Ludwig Bechstein
Märchen
Ludwig Bechstein

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Zwergenmützchen

Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne und eine Tochter. Die Tochter liebte er sehr, aber mit den Söhnen war er stets unzufrieden; sie konnten ihm nie etwas recht machen. Darüber waren die Brüder sehr bekümmert und wünschten sich weit weg von ihrem Vaterhause und saßen oft beisammen, klagend und seufzend, und wußten nicht, was sie anfangen sollten.

Eines Tages, als die drei Brüder wieder so betrübt beisammen saßen, seufzte der eine von ihnen: »Ach, hätten wir nur ein Zwergenmützchen, dann wäre uns allen geholfen.«

»Was ist's damit?« fragte der eine von den beiden andern Brüdern. »Die Zwerge, die in den grünen Bergen wohnen«, erklärte der erste, »haben Mützchen, die man auch Nebelkäpplein nennt; mit denen kann man sich unsichtbar machen, wenn man sie aufsetzt. Das ist gar eine schöne Sache, liebe Brüder. Da kann man den Leuten aus dem Wege gehen, die nichts von einem wissen wollen und von denen man nie ein gutes Wort empfängt. Man kann hingehen, wohin man will, nehmen, was man will; niemand sieht einen, solange man mit dem Mützchen bedeckt ist.«

»Aber wie gewinnt man solch ein rares Mützchen?« fragte er.

»Die Zwerge«, antwortete der Älteste, »sind ein kleines, drolliges Völklein, das gern spielt. Da macht es ihnen große Freude, bisweilen ihre Mützchen in die Höhe zu werfen. Wupps! sind sie sichtbar, wupps! fangen sie das Mützchen wieder, setzen es auf und sind wieder unsichtbar. Nun braucht man nichts zu tun, als aufzupassen, wenn ein Zwerg sein Mützchen in die Höhe wirft, und muß dann rasch den Zwerg packen und das Mützchen geschwind selbst fangen. Da muß der Zwerg sichtbar bleiben, und man wird Herr der ganzen Zwergensippschaft. Nun kann man entweder das Mützchen behalten und sich damit unsichtbar machen, oder von den Zwergen so viel dafür fordern, daß man für sein Leben lang genug hat; denn die Zwerge haben Macht über alles Metall in der Erde und kennen alle Wunderkräfte der Natur.«

»Ei, das wäre!« rief einer der Brüder. »So gehe doch hin und verschaffe dir und uns solche Mützchen, oder mindestens dir eins und hilf dann auch uns, daß wir von hier fortkommen.«

»Ich will es tun«, sagte der älteste der Brüder, und bald war er auf dem Wege nach den grünen Bergen. Es war ein etwas weiter Weg, und erst gegen Abend kam der gute Junge bei den Zwergenbergen an. Dort legte er sich in das grüne Gras an eine Stelle, wo im Grase die Ringelspuren von den Tänzen der Zwerge im Mondenscheine sich zeigten, und nach einer Weile sah er schon einige Zwerge ganz nahe bei sich übereinanderpurzeln, Mützchen werfen und spaßige Kurzweil treiben.

Bald fiel ein solches Mützchen neben ihm nieder, schon haschte er danach – aber der Zwerg, dem das Mützchen gehörte, war ungleich behender als er, erhaschte sein Mützchen selbst und schrie: »Diebio! Diebio!« Auf diesen Ruf warf sich das ganze Heer der Zwerge auf den armen Knaben, und es war, als wenn ein Haufen Ameisen um einen Käfer krabbelt. Er konnte sich der Menge nicht erwehren und mußte es geschehen lassen, daß die Zwerge ihn gefangennahmen und mit ihm tief hinab in ihre unterirdischen Wohnungen fuhren. –

Wie nun der älteste Bruder nicht wiederkam, so kümmerte und betrübte das die beiden jüngeren Brüder gar sehr. Auch der Schwester war es leid, denn sie war sanft und gut, und es schmerzte sie oft, daß der Vater gegen ihre Brüder so hart und unfreundlich war und sie bevorzugte. Der alte Müller aber murrte: »Mag der Schlingel von einem Jungen beim Kuckuck sein, was kümmert's mich? 's ist nur ein unnützer Kostgänger weniger im Hause. Wird schon wiederkommen – ist ans Brot gewöhnt – Unkraut verdirbt nicht.«

