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II. Das seelisch-leibliche Problem: Die Sexualität

1. Die Autonomie der psychophysischen Wurzel.

Nachdem die Selbständigkeit und das Eigenrecht der rein seelischen Liebe zu gebührendem Ausdruck gekommen ist, liegt uns nunmehr ob, die gleiche Objektivität den physischen Funktionen der Geschlechtlichkeit entgegenzubringen. Sowenig wie die Seelenliebe eine Abhängigkeitsgröße des Geschlechtstriebs, sowenig ist dieser eine Abhängigkeitsfunktion der Seelenliebe. Er hat im ganzen der menschlichen Natur seine eigene Bedeutung und seine eigenen Werte, welche als solche zu begreifen wir versuchen müssen. Daß bei diesen Untersuchungen auch beim Aufnehmenden ein hohes Maß von Sachlichkeit vorausgesetzt werden muß, versteht sich bei einem Gebiet, das durch blinde Meinungen der Einzelmenschen und Kulturen nur allzusehr verdorben worden ist, von selbst. Die Philosophie wendet sich nicht an unreife Lebenskräfte, denen die Erörterung physischer Eroswirklichkeiten eine Welt von Instinktgefühlen einschließt, sondern an den Willen zu besonnenem Urteil auch über diese wichtigen Inhalte des Daseins, die nur auf Grund ruhiger Analyse von den Geheimnissen befreit werden können, die aus einer grundlegenden Erlebniskraft der Menschheit einen zu fürchtenden Popanz gemacht haben. Das eben ist die tiefste Quelle sexueller Mißstände, daß man die philosophisch eindringende Erörterung der Fragen glaubt scheuen zu sollen, weil das Sexuelle angeblich aus dem Bereich des menschlich zu Billigenden hinausragt. Bei dieser auf jahrtausendalter Lebensfeindschaft beruhenden Furcht bleibt man darauf angewiesen, seine Einsicht in eines der wichtigsten Lebensgebiete aus den Ausführungen vorurteilsvoller Moral oder der Medizin zu entnehmen, welche beide des wesentlichsten ermangeln: allseitigen Ueberblicks über die gesamten Reichtümer und berechtigten Tendenzen einer harmonischen Menschentotalität. In den folgenden Ausführungen soll versucht werden, das Sexuelle sowohl vorurteilslos als mit einigem psychologischen Feinsinn in den Rahmen des harmonischen Menschen einzufügen, und zwar mit derselben Kühle und Objektivität, als ob es sich um mathematische Gebilde handelte. Wer in seiner Apperzeption sexueller Wesensverhalte von affektiven Regungen, sei es Wut gegen das Sexuelle oder Geschlechtstriebresonanz, nicht grundsätzlich absehen kann, täte besser, eine Philosophie dieses Gebietes zu überschlagen. Sein Geistlicher oder sein Arzt dürfte zu seiner Förderung geeigneter sein als die Philosophie, die nur auf Grund objektiver Einsichten unabhängig von allen Affekten reifen Geistern etwas Wertvolles zu sagen vermöchte.

So wesensfalsch es ist, die Seelenliebe als Funktion des Geschlechtstriebes mißzuverstehen, so wenig entspricht es dem Sinn der Natur, das Sexuelle bloß im Hinblick auf den Zweck der Fortpflanzung zu betrachten und als berechtigt gelten zu lassen. Fortpflanzung und Geschlechtsleben haben jeweils ihre eigenen Bedürfnisse und vernünftigen Interessen, die sich nicht decken, sondern nur innerhalb gewisser Grenzen koinzidieren. Wer die Fortpflanzung in ihrem Streben zur Hinaufentwicklung der Menschheit von den blind wirkenden Trieben der Geschlechtlichkeit abhängig macht – und in unserer Kultur ist dies noch weitgehend der Fall –, der schädigt die biologisch-kulturellen Aufgaben der Menschheit und die Bedürfnisse humaner Sozialordnung auf das schwerste. Eine ähnliche Schädigung berechtigter Lebensinteressen wird dadurch hervorgerufen, daß die sexuellen Kräfte durch ausgesprochene oder unausgesprochene Theorien dem Fortpflanzungsbegriff untergeordnet werden, also ihres Eigenwertes für menschliches Erleben verlustig gehen sollen. Durch eine derartige Unterordnung eines Lebensgebietes unter ein anderes mit anderer Wesensbedeutung wird die Harmonie der Menschennatur gewaltsam verstümmelt.

Es dürfte aus zahllosen Beobachtungen innerer und äußerer Art unmittelbar klar sein, daß bei einer überwiegenden Mehrzahl der Menschen, und insbesondere derer, bei welchen der Pol M eine beträchtliche Rolle spielt, das Geschlechtsleben zu den unerläßlichen organischen Funktionen gehört, die in sich selbst ebenso begründet sind wie etwa das Bedürfnis nach Nahrung, und deren gute Folgeerscheinungen für menschliches Kulturleben aus der unmittelbaren Gegebenheit ihrer selbst hervorgehen, nicht etwa aus sekundären Phänomenen, die damit verbunden sein können, aber nicht damit verbunden zu sein brauchen. Das Sexuelle hat in der Menschennatur eine ebenso berechtigte Stelle und ähnliche Kulturbedeutung wie die Strebekräfte des Ernährungssystems sie besitzen. Der Hunger des Geschlechts ist eine selbständige Unterart des allgemeinen organischen Verbindungsbedürfnisses mit der Außenwelt, ähnlich wie der Hunger des Magens, der Hunger des Geistes, der Hunger des Herzens. Es zeugt von geradezu kindischer Willkür – deren Ursachen jedoch begreiflich sind –, wenn die sexuellen Wirklichkeiten im Zusammenhang des Menschlichen manchmal so beurteilt werden, als ob sie kein Existenzrecht hätten. Die Natur in ihrer Harmonie dürfte in Bezug auf die letzten Lebensziele doch weiser sein als solche subjektivistischen Theorien, die das Leben bedrücken, weil ihre Urheber keine Möglichkeit sahen, das Sexuelle mit den andern berechtigten Interessen des Lebens störungslos zu verbinden.

Die aus dem Unbewußten des Organismus wirkenden sexuellen Strebekräfte haben ihr eigenes Gesetz, ihren eigenen Wert, ihre eigene Lebensaufgabe. Es heißt die menschliche Natur verkümmern, wenn man die Berechtigung dieser Kräfte in Abrede stellt. Verschieden wie die Charaktere sind wohl die sexuellen Einstellungen der Menschen. Aber daß für die überwiegende Mehrzahl das Geschlechtsleben seine wesentliche Funktion im psychischen Ganzen ausübt, läßt sich schwerlich bezweifeln. Lebensfeindlich und barbarisch erscheint eine Sitte, welche dieser grundlegenden Tatsache nicht Rechnung trägt, sondern in den Bereich des Lasters verweist, was viele Menschen zu hohen Zielen stärken mag. Der geschlechtskalte Typus der Menschen ist zum Tyrannen der Sitte geworden. Was man selbst entbehren kann, weil man durch den Pol W beherrscht oder durch jahrhundertlange Gefühlsfälschung zur Dekadenz der gesunden Lebenskräfte gelangt ist, soll nach dieser Auffassung von allen entbehrt werden, wenngleich die Entsagung wurzelhafte Schädigung aller schönen, frohen Wirksamkeit mit sich bringen mag. Alle physischen Bedürfnisse werden bejaht, insbesondere diejenigen des Magens. Die geschlechtlichen sollen – aus noch zu besprechenden begreiflichen, aber heute unzulänglichen Gründen – verneint werden. In allem Physischen nimmt man Bedacht auf die natürlichen Bedürfnisse der Verfeinerung, Variation, Höherkultivierung. Das Sexuelle allein wird mit dem Fluch immerwährender Häßlichkeit bedacht, indem man sich scheut, seine Eigengesetzlichkeit zu erforschen und, soweit sie irgend lebenfördernd ist, zur Geltung gelangen zu lassen. Aus den Grenzen der kulturellen Wirklichkeit stößt man eine grundlegende Erlebnisenergie der Wirklichkeit, indem man sich in kindischer Prüderie scheut, ihre Eigenart mit klarem Sinn eingehend zu erfassen.

Diese willkürlich menschlichen, dem weisen Kosmos der Natur feindlich entgegenwirkenden Kulturtendenzen müssen im Interesse einer harmonisch fortschreitenden Menschheit in ihre Schranken zurückgewiesen werden, nachdem sie im Lauf der letzten Jahrtausende den Bereich ihrer vernünftigen Geltung weit überschritten haben, ohne zu beachten, daß ihr Geltungsbereich mit der zunehmenden menschlichen Kultur immer mehr eingeschränkt worden ist, sofern diese Mittel und Wege schuf, die Kollision der physischen Eroswelt mit biologischen und sozialen Interessen zu vermindern. Die Beurteilung des Sexuellen durch lebenverneinende Sitten trägt den Grund ihrer zeitweiligen Berechtigung nur in der mangelnden Einsicht in dessen Wesen, und in seiner weitgehenden Koinzidenz mit Interessen der Vergesellschaftung und der Fortpflanzung, mit denen es eigentlich an sich nichts zu tun hat, ebensowenig wie die menschliche Geschmackskultur. Aus dem Bedürfnis, der Menschheit zu einer Sittlichkeit den Weg bahnen zu helfen, die den Reichtum des Lebens ehrlich zu bejahen erlaubt, ist es notwendig, die Moral der Lebensverneinung vermöge wesensanalytischer Philosophie einer Kritik zu unterwerfen. Nicht die Freude an der Anarchie einer blind wirkenden Natur, sondern die Ueberzeugung, daß die Lebensfreude durch Harmonisierung der Kräfte, erhöht werden muß, führt uns zu dieser Einstellung. Lebensfreude schädigen ist eine Sünde, die in jeder Weise vermindert werden sollte. Es ist klar, daß eine Moral, die von der Voraussetzung der Sündhaftigkeit der Lebenskräfte selbst und von der zweiten Voraussetzung der notwendigen Kollision der physischen mit den sozialen und biologischen Interessen ausgeht, dieser Sünde wider das Leben Vorschub leistet.

Die physischen Eroswirklichkeiten sind von den psychischen, sozialen und biologischen unabhängig. Sie folgen eigenen Gesetzen und haben eigene Wertbedeutung. Im Gesamtorganismus der Menschheit verbinden sich alle vier Funktionen zu harmonischer Einheit, deren Wesen irrational und also schwer durch Abgrenzungen zu erfassen ist. Diese Einheit besteht aber auf Grund der Verschiedenheit der Wurzeln, wie jede organische Einheit auf Grund der Verschiedenheit ihrer Funktionen existiert. Einzelne Funktionen von ihrer Selbständigkeit entfernen bedeutet auch Schädigung des Gesamtorganismus. Es ist die Aufgabe der sich entwickelnden Menschheit, die harmonische Einheit der Menschennatur immer plastischer zu gestalten, indem das verworren Verbundene über klare Funktionstrennungen zu ausgeprägter Vollendung gestaltet wird. Daß in jedem Menschen jede Funktion eine wichtige Rolle spielt, kann nicht behauptet werden. Wie mancher hat nicht die Fähigkeit tiefer Seelenliebe! Wie viele empfinden keine Forderungen der physischen Natur! Heirat und Fortpflanzung liegen für eine große Anzahl außerhalb des Bereichs, der ihrem Leben zur Vollkommenheit genügt. Diese Minusformen der ganzen Menschentotalität, von denen durchaus nicht gesagt werden kann, daß sie Wertunterschiede des Erlebens begründen, durchkreuzen sich zu den mannigfachsten Verbindungen. Nicht jedem Charakter kann alles als gleich wesentlich erscheinen. Die allseitige Ueberlegung hat aber alles als gleich wesentlich zu behandeln, da in der Ganzheit der Menschennatur einmal diese, einmal jene Tendenzen als die wichtigsten sich darstellen. Eine Analyse der physischen Eroswirklichkeiten wird manchen entbehrlich, andern wieder sehr wünschenswert erscheinen. Wem die Natur eine Gestaltung seines Lebens unabhängig von physischen Kräften ermöglicht, kann durch eine Wesensanalyse des Physischen nur objektive Einsichten erfahren, aus denen er keine Folgerungen für sein Leben ziehen könnte. Andern, denen die Natur eine andere Kräfteverteilung zugewiesen hat, geschieht eine Förderung, wenn das berechtigte Wesen dieser oft verleumdeten Eroswirklichkeiten in ihrer relativen Lebensberechtigung dargetan wird. Die Einsicht ist auch hier Führerin zu lebenfördernder Beurteilung.

Seelenliebe ist, wie dargetan wurde, vom Geschlechtstrieb unabhängig. Andererseits ist der Geschlechtstrieb vom Bestehen seelischer Liebe unabhängig. Eine feinsinnige Ethik wird natürlich wünschen, daß das Sexuelle, als der rohere Teil der Lebensenergien, stets mit feineren verbunden sei und in deren Dienst gestellt werde. Unbeschadet dieser sehr berechtigten Forderung muß aber zunächst eingesehen werden, daß das Geschlechtliche eine physische und psychophysische Wirklichkeit darstellt, deren Gesetz in ihr selbst liegt. In der verschlungenen Rhythmik des Lebens spielen gerade die leiblich fundierten Prozesse eine grundlegende Rolle. Es gibt nur wenig Prozesse leiblicher Lebenswandlung, die mit dem Sexuellen an grundlegender Bedeutung vergleichbar wären: etwa die Rhythmik des Ernährungssystems, die psychophysischen Wellenkurven von Wach- und Schlafzuständen, die Atembewegung und der Blutkreislauf. Ebenso wie jedes dieser Gebiete seine Berechtigung im Organismus und seinen Wert in der gesunden Harmonie besitzt, so auch das Sexuelle. Es ist von den höheren psychischen Wirklichkeiten des Erlebens durchaus zu trennen, wenn man es zunächst in seiner Eigenbedeutung verstehen will.

Den allgemeinen organischen Lebensgesetzen ist das Sexuelle wie jede andere Leibesfunktion unterworfen, und man sollte versuchen, sich vor der Anerkennung dieser Selbstverständlichkeit nicht mehr zu fürchten. Fürchtet man sich doch auch nicht vor dem Zugeständnis, daß das Essen eine berechtigte Stelle in der Menschennatur einnimmt, und daß es durch Ausgestaltung seiner physischen Gesetzlichkeit zu einem Kulturfaktor wird, dessen Sinn über die Ernährung des Tieres weit hinausreicht. Das Sexuelle mit Acht und Bann belegen, heißt einen grundlegenden Lebensfaktor im Dasein der meisten Menschen zum Schaden ihrer Gesundheit und ihrer Tatkraft ersticken. Gewaltsame Bekämpfung des Geschlechtstriebes in Menschen, denen er innewohnt, dürfte eine ähnliche Barbarei sein wie das Verbot des Schlafens. Wer die negative Drehung der Rädchen im Lebensmechanismus – wenn das Bild gestattet ist – hemmt, indem er durch fortwährende Geräusche oder Schmerzen die kraftvolle Drehung in dieser Richtung unmöglich macht, der wird auch erleben, daß die positive Drehung im handelnden und denkenden Wachbewußtsein sich in der Nähe der Nullschwelle hält. Systole und Diastole rufen einander gegenseitig hervor, und zwar um so stärker, je stärker die Einzelphase vertieft ist. So steht auch das Sexualleben zum Geistesleben im Konträrverhältnis der negativen Phase innerhalb der Menschentotalität.

