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Menschliche Freiheit erringt das Bewußtsein insoweit, als es die Triebe des Unbewußten ins Licht des Bewußtseins geläutert hat, wodurch es klar und besonnen beherrschen und beurteilen lernt, was im Schlummerdasein der werdenden Kultur erst keimhaft unbewußt sich gestaltet. Das langsame Erwachen der Menschheit aus dem Stadium einer menschlichen Kindheit wird nun aber wieder schief dargestellt durch eine Theorie, welche den schlafenden Reichtum einer unentwickelten Menschheit in die Nähe der Tiere rücken möchte, deren psychische Struktur so vollkommen anders geartet ist. Wenn die Entwicklung der Menschheit und ihrer Völker vom Zeitraum ihrer Entstehung bis zur Gegenwart und weiter hinaus sachgemäß begriffen werden soll, ist es nötig, sich klarzumachen, daß auch der schlummernde Mensch der ersten Zeiten schon ganz und gar Mensch gewesen ist, d. h. ein Wesen, in dessen unbewußtem Wesen schon alles das keimhaft angelegt war, was sich im Lauf des Werdens durch die Geschichte entfaltete. Wir würden aber die menschliche Entwicklung unverständlich machen, wollten wir sie aus dem Tierreich deduzieren und gar etwa dem spezifisch Menschlichen Gesetze untergeordneter Art aufnötigen, die wir aus zoologischer Wirklichkeit entnehmen.
Den Menschen versteht nur derjenige, der seinen Wesensunterschied gegen das Tier als Kontrast begriffen hat, und der hier keine Ableitung in dem Sinne versucht, als ob durch die Verlängerung einer Linie jemals eine Fläche entstehen könnte. So grundsätzlich wie Linie und Fläche unterscheiden sich nämlich tierisches und menschliches Bewußtsein. Im menschlichen tritt eine ganz neue Dimension auf und damit eine sehr große Steigerung der Freiheit. Wenn man die Reaktionsweisen des tierischen Bewußtseins mit einem Scharnier vergleicht, entspräche der Kosmos der menschlichen Reaktionsweisen einem Kugelgelenk. In ihm verwirklicht sich eine prinzipiell neue Art von Beweglichkeit, deren Kennzeichen der Reichtum ist: aber nicht ein vom Tiere aus graduell gesteigerter Reichtum, sondern eine ganz neue Welt, die sich in den spezifisch menschlichen Funktionen ausdrückt: Vermögen künstlerischer Intuition und Resonanz, und damit die Sprache; Vermögen philosophischer und religiöser Verbindung mit dem Logos der Schöpfung; Vermögen kultureller Differenzierung biologischer Kräfte, vor allem des Nahrungs- und Geschlechtstriebes; Vermögen epizentraler Organisation in bewußten soziologischen Organismen, vor allem Staat und Staatenharmonie; Vermögen einer besonderen Freiheit der Kleidung, die nach Willkür angelegt, abgelegt und umgewandelt werden kann; Vermögen der schöpferischen Fortsetzung der Naturentwicklung durch bewußte Erfindungen, Schöpfungen und Umgestaltungen aller Art.
Die Erläuterungen der hier bestehenden Problematik hat der Verfasser in dem Kapitel »Das organische Leben« seines mit dem Strindbergpreis für 1925 ausgezeichneten Buches »Lebensphilosophie« (Bonn, Cohen, 1923) gegeben.
Von der besonderen Freiheit des menschlichen Bewußtseins im Vergleich mit dem Tier haben wir schon gesprochen. Eine größere Freibeweglichkeit der Psyche ist ihr Kennzeichen. Diese Angabe ist aber innerhalb der Menschheit vielen Variationen unterworfen, je nachdem der betreffende Charakter eng oder weit ist, je nachdem der Mensch beschränkt oder genial ist. Um den psychischen Unterschied des genialen vom gewöhnlichen Menschen klarzumachen, möchte ich mich eines Vergleiches bedienen. Die Pflanze ist körperlich in der Erde festgewachsen. Das Tier ist körperlich freibeweglich, aber seine Psyche ist gleichsam noch festgewachsen. Beim Menschen, auch durchschnittlicher Art, ist die Psyche mehr oder weniger frei beweglich, und dadurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Die Freibeweglichkeit der menschlichen Psyche hat eine große Stufenfolge von Graden, vom engen, mechanisch fest eingefahrenen Charakter bis zum freiesten, hochgenialen Menschen, der überhaupt kein einzelner Charakter ist, sondern gleichsam eine ganze Versammlung von Charakteren. Diese freiesten Bewußtseine aber sind es, auf denen notwendig die Weiterentwicklung der Menschheit beruht. Denn sie allein vermögen sich in allen drei Dimensionen des geistigen Raumes unbehindert zu drehen und zu bewegen, sie können durch ihren Willen neue Möglichkeiten entdecken, die den festgefügten Charakteren nicht ohne Belehrung von außen zugänglich sind. So ist jede Erfindung, jede geniale Entdeckung, jede tiefere Kunstschöpfung, jeder selbständig errungene Wissenschaftsfortschritt das Ergebnis einer geistigen Freiheit im genialen Bewußtsein, welches aus der Fülle der Möglichkeiten, die es ganz überblickt, eine neue als objektiv wertvoll herausgreift. Beklagenswert ist es aber, daß die Menschheit in ihren noch kindlichen Stadien vor dieser genialen Freibeweglichkeit des Geistes eine unheimliche Furcht empfindet. Daß sie das Genie mit den unternormalen Geistesstörungen verwechselt. Daß sie den Prometheus, der ihr neues Lebensfeuer vermittelt, zur Strafe an einen Felsen schmiedet, als Verbrecher an der Beschränktheit derer, welche die Pflicht hätten, vom Genie zu lernen.
