Die Kinder schwiegen eine Weile und sahen den Lehrer nachdenklich an. Endlich sagte der kleine Wilhelm: »Aber, lieber Herr Lehrer, wenn die griechischen Märchen hier in dem Buche so hübsch sind, könnten Sie uns denn nicht manchmal des Abends etwas daraus erzählen?« – »Hm! ich weiß nicht.« – »Ei, warum nicht?« – »Sieh, mein Kind, dieser alte Homer ist mir ein sehr ehrwürdiger Mann. Die weisesten Männer aller Zeiten haben ihn geliebt und geehrt, und es ist mir beinahe, als müßte ich mich schämen, seine göttlichen Gesänge so zum Kinderzeitvertreibe herabzuwürdigen. Aber wenn ihr mir versprecht, recht aufmerksam zu sein und immer fleißig und gewissenhaft eure Arbeiten zu verrichten, so will ich euch wohl den Gefallen tun, euch von dem Inhalte der Homerischen Gedichte zu erzählen.« – »Ja? heut abend schon?« – »Wir können diesen Abend anfangen.« –- »Ei, herrlich! prächtig! Aber sagen Sie doch, kommt in den griechischen Märchen auch immer so hübsch was von Verzauberungen und Feen, von Riesen und Zwergen vor, wie in den deutschen?« – »Von Feen nicht; aber an Zaubereien, an Riesen, Zwergen und Drachen wird es nicht fehlen. Ihr werdet mit einer wunderbaren Götterwelt bekannt werden, von welcher nach damaligen Begriffen die Erde und die Menschen regiert wurden.« »Ach, ich weiß,« rief Anton: »Zeus, Hera, Poseidon, Aphrodite, die von den Römern Jupiter, Juno, Neptun, Venus genannt wurden.« –


Ende Teil der anderen Fassung. Re.

 


»Ganz recht! Aber außer diesen verehrten die Griechen noch eine Menge anderer Götter, die, wie sie meinten, auf dem Berge Olympos wohnten, aber oft zur Erde herniederkamen, um sich unter die Menschen zu mischen. Wen sie liebten, den beschützten sie kräftig in allen Gefahren; wem sie zürnten, dem schickten sie Unglück über Unglück zu. Oft waren sie untereinander selbst uneins, und Zeus und Here zankten sich so herzhaft in ihrem olympischen Hause, wie manches zwieträchtige Paar auf Erden.«

»Wie viel Sagen stehen denn in diesem Buche?« fragte in froher Ungeduld der kleine Wilhelm.

»Nur eine.«

»Und die handelt von einem einzigen Helden?«

»Ja.«

»Dem es recht bunt und kraus in der Welt gegangen ist?«

»Ja.«

»Wie hat er denn geheißen?«

»Odysseus, König von Ithaka, oder wie ihn die Römer nannten: Ulysses.«

»Ithaka? Wo liegt das?«

»Es ist eine kleine Insel im mittelländischen Meere, jetzt Theaki genannt, nahe an der westlichen Küste Griechenlands.«

»Nun, und wie ist es denn dem Odysseus ergangen?«

»Das sollt ihr diesen Abend hören.«

»Werden Sie es heute abend auch vollenden?«

»O nein! Ich hoffe wohl zwanzig Abende damit auszureichen,«

»Desto besser! Fangen Sie doch jetzt gleich an! Bitte, bitte!«

»Nein, Kinder, die Stunde schlägt. Jetzt an unsere Arbeit.«

Odysseus



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