Der Geschlechtstrieb ist in manchen Menschen nur schwach oder gar nicht merklich vorhanden. An solchen Menschen kann nicht das Material für philosophische Durchdenkung dieses Gebietes gewonnen werden, noch haben sie irgendwelches Recht, allen übrigen Menschen ihre eigene Naturanlage zur Vorschrift zu machen. Das Umgekehrte gilt ebenfalls: der sexuell Veranlagte sollte nicht glauben, er dürfe allen Menschen die gleiche Veranlagung als Pflicht zumuten. Die Naturkräfte sollten, wo sie vorhanden sind, in ihrer lebensgemäßen Eigenart anerkannt werden, ohne daß daraus gefolgert wird, sie müßten auch da existieren, wo die Vorbedingungen fehlen. Insbesondere ist zu betonen, daß die Betätigung psychischer Liebeskraft sehr oft jedes Bedürfnis physischer Art überflüssig macht, ja daß zwischen der einen und der andern Liebesform ein gewisser Antagonismus der Gesamteinstellung besteht. Ueber jeden Zweifel erhaben ist aber die Tatsache, daß die eine Form zum mindesten die Möglichkeit in sich enthält, ohne jede Beigabe der andern ihren Erlebniswert zu entfalten. Die physische Beziehung ist, sofern sie als solche wertbetont erlebt wird, gänzlich unabhängig von jeder seelischen Liebe möglich und des öfteren wirklich. Es wäre grundverkehrt, das rein Physische als etwas Tierisches mißzuverstehen. Die echt menschlichen Erlebniswerte des Physischen an sich – sofern es nämlich als solches schon psychische Werte enthält – können ebensowenig geleugnet werden wie die echtmenschliche Eigenart des Essens im Gegensatz zur tierischen Ernährung. Es besteht zwischen Mensch und Tier schon innerhalb der physischen Gebiete selbst ein wesentlicher Unterschied.

Auch von der sozialen Wurzel des Eros ist die physische unabhängig. Aus Geschlechtsbeziehungen ergibt sich die Notwendigkeit dauernden Verbundenseins und Miteinanderlebens der Menschen nur auf Grund sekundärer Erwägungen, so wichtig diese auch sein mögen. An sich betrachtet enthält die Geschlechtsverbindung kaum mehr Elemente dauernder Sozialgemeinschaft als irgendeine andere gegenseitige Förderung zweier Menschen durch beliebige Hilfsmittel. Diese Unabhängigkeit des physischen vom sozialen Eros ist ursprünglich allerdings eine bloß theoretische Sache. Im Urzustand der Menschheit verbindet sich das Physische engstens mit dem Biologischen, der Fortpflanzung, und diese ist, noch in den Kulturumständen unserer Epoche, praktisch engstens verknüpft mit der Pflicht sozialer Verbindung. Die urmenschliche Verbundenheit dieser drei Wurzeln, vielleicht auch der psychischen nebenbei, wird besonders vom Instinkt des Weibes mit aller Deutlichkeit empfunden. Das Sexuelle als solches muß sich, von dieser Seite betrachtet, schon gefallen lassen, ganz unter den Gesichtspunkten wesensfremder Gebiete beurteilt zu werden. Man kann wohl auch sagen, daß der weibliche Instinkt hier die organische Einheit der Erosfunktionen vorwegnimmt, welche als schönes Ziel der Entwicklung voranleuchten soll. Aber diese Vorwegnahme dürfte verfrüht sein. Die fortschreitende Verselbständigung der vier Erosgebiete nimmt ihren Fortgang in der Geschichte trotz dieses zugleich sehr primitiven und sehr idealen Instinktes. Und es ist nicht anzunehmen, daß durch ihn der Prozeß der Analyse aufgehalten werden kann. Dieser ist eine Abhängigkeitsfunktion menschlicher Kulturerfindungen.

Menschliche Kulturerfindungen sind keine künstlichen Beigaben zum eigentlichen Wesen der Menschheit, sondern sie bilden einen Wesensbestandteil des Menschlichen. Von der Erfindung des Kleides bis zu den Errungenschaften moderner Technik steht die ganze Schöpfung menschlicher Tatkraft im Dienste der Selbstwerdung der menschlichen Natur. Diese besitzt von Anbeginn nur die Aufgabe, zu sich selbst zu gelangen. Der Mensch als bloße Naturgröße ist nicht der typische Vertreter der Menschheit, sondern ihrer ungelösten Aufgaben. Mit jedem Fortschritt der Kultur gelangt auch das Wesen der Menschheit näher zu seiner Sonderart, die in der ganzen organischen Welt kein Analogon besitzt. Es ist bekannt, daß menschliche Kulturerfindungen im Bereich des physischen Eros manche Wandlungen erzeugt haben, die aber von vielen Beurteilern, eben weil sie »künstliche« Menschenerfindungen sind, als dem Sinn der Natur zuwiderlaufend abgelehnt werden. Daß in allen Zusammenhängen das »Künstliche« mit zum Natürlichen der Menschheit gehört, daß der Mensch die seltsame Aufgabe in sich trägt, seine Natur durch Eigenschöpfung zu vollenden, wird in seiner grundsätzlichen Bedeutung wenig beachtet. Und doch heißt es den Menschen auf das Niveau des Tieres versetzen, wenn man ihm zumutet, seine Kulturerfindungen als fremde Störungen der Natur zu betrachten und ihrer auf sehr wichtigen Gebieten zu entraten. Eine Menschheit, der die Kulturfreiheit genommen ist, wäre nicht einmal eine besonders sympathische oder glückliche Abart des Tieres. Denn sie erscheint mit derart schweren Störungen dem Tier gegenüber behaftet, ihr Eros ist so kompliziert und so individuell und selbstwillig geartet, daß ohne die Kultur, welche diese Komplikationen beherrscht, der Mensch als das unglücklichste aller Tiere beurteilt werden müßte. Aber dies ist das Mysterium der Kultur, daß sie die Naturkomplikationen des Menschen zu Lebenswerten macht, die dem Tiere fehlen. Die Unvollendetheit der menschlichen Einheit am Anfang des Entwicklungsverlaufes ist die Ursache von Kulturerfindungen, die aus den Unvollkommenheiten neue Erlebniswerte schaffen. So ist die Nacktheit des Menschen der Mangel gewesen, der ihn im Gegensatz zu jedem Tier zur Erfindung des Kleides bewog, welches in seiner freien Gestaltungsmöglichkeit spezifisch menschliche Erlebniswerte verwirklicht.

Das Gebiet des Sexuellen ragt für unsere Betrachtungsweise nicht aus dem Rahmen der menschlichen Gesamtfunktionen heraus. Für dieses Gebiet gelten ähnliche Lebensgesetze wie für alle andern. Auch in ihm liegt eine Naturunvollkommenheit vor, die durch Kultur beseitigt werden und zugleich dem Menschentum gewonnen werden soll. Durch menschliche Kultur ist zur Tatsache geworden, daß die urweltliche Verbundenheit von mindestens zwei Eroswurzeln, nämlich Sexualität und Fortpflanzung, weitgehend gelöst erscheint. Und daß infolgedessen ethische Gesichtspunkte, die unter der Voraussetzung der Wesensverbundenheit dieser beiden Funktionen berechtigt sind, von ihrem absoluten Geltungswert eingebüßt haben. Es dürfte sich schwerlich bezweifeln lassen, daß der Grund für die Sonderbehandlung der sexuellen Sphäre im Vergleich mit andern physischen Funktionen des Menschen in dem urweltlichen Verbundensein von Sexualität und Fortpflanzung liegt. Besteht dieses Verbundensein, so geht es allerdings nicht an, das Sexuelle mit andern physischen Funktionen in eine Linie zu stellen. Denn es hat durch seine Folgen eine Sozialbedeutung, die ungeheuer viel wichtiger ist als es selbst, als bloßes Phänomen an Menschen: nämlich die Erzeugung von Menschen mit all ihren Funktionen. Gewissenlos wäre es im höchsten Maße, eine formale Gleichstellung des physischen Eros mit andern physischen Lebenswirklichkeiten zu befürworten, wenn nicht die physische Wurzel als solche unabhängig von allen andern existieren kann. Die Beantwortung des hierin bestehenden Zweifels geschieht durch die Kultur selbst. Theoretisch läßt sich eine absolut gültige Behauptung nur dahin abgeben, daß der notwendige Zusammenhang von Sexualität und Fortpflanzung durch die Entwicklung der Kultur allmählich zu einem nicht mehr notwendigen geworden ist, und daß der Zusammenhang mit allen Relativitäten einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung behaftet ist. Daß sich hieraus eine eindeutig klare ethische Neueinstellung gewinnen ließe, kann nicht behauptet werden. Es scheint, als ob die Eigenverantwortung des Menschen durch den Fortschritt der Zeiten in ihrer Kulturbedeutung verstärkt werden soll, ohne daß sie durch allgemeinverbindliche absolute Gesetze gelenkt werden könnte. Unrecht gegen das Leben sollte, idealiter gesprochen, nach zwei Seiten unbedingt vermieden werden: sowohl nach der Seite der berechtigten Aktivitäten als nach der Seite sozialer Vorschau. Daß die letztere noch wichtiger ist als die erstere, dürfte sich nicht bezweifeln lassen. Daß aber das Gegenspiel beider Rücksichten dem Fluktuieren einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung unterliegt, läßt sich ebensowenig in Abrede stellen. So daß der Hinweis auf größtmögliche Gewissenhaftigkeit in Entscheidungsfällen die einzige allgemeingültige Regel ist, die sich auf Grund der Gegenwartskultur aufstellen ließe.

Die weitgehende Unabhängigkeit der physischen und biologischen Erosfunktion enthält gleichzeitig die ebensogroße Unabhängigkeit zwischen physischer und sozialer Funktion. Geschlechtsleben und Ehe haben verschiedene Interessen, die wohl in Verbindung gelangen können, ohne daß dies aus dem Wesen der beiden Begriffe notwendig hervorgehen müßte. Die Ehe als Geschlechtsverhältnis grundlegend zu definieren, bedeutet die Verkennung ihrer tieferen Eigenart. Das Geschlechtliche als naturhaften Inbegriff der Ehe aufzufassen, bedeutet eine Festsetzung bloßer Willkür, die sich auf die Gewohnheit bestimmter Geschichtsperioden gründet. Die physische Wurzel des Eros unabhängig von der biologischen betrachtet enthält keinerlei Wesensmerkmal, aus dem sich die Verpflichtung zu dauernder Sozialverbindung ableiten ließe. Und je mehr die Selbständigkeit des Physischen durch die Kultur zur Wirklichkeit wird, desto größer wird auch die Unabhängigkeit von Ehe und Geschlechtsleben für ethische Beurteilung, die ihre Richtlinien aus dem Wesen der Dinge entnimmt. Die Einstellungen der überlieferten Bewertung dieses Verhältnisses sind von einem altertümlichen Kulturzustand eingegeben, der die Gefühle der Menschen mit großer Gewalt in eine Richtung wies, die nicht mehr die gleiche Allgemeingültigkeit für sich in Anspruch nehmen kann, seitdem die Kulturverhältnisse sich wesentlich geändert haben. Wir stehen vor der beachtenswerten Tatsache, daß die Entwicklung der menschlichen Technik und Erfindungskultur überhaupt nicht nur das reale Leben tatsächlich umgestaltete, sondern daß sie zur Wirklichkeitsvoraussetzung für eine Verschiebung moralischer Bewertung geworden ist, deren Anerkennung vielleicht eine Frage noch sehr langer Zeit sein wird, aber doch eine Frage der Zeit. Die ethischen Grundlagen, die bezüglich einer gewissen Entwicklungsstufe der menschlichen Kultur allgemeine Geltung besitzen, weil sie aus den Wesensgesetzen der Epoche vernünftigerweise zwingend zu folgern sind, verlieren ihre allgemeine Geltung, wenn die Voraussetzungen sich verschoben haben. Die äußere Kultur der Menschheit ist für die innere Wertgebung von merklicher Bedeutung.

Die sexuelle Ethik, die in früheren Jahrhunderten in der Form absoluter Lehrsätze auftreten konnte, welche der kulturellen Unfreiheit einer noch frühen Menschheit entstammten, ist in der Epoche unserer Jahrhunderte im Begriff, zu einem beweglicheren System sorglicher Abwägungen zu werden. Zwischen Physis und Fortpflanzung, zwischen Physis und Krankheit, zwischen Physis und seelischer Menschenbindung ist ein dreifaches Moment des Abwägens getreten, welches nur vom Gewissen des Einzelmenschen betätigt werden kann und nicht in allgemeine Regeln unabhängig von gegebenen individuellen Umständen gefaßt werden könnte. Diese Entwicklung zu größerer Labilität ist eine Tatsache in der Menschheit, die mit dem befreienden Wert fortschreitender Lebensfreude das bedenkliche Moment der Gefahr verbindet, die zu ihrer Bemeisterung eine Reifestufe höherer Art voraussetzt. Aus den ethischen Einstellungen einer Vergangenheit lassen sich Entwicklungen niemals als berechtigt erkennen. Sind sie doch ein Neues, das die Grundlagen selbst wandelt, auf welche Urteile gegründet werden. Im Reich der Tatsachen treten Zukunftswerte zunächst immer als Widersacher gegen das Bestehende auf, die sich ihrer Schwäche gar sehr bewußt sind und sich gleichsam selbst noch furchtsam als minder wertvoll beurteilen lassen, ja selbst beurteilen. Erst später erfaßt der Geist das Wesen der Strebekräfte in ihrem berechtigten Sinne, und was längst Praxis war, wird dann auch langsam zur theoretischen Einsicht.

Wie die physische Wurzel selbst wesensunabhängig von den andern drei Wurzeln des Eros ist, so besteht auch eine Autonomie des Rechtes bezüglich der verschiedenen Lebensgebiete. Das Naturrecht auf Fortpflanzung ist begründet durch den Willen des betreffenden Menschen zur Fortpflanzung und außerdem durch seine gesundheitliche Eignung, lebensfrohe Nachkommen zu schaffen. Das Naturrecht bezüglich der Eheschließung ist schon ein davon recht verschiedenes, da außer dem persönlichen Willen besonders das Alter und die sozialen Möglichkeiten mitbegründend sind. Das Naturrecht der psychischen Liebe fällt zusammen mit der Fähigkeit, sie zu erleben. Das Naturrecht normalen Geschlechtslebens ist in der psychophysischen Gesetzlichkeit der Lebensrhythmen begründet. Dieses letztere Recht kann in sehr vielen Fällen auch dann bestehen, wenn vielleicht das Recht auf Fortpflanzung oder das Recht bzw. die Möglichkeit der Eheschließung fehlen. Es dürfte völlig barbarisch sein, die Autonomie dieses Lebensrechtes von Voraussetzungen abhängig zu machen, die mit seiner eigenen Naturbegründung nicht das mindeste zu tun haben. Es mag mancher gewissenhafte Mensch aus ernsthaften sozialen Gründen sich nicht das Recht zuerkennen können, Nachkommen zu verursachen, und es mögen viele andere ebenfalls aus sozialen Gründen nicht in der Lage sein zu heiraten. Andere wieder, bei denen diese Hemmungen nicht bestehen, sehen sich durch berechtigte seelische Gründe genötigt, auf gegebene reale Ehemöglichkeiten im Hinblick auf damit verbundene ideale Unmöglichkeiten zu verzichten. Es gibt sonach große Menschengruppen, denen es eine wesentliche Frage der Lebensfreude bedeutet, ob das Sexuelle durch die theoretische Beurteilung der Kultur seines Eigenwertes und Eigenrechts beraubt wird oder nicht. Naturrechte nur unter der Beurteilung des Unrechts, ja des Verbrechens oder der Sünde, geltend machen zu sollen, ist eine Zumutung, die bei feinsten Individuen nur dazu führen kann, das Naturrecht auf Kosten vieler Lebensfreude zu ersticken, während sie bei dem gröberen Durchschnitt zum Anlaß wird, edle menschliche Kräfte tatsächlich mit verbrecherischen Sozialwirklichkeiten zu verbinden, mit denen diese edlen Energien nichts zu tun haben.