Die zoologische Auffassung der Menschheit, welche heute noch ziemlich verbreitet ist, wirkt in jeder Hinsicht, auch bezüglich der Sexualphilosophie, schädlich. Sie verhindert die Einsicht in das wahrhaft Menschliche, sie trägt dazu bei, das Wesen auch des genialen Menschen mißzuverstehen und seine Verfolgung durch Minderwertige zu begünstigen. Die nationalökonomischen Biologismen machen den Menschen zu einem Tier, welches produziert und konsumiert, welches den Kampf ums Dasein nach brutalen Interessen des Egoismus führt, welches sich ernährt, tränkt und fortpflanzt. Diese nationalökonomischen Gesichtspunkte, die besonders dem englischen Geiste gut liegen, verbinden sich in Deutschland oft mit den ruchlosen Vorurteilen einer sogenannt philosophischen Geschichtsauffassung, welche lehrt, daß kein Recht existiert, es sei denn die brutale Macht, und welche in der Macht des Staates, dieses neuen Götzen, das non plus ultra aller menschlichen Kulturentwicklung erblicken. Gewissenlose Kriege, tyrannische Menschenquälerei, sinnlose Desorganisation des Weltganzen sind zulässige Mittel einer solchen moralzoologischen Pubertätsphilosophie unreifer Lebensstufen.
Die Steigerung der Freiheit, welche man als allgemeinstes Gesetz der Natur ansprechen darf, stellt sich im Reiche der Pflanzen und Tiere im Stadium des Stoffwechsels dar. Der Stoffwechsel in seinen beiden Gestalten, Nahrungstrieb und Gattungstrieb, ist denn auch die treibende Lebenskraft der gesamten Tierheit. Beim Menschen hat es jedoch nicht beim Wechsel des Stoffes sein Bewenden. Seine Freiheit zielt auf den Wechsel überhaupt, und als charakteristische Form tritt bei ihm der Wechsel der Energien auf, als ein bewußt schöpferischer Wille, im Stoffwechsel nur die Grundlage einer Differenzierung des Wirkens und Erlebens anzuerkennen, welche viel feiner und freier ist, als daß sie im Wechsel der Stoffe realisierbar wäre. Diese energievolle Erhebung über den Stoff entfaltet sich ganz allgemein in der menschlichen Kultur. Für unser Problem ist aber gerade der Umstand zu beachten, daß auch diejenigen Lebensäußerungen, welche mit dem tierischen Stoffwechsel identisch zu sein scheinen, beim Menschen eine ganz besondere Eigenart gewinnen. Es wäre demnach ein rohes Mißverständnis, wollte man die menschlichen Stoffwechselfunktionen nach Analogie der animalischen begreifen und erklären. Aus dem bloßen Ernährungs- und Stillungstriebe wird beim Menschen eine Grundlage zu differenzierten Befriedigungen geschaffen, in denen die bewußteren Erlebnisse wahrnehmender, ästhetischer und freimenschlicher Genußfähigkeit einer minderwertigen Grundlage aufgepfropft werden, die als solche allein gar kein menschliches, sondern nur animalisches Interesse erwecken kann. Das Tier nährt sich und stillt sich. Der Mensch ißt und trinkt. Das spezifisch Menschliche beginnt erst da, wo die besondere Freiheit betätigt wird, welche den Unterschied dieser Begriffe ausmacht. Ebenso aber wäre es verkehrt, die menschliche Erotik nach dem Vorurteil eines animalischen Gattungsstoffwechsels zu behandeln und ihre Eigengesetze durch moralische oder utilitarische Regeln, welche von dieser Voraussetzung ausgehen, in Fesseln schlagen zu wollen. Inwiefern sich in diesem Punkte die menschliche Freiheit hoch über die tierische erhebt, ist im Verlaufe unseres Buches eingehend zu behandeln.