Aber Tag um Tag verging, und der Knabe kam nicht wieder, und der Vater wurde gegen die beiden Zurückgebliebenen immer mürrischer und härter. Da klagten die zwei Brüder oft gemeinsam, und der mittlere sprach: »Weißt du was, Bruder? Ich werde mich jetzt selbst aufmachen und nach den grünen Bergen gehen, vielleicht erlange ich ein Zwergenmützchen. Ich denke mir die Sache gar nicht anders, als so: Unser Bruder hat solch ein Mützchen erlangt und ist damit in die weite Welt gegangen, erst sein Glück zu machen, und darüber hat er uns vergessen. Ich komme gewiß wieder, wenn ich Glück habe. Komme ich aber nicht zurück, so bin ich nicht glücklich gewesen, und für den Fall lebe wohl auf immer!«

Traurig trennten sich die Brüder, und der mittlere wanderte fort nach den grünen Bergen. Dort erging es ihm in allen Stücken so, wie es seinem Bruder ergangen war. Er sah die Zwerge, haschte nach einem Mützchen, aber der Zwerg war flinker als er, schrie: »Diebio! Diebio!« und der ganze Haufen der Unterirdischen stürzte sich auf und über den Knaben, umstrickte ihn, daß er kein Glied regen konnte, und führte ihn tief hinab in die unterirdische Wohnung.

Mit der sehnsüchtigsten Ungeduld harrte der jüngste Bruder daheim in der Mühle auf des Bruders Wiederkehr, aber vergebens. Da wurde er sehr traurig, denn er wußte ja nun, daß der zweite Bruder nicht glücklich gewesen war, und die Schwester wurde auch traurig. Der Vater aber blieb gleichgültig und sagte nur:

»Weg ist weg – wem es daheim nicht gefällt, der wandere – die Welt ist groß und weit – in meinem Hause hat der Zimmermann ein Loch gelassen. Wenn dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis, tanzt und bricht ein Bein – laßt den Guck-in-die-Welt nur laufen – was grämt ihr euch um den Schlucker? Ich bin froh, daß er mir aus den Augen ist.«

Der jüngste Bruder hatte bisher im gemeinsamen Ertragen des Leides Trost gefunden; als aber nun seine beiden älteren Brüder fort waren, fand er seine Lage ganz unerträglich und sagte zu seiner Schwester: »Liebe Schwester, ich gehe nun auch fort, und schwerlich werde ich wieder kommen, wenn es mir ergeht, wie unsern Brüdern. Der Vater liebt mich einmal nicht, und ich kann nichts dafür. Die Scheltworte, die früher auf uns drei niederfielen, fallen jetzt auf mich allein, das ist mir denn doch eine zu schwere Last. Lebe wohl und laß es dir wohlergehen!«

Die Schwester wollte ihren jüngsten Bruder erst nicht fortlassen, denn sie hatte ihn am allermeisten lieb, allein er ging dennoch und zwar heimlich.

Unterwegs überlegte er sich recht genau, wie er es anfangen wollte, sich ein Zwergenmützchen zu verschaffen. Als er auf die grünen Berge kam, erkannte er bald an den grünen Ringeln im Grase den Ort der nächtlichen Zwergentänze und ihren Spiel- und Tummelplatz; er legte sich in der Dämmerung hin und wartete ab, bis die Zwerglein kamen, spielten, tanzten und Mützchen warfen.