Es dürfte sich aus all diesen Gründen empfehlen, sich über das Wesen menschlicher Sexualität eine objektive psychologische Einsicht zu erwerben, auf Grund deren ihre Beurteilung in die Bahn der Gesundheit und des Naturrechts geleitet werden kann.

2. Das Wesen der menschlichen Liebeserweisung.

Ueber das Wesen menschlicher Liebeserweisungen fehlen uns noch so gut wie alle psychologischen Forschungen. Von wenig Ausnahmen abgesehen haben sich die Psychologen dieses überaus wichtigen Gebietes der Menschennatur noch nicht bemächtigt. Man sucht vergebens nach der Wesenspsychologie sogar der einfachsten Sympathieäußerungen und menschenverbindenden Ausdrucksformen des Leibes. Das Wesen des Blickes als zentralen Phänomens fesselnden Liebreizes ist in seiner elektrisch-magnetischen Wirkungsweise noch nicht analysiert worden, es sei denn, daß Belletristen in gelegentlichen Aeußerungen diese Naturkraft als wirklich anerkannt haben. Der Erlebnissinn der menschlichen Berührungen und Anschmiegungen ist nie in seiner Kompliziertheit wissenschaftlich erfaßt worden, vielleicht deshalb, weil die Beurteilung dieser Wirklichkeiten nur von einem Standpunkte aus möglich wäre, der die Teile des menschlichen Leibes Träger bestimmter seelischer Energien sein läßt. Eine Seelenlokalisation im Kopf, diese seit Descartes für Psychologen meist unbewußt richtunggebende Voraussetzung ihres Forschens, müßte zunächst als gründlicher Irrtum eingesehen sein, zugunsten der Beseeltheit des ganzen Leibes in qualitativer Mannigfaltigkeit der Wesensimpressionen, die gebunden sind an die einzelnen Organe, Funktionen und Teile des Leibes. Der Klang und Ausdruck einer Menschenstimme ist nur gelegentlich in seiner Wesensart erahnt worden, indem Musikästhetiker auf das Verhältnis dieser Sympathiekraft zu ihrer Kunst hinwiesen, ohne aber die elektrischen Influenzen als solche festzustellen, die sowohl in der Musik als in der Menschenstimme die feinsten Wirkungen allein begründen. Das Wort als Träger der Sympathieströme zwischen Mensch und Mensch bedarf ebenfalls noch eingehendster Wesensanalyse: die Sprachphilosophie pflegt den Eroswert der Sprache gegenüber ihrem Logoswert zu vernachlässigen, zum Schaden ihres vollen Verständnisses für Leben und Dichtung. Der Duft als Träger von Erinnerungen und Medium von Sympathien ist nur belletristisch, nicht wissenschaftlich bekannt, wie denn überhaupt die Psychologie der sogenannten »niederen« Sinne noch fast alles zu wünschen übrig läßt. Das Wesen des Kusses als der hervortretendsten Liebeserweisung vermöge leiblicher Berührung, und als Repräsentant des sexuellen Aktes selbst, ist in psychologisch differenzierter Weise noch niemals allseitig erfaßt worden. All diese Wesensanalysen sind einer zukünftigen Spezialpsychologie vorbehalten, die sich wirklich nicht schämen sollte, auch die wichtigsten Erlebnisgebiete des Menschen mit dem nötigen Ernst zu durchleuchten, nachdem unwichtige Gebiete, welche die Psychologie noch behandeln könnte, sich fast nicht mehr entdecken lassen.

Das Wesen der menschlichen Geschlechtsbeziehung ist wohl noch weniger psychologisch bewußt gemacht worden als das Wesen der andern, weniger zentralen Liebeserweisungen. Ein an sich richtiges Gefühl dafür, daß die Analyse heiliger Wirklichkeiten deren unmittelbaren Sympathiewert schädigen könnte, ist neben einem weniger zu rechtfertigenden Gefühl der Prüderie die Hauptursache dafür, daß man für das Verständnis dieser grundlegend bedeutsamen Lebensbeziehung auf einige dürre Meinungen über Geschlechtstrieb, Gesundheit und Fortpflanzung angewiesen ist, die in medizinischen Werken für den Gedanken richtunggebend sind. Eine eigentliche Wesensanalyse des menschlichen Aktes mit bewußter Herausarbeitung der Unterschiede vom animalischen Mechanismus fehlt uns. Es wäre dies nicht bedauerlich, wenn die Menschen im Bewußtsein unserer Kultur bereits die nötigen Stimmungsgrundlagen für eine wahrhaftmenschliche Einschätzung der Geschlechtsbeziehung vorfänden. Wäre dies der Fall, so hätte man sich vernünftigerweise auf den Standpunkt zu stellen, daß Heiliges in unberührter Harmonie am wertvollsten schafft und wirkt. Wäre eine Wesenseinsicht nicht nötig, gerade um das Heiligmenschliche klarwerden zu lassen, das meistens verkannt wird, so wäre sie vielleicht wissenschaftlich interessant, aber nicht lebenswichtig.

Nun verhält es sich aber in Wirklichkeit so, daß eine Aufklärung des verworrenen Gefühls, eine Durchleuchtung des Unheimlichen, eine Erhebung des Mysteriums ins Licht der Schönheit dringend notwendig erscheint, damit das Wahrhaftmenschliche von der Kultur als solches deutlich erkannt und anerkannt werde. Infolgedessen ist eine Analyse des Zentralphänomens der Liebeserweisungen im Interesse seiner fortschreitenden Vermenschlichung wünschenswert, und die Einsicht mag später, nachdem sie einmal erworben wurde, ruhig wieder in die Tiefen des Unbewußten hinabsinken. Als Hilfsmittel der Läuterung heiligster Wirklichkeiten zu ihrer echtmenschlichen Erlebnisbedeutung besitzt die Wesensanalyse der letzten Sympathieerweisungen eine vorübergehende, aber höchst schwerwiegende Bedeutung. Zwischen vorbewußter Verworrenheit und lebengewordener unbewußter Vernunft läßt sich das Mittelstück bewußter Klarheit auf diesem Gebiet so wenig entbehren wie auf irgendeinem andern. Damit Vernunft als Erleben auftritt, muß sie von der Verworrenheit der Instinkte über die klare Einsicht der Wesensschau zur harmonisch unbewußten Lebenserfüllung geläutert werden. In diesem Sinne erscheint eine Wesensanalyse des menschlichen Aktes unerläßlich zu sein: spielt doch dieses Phänomen im Bereich der Phänomene der Liebeserweisungen die gleiche fundamentale Rolle wie das Kantische sogenannte »Ding an sich« im Bezirk aller Oberflächenerfahrungen. Wir werden jedoch den Kantischen Irrtum, als ob das Ding an sich nicht auch ein Phänomen sei, nicht wiederholen, sondern zwischen Zentralphänomen und peripherischen Erscheinungen einen Wesensunterschied nicht gelten lassen.

Für das Verständnis des menschlichen Aktes sind einige Bemerkungen, welche bestehende Irrtümer bezüglich der Physiologie des Phänomens zurückweisen, nicht entbehrlich. Oft betrachtet man die Geschlechtsfunktion unter dem Gesichtspunkt des Stoffwechsels, rückt sie also in eine Linie mit den andern Stoffwechselphänomenen, die keinerlei positive Lebensbedeutung besitzen. Dieser Gesichtspunkt ist, wenigstens soweit das männliche Geschlecht in Betracht kommt, anscheinend nicht ganz unberechtigt. Daß gelegentlich der Geschlechtsfunktion eine stoffliche Erneuerung im Organismus sich vollzieht oder vorbereitet, ist eine Tatsache. Und daß die physiologischen Energien, die den materiellen Wechsel erstreben, in der Realität des Geschlechtstriebes eine wesentliche Rolle spielen, ist kaum zu bezweifeln. Dennoch aber enthält es ein grundlegendes Mißverständnis, wenn man sich einbildet, daß diese Form eines »Stoffwechsels« mit den andern, negativen Stoffwechselphänomenen auf eine Linie gestellt werden könnte. Im Gegenteil trägt die Sexualität die deutlichsten Merkmale positiv physiologischer Prozesse, wie etwa der Ernährung. Ein weiser Denker, Empedokles, stellte einst die Lehre von den vier Elementen Wasser, Feuer, Luft und Erde auf, welche in moderner Zeit sehr zu Unrecht als bloße Naivität abgetan zu werden pflegt. Vielleicht entdeckt der Physiologe im Kreis der Stoffwechselerscheinungen gerade die vier Elemente wieder, und es ist nur davor zu warnen, daß er glaube, das Feuer sei wie Wasser, Luft und Erde eine Materie. Es ragt durch positive Energie aus dem Rahmen der drei übrigen Elemente heraus, ohne daß man es in der Harmonie des Organismus neben jenen andern missen könnte. In ähnlicher Weise, wie das Feuer von den drei andern Elementen wesensverschieden ist, dürfte das sexuelle Stoffwechselphänomen von den andern wesensverschieden sein. Es ist, obwohl Stoffwechselphänomen, von positiver Eigenart und besitzt also Kulturwert. Daß diese Eigenart der Sache gröblich verkannt zu werden pflegt, ist eine der Hauptursachen der gemeinen Erscheinungsformen der Prostitution. Einem Phänomen negativen Stoffwechsels wären diese Formen wohl angemessen, aber nicht einer positiven Lebensenergie. Daß edle Funktionen der Menschennatur so beurteilt werden, als ob sie zu den unedlen und keiner Achtung würdigen gehören, ist der Hauptanlaß für die niedrige Art, in welcher die abendländische Zivilisation sich mit der Sexualität der Menschennatur abgefunden hat.

Der Stoff ist im Sexualphänomen nur als Träger und Kontaktleiter elektrischer Energien wesentlich. Selbst dieser Träger aber ist positiven Charakters, da er die Quintessenz des Lebens darstellt und in seiner chemischen Eigenart mit der Zusammensetzung des Blutes selbst viel Verwandtschaft hat. Er gehört zu den konstituierenden Stoffen des Leibes, dessen völlige Reife vorausgesetzt werden muß, damit er ohne Schaden erneuert werden kann. Der aufbauende Stoff des Menschenleibes selbst ist es, der dem eigenartigen »Stoffwechsel« der Sexualität zugrunde liegt, nicht etwa ein Abfallstoff der verbrauchten Lebensenergien. Schon rein materiell genommen ist also der Geschlechtsakt geradezu das Gegenteil eines negativen Stoffwechselprozesses: es ist eben der positive Stoffwechselprozeß, den es in seiner Art nur ein einziges Mal gibt. Das Sexuelle stellt einen positiven Stoffwechselprozeß sui generis dar, der außerdem noch etwas ganz neues bedeutet, das nicht mehr Stoffwechsel, sondern Energiewechsel ist. Dieser Energiewechsel zwischen Spannung und Lösung besitzt im menschlichen Leib wenige Zentren – u. a. Kopf, Magen –, unter denen das sexuelle vielleicht das physiologisch wichtigste ist. Auf dem harmonischen Verlauf der vielfach verschlungenen Lebensrhythmen im Leibe beruht das, was man mit falscher materialistischer Einstellung als Gesundheit der Nerven bezeichnet. Die Nerven sind nun allerdings nicht das Wichtige am psychophysischen Befinden, sowenig wie die Drähte bei einem elektrischen Netz. Die strömenden Energien in ihrem Fluktuieren von Spannungen und Lösungen sind das Wichtige bei den sogenannten »Nervenstörungen«, »Nervenkrankheiten«, »nervöser Anomalie«. Im Gewirr all dieser Spannungen und Lösungen liegt der sexuelle Knotenpunkt an beherrschender Stelle: von ihm aus werden die gröbsten, großzügigsten Weisungen an den Organismus weitergegeben, welche auch allen feineren Vibrationen der Energie zugrunde liegen. Der menschliche Akt ist als Phänomen der Wiederherstellung gestörten elektro-magnetischen Gleichgewichts im ganzen Organismus von einzigartiger Bedeutung, die über den Sinn bloßen Stoffwechsels weit hinausreicht.

Während die negativen Stoffwechselphänomene die Ausscheidungen des Toten bezwecken, liegt der Sinn der Sexualität geradezu in der überströmenden positiven Freude des Lebens selbst. Das Leben bedarf des Hinaustretens über seine eigenen Grenzen, um sich selbst zu erfühlen. Dieser Ueberschuß an Kraft, der Ueberschwang der Gesundheit, die schenkende Verschwendung des reichen Lebens läßt sich rational nicht als notwendig für das Leben begreifen. Es gehört zu den tiefsten Geheimnissen lebendiger Natur, daß Leben erst im Ueberschwang sich selbst erlebt. Wer dies Erleben des Lebens als Luxus betrachtet – und manche Moralen scheinen es zu tun –, der hat den Sinn der Freude nicht erfaßt und wird die Menschheit auf die Dauer auch schwerlich davon überzeugen, daß das Atemholen und Essen als zweifellos notwendige Lebensfunktion zugleich auch Gipfel konkreter Lebensfreude sein solle. Das Leben wird nur lebenswert, indem es seine eigenen Grenzen voll schenkender Begeisterung überschreitet. In den unbewußten Trieben des rein physischen Stoff- und Energiewechsels positiver Art ist dieses Gesetz des Lebens angelegt. Dem Leibe werden nützliche Stoffe entzogen, so daß man »beweisen« könnte, es verhielte sich besser anders, wenn man der Ansicht huldigte, die Natur lasse sich durch »Beweise« korrigieren. Das Negative, das in der Entziehung von Materie enthalten ist, wird dadurch positiv, daß die Materie als Träger und Vermittler von Energien auftritt, deren Wechsel und Wandel ihr Leben ausmacht. Das Sexuelle fesseln heißt das Leben an seiner Wurzel schädigen: wenngleich sich mit Bequemlichkeit das Gegenteil »beweisen« ließe. Der Natur entspricht es, das Sexuelle an die Eigenart der verschiedenen Lebensalter anzugleichen. Solange der Leib sich noch nicht selbst zur völligen Reife aufgebaut hat, dürfte es geradezu ein Eingriff in den harmonischen Verlauf der Natur sein, wenn ihm die Lebensfreude gestattet wird, für deren Ueberströmen die Vorbedingungen nicht bestehen. Bevor die Grenzen der leiblichen Reife erreicht sind, ist deren Ueberschreitung eine willkürliche und schädliche Vorwegnahme einer Zukunft, die sich am Leben rächt. Reifen Menschen dagegen zuzumuten, nach der Lebensregel der unreifen zu leben, ist ebenso willkürlich und für die meisten Individuen ebenso schädlich, besonders in Hinsicht auf das nervöse Gleichgewicht. Der Mensch müßte seine Regeln der Natur ablauschen, nicht aber der Natur willkürliche Zumutungen machen. Der rein physiologische Stoff- und Energiewechsel der Sexualität unterliegt zunächst nur dem allgemeinen Gesetz des Lebens, in weiser Angepaßtheit an die Forderungen der Zeit die Natur weder durch willkürliche Hemmungen übertriebener Art noch durch willkürliche Genußsucht in ihrer Harmonie allzumenschlich zu zerstören. Weder zu langsam leben noch zu schnell, ein weises Maß nach beiden Seiten innehalten und wissen, daß der Augenblick eine Ueberschreitung dieses Prinzips erfordern kann, da eine übertriebene Betonung der Aristotelischen Mitte selbst wieder etwas Extremes enthielte – dies dürften die Grundsätze sein, die sich aus dem rein physischen Wesen der Sexualität ergeben.