Ueberhaupt scheint uns die Betonung des biologischen Utilitätsprinzips in soziologischen Zusammenhängen oft auf einer Verkennung des spezifisch Menschlichen zu beruhen, welches sich gerade über das bloß Nützliche weit erhebt, vor allen Dingen durch das Hinzutreten des Aesthetischen. Man hat in der Naturwissenschaft die selbständige Rolle ästhetischer Energien im Schaffen des Kosmos meist sehr vernachlässigt oder ganz übersehen. Der bare Nützlichkeitszweck sollte Universalprinzip der organischen Naturerklärung sein, und den Reichtum der Qualitäten um ihrer selbst willen, die künstlerische Wesensart der Schöpfung, ließ man nur nebenbei gelten, wenn man sie nicht gar mit verächtlichem Achselzucken über »unwissenschaftliches« Aesthetentum völlig ablehnte. Wird dadurch schon der Makrokosmos als Ganzes unbegreiflich, so erklimmt die Unbegreiflichkeit der Dinge auf Grund roher Zwecke im Bereich der organischen Welt und insbesondere des Menschen ihren Höhepunkt. Das um seiner selbst willen daseiende Schöne, die Einheit in der Mannigfaltigkeit des großen Kunstwerkes, welches Leben heißt, kann nur um den Preis hoffnungsloser Verschiefung aller Einsichten aus der Welt hinausgedacht werden. Auch die Sexualphilosophie unserer Epoche krankt sichtlich an der Herrschaft eines banalen Zweckbegriffes, der das Wesen des Lebens naturwissenschaftlich oder moralisch in schulmeisterliche Zwangsjacken zu stecken versucht. Wohl entwischt ihnen das Leben doch. Aber in der Theorie herrscht der Zwang des Zweckes allenthalben, dem Gewissen Zweifel und Zwiespalt bescherend, ob nicht das Leben schlecht sei, damit diese Theorien an ihrer Güte nicht Schaden leiden. Daß die Freiheit des Lebens sich erlauben könne, auf ihrem höchsten Gipfel um des Reichtums willen geradezu zweckwidrig bezüglich biologischer Nützlichkeitszwecke zu werden, erscheint den Vorurteilen der Trivialität unfaßbar. Diese Unfaßbarkeit findet in affektischen Wertungen wie dekadent oder krankhaft ihren passenden Ausdruck. Der Reichtum des Lebens spottet zwar dieser hämischen Beurteilung durch geringere Freiheitsstadien, indem er sie durch sein eigenes Dasein in Schatten stellt. Aber es bleibt doch immer eine Art Todfeindschaft zwischen den beiden Sphären, die am besten dadurch geschlichtet wird, daß Genie und Banause sich gegenseitig ignorieren.
Schon im Aeußeren drückt sich die besondere Freiheit des Menschen, mit oder ohne Zweck durch willkürlichen Wechsel ästhetischen Reichtum zu schaffen, in der nackten Gestalt aus, welche erst durch bewußte Tätigkeit den variablen Schutz und Schmuck des Kleides erhält. Die Freiheit, Kleidung anzulegen, mannigfach zu verändern, oder auch unbekleidet zu erscheinen, mag geradezu als Symbol menschlicher Eigenart gelten können. Nicht wie beim Tier ist hier alles Natur mit zwangmäßiger Tatsächlichkeit, wodurch die Schönheit des Körpers lediglich als Schönheit der öffentlichen Bekleidung auftritt, während die Abstraktion von der Kleidung zum Häßlichen oder Ekelhaften führt – sondern Natur und freies Kunstschaffen zeigen sich beim Menschen getrennt. Dadurch wird nicht nur innerhalb des künstlichen Menschenwerkes eine ästhetische Wandelbarkeit ermöglicht, sondern auch der andere Pol, die reine Natur, gelangt durch diese Scheidung erst vollkommen zu sich selbst. Das anorganische Haarkleid verhüllt nicht das jämmerliche Schauspiel eines frierenden Tieres, sondern das vollendetste Kunstwerk der Natur, welches in seinem majestätischen Kontrast zu den Gebilden der Menschenhand eine neue, größte Freiheit der Kleidung in den Bereich der Möglichkeit bringt: die menschlichen Gewänder mit dem viel reicheren zu vertauschen, in welchem jede Zweckbehaftung überwunden ist. Durch den Kontrast von Bekleidung und Nacktheit erklimmt der Mensch eine bemerkenswerte Stufe der Freiheit, die den nacktlebenden Völkern fehlt. Mag immerhin das biologische Bedürfnis des Kälteschutzes der Antrieb zur Erfindung des Kleides zivilisierter Völker gewesen sein: die metaphysische Wesensbedeutung des Kleides ist feiner und tiefer. Das Kleid schafft den Kontrast zwischen Natur und Künstlichkeit. Dadurch erzeugt es nicht nur die Mannigfaltigkeit der Bekleidungsmöglichkeiten, sondern auch erst das bewußte Erlebnis der Nacktheit und damit eine wesentliche Form der Differenzierung sympathischer Gefühle. Das Tier ist stets bekleidet. Der Wilde ist stets nackt. Die spezifisch menschliche Freiheit entsteht erst durch die Möglichkeit des Wechsels zwischen den Zuständen, welche den einen in unbewußten