Eines derselben kam ihm ganz nahe und warf sein Mützchen, aber der kluge Knabe griff gar nicht danach. Er dachte: Ich habe ja Zeit. Ich muß die Männlein erst recht sicher und kirre machen. Der Zwerg sah, daß nichts zu machen war, nahm sein Mützchen, das ganz nahe beim Knaben niedergefallen war, und ging weg. Es dauerte gar nicht lange, so fiel ein zweites Mützchen neben den Jüngsten. Ei, dachte der Knabe, da regnet's Mützchen, griff aber nicht danach, bis endlich ein drittes ihm gar auf die Hand fiel. Wuppdich, hielt er's fest, und sprang rasch empor. »Diebio! Diebio! Diebio!« schrie laut der Zwerg, dem das Mützchen gehörte, mit feiner, gellender Stimme, die durch Mark und Bein drang, und da wimmelte das Zwergenvolk herbei. Aber der Knabe wurde unsichtbar, weil er das Mützchen hatte, und sie konnten ihm gar nichts anhaben. Allesamt erhoben sie ein klägliches Jammern und ein Gewinsel um das Mützchen und baten den unsichtbaren Dieb, er solle es doch um alles in der Welt wieder hergeben.

»Um alles in der Welt?« fragte der kluge Knabe die Zwerge. »Das wär' mir schon recht! Aus dem Handel könnte etwas werden. Will aber erst sehen und hören, worin euer ›Alles‹ besteht. Vorerst frage ich: Wo sind meine beiden Brüder?« – »Die sind drunten im Schoß des grünen Berges!« antwortete der Zwerg, dem das Mützchen gehört hatte. – »Und was tun sie?« – »Sie dienen!« – »So! sie dienen – und ihr dient nun mir. Auf! Hinab zu meinen Brüdern! Ihr Dienst ist aus und eurer fängt an!« – Da mußten die Unterirdischen dem irdischen Menschen gehorsam sein, weil er durch das Mützchen Macht über sie erlangt hatte.

Die bestürzten und bekümmerten Zwerglein führten nun ihren Gebieter an eine Stelle, wo sich eine Öffnung in dem grünen Berg befand; sie tat sich klingend auf, und er ging rasch hinein und hinunter. Drunten waren herrliche und unermeßlich weite Räume, große Hallen und kleine Zimmer und Kämmerchen, je nach des Zwergenvolkes Bedarf. Aber der Knabe verlangte sogleich, ehe er sich nach etwas anderem umsah, nach seinen Brüdern. Die wurden herbeigebracht. Sie waren in Dienertracht gekleidet und riefen ihm, sobald sie ihn erblickten, wehmütig zu: »Ach, kommst auch du, lieber, guter Bruder, unser Jüngster! So sind wir drei nun doch wieder beisammen, aber in der Gewalt dieser Unterirdischen, und sehen nimmermehr wieder das himmlische Licht, den grünen Wald und die goldenen Felder!«

»Liebe Brüder«, erwiderte der Jüngste, »harret nur, ich vermeine, das Blättlein soll sich wohl wenden.«

»Herrenkleider und Prunkgewänder für meine Brüder und mich!« herrschte er den Zwergen zu, hielt aber dabei wohlweislich das werte Mützchen in der Hand fest. Als seinem Befehle augenblicklich gehorcht und das Umkleiden vollzogen war, befahl der Zwergengebieter eine Tafel mit auserlesenen Speisen und trefflichen Weinen. Dann heischte er Gesang und Saitenspiel nebst Tanz und Theater, in welchen Künsten die Zwerge das Ausgezeichnetste leisteten, dann kostbare Betten zum Ausruhen, dann Illumination des ganzen unterirdischen Reiches, dann eine gläserne Kutsche, mit prächtigen Pferden bespannt, um in den grünen Bergen überall herumzufahren und alles Sehenswerte in Augenschein zu nehmen. Da fuhren die drei Brüder durch alle Edelsteingrotten und sahen die herrlichsten Wasserkünste, sahen die Metalle als Blumen blühen, silberne Lilien, goldene Sonnenblumen, kupferne Rosen, alles strahlte von Glanz und Pracht.

Dann begann der Gebieter mit den Zwergen über die Zurückgabe des Mützchens zu unterhandeln und legte ihnen schwere Bedingungen auf. Erstens heischte er einen Trank aus den köstlichsten Heilkräutern, die mit allen ihren Kräften den Zwergen nur zu wohl bekannt sind, für seines Vaters krankes Herz, daß es sich umkehre und Liebe zu den drei Söhnen gewinne. Zweitens forderte er einen Brautschatz, so reich, wie für eine Königstochter, der war für seine liebe Schwester bestimmt. Drittens verlangte er einen Wagen voll Edelsteine und Kunstgeräte, wie sie nur die Zwerge zu verfertigen verstehen, einen Wagen voll von gemünztem Golde, weil das Sprichwort sage: Bares Geld lacht, und die Brüder gern auch lachen wollten. Endlich wollte er noch je einen Wagen für die drei Brüder, höchst bequem eingerichtet, mit Glasfenstern versehen, und zu diesen drei Wagen alles Nötige: Kutscher, Pferde, feine Geschirre und Riemzeug.