Mit der bloßen Physis ist der menschliche Akt in seiner Eigenart erst begründet, jedoch bei weitem nicht erschöpft. Die Beziehung des Menschen durch ihn auf die Objektwelt gibt ihm erst seine Wesensbedeutung. Darin gleicht die Sexualfunktion der Ernährungsfunktion. Auch die letztere ist als rein physisches Phänomen nur die Grundlage einer wertvollen Welt von sozialen und ästhetischen Wirklichkeiten. In dieser Hinsicht untersteht sie feinen qualitativen Gesetzen des Kontrastes, der Variation, der sinnvollen Inhaltlichkeit einer ästhetischen und ethischen Bedeutung. Die menschlichen Funktionen der Physis werden zu einer Sprache, indem sie sich auf die Außenwelt beziehen und sinnvoll schöpferisch gestaltet werden. Für das Gebiet des Sexuellen sind diese Wesenseigentümlichkeiten wohl noch bedeutsamer als für das Gebiet des Essens und Trinkens, obwohl sie dort unerhörterweise wie als nicht vorhanden übergangen zu werden pflegen, wodurch der »Geschlechtsakt« in seiner rohen Allgemeinheit auf die Stufe einer tierischen Funktion herabgedrückt wird. Vom rein Physischen erstreckt sich bis zu den höchsten gemüthaften und ästhetischen Inhalten des sexuellen Aktes eine ganze Stufenfolge von Möglichkeiten, die unterschieden werden müssen. Die sogenannten sinnlichen Empfindungen der Sexualsphäre sind das grobe Material, in welchem sich eigentlich nur die Fähigkeit zu menschlicher Sexualität darstellt, ohne daß es sie selbst schon enthielte. Es läßt sich zwischen der Tätigkeit des Auges und der Tätigkeit des Geschlechtspoles nach Schopenhauers Vorgang eine gute Analogie herstellen. Die Empfindung physischen Geschlechtsreizes verhält sich zur wahrnehmenden Sinnlichkeit wie die dem Auge selbst entstammende Lichtempfindung zur optischen Wahrnehmung. Die Empfindung an sich ist ein bloßes Material, das in gestalteter Wahrnehmung erst seinen Wert erhält. Wird die Empfindung unabhängig von Wahrnehmungen veranlaßt, so geschieht eine Schädigung des natürlichen Wahrnehmungsvermögens, und zwar um so schlimmer, je weniger die Weckung der Empfindung mit ihrer eigenen Tendenz, sich zu verwirklichen, zusammenfällt. Dieser Unterschied zwischen Empfindung und Wahrnehmung ist um so wichtiger, je höher die betreffenden Sinne stehen: für Auge und Ohr ist er größer als für Geruchs- und Temperatursinn. Was hier gesagt werden soll, ist dies: daß die geschlechtliche Sinnlichkeit im Zustand der sogenannten niederen Sinne nicht zu verharren braucht, sondern daß sie durch Erfüllung der Empfindungskräfte mit bedeutsamem Wahrnehmungsgehalt unmittelbar in die Nähe der höchsten Sinne, Auge und Ohr, erhoben wird, und daß diese Erhebung des Sexuellen zu »höherer Sinnlichkeit« dem Physischen im Menschen Wert verleihen kann.

Die Sprache drückt eine richtige Wesensbeziehung aus, wenn sie von der »Sinnlichkeit« des Geschlechts redet, da diese Lebenskraft ganz ähnlich wie diejenige, die an Auge, Ohr, Zunge, Nase, Haut gebunden ist, unmittelbare Wahrnehmungen in der Außenwelt auf Grund vorhandener Empfindungsenergien schafft. Die Beurteilung, daß die Sinnlichkeit, im universellen Begriff erfaßt, ein verachtenswertes Seelenvermögen sei, ist heutzutage glücklicherweise aufgegeben. Ist doch sinnliche Beziehung zur Außenwelt vermöge ihrer Unmittelbarkeit an Lebens wert und Erkenntnistragweite zu den grundlegenden Funktionen alles Bewußtseins zurechnen. Der Wert der Sinnlichkeit steht um so höher, je mehr die Empfindungsenergie durch Wahrnehmungsgestaltung objektiven Sinn erlangt. Die sexuelle Sinnlichkeit in der Menschheit in der Art eines höheren Sinnes ausbilden, indem den Empfindungsenergien als bloßer Materie des Erlebens der Wahrnehmungsinhalt ästhetischer, ethischer und sozialer Werte gegeben wird, dürfte das Programm einer gesunden ethischen Entwicklung sein. Die rein physischen Funktionen sind noch nicht werterfüllt, sondern leer, und zwar dies bei allen Sinnen, etwa der Lichtenergie des Auges oder der Schallenergie des Ohres so gut wie beim Geschlecht. Wenig wertvoll bleibt ihre Eigenart ohne Beziehung auf die Objektwelt.

Wie für die optische Wahrnehmung die willkürlose Gegebenheit von Formen, Farben und Linien der Außenwelt das Empfindungsvermögen ohne jeden Zwang zu naturgemäßer und unschädlicher Betätigung anregt, so muß für die gesunde sexuelle Wahrnehmung das willkürlose Dasein eines objektiven Komplexes ein harmonisches Inkrafttreten der physischen Funktion zureichend begründen. In jedem Falle, wo an Stelle der sich selbst auf Grund objektiver Gegebenheiten einstellenden natürlichen Bindung der Empfindungsenergie deren erzwungene und gewollte Aktivierung erstrebt wird, ist die sexuelle Empfindungsfunktion nicht zu ihrem wünschenswerten Wahrnehmungsgehalt gelangt.

Dieser Wahrnehmungsgehalt ist nun abhängig von drei komplexen Qualitäten, unter denen die physiologische grundlegend, die ästhetische vermittelnd und die gemüthafte krönend erscheint. Die physiologische Komplexqualität der objektiven Wahrnehmungskomponente spielt im Sexuellen eine wichtigere Rolle als auf irgendeinem andern Sinnesgebiet. Ebenso wichtig für die sexuelle Wahrnehmung ist diese Komponente wie für die optische Gegenstandswahrnehmung das Vorhandensein von objektivem Licht. Fehlt dieses, so kommt die Wahrnehmung nicht zustande. Sofern die Objektwelt wahrgenommen werden sollte und nicht wahrgenommen werden kann, entsteht ein negatives Phänomen der Unbefriedigung, das dem positiven geradezu entgegengerichtet ist. Die Empfindung ist nicht bloß leer von Wahrnehmungsinhalt, sondern durch das Bewußtsein fehlenden Wahrnehmungsinhaltes seelisch unlustbetont. Die rohe Auffassung des Aktes als bloß formaler Tatsächlichkeit ohne inhaltlichen Wertgegensatz ist eine oberflächliche Beurteilung, die man keiner andern physiologischen Funktion sonst entgegenbringt. Daß die Tatsache des Essens, um ein Beispiel zu nehmen, in ihrer formalen Eigenart nur den Rahmen für gute oder schlechte Inhaltswerte abgibt, wird begriffen. Daß aber im Sexuellen die Verhältnisse nicht anders liegen, wird offenbar deshalb übersehen, weil die Tatsächlichkeit der Funktion jedem Beurteiler von so starken Affekten betont erscheint, daß er weitere Gedankenschritte nicht zu gehen vermag.

Die physische Harmonie des Aktes beruht auf ergänzenden Voraussetzungen in Bau und Materie des Organismus. Sie im einzelnen zu definieren dürfte nur soweit möglich sein, daß man ein polares Gegensatzverhältnis als wirklich betrachtet. Nur unter Voraussetzung der durch instinkthafte Unmittelbarkeit erfaßbaren Polarität ist es möglich, die Empfindungsenergie durch positive Wahrnehmung wertvoll zu machen. Die ästhetische und die gemüthafte Inhaltserfüllung des Aktes erhebt sich auf physiologischen Voraussetzungen, deren Nichtvorhandensein die Wahrnehmung ihrer Grundlage beraubt. Das negative Phänomen, das sich hieraus für den physischen Bezirk ergibt, steht in Analogie zu den entsprechenden Phänomenen auf den andern Erosgebieten: unglückliche Liebe im Psychischen, falsche Ehe im Sozialen, absichtswidrige Fortpflanzungsunmöglichkeit im Biologischen. Im Kontrast der positiven und negativen Phänomene liegt das beste Hilfsmittel ihrer' Wesenserkenntnis. Wie das Wesen der Gesundheit nur an der Kontrastfolie der Krankheit verstanden werden kann, so das Wesen der Seelenliebe nur unter lebhafter Beachtung der unglücklichen Seite, das Wesen des physischen Aktes nur im bewußten Gegensatz zu seiner negativen Wahrnehmungserfüllung, das Wesen der Ehe nur unter Berücksichtigung der belastenden Hemmungserlebnisse und das Wesen der Fortpflanzung nur im besonderen Hinblick auf deren Nichtverwirklichung. Polare Denkweise, das allgemeine Prinzip der Philosophie des Verfassers, verbürgt allein Wesenseinsichten, die den Komplikationen modernen Geistes gerecht werden. Die Wahrnehmungserfüllung des Geschlechtsaktes in ihren drei Stufen kann sowohl positiv als negativ sein: beflügelnd oder niederdrückend. In dieser Feststellung dürfte ein bisher unbeachtet gebliebenes Gesetz zum Ausdruck kommen, das man an seinen Folgeerscheinungen besonders in der Ehe nicht übersehen kann. Die physiologische Wahrnehmungsgrundlage ist für deren Verschmelzung mit ästhetischen und gemüthaften Apperzeptionsmassen als positiv vorauszusetzen. Andernfalls schwebt die höhere Menschenbeziehung des Gemüts im leeren Raum und hat mit dem Geschlechtsakt durchaus nichts zu tun.

Es scheint, als ob viele Menschen die Ansicht vertreten, daß der Akt in seiner Losgelöstheit von höhermenschlichen Sympathien sein eigenes Wesen zum Ausdruck bringe, und daß jene höheren Sympathien geradezu herabgewürdigt würden, wollte man sie auf das Fundament der Erde stellen, damit sie von hier aus sicher gegründet gen Himmel weisen. Und doch ist der Akt nicht nur als letzte Folge liebender Beziehung und als deren Absturz in eine Gegenwelt begreifbar, sondern gerade auch als fundamentale Voraussetzung hoher und höchster Menschenverbindung, als erster Wurzelkeim, von dem das Leben emporwachsen kann zu den idealsten Höhen. Dies verkennen heißt den Wert des menschlichen Aktes ungebührlich vermindern. Das Physische ist nur auf Grund willkürlich enger Beurteilung, nicht durch seine Natur unfähig, zum Wurzelpunkt idealer Sympathiebeziehung gemacht zu werden. Dem Abstieg der platonischen Liebe ins Reich der Materie entspricht gegensätzlich der Aufstieg der Seele von der Sinnlichkeit sexueller Beziehungen in das Reich der erhöhten Sinnlichkeiten der seelischen Intuition. Der tiefste Menschenwert des Aktes liegt gerade darin, diesen Aufstieg als wohlfundierten zu ermöglichen. Ob die universale Menschenliebe, die den ganzen Menschen durchweht, am Himmel hängen oder auf der Erde stehen soll, wird jeder Charakter nach seiner Eigenart und nach seinem Geschmack entscheiden. Objektiv läßt sich mit Bestimmtheit sagen, daß die zweite Möglichkeit so gut wie die erste besteht, und daß die Zumutung an die Menschheit, ihre Gefühlswelt durchaus nicht auf das Erdfundament, sondern auf die heitere Luft des Aethers zu gründen, sehr willkürlich ist und Millionen von Menschen des Weges zur Liebe, der ihnen gangbar wäre, beraubt.

Daß erst durch Qualitätendifferenzierung der Geschlechtsakt menschlich edel wird, genau wie nur durch Qualitätendifferenzierung das »Fressen« zum Essen, das »Saufen« zum Trinken wird, übersieht man geflissentlich, weil man glaubt, es sei besser, ein Auge, das uns ärgert, auszureißen, als daß man Mittel und Wege sucht, das Auge gesund zu machen, ohne es auszureißen. Ein gut Teil Lebenslast, der sich philosophisch als Pessimismus ausdrückt, beruht auf der Erniedrigung edelmenschlicher Erlebnismöglichkeiten zu unbefriedigenden Negationen. Das Bewußtsein, daß wesentliche Lebenstriebe eigentlich nicht vorhanden sein sollten, lebt vermöge tausendjähriger Verziehung selbst in der Brust dessen, der es nicht über sich gewinnt, dies vermeintlich Schlechte zu ertöten. Ein unerhörter Zwiespalt zwischen Natur und Sittlichkeit ist aufgetreten, und die Konventionen des Urteils haben den Blick für die natürlichen Werte getrübt. Daß der menschliche Akt in seiner positiven Wahrnehmungserfüllung zu den beglückenden Lebenswerten gehört, ist eine Wahrheit, die sich in scheuer Angst vor Bestrafung fast in die Tiefen des Unterbewußten geflüchtet hat.

Der menschliche Akt in seiner positiven Wahrnehmungserfüllung ist der Träger einer Lebensverjüngung, die sich in einer psychophysisch begründeten Erneuerung des Verhältnisses zur Außenwelt und zum Handeln kundgibt. Er bedeutet, analog der Seelenliebe, und doch wieder in anderer Weise, die Beseitigung von Schranken, die das Individuum gegen die Welt unsichtbar, aber fühlbar abgrenzen. Er ist wie wenig andere Phänomene Träger einer positiven Lust, die nicht bloß Abwesenheit von Schmerz bedeutet. Ohne solche positiven Lustphänomene wäre der Pessimismus Schopenhauers im Recht, wenn er das Leben entweder nur schmerzhaft oder nur langweilig schildert. Die positiven Lustphänomene bedeuten in dieser Hinsicht eine sehr wesentliche Rechtfertigung des Lebens selbst. Diese Rechtfertigung wird instinktiv durch die überströmende und verjüngende Lebensfreude positiver Art empfunden, die aus dem Akt ein ganz unersetzliches Ausdrucksmittel und Förderungsmittel harmonisch gesunden Lebens macht. In den reifen Stadien des Daseins ist der Akt zugleich Träger von Reifungsenergien, die sich vertiefen, indem sie sich mit dem Bewußtsein der Erneuerung und Verjüngung verbinden. Es dürfte hier ein beachtenswertes Miteinander der Gegenkräfte festzustellen sein, die den Organismus durch die Zeit fördern. Verjüngung und Reifung sind die widersprechenden Tendenzen im Strome des Lebens, die einander gegenseitig hervorrufen, steigern und fördern. Aus den Einsichten Goethescher Philosophie ergibt sich dieses Phänomen als typisches Beispiel lebendiger Gegensatzstruktur der Wirklichkeit. Reifung ist die Gegenkraft der Verjüngung. Das Wesen der organischen Entwicklung ist reifende Verjüngung und verjüngende Reifung. Fasse den Widerspruch, wer es vermag: es ist der Widerspruch in der Natur selbst. Die Doppelkraft reifender Verjüngung eignet dem Akt um so stärker, je reicher sein Wahrnehmungsgehalt positive Elemente umfaßt. Jugend und Alter sind gleichermaßen Extremphasen des Lebens, das in ihrer tiefsten Durchdringung im Flusse der Zeit zu den Gründen des Erlebens gelangt. Der Akt spielt in der Totalität des Organismus eine dem Schlaf sehr ähnliche Rolle. Auch im Schlafe, der negativen Phase der psychischen Rhythmik, scheint sich diese Vereinigung verjüngender und reifender Elemente auffällig darzustellen. Schlaflosigkeit bedeutet Hemmung der gesunden Lebensrhythmik, die auf die Dauer schädlich wirkt. Es scheint, daß sexuelle Abstinenz mit Schlaflosigkeit eine innere Verwandtschaft besitzt, welche es bedenklich erscheinen läßt, sie als Prinzip des Lebens reifer Menschen aufzustellen.

Aus der Kontrastrhythmik alles Organischen ergibt sich für höhere Funktionen die Tendenz der Variation. Aus dem bloßen Umstand, daß psychophysische Inhalte mit Bewußtsein erfaßt werden, folgt das Bedürfnis, deren Qualität einem gewissen Wandel zu unterwerfen. So besteht mit dem Augenblick, da die Nahrungsaufnahme zum Essen geworden ist, die Notwendigkeit, das Phänomen durch Abwechslung auf seiner höheren Stufe festzuhalten und es vor dem Zurücksinken in die niedrige, die durch Eintönigkeit notwendig veranlaßt würde, zu bewahren. Auf dem Gebiet der Nahrung findet diese Feststellung allgemeine Zustimmung. Ein Mensch, der dazu verurteilt wäre, immer nur ein und dieselbe Speise zu sich zu nehmen, würde, selbst wenn es sich um die beste aller Möglichkeiten handelte, doch in kurzer oder längerer Zeit jeden Sinn für eigentliches »Essen« verlieren. Es würde sich bei ihm schließlich nur um die tierische Nahrungsaufnahme handeln. Abgesehen davon, daß eine solche Eintönigkeit beim Menschen die Ernährung selbst hemmen würde, da der Organismus der abwechselnden Nahrungsstoffe in jedem Falle bedarf, würde in einer Nivellierung der Qualitätenmannigfaltigkeit auf eine einzige jede Erlebnisfähigkeit inhaltlicher Art schwinden. Das oft Wiederholte macht keinen Eindruck, bedeutet kein Erlebnis, sondern erst am Kontrast gegen anderes hält das Leben sich bei Bewußtsein. Die Verleugnung dieses Kontrastgesetzes innerhalb eines Funktionsgebietes hat zur Folge, daß die Inhaltlichkeit der Funktion verblaßt und nur sie selbst in ihrer rohen Tatsächlichkeit betätigt wird. Das Wertvolle, das einer Funktion inhaltlichen Adel der Qualität verleiht, wird ausgeschaltet, und es bleibt nur eine leere Form zurück. Auf dem Gebiet des Geschlechtslebens wird die Forderung der inhaltlichen Nivellierung tatsächlich aufgestellt. Ohne daß man sich hier um die Gründe zu fragen hat, die zu solcher Forderung führten, muß aus der Wesensanalyse des Physischen an sich klar und deutlich festgestellt werden, daß dadurch dem Wesen des Lebensvorganges Gewalt angetan wird, da er, sofern er nur als bewußtmenschlicher wirklich ist, sich dem allgemeinen Gesetz der Variation alles Organischen nicht entzieht. Aus dem bloßen Umstand, daß der Akt als Träger positiver Wahrnehmungsinhalte erlebt wird, ergibt sich seine Tendenz zu inhaltlicher Variation. Dieses Grundgesetz besteht auf sexuellem Gebiet so gut wie auf demjenigen der Nahrungsaufnahme. Es mögen affektische Naturen uns den Vorwurf machen, daß wir das Sexuelle herabsetzen, indem wir es mit dem Ernährungsgebiet analogisieren. Es handelt sich in Wirklichkeit dabei um keine Herabsetzung, sondern um das Bestreben, eine Herabsetzung zu bekämpfen. Diese besteht darin, daß man dem Sexuellen, so wichtig es ist, nicht einmal die allgemeinste Gerechtigkeit einer Beurteilung aus organischen Gesetzen, die sich dem Erleben deutlich genug kundgeben, erweisen will. Daß der Akt etwas sehr viel Höheres ist als die Nahrungsaufnahme, kann nicht bezweifelt werden. Um so mehr muß er vor einer zwangsweisen Beurteilung in Schutz genommen werden, die ihn noch unter die Regionen des Essens und Trinkens degradieren möchte.

Die Verrohung des Sexuellen ist eine erklärliche Folge solcher falschen Einschätzung. Das Zurücksinken der elastischen Energien menschlicher Sexualität auf sich selbst und damit eine Schädigung der aktiven Kräfte ergibt sich als beklagenswerte Notwendigkeit. Schädigungen der Gesundheit ohne sichtbare Ursachen, schleichende Selbstaufzehrung der Lebenskräfte, die durch positive Auswirkung Lebensfreude schaffen könnten, Verödung des Lebens, pessimistische Weltfluchtideen stellen sich sinngemäß ein. Das Sexuelle wird aus der Region einer schönen Lebensenergie zum bloßen Bedürfnis her ab gedrückt, dessen sich die Menschheit vermutlich noch schämen soll. Die Lokalisation der Seele im gesamten Leib, also die Beseeltheit des Leibes, wird zugunsten einer Theorie verkannt, welche die Seele im Kopf ihren Wohnsitz haben läßt und allenfalls nur noch die Hände als würdig erachtet, das Seelische an der Menschheit auszudrücken. Eine spezielle Gruppe von Menschen, die aus natürlicher Farbenblindheit auf sexuellem Gebiet eine Tugend konstruieren, möchte der harmonischen Menschennatur die Vorschrift machen, sich nach ihrem Vorbilde neue physiologische Grundlagen zu geben. Eine grundlegende menschenverbindende Lebenskraft soll brachliegen.

3. Sexualität und Sünde.

Als Ergebnis einer jahrtausendalten Einstellung finden wir die Tatsache vor, daß in weiten Kreisen das Sexuelle nicht nur als sündhaft, sondern geradezu als Inbegriff der Sünde betrachtet wird. Es gibt nicht wenige Menschen, die zum Beispiel das Wesen des Christentums darin erblicken, daß es die geschlechtliche Lebensfreude bekämpft. Dieser Gesichtspunkt erscheint vielen bedeutend wichtiger als der Gesichtspunkt der Güte und Humanität, der doch offenbar den einzigen wahren Kern der Lehre Jesu bildet. Lüge, Unehrlichkeit im Verhalten, Feigheit, Roheit, Lieblosigkeit läßt man vielerorts noch lieber bestehen als die böse Sinnlichkeit, in welcher sich Menschen des Lebens freuen. Sie ist der eigentliche Feind derer, die an der Wut gegen das Leben leiden. Hätten sie die Wahl zwischen einer humanen Welt des Friedens und der anständigen Gesinnung mit sinnlicher Lebensfreude auf der einen Seite, und einer Welt des Betrugs, des Krieges, des Verbrechens, jedoch unter Verpönung der sexuellen Lebensfreude auf der andern, so würden diese Charaktere der letzteren Welt vielleicht den Vorzug geben. Die Folge aus der Verpönung des Geschlechtlichen war nach so langer Zeit die traurige Erscheinung, daß das Sexuelle, als aus der Menschheit ausgestoßen, einen unnatürlichen Bund mit dem Verbrechen einging. Der sexuelle Mensch wird, weil er an der Naturkraft teilhat, in die Nähe des, Verbrechens gedrängt, und in der modernen Prostitution erscheint ja leider die sonderbare Personalunion von Verbrechen und Sexualität völlig verwirklicht. Falls man die Verhältnisse nicht nach Wesenseinsichten, sondern nach Ideenassoziationen beurteilt, muß man daher notwendig glauben, daß Geschlechtlichkeit an sich mit verbrecherischer Natur verwandt sei. Und doch handelt es sich dabei nur um eine optische Täuschung der abendländischen Zivilisation, welche das Geschlechtliche, indem sie es aus dem Bereich des Menschlichen verwies, zu dem widernatürlichen Bündnis mit dem Verbrechen zwang. Edelste, grundlegendste, freudeschaffende Lebenskräfte der Menschheit wurden mit allen gemeinen Instinkten in ein Joch gespannt, und was von Natur aus gut ist, wird durch diese Perversion mit dem Schein des Bösen beschattet.

Außer einer metaphysischen Angst vor etwas Unbegriffen-Ungeheurem sind es zwei reale Gründe, die unsere Sitte schließlich dahin brachten, das Sexuelle als Träger sündhafter Energien mißzuverstehen: Das Sozialbedürfnis des Weibes und das primitive Verbundensein der Sexualität mit der Fortpflanzung, Diese beiden Gründe in enger Gemeinschaft und im Bündnis mit dem noch zu erläuternden Gefühl des Unheimlichen waren es, die unsere Moral schließlich dahin brachten, daß Liebe und Liebeserweisung fast nur noch in der Form des Diebstahls möglich sind. Das Sozialbedürfnis des Weibes spielt hierbei die führende Rolle. Da das Weib einen unmittelbaren Instinkt dafür besitzt, daß Sexualität und Fortpflanzung identisch sind, und da ihm als typischem Weib die Liebe und Liebeserweisung an sich viel weniger wertvoll erscheint als das unbewußt oder bewußt erstrebte Fortpflanzungsergebnis, macht es ein. Sittengesetz, nach welchem Liebe und Liebeserweisung nur erlaubt sind unter Voraussetzung materieller Garantien für das ganze Leben sowohl des Weibes als der Nachkommenschaft. Und da dieser Grundsatz sich durch monogamische Ehe am besten durchführen läßt, gilt diese Form der Ehe als conditio sine qua non aller Liebe und Liebeserweisung, die nicht als unsittlich gebrandmarkt wird. Zur Stütze dieser materiellen Gesichtspunkte benutzt die vom Weib erschaffene Sitte jenes metaphysische Gefühl des Unheimlichen, das bezüglich des Aktes überhaupt in der Menschheit aus guten Gründen vorausgesetzt werden kann. Es handelt sich jedoch bei der Mobilisierung dieses Gefühls zugunsten der monogamischen Ehe um eine offenkundige Unterschiebung und Begriffsverwechslung im Bereich der Gefühle. Jenes metaphysische Gefühl bezieht sich auf den Akt als solchen, möge er innerhalb oder außerhalb einer Ehe vollzogen werden. Das Abneigungsgefühl wird aber übertragen ausschließlich auf die sozialen Formen, die als unwünschenswert erscheinen. Ein natürliches Gefühl wird mit Klugheit zur Stütze einer sozialen Angelegenheit benutzt, mit welcher es eigentlich nicht das geringste zu tun hat. Der Abscheu des Sittenrichters gegen alle Liebe und Liebeserweisung, die nicht durch die Form der Einehe legalisiert ist, drückt sich mit einer Impulsivität aus, die darauf könnte schließen lassen, daß die Naturvorgänge selbst es sind, welche ihn begründen. Indessen empfindet derselbe Sittenrichter vor derselben Naturwirklichkeit innerhalb der legalen Form nicht den geringsten Abscheu: ein Beweis dafür, wie trefflich das Mimikri der Affekte in unsere Sitte Eingang gefunden hat, und wie durch völkerpsychologische Schauspielerei die Werte verfälscht worden sind.

Ausnahmen stoßen die Regel nicht um, daß das Weib in seinem Wunsch nach Schmeichelei eine Verflachung der Liebe zu leerer Liebelei begünstigt, die recht eigentlich als sündhaft bezeichnet werden könnte, da sie der Heiligkeit der Liebe unangemessen ist. Die seichte Entheiligung der Liebe gilt ihm als erlaubt, während die ernste Vertiefung der Liebe, die durch Sexualität stattfinden kann, als Inbegriff der Sünde verabscheut wird, weil dabei die materiellen Interessen zu sehr exponiert erscheinen. Furcht und Feigheit haben es dahin gebracht, daß ein Wesen, das sich liebend hingibt, als schlechtes Beispiel der menschlichen Gattung verachtet wird, während dirnenhaftes Spiel mit dem Heiligsten durchaus als wohlanständig gilt. Einer Bedrückung des Weibes in wirtschaftlicher Hinsicht entspricht genau eine Bedrückung des Mannes in sittlicher. Dieser doppelte Alpdruck müßte vermindert werden, indem die berechtigten Interessen des Weibes auf wirtschaftlichem Gebiet gewahrt würden, ebenso wie die des Mannes auf sexuellem. Vielleicht gehen beide Fragen sogar Hand in Hand, indem die wirtschaftliche Verselbständigung des Weibes ihm nicht mehr zur Notwendigkeit macht, Liebe und Liebeserweisung von materiellen Interessen abhängig zu machen. Doch ist nicht zu übersehen, daß sich an diesem Punkte die gesamte soziale Frage aufrollt.

Die urmenschliche Identität von Sexualität und Fortpflanzung besteht im Stadium der heutigen Epoche längst nicht mehr. Die Kultur gibt dem Menschen die aus sittlichen Gründen überaus wertvolle Möglichkeit, die Autonomie des Physischen tatsächlich zu wahren und Fortpflanzung vom bewußten Willen zur Fortpflanzung abhängig zu machen. Die Erfindungen der Kultur, als Wesensbestandteile der Menschennatur, haben die Voraussetzungen, auf denen sich die überlieferte Beurteilung sexueller Angelegenheiten wohlbegründet erhob, beträchtlich geändert. Infolgedessen sind die Beurteilungen, welche unter andern Voraussetzungen vernünftig waren, jetzt manchmal unvernünftig geworden. »Vernunft wird Unsinn« – dieses Goethewort hat wohl an wenig Stellen eine so offenkundige Berechtigung wie bezüglich der Einschätzung des Verhältnisses von Sexualität und Sünde. In weniger entwickelten Perioden ist der menschliche Akt Liebeserweisung und Fortpflanzungsakt zugleich. Die Liebeserweisung ist davon abhängig, daß die Interessen der Fortpflanzung nicht geschädigt werden. Das heißt, sie erfährt notwendig eine Reduktion auf ein Minimum in bestimmter legaler Form, welche die Bedürfnisse und Rechte der Nachkommen nach Möglichkeit wahrt.

In der Sexualität tritt eine Kraft von unvergleichlicher metaphysischer Bedeutung in die Erscheinung. Es ist die gleiche Energie, welche das Weltall durch einen Prozeß des Auseinandertretens und Wiederverbindens von Polaritäten als lebendiges zustande brachte. Die kosmischen Energien der Urzeugung, welche das Leben auf der Erde durch eine Verbindung energetischer Himmelskräfte mit materiellen Erdkräften gestalteten, sind nach der Geburt der Menschheit als ihres letzten und höchsten Ergebnisses erloschen. Die Fortzeugung der Weltentwicklung geschieht durch das schöpferische Selbstbewußtsein des Menschen, der als Geschöpf zugleich Schöpfer im kleinen ist und dadurch die Symmetrieachse zwischen zwei Welten darstellt: der Natur als unbewußter und der Kultur als bewußter Schöpfung. Mit dem schöpferischen Selbstbewußtsein des Menschen ist seine bewußt sexuelle Veranlagung eng verknüpft. Der biblische Mythos deutet denn auch wesensrichtig den Sündenfall, jenen Beginn menschlicher Kultur durch Ergreifung der Selbstverantwortung, als Identität erkennender und sexueller Willenskräfte.

Durch die bewußte Wertschöpfung des Menschen in der Kultur und durch seine freie Sexualität wird in unzertrennlicher Verbindung das Werk der Urzeugung im Lauf der vielen Jahrtausende menschlicher Geschichte fortgeführt – über den Mittagsgipfel der Welt bis zum beginnenden Tode, da mit dem Absterben der Menschheit die Periode des Weltunterganges eingeleitet ist. Die sexuellen Kräfte der Menschheit sind Träger der kosmischen Weltentwicklungsenergien. Ihre Bedeutung ist von unvergleichlicher Erhabenheit und Tiefe. Die Angelegenheiten der Geschlechtlichkeit und der Fortpflanzung besitzen eine mit nichts anderem vergleichbare fundamentale Lebensbedeutung. Diese wird durch das Gefühl in der Menschheit unmittelbar empfunden. Das Bewußtsein davon, daß diese Wirklichkeit außerhalb jeder Reihe steht, daß sie eine Gattung für sich bildet, tritt mit dem ahnungsvollen Schauer unheimlichen Erlebnisses in das Fühlen der Menschheit. Die schweren Komplikationen der Erosgebiete tragen das ihrige dazu bei, den Druck des Geheimnisvollen und Unheimlichen, der das Sexuelle von Anbeginn im Gefühl der Menschheit belastete, zu verstärken. Dieses verworrene Gefühl, in welchem Angst und unbewußte Liebesregungen sich verbinden, kann als solches nicht dazu beitragen, die Menschheit in der Richtung auf glückbringende Gestaltung des Erotischen zu fördern. Es kann höchstens von klugen Instinkten in den Dienst materieller Weibesinteressen gestellt oder von weit flüchtigen Demagogen in die Wagschale der Lebensverarmung geworfen werden. Zum Zwecke einer Förderung der Lebensfreude bedarf dieses dunkle Gefühl der Aufhellung vermöge einer klaren Analyse der Eroswirklichkeiten, die wie ein Scheinwerfer die finstern Ecken erleuchtet und sie als weniger unheimlich erkennen läßt, als sie scheinen.