Die Zwerge wanden sich und krümmten sich bei diesen Forderungen; es half ihnen aber all ihr Gewinsel nichts, sie mußten sich fügen. »Wenn ihr nicht wollt«, sagte der Gebieter, »so ist es mir auch recht, so bleiben wir da; es ist ja recht schön bei euch; ich nehme euch allesamt, wie ihr da seid, eure Mützchen. Dann seht, was aus euch wird, wenn euch jeder erblicken kann – totgeschlagen werdet ihr, wo sich nur einer von euch sehen läßt. Noch mehr! Ich fahre hinauf auf die Oberwelt und sammle Kröten, die geb' ich euch dann, jedem eine, vor dem Schlafengehen mit ins Bett, und ihr werdet bald anderen Sinnes sein.«

Wie der Gebieter das Wort Kröten aussprach, stürzten alle Zwerge wie verzweifelt auf ihre Knie und riefen: »Gnade! Gnade! Nur das nicht! Um alles in der Welt! Nur das nicht!« – denn die Kröten sind der Zwerge Abscheu und Tod. Seufzend willigten sie in sein Begehr und gingen alsobald ans Werk, um alle Gebote ihres strengen Gebieters zu vollziehen. – Aber in der Mühle des alten grämlichen Müllers droben war jetzt nicht mehr gut sein. Denn als der jüngste Bruder auch davongegangen war, murrte der Müller: »Nun – der ist auch fort – bleibt auch aus wie das Röhrenwasser – so geht es – das hat man davon, wenn man Kinder großzieht – sie wenden einem den Rücken zu. Nun ist nur noch das Mädchen da, mein Augapfel, mein Liebling.« Der Liebling saß da und begann zu weinen.

»Weinst du schon wieder!« murrte der Alte, »denkst, ich soll meinen, du weinst um deine Brüder? Um den armen Schlucker weinst du, der dich freien will. Er hat nichts, du hast nichts, ich habe nichts, haben wir alle dreie nichts. Hörst du was klappern? Ich höre nichts. Die Mühle steht – ich kann nicht mahlen – du kannst nicht heiraten, oder wir halten des Bettelmanns Hochzeit. Wie?« – Solcherlei Reden hatte die Tochter täglich anzuhören.

Da kamen eines schönen Morgens drei Wagen angefahren und hielten vor der Mühle; kleine Kutscher fuhren, kleine Lakaien sprangen vom Tritt und öffneten den Schlag des ersten Wagens; drei junge hübsche Herrchen stiegen aus, fein gekleidet, wie Prinzen.

Viel Dienerschaft wimmelte um die übrigen Wagen, lud Kisten, Kasten und schwere Truhen ab, und trugen alles in die Mühle. Stumm und staunend standen der Müller und seine Tochter da.

»Guten Morgen, Vater! Guten Morgen, Schwester! Da wären wir wieder!« riefen die drei Brüder. Die beiden aber starrten sie verwundert an. »Trink uns den Willkommen zu, lieber Vater!« rief der Älteste und nahm aus eines Dieners Hand eine Flasche und schenkte einen überaus künstlich gearbeiteten Goldpokal voll edlen Trankes und hieß den Vater trinken. Dieser trank und gab den Pokal weiter, und alle tranken, auch der Bräutigam der Tochter. Dem Alten strömte Wärme in das kalte Herz, und die Wärme wurde zum Feuer der Liebe. Er weinte und fiel seinen Söhnen in die Arme und küßte sie und segnete sie.

Darüber fingen vor Freude die Mühlräder, die so lange stillgestanden hatten, an, sich rasch zu drehen, klipp di klapp, um und um, klipp di klapp, um und um.


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