Zwischen der Geschlechtlichkeit und der Menschenliebe klafft seit den Lehren des Urchristentums – die bei Jesus selbst noch fehlen – ein unüberbrückbarer Abgrund. Bequem und leicht faßlich ist jene Auffassung, welche dem sündhaften Bereich des Fleisches den heiligen Bereich des Geistes entgegensetzt. Nur ist die Spaltung der Welt in eine derartige Dualität willkürlich und künstlich: menschlich, allzumenschlich. Feineres Urteil wird bestätigen, daß gerade die Durchseelung der Leiblichkeit und die Wirklichwerdung des Seelischen durch den Leib das große Universalproblem der Menschheit auf erotischem Gebiet enthält. Zwischen amor und caritas muß die Kluft beseitigt werden, indem die Geschlechtsliebe von Güte erleuchtet und die helfende Menschenliebe durch Realsympathien gestützt wird. Sünde ist nicht das Naturhafte der Menschheitsgrundlagen, sondern der beschränkte Wille mancher Zeiten, die Universalität des harmonischen Menschen einseitig zu entstellen. Die rohe Sinnlichkeit des Römertums ist gewiß kein Ideal: ebensowenig aber die Sinnenfeindschaft des Urchristentums. Wo diese beiden Einseitigkeiten auseinanderklaffen – und in der modernen Zeit ist es sichtbarlich der Fall –, da verhüllt der Genius des Lebens trauernd sein Haupt. Die Lebenskunst der Menschheit hat die Aufgabe zu lösen, das scheinbar Unvereinbare zu vereinen und statt bequemer Einseitigkeit die lebendige Dissoziation einer fluktuierenden Lebenskraft künstlerisch zu beherrschen und im Leben zu gestalten. Die abendländische Moral entstand einst aus begreiflicher Reaktion gegen die sexuelle Roheit des Heidentums. Im 19. Jahrhundert erhob sich in den Lehren, die an Darwin und Nietzsche anknüpfen, ein neues Ressentiment, das wieder nicht die freie Schwebeführung gefunden hatte, welche die Gegensätze umfaßt. Das Programm einer wahren Ethik weist in eine Zukunft, da zwischen Fleisch und Geist, Erde und Himmel in der Menschennatur jene harmonische Ergänzung hergestellt sein wird, die dem Menschen sein tiefstes Wesen verleiht.

In der Sexualität ist das Mysterium der Identität von Geben und Nehmen gelöst. Es ist schon dieserhalb falsch, im Sexuellen einen Egoismus zu erblicken, der dem Gebot der Menschenliebe wesenhaft widerspricht. Im Gegenteil geht gerade im Sexuellen die egoistische Lebenskraft mit der Hinwendung zum Nächsten eine enge Verbindung ein, die geradezu eine Brücke zwischen den ethischen Gegensätzen des Ich und Du herstellt. Es würde eine Lösung der meisten Sozialprobleme bedeuten, wenn in anderen Zusammenhängen des Lebens Empfangen und Erweisen von Freude ebenso zusammenfielen. Das Geschlechtliche stellt nicht die Wurzel der Sünde dar, wie eine verständnislose Auffassung im Banne einer metaphysischen Furcht wähnt, sondern sogar ein außergewöhnlich vollkommenes ethisches Phänomen. Daß dieses sich häufig mit leidvollen Folgen verbindet, folgt nicht aus seiner eigenen Wesensart, sondern aus einer ungeeigneten Lenkung seiner Verbindung mit den mannigfachen andern Lebensenergien. Daß diese Verbindung in freudeschaffende Formen übergeführt werde, ist die Aufgabe der Lebenskunst in der Menschheit. Aus einer folgerichtigen Durchführung des Prinzips der Lebensfreude als Ziel ethischen Verhaltens können sich wohl bedeutende Folgerungen für die Betätigung oder Nichtbetätigung positiver Energien im allgemeinen Zusammenhang des Lebens ergeben, aber nicht ein absprechendes Urteil über eine bestimmte Funktion, die zweifellos Lebensfreude enthält, die unter Umständen sogar einen hohen Grad von edlem Werte in sich trägt. Eine Theorie, nach welcher das Leben im Licht der Sonne als gut beurteilt wird, ist inkonsequent, wenn sie positive Lebensinhalte als schlecht brandmarkt, Sie hat zur Folge, daß nur solche Freuden als ethisch wertvoll beurteilt werden, die im Grunde genommen Abwesenheit von Schmerz bedeuten. Das Leben wird, wenn man es in dieser Weise der positiven Eigenwerte beraubt, zum schlechten Geschäft, das die Kosten nicht deckt, da die negativen Wirklichkeitstendenzen des Leids und Schmerzes bestehen bleiben, ohne daß die rechtfertigende Gegenkraft sie erträglich machte. Durch Beseitigung oder Verminderung positiver Lebensfreude wird die negative Summe des Leidens nicht verkleinert, wohl aber ihrer befreienden Gegenkraft beraubt.

Die Sündhafterklärung des Sexuellen lastet wie ein Alpdruck auf der erwachsenen und reifgewordenen Menschheit. Durch tatsächliches Verhalten findet gar mancher Protest gegen diese Lebensordnung statt, ohne daß dadurch der Lebensfreude anders denn zufällig genützt wäre. Der Lebenslauf eines nach den Vorschriften der überlieferten Moral vollkommenen Menschen ist entweder das Zölibat oder eine Ehe, die nichts anderes bedeutet, da die Berechtigung physischer Funktionen mit der Zeugung für ein Jahr erlischt, um sodann aus Zweckvorstellungen kurze Zeit für ein nächstes Jahr aktiviert zu werden. Es versteht sich von selbst, daß kaum ein Mensch nach solchen Vorschriften lebt. Gewiß ist heute kein vernünftiger Mensch mehr davon überzeugt, daß Liebe und Geschlechtlichkeit sündhaft seien. Aber die Moral, die zu keines Menschen Ueberzeugungen paßt, steht doch als Gespenst hinter dem Leben und verursacht ihm schwere Schädigungen.

Es dürfte nicht nur verfehlt sein, Sexualität als Sünde zu betrachten, sondern auch, sie in der Reihe der Lebenswerte an eine zu untergeordnete Stelle zu versetzen. In der Sexualität drückt sich die Wesenheit des ganzen Menschen aus. Sie ist gemein beim Gemeinen, edel beim Edlen. Die Sexualität zweier Menschen läßt sich ebensowenig identisch setzen wie ihr Charakter, ihre Natur, ihr persönlicher Adel. Eine verwerfliche Herabsetzung des Lebens liegt darin, daß man die Eigenart des Sexuellen, die Quintessenz der Individualität zu sein, in Abrede stellt, indem man aus diesem Gebiet des Lebens lediglich eine tierische Funktion macht, deren Inhaltlichkeit keiner Beachtung würdig sei. Sowenig wie »Essen« als Funktion das Wesen qualitativ verfeinerter Nahrungsaufnahme ausdrückt, so fern bleibt das leere Gerede vom »Geschlechtsakt« dem Wesensverständnis dieser Wirklichkeit, die gerade durch qualitativ individuelle Inhaltlichkeiten ihren Menschenwert erlangt. Dieser Wert ist unter Umständen überaus groß. Das Sexuelle, als negativer Hauptpol der ganzen menschlichen Natur, hat von vornherein die Bestimmung, zu ganz wichtigen Lebenswerten gestaltet zu werden, die nur durch die positiven, geistigen Werte des Kopfes ein Analogon gewinnen. Das Sexuelle ist in der Menschennatur so wichtig wie das Geistige. Es ist der negative, sympathieerfüllte Pol, dem der positive, rationale als konträre Ergänzung entspricht. Beide steigern einander gegenseitig. Beide sind nötig, damit jeder von ihnen menschlich lebendig sei. In der Zweiheit dieses Auseinander und Verbundenseins des sexuellen und geistigen Poles liegt das tiefste Wesen menschlicher Eigenart und Lebenskraft. Die veraltete Ansicht, welche die beiden Pole als Feinde betrachtet, derart daß das Leben des einen das des andern schädigt, verkennt grundlegend das dissoziative Gesetz der Wirklichkeit. Einatmen und Ausatmen, Schlafen und Wachen, Systole und Diastole, Geschlechtlichkeit und Geistigkeit sind Gegensätze, aber keine Feinde. Was dem einen zugute kommt, wird nicht dem andern entzogen, sondern kommt diesem erst recht zugute. Je besser der Schlaf, desto lebendiger das Wachen. Je tiefer das Einatmen, desto energischer das Ausatmen. Je harmonischer das gesunde Geschlechtsleben, desto lebenswertvoller der Strom des Geistes.

Ueber Farben zu reden ist kein Mensch ungeeigneter als der Farbenblinde. Ueber Sexualität ein Urteil zu fällen ist derjenige unvermögend, der sie nur aus Beschreibungen kennt und aus einem dumpfen Gefühl von Sündhaftigkeit in sich selbst zurückdrängt. Gesunde sexualethische Einstellungen können nicht von Kindern und ihresgleichen gefunden werden, da für diese Art psychologischer Wirklichkeit das sexuelle Problem gar keines ist. Sexualethische Einstellungen können nicht durch die Zumutungen geschlechtskalter Menschen gegeben werden, noch durch die sehr materiellen Instinkte einer schamvollen weiblichen Berechnung, nach welcher das Sexuelle nur durch die wundertätige Unterschrift des Standesamts eine Naturkraft sein darf, so daß für alle Menschen, die aus vielen Gründen dieses Wunder vielleicht nicht erleben dürfen, diese Kraft aus dem Bereich der Wirklichkeit ausgeschaltet gilt. Aus all diesen Gesichtspunkten ist eine Förderung der sexuellen Frage im Sinne einer Höherentwicklung der Menschheit auf diesem Gebiete nicht zu erhoffen. Durch Absprechen läßt sich nicht gestalten, und positive Gestaltung der rohen Naturkraft zu edlem Menschentum ist nun einmal das große, ungeheuer komplizierte Problem der Sexualethik. Die empörende Roheit, welche darin liegt, daß unsere Kultur die Sexualität, also eine der fundamentalsten Kräfte eines nach höheren Formen ringenden Lebens, in die Nachbarschaft des Verbrechens und in den Bereich der Häßlichkeit und Gemeinheit zurückdrängt, läßt sich nicht durch den Wunsch aufheben, daß sie von selbst oder durch moralische Gewaltmaßnahmen verschwinden möchte, Sie ist der Maßstab dafür, wieweit unser Leben in seiner Zwiegespaltenheit materieller Eheinteressen und physischer Naturkräfte von dem Begriff einer harmonischen Liebe entfernt ist.

Wie es keine zwei Menschen gibt, die in ihrem Aeußeren genau identisch sind, so gibt es keine zwei, welche in ihrer Stellung zum andern Geschlecht genau dieselbe Qualität betätigen, noch zwei, für welche genau die gleiche Sexualethik von Natur aus absolut gültig wäre. Aber ein Grundsatz gilt allgemein: es ist widersinnig, daß asexuelle Menschen oder solche, die es sein wollen, Normen aufstellen für diejenigen, in denen die Natur unverkümmert zu harmonischer Lebensformung strebt. Eines schickt sich besonders auf diesem Gebiete nicht für alle. Die verschiedenen sozialen Stände haben nicht die gleiche ethische Norm, weil die Differenzierung ihrer durchschnittlichen organischen Grundlagen verschieden ist. Gewisse Perversitäten der Moral verdienen aber vor der Theorie herabgesetzt zu werden, weil sie Lebensleid statt Lebensfreude schaffen. Das sogenannt anständige Weib ist ein moralisch minderwertiges Wesen, wenn es mit der obligaten Prüderie die schönen Eigenschaften der Treulosigkeit, Unehrlichkeit im Verhalten, Lügenhaftigkeit im Wort, Feigheit, Lieblosigkeit und Schwachheit verbindet. Die völlige Verkehrung des gesunden moralischen Urteils ist die Folge davon, daß das Geschlechtliche in der Menschheit als Sünde an sich verpönt ist. Wer diese Sünde begeht, ist schlecht, ob er sonst auch der beste, edelste Mensch sei. Wer sie nicht begeht, ist gut, mag er auch in wahrhaft teuflischer Weise seiner Mitwelt Schmerz und Leid verursachen.

Der Zwiespalt von Liebe ohne Liebeserweisung erwachsener Menschen und solcher Liebeserweisung ohne Liebe ist der tiefste Schaden unserer Kultur. Dieser Mißstand war jahrtausendelang notwendig: solange nämlich das Sexuelle als Liebeserweisung notwendig die Realität der Fortpflanzung mit sich führte. Unter dieser Voraussetzung konnte eine vernünftige Ethik die Liebeserweisung nur gestatten, wenn die Fortpflanzung sich sozial rechtfertigen ließ: also in der Ehe ausschließlich. Die Moral hat diesen Standpunkt beibehalten, obwohl die Kultur sich durch Erfindungen soweit vermenschlicht hat, daß die Liebeserweisung ohne die Folge der Fortpflanzung möglich ist. Die Trennung der Fortpflanzungsfunktion von der physischen Funktion des Eros ist in unserer Kultur zur Tatsache geworden, und diese Tatsache muß zur Folge haben, daß die Sexualethik, soweit sie auf der Annahme der Identität beider Funktionen beruht, reformiert wird.

Daß noch heute Tausende von Tragödien vorkommen, indem unbelehrte Menschen aus der Liebeserweisung einen Fortpflanzungsakt machen, der der sozialen Vernunft widerspricht, fällt der mangelnden Aufklärung durch sogenannt moralische Tendenzen zur Last. Die meisten unehelichen Kinder, das meiste Leid, das aus Liebe oft entspringt, die meisten Tragödien zurückgedrängten Lebens und physisch unpassender Ehen wären leicht zu vermeiden, wenn die öffentliche Vernunft für die würdige Aufklärung der Menschen Sorge tragen würde. Zur Zeit des Mittelalters war die Tragödie im ersten Teile des »Faust« eine Menschentragödie, bei der man die unschuldig Schuldigen mit einer rührenden Mischung von Anklage und Milderungsgrund verurteilen mußte. Heute ist dieselbe Tragödie, die ja leider noch häufig eintritt, eine Sittentragödie geworden. Angeklagt sind nicht die Menschen, sondern eine veraltete Sitte, die aus kindischem Schamgefühl erwachsenen Menschen das nötige Wissen von der Vermeidbarkeit der Fortpflanzung im Falle einer Liebeserweisung vorenthält. Jedes uneheliche Kind in seiner sozialen Benachteiligung ist heute eine Anklage nicht nur gegen die Gewissenlosigkeit eines Mannes, sondern gegen eine veraltete ethische Kultur, die den Menschen eine Binde um die Augen legt, ohne welche die ebengenannte Gewissenlosigkeit weit seltener sich ereignen würde, sintemalen ein Mensch im Durchschnitt nur Lebensfreude sucht und kein Barbar ist, der an der Verursachung von Leid Freude erlebte.

Lebensfreude schaffen und schenken ist gut. Unliebsame Begleiterscheinungen von Handlungen, deren Sinn die Lebensfreude ist, müssen durch die Kultur vermindert oder beseitigt werden, ohne daß die Handlungen selbst als unliebsam gebrandmarkt werden. Wer das Sexuelle als Sünde an sich betrachtet, hätte dafür eine vernünftige Begründung aus den Interessen der Lebensfreude zu geben, die das Gute gut und das Böse böse macht. Diese Begründung gibt es nicht. Die Sündhaftigkeit des Sexuellen ist also eine willkürliche Erfindung von geschichtlichen Epochen, die der ganzen Menschheitsgeschichte keinen Maßstab abgeben können. Unvollkommenheit der kulturellen Zustände, Wut gegen das Leben, Neid gegen die Nächsten – das sind die drei Wurzeln der Verpönung des Sexuellen in der mittelalterlichen Auffassung. Die Fortpflanzung des Lebens leidet keinen Schaden an der Befreiung des Eros: denn das Leben ist erst dann wert, fortgepflanzt zu werden, wenn jeder Lebende in der Kultur die Möglichkeiten findet, seine Lebensfreude auswirkend zu gestalten. Nicht damit die Menschheit sich fortpflanze, besteht die Liebe. Sondern damit Liebe möglich sei, soll sich die Menschheit fortpflanzen.

4. Die Kulturformen der Sexualität.

Die überaus große gesundheitliche Bedeutung eines normalen Sexuallebens für erwachsene Menschen läßt sich schwerlich in Abrede stellen, wenn auch durch Dressur manche Ausnahmeerscheinung gezüchtet werden mag, die als Kuriosität bemerkbar bleibt. Im allgemeinen läßt sich aus den rhythmischen Polargesetzen des Lebens nur der Lebenswert der Sexualität ableiten. Das Geschlechtliche ist ergänzende Kontrastphase des Geistigen und es ist vielleicht nicht unpassend, zwischen geistiger und sexueller Potenz bzw. Impotenz eine gewisse Parallelität festzustellen. Das fortzeugend aktive Geistesleben – nicht zu verwechseln mit müdem Gedächtniskram, der sich zu Unrecht den Namen Geist anmaßt – ist mit der Lebendigkeit auch der negativen Kräfte des freudigen Lebensüberschwanges engstens verwandt. Zum mindesten kann von einer beträchtlichen Gruppe von Künstlern und Denkern dieser Parallelismus zwischen Geistes- und Geschlechtsleben als wesenhaft behauptet werden. Die grundsätzliche Verpönung und Unterdrückung des Sexuellen bedeutet infolgedessen nicht nur eine Schädigung vieler Gesundheiten, sondern auch eine Schädigung manches Geisteslebens. Den Menschen das Essen und Trinken verbieten wollen, wäre gewiß barbarisch, und zum Glück hat es nur während des Weltkrieges in manchen Ländern reale Gründe gegeben, welche die Gelehrten und Moralisten veranlaßten, der Menschheit zu beweisen, daß sie bisher in diesen Funktionen gar zuviel geleistet habe, und daß dies eigentlich nicht gesund sei. Mit dem Wegfall der Absichten schwanden auch diese weisen Einsichten dahin, und man ist heute wieder ziemlich allgemein der Ansicht, daß Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhält. Gewiß handelt es sich auf diesen Gebieten nicht um Sympathiekräfte idealer Gestaltungsmöglichkeit wie im Geschlechtsleben, Die edleren Energien in der Menschheit müssen sich schon eher gefallen lassen, durch absichtsvolle Theorien, welche früher notwendiger waren als heute, in ihrem natürlichen Wert und Wesen entstellt zu werden.

Die Unterdrückung des Geschlechtslebens hat große Aehnlichkeit mit der Unterdrückung des Schlafbedürfnisses. Es ließe sich theoretisch wahrscheinlich beweisen – wie sich aller Unsinn beweisen läßt –, daß der Schlaf eine üble Angewohnheit des Menschen sei. Dieser ist zur Tätigkeit berufen, und da der Schlaf das Gegenteil von Tätigkeit ist, steht er zur Berufung des Menschen im Widerspruch und ist in der menschlichen Natur als schlecht und hinderlich zu beurteilen. Eine solche Theorie würde den polaren Rhythmus alles Lebens verkennen, aus welchem hervorgeht, daß die negative Phase da ist, damit die positive um so stärker sein könne, und daß die Betätigung des Negativen unerläßliche Vorbereitung zur Betätigung des Positiven ist. An der wesentlichen, lebensförderlichen Bedeutung eines normalen Lebensrhythmus im Wechsel von Systole und Diastole läßt sich auf keinem physischen Gebiete zweifeln, am allerwenigsten aber auf dem umfassendsten, der geistig-sympathischen Gesamtrhythmik der psychophysischen Menschentotalität. Das Sexuelle bildet auf diesem Gebiet die volle Hälfte der Wirklichkeit, welche nur auf Kosten der organischen Lebensgesundheit und Lebensfreude verkümmert werden könnte. In den bisherigen Kulturen der menschlichen Entwicklung finden wir bloß erste Versuche vor, das Sexuelle in seiner Lebensbedeutung zuzugeben, ohne andere wesentliche Interessen der Menschheit zu schädigen. Es sind mit der Sexualsphäre von vornherein soviel gewichtige Nebenumstände und Folgeerscheinungen verbunden, daß es einer besonderen Kunst bedarf, zwischen allen widerstreitenden Lebensinteressen eine Harmonie zustandezubringen. Diese Kunst entwickelt sich und ist im Werden hoffnungsvoll: das ist ihr versöhnendes Moment in aller Unzulänglichkeit der vielen Gestaltungen. Schlimm erscheint das Los der Menschheit erst dann, wenn behauptet wird, die Vergangenheit besitze in irgendwelchen Normalsystemen bereits die volle, absolute Kunst der Lebensgestaltung auf diesem Gebiete. Das hieße, die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit und Gegenwart zum Gesetz für alle Zukunft machen.

Die Kulturformen der Sexualität in der Gegenwart unserer Zivilisation scheiden sich in zwei Extrempole: den gewünschten der Ehe und den unerwünschten, aber geduldeten der Prostitution. Zwischen diesen Extremen lassen sich verschiedene Uebergänge einschalten, die jeweils von beiden Polen gewisse Merkmale in sich tragen. Die Kennzeichnung der Pole selbst gibt uns also die Grundlage eines Aufschlusses über die gesamte Sexualwirklichkeit. Daß die Ehe in ihrem Wesen zwar etwas anderes ist als eine bloße Geschlechtsverbindung, wird später klar zum Ausdruck kommen. Die Wurzel der Ehe und ihr Fundament ist sozialer Natur. Aber in der heutigen Sitte ist die Ehe doch von der Paulinischen Idee beherrscht, daß sie die einzig zulässige Form sei, jene »Brunst«, als welche der Apostel die sexuellen Triebe des Menschen zu kennzeichnen beliebt, zur Geltung gelangen zu lassen. Da aller Geschlechtsverkehr eigentlich verboten ist, ausgenommen der eheliche, so ist natürlich die Ehe heute ganz wesentlich als Geschlechtsverhältnis wichtig, und unter diesem Gesichtspunkt wird sie auch juristisch und moralisch meist beurteilt. Die der Ehe in bezug auf das Geschlechtsverhältnis anhaftenden Unzulänglichkeiten sehr verschiedener Art – und wäre es auch nur die, daß die Schließung einer Ehe nicht jedermann möglich ist, der mit besagter »Brunst« behaftet ist – haben die notwendige Folge, daß eine Prostitution besteht, durch welche das Sexuelle auch außerhalb des zulässigen Rahmens, jedoch im Rahmen der tatsächlichen Kultur, bejaht werden kann.

Die Prostitution ist der Schatten der Sozialbedürfnisse des weiblichen Geschlechts, welches jede Liebeserweisung von der Unterzeichnung einer lebenslang sozialverbindlichen Urkunde abhängig macht. Dieser ganz materielle Standpunkt ist erklärlich und notwendig, solange zwischen Sexualität und Fortpflanzung keine reale Trennung besteht. Wo Fortpflanzung durch das Sexuelle stattfindet, hat selbstverständlich das Weib auch das Recht und die Pflicht, dies in geziemende Betrachtung zu ziehen und im Geschlechtsakt viel mehr zu sehen als die Liebeserweisung. Wenn aber die Verhältnisse einer Kulturstufe es ermöglichen, das Geschlechtliche und das Biologische voneinander zu trennen, so ist eine Rücksicht, die in Bezug auf die Fortpflanzung notwendig wäre, in Bezug auf das Sexuelle überflüssig. Und in dieser Trennung des Physischen vom Biologischen liegt der Realgrund einer in Zukunft sich gestaltenden fundamentalen Umformung der Geschlechtsethik. Einer solchen Reform gegenüber werden die durch Erziehung, Gewohnheit und blinde Instinkte eingegebenen Abneigungen gegen das Fleisch nichts auszurichten vermögen, weil die Menschheit als Ganzes gesund genug ist, um einzusehen, daß Förderung von Lebensfreude auf unschädliche Art nicht sündhaft sein kann. Die Ethik der Weltflucht und des Jammertals wird einer höheren Ethik Platz machen, welche die metaphysischen Wirklichkeiten des Göttlichen und der Unsterblichkeit dazu benutzt diesem Erdleben in seiner Ursprünglichkeit mehr Menschenadel und Menschenwürde zu verleihen, ohne es mit dem bösen Blick zu bedenken, den Nietzsche mit Recht rügen mußte.

Ehe und Prostitution als Gegenpole des Geschlechtslebens in unserer heutigen Kultur leiden beide an sehr schweren Mängeln, auf welche hingewiesen werden muß, weil der Hinweis eine Wandlung zu neuem und besserem Willen begründen kann. Für die Beurteilung der Ehe unter dem Gesichtspunkt eines Geschlechtsverhältnisses dürften drei Umstände wesentlich sein. Zunächst, daß die Schließung einer Ehe von einer Unzahl von sozialen und psychischen Faktoren abhängt, so daß sie nicht immer in der Periode möglich wird, wo die physischen Kräfte es ratsam erscheinen lassen. Ferner ist der Umstand wesentlich, daß physische Harmonie bzw. Disharmonie zwischen zwei Menschen sich nach Maßgabe unserer sittlichen Vorschriften erst in der Ehe selbst herausstellen können, daß also ein sehr wesentlicher Umstand erfreulichen Geschlechtslebens dem guten Glück anheimgestellt bleibt, das oftmals ausbleiben kann. Schließlich ist das allgemeine Lebensgesetz der Abstumpfung sich oft in identischer Weise wiederholender Erlebnisse natürlich auch auf diesem Gebiet gültig, und es müssen schon besonders tiefe und reiche Inhaltlichkeiten vorausgesetzt sein, ähnlich wie bei einer musikalischen Symphonie, wenn die oftmalige Wiederholung derselben Inhalte nicht bald als nichtssagend empfunden wird. Gewiß soll durch die letztere Feststellung keine Oberflächlichkeit im Erleben als entschuldbar hingestellt werden. Oberflächlich ist es zweifellos, wenn ein Individuum es nicht versteht, den Gehalt eines höheren psychischen Komplexes, etwa eines Kunstwerkes, in tausendmal sich verjüngender Kraft als neu zu empfinden. Es gibt eine Treue auch im Unbewußten unserer Erlebnisse, jene Kraft der Verjüngung, die sich der abflachenden Trägheit in der Zeit wirkungsvoll und adelig entgegenstellt. Ein flacher Geist mag Wagners »Tristan« schon beim sechsten Anhören als erschöpft und langweilig empfinden. Ein tiefer, wurzelgründiger Sinn erlebt das gleiche Werk Dutzende von Malen als neue Offenbarung, weil er in die letzten Gründe des Wesens hinabsteigt, die sich eigentlich niemals ganz erschöpfen lassen. Aehnlich verhält es sich zweifellos auch mit der innigsten Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen: die Kraft der Verjüngung trotz aller Zeit und Zahl ist der Maßstab für die Tiefe und den Adel des Erlebenden. Aber trotzdem: ein gewisses Naturgesetz der Nivellierung durch Gewohnheit wird als Komponente der Wirklichkeit doch immer mit vorhanden sein, mag sie nun verhältnismäßig klein oder groß sein. So daß wir in den drei obengenannten Umständen in der Tat drei Gründe vorfinden, welche die Ehe als Geschlechtsverhältnis zu etwas Unvollkommenem machen.

Was nun die Prostitution betrifft, so fehlen ihr zwar diese Mängel. Sie hängt, nachdem sie einmal als existierend vorausgesetzt ist, nicht mehr von großen sozialen und psychischen Komplikationen ab. Sie trägt nicht die Möglichkeit einer zwangsweisen physischen Disharmonie in sich. Sie genügt dem Gesetz der. Variation – das wie gesagt für oberflächliche Menschen am mächtigsten ist – in der denkbar vollkommensten Weise. Dafür aber ist sie mit einer großen Anzahl schwerster Eigenschäden verbunden, von denen jeder einzelne mit ungeheurer Schwere in die ethische Wagschale des Schlechten fällt. Vor allen Dingen wird die naturwidrige Trennung der Liebeserweisung von tatsächlicher Liebe zum Prinzip erhoben. Das wunderbarste Mysterium der Natur, die Identität von schenkender und empfangener Lebensfreude, wird in das rohe Auseinander eines Geschäfts entstellt, bei welchem die Ware dem Käufer, das Geld dem Verkäufer Freude macht. Diese wahrhafte Sünde wider die Natur scheint uns noch schwerer zu wiegen als viele andere Mängel der Prostitution zusammengenommen. Die Herabziehung des heiligsten Mysteriums der Lebensfreude gegenseitigen Schenkens und Nehmens zugleich auf das Niveau eines dissonierenden Handels, bei welchem das, was dem einen Freude macht, dem andern Entsagung und Verzicht bedeutet, enthält einen Schwächeverzicht der Menschheit auf höchste Formen der Lebensfreude selbst. Diese sexuelle Kulturform kann uns leider auch das Problem einer maximalen Lebensfreude durch Sympathie nicht lösen. Abgesehen von dem soeben genannten Wesensnachteil der Prostitution leidet diese noch hauptsächlich an drei schweren Mängeln: dem medizinischen, dem ästhetischen und dem sozialen. Die Tatsache der Geschlechtskrankheiten und deren besonders häufige Uebertragung durch einen Geschlechtsverkehr, der nicht durch menschliche Auswahl, sondern nur durch Geld begründet ist, läßt sich eben nicht leugnen, und die Gesundheit soll durch das Sexuelle gefördert, aber nicht geschädigt werden. Strikte Vorbeugungsmaßnahmen können zwar vieles helfen, doch läßt sich der Krankheit androhende Faktor in der Prostitution dadurch nicht beseitigen.

Der ästhetische Mangel dieser Form des Sexuallebens ist für menschlich empfindende Menschen mindestens ebenso groß wie der medizinische. Die Kasernierung fast allen öffentlichen Geschlechtswesens in minderwertige Behausungen, die Gemeinheit der Formen dieses Pseudoliebesverkehrs, die häufige Personalunion des öffentlichen Weibes mit der Verbrecherin, all diese Dinge zusammen ergeben einen abstoßenden ästhetischen Komplex, welcher des Geschlechtlichen als höchster Lebensäußerung unwürdig ist. Nur theoretisch könnte man denken, daß dieser ästhetische Mangel unter Voraussetzung des geläufigen Prostitutionsbegriffes irgendwie generell beseitigt werden könnte. Aus dem Wesen des verachteten Dirnentums folgt seine Verweisung in die niedrigsten ästhetischen Regionen mit Notwendigkeit.

Im Aesthetischen ist schon die Andeutung auf soziale Mängel mit enthalten, die den dritten Sondernachteil der Prostitution ausmachen. Nicht für den männlichen Käufer, wohl aber für die weibliche Verkäuferin bedeutet die Prostitution eine schwere soziale Schädigung. Die Freiwilligkeit dieses Berufes ist, wie zwar auch bei vielen andern Berufen, oft nur scheinbar. Meist sind es besonders schlimme Verhältnisse, die zu dem Schritt gezwungen haben. Manchmal sogar ist das Verbrechen eines Mannes Ursache dafür, daß ein Weib sich der Prostitution ergeben muß: die Valentinworte in Goethes »Faust« zeigen uns, wie grausam die Sitte mit einer sogenannt Gefallenen umspringt: und leider auch heute noch. Die Prostitution ist der Schatten der Sittlichkeit unserer Zeit. Die erste Schuldige am sozialen Leid der Prostitution ist die Sitte, welche durch die Verbindung der religiösen Fleischesverachtung mit sehr materiellen Sozialinteressen ihr widerwärtiges Doppelgesicht gewinnt. Zweiter Schuldiger ist meist ein gewissenloser oder beschränkter Mann, der eine Frau zum Kinde verführt, während sie beide nur das Recht haben, sich Freude zu schenken.

Der positive Wert eines befriedigenden Geschlechtslebens für die Gesundheit und Schaffensfreude erwachsener Menschen ist in jedem Falle, ob es durch bürgerliche Urkunde begründet ist oder nicht, überaus groß. Dieser Gesichtspunkt dürfte in der Bewertung der Sexualität unter keinen Umständen vernachlässigt werden, soll nicht das Leben durch Verschließung einer seiner wichtigsten Gesundheitsquellen in barbarischer Weise benachteiligt werden. Selbst wenn die idealen Werte, die einer höheren Geschlechtlichkeit bei edlen Menschen verbunden sind, außer Betracht gelassen werden, liegt in der Tatsächlichkeit eines normalen Geschlechtsaktes eine natürliche Rechtfertigung durch die unbewußten Grundkräfte der leiblichen Existenz. Gewiß ist es eine Verarmung des Menschenreichtums, das Geschlechtliche unter dem Begriff eines medizinischen »Bedürfnisses« zu erfassen. Nur primitive Individuen werden diese Betrachtungsweise nicht als unzulänglich und grob empfinden. Aber selbst unter diesem unsentimentalsten aller möglichen Gesichtspunkte hat das Sexuelle in der Menschheit seinen positiven Wert als wunderwirkende Verjüngung der schaffenden Lebensfreude. Durch keinerlei Phrasen und Moralen lassen sich die Kräfte des menschlichen Organismus günstiger lenken als durch die geistbeherrschte, freie Wahl der naturgebotenen Möglichkeiten. Aus Pessimismus wird Lebensfreude, aus Müdigkeit Tatkraft, aus zerquälter Problematik der Seele ein befreiender Aufschwung, wenn der Weisheit der Natur durch die Dankestat des Lebens Genüge geschieht. Als die menschliche Kultur noch in primitiver Not befangen war, bedeutete es wahrlich fast eine Unmöglichkeit, daß dem Geschlechtlichen sein Recht werde. Seine Einzirkelung in die Fortpflanzungsform der Ehe war die einzige ethisch verantwortliche Möglichkeit, und aus dieser unvollkommenen Thesis erfolgte die ebenfalls unvollkommene Antithesis der Prostitution mit Notwendigkeit.

Modifikationen der beiden unvollkommenen Gegensatzpole unserer sexuellen Kultur beginnen an Bedeutung zu wachsen. Vielleicht ersteht aus ihnen eine Wirklichkeitsgrundlage humanerer Ethik, wenn die Einsicht in Notwendiges und Nichtnotwendiges vorgearbeitet haben wird. Freie Liebe als Modifikation der Ehe, vornehmes Hetärentum als Modifikation der Prostitution tragen beide positive Lebensvorzüge in sich, die der Lebensfreude höherer Art zugutekommen. Eine Verbindung des Prinzips ehelicher Treue und Würde mit der Unmittelbarkeit wahrer Naturkräfte dürfte für die Bereicherung des Lebens wertvoll sein, wie andererseits auch eine Aesthetisierung und Sympathiebegründung der käuflichen »Liebe«. Die Liebe zur Menschheit wird zu stärkeren Energien entwickelt, wenn die Beschränkung ihrer Wirklichkeit auf das Verhältnis eines Menschen zu einem einzigen andern irgendwie erlassen und wenn die Geschäftsnatur der Prostitution in der Richtung auf natürliche Anmut und herzliche Liebenswürdigkeit verwandelt wird. Die Erlebnisheiligkeit allerhöchster Art, die Ehe im Sinne eines absoluten Ideals, wird durch solche Formen durchaus nicht beeinträchtigt, wo sie an sich möglich und wirklich ist. Höheres wird keine Menschheit zugunsten eines weniger Hohen preisgeben, und das Streben nach dem Allerhöchsten muß wohl immer dem Willen edler Geister seine Richtung geben. Aber in den weitaus häufigeren Fällen, wo die Ehe sich tatsächlich von ihrer idealen Natur entfernt, schaffen die genannten Formen viel Linderung, und in der menschlichen Entwicklung werden sie immer weniger in den Hintergrund gedrängt sein. Es ist verkehrt, unideale Wirklichkeiten so beurteilen zu wollen, wie man ideale zu beurteilen hätte. Die Wirklichkeit, sollte so erfaßt werden, wie sie tatsächlich geartet ist, und ihren Mängeln müßte Rechnung getragen werden.

Der Umstand, daß die Ehe mit tausend Kleinigkeiten behaftet ist, macht sie eigentlich zu dem Zweck geschlechtlicher Lebensfreude wenig geeignet, da diese gebunden ist an die höchsten befreienden Steigerungen leiblicher und seelischer Begeisterung. Wieviel Lebensfreude wird also durch eine Moral geschädigt, welche darauf ausgeht, die Menschen paarweise voneinander zu isolieren! Eine neue Form des Egoismus tritt in Erscheinung: der Egoismus zu zweit. Dieser Zweibund, der durch die unbelehrten Energien leidsuchender Eifersucht mit Gewalt zusammengehalten wird, schließt die Menschen von der Welt ab, sofern sie nicht ihr Fühlen in der Richtung auf Güte und Menschlichkeit veredeln. Die Liebe als rohes Haben- und Herrschenwollen, selbst wenn die Lebensfreude des andern dadurch verkürzt wird, feiert in dieser Einrichtung noch Triumphe. Ich liebe dich – aber ich will deine Lebensfreude mit Beschlag belegen, auch wenn du mich nicht ebenso lieben kannst, ist die Formel dieser primitiven Gefühlsweise, welche nur solange eine tiefere Begründung besitzt, als seelische und physische Liebe mit Fortpflanzung identisch ist. Erziehung der Menschen zu weiteren Erlebnishorizonten der gütigen Liebe tut der Ehe dringend not, wenn sie nicht in sehr vielen Fällen zu leerem Zwang werden soll, der das feinste Erleben erstickt. Daß man dieses aber ersticken dürfe, daß überhaupt das Sexuelle ein Minderwertiges sei, das der Gottwohlgefällige in die Niederung des gemeinen Bedürfnisses zurückdrängt, ist doch wohl eine allzu pöbelhafte Theorie, deren Annahme wenigstens feinerorganisierten Menschen nicht zugemutet werden kann. Daß es gut ist, wenn der menschliche Egoismus, die brutalen Herrschaftsgelüste, die blinde Eifersucht moralisch unterstützt werden, dürfte mit einem großen Fragezeichen zu versehen sein. Wahrscheinlich wäre es im Gegenteil gut, daß eine Erziehung von Erziehern, die es leider nicht zu geben scheint, den erwachsenen Menschen ein Wissen davon beibrächte, wie man das Geschlechtsleben schön und freudeschaffend gestaltet, ohne Leid zu verursachen. Der abergläubische Hintergrund einer sogenannten Moralität, die sich für Lebensfreude, das höchste Menschengut, nicht interessiert, wird allmählich verschwinden, indem man im Anschluß etwa an Nietzsche, wenn auch nicht mit Billigung aller seiner Einstellungen, die Erde und ihre Kräfte als heiliger denn bisher anerkennt.

Eine ideale Ehe, in welcher für beide Gatten die Seligkeit des Erlebens erfüllt ist, bedarf natürlich keiner weiteren Stärkung: sie ist das Höchste und Heiligste in allem Denkbaren der Menschheit. Aber es ist vielleicht eine Absicht des Weltschöpfers, diese Idealehe nur ausnahmsweise zuzulassen, eben damit die Menschheit an der Not der Ehe die Menschenliebe erstreben lerne, die nicht auf egoistischer Abzirkelung von Ehepaaren beruhen kann, sondern nur auf dem reichen, allgemeinen Strom der Liebe allem Erreichbar-Beseligenden gegenüber. Es wäre vielleicht eine Unvollkommenheit in der Welt, wenn alle Ehen vollkommen wären, weil dadurch der Drang nach Entwicklung zu höheren Sympathiewerten in der Menschheit abgeschwächt würde.

 

Die Ehe als seelischer Lebenswert

In edlen Menschen lebt ein Bewußtsein der Höchstvollendbarkeit der tiefsten seelischen Lebensharmonien in der Gestalt einer reichen Ehe. Aus den Unzulänglichkeiten der Wirklichkeit schwingt sich die Sehnsucht ungeschwächter und ungebrochener Menschen immer wieder auf zu jenem höheren Willen, den Menschenseele und Staat und Religion in gleicher Weise als die echte Form des Eros anerkennen. Um jenes zauberhafte Bild der Liebe, zu hehr wohl für die komplizierten Chaoswirklichkeiten eines irdischen Daseins, aber trotz alledem das einzige Ideal des Friedens, schwingen die einsamsten Gebete Tausender, die in den Nothilfen des Zufalls und des Augenblicks keine Erlösung finden, weil sie zu deutlich die Möglichkeit des Höheren erfühlen. Jene Ehe, welche die große Ruhe der Seligkeit in den Kämpfen des Daseins bedeutet, welche im andern Menschen das Ewige liebt in allen wandelnden Geschicken der Erscheinung, welche aus der langen Lebenszeit selbst das Symbol des Ueberzeitlichen macht, Vergessen schenkend den Gequälten und verjüngende Kraft den Schaffenden: diese Ehe ist und bleibt bei aller Problematik einer gestörten Wirklichkeit das letzte Ziel aller lebendigen Menschenexistenz, und wenn es nicht erreicht wird in einem jetzigen Leben – so wird nur der Schwächling es an der Schwelle des Grabes preisgeben. Das freie Leben wird dieses höchste Ideal als solches niemals vergessen dürfen, will es sich nicht selbst verärmlichen.

In dieser Auffassung weichen unsere Einstellungen beträchtlich ab von denen, die in der Ehe nur eine willkürliche und lästige Kulturerfindung einzelner Völker und Religionen sehen. Diese Erfindung mag in ihrer empirischen Ausgestaltung allerdings zur Minderwertigkeit in vielen Fällen verdammt sein. Sie als höchstes Ziel des Eros in Abrede stellen, kann nur auf dem mangelnden Bewußtsein ihrer seelischen Eigenart beruhen. »Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit«, und wenn die leidige Wirklichkeit notwendigerweise das Ideal der Ehe als Krönung aller Liebe nur ausnahmsweise oder gar nicht zur Vollendung gelangen läßt, sondern nach psychologischen Gesetzen diesen Lebenswert der Seele mit fast zuverlässiger Sicherheit verstümmelt: um so schlimmer für die Wirklichkeit. Der heilige Wille der Menschenseele zum Höchsten kann dadurch nicht besiegt werden, und ein Sehnen und Streben wird aller Edlen Grundkraft im Kampf gegen die Verhängnisse bleiben. In diesem Sinne steht dieses Buch, obwohl es den Unvollkommenheiten des konkreten Daseins die besten Möglichkeiten abzugewinnen sucht, mit Bewußtsein abseits derjenigen Richtungen unserer Zeit, die in der Ehe auch nicht einmal mehr das Ideal gelten lassen wollen. Arm und leer erscheint uns ein Erleben, das nicht wenigstens das Wissen vom Höchsten noch in sich heilig hält, mag auch das Leben wie auf allen Gebieten so auch auf diesem das Ideal nicht enthalten. In der Zeit des Lebens das Symbol der Ewigkeit festhalten zu wollen: das scheint uns das tapferste Bestreben. Und wenn die Rhythmik der Notwendigkeiten uns gegen unsern Willen lehrt, daß in der Zeit die Ewigkeit nicht festgehalten werden kann, so soll immer noch der flüchtige Augenblick Träger von Ewigkeitswerten sein, aus der Liebe einen tragischen Abglanz der heiligen Ehe machend, den Augenblick des Göttlichen im erbärmlichen Wirrsal der Zeit.

Nur ein Leben, das durch die Liebe das Zentrum seiner Bewegungen gefunden hat, verdient wahrhaft glücklich genannt zu werden. Die Ehe ist der Versuch unzulänglicher Art, dieses Glück zu gestalten. Denn es läßt sich doch wohl mit fast mathematischer Gewißheit sagen, daß das Ideal der Ehe, als von tausend prästabilierten Harmonien abhängig, nur höchstens ausnahmsweise sich verwirklichen kann, weshalb auch die Dichter sich mit dieser schönen Ausnahme so angelegentlich beschäftigen. Schon der einzelne Umstand, daß zwischen zwei Menschen A und B eine gegenseitige restlos tiefe Liebe bestehe, ist als seltene Ausnahme anzuerkennen, wenn auch die Einseitigkeit der Liebe durch Resonanzen, die sich gegenseitig im Lauf der Zeit verstärken, etwas weniger störend werden kann. Wieviele andere Umstände sind aber nicht im Sozialphänomen der Ehe von seelischem Belang abgeleiteter Art, und wie schwer erscheint es, daß auch nur der größte Teil von ihnen jene paradiesische Harmonie erkennen ließe, welche im Ideal vorauszusetzen wäre! So muß man dem gewissenhaftesten Geiste nur den Kampf seiner eigenen Lebenskunst offenhalten, den er selbst und allein zu führen hat: das Ideal als solches mit den traurigen Notwendigkeiten der konkreten Welt in die möglichst fruchtbare Verbindung zu setzen.

Nur solche Lebenskunst ist die letzte Maxime der einsichtsvollen Philosophie. Keine Regel kann gelehrt, keine Moral oder Unmoral zur Leitschnur gemacht werden. Der Anarchist der Liebe muß sich schon gefallen lassen, daß edle Menschen bei den zweithöchsten Idealen nicht ganz zufrieden sein können, weil sie die höchsten Ideale nur allzu deutlich in sich tragen. Und der konservative Moralist der Liebe muß es wohl begreifen, daß die Wirklichkeit kein Ideal ist und in ihren tatsächlichen ethischen Einstellungen dem Rechnung zu tragen hat, damit ein Maximum von edler Lebensfreude nicht unerstrebt bleibe. Widersprüchlich ist solche antinomische Einstellung, und keiner Einseitigkeit gemäß: das kommt davon, daß sie lebensrichtig ist. Denn das Leben selbst ist dieser Widerspruch zwischen Ideal und Erscheinung, in welchem wir zu kämpfen haben, weil uns anderes nicht übrig bleiben würde als der Schlaf der Verächtlichen, der Beschränkten, der Untermenschen, den kein freier Geist als Lebensgesetz anerkennen kann. Solange der Mensch innerlich lebenskräftig ist, strebt er nach der Ewigkeit des Ideals im Flusse der Zeit, und alle Liebe ist ihm der Versuch zur Ehe als der eigentlichen Erlösung.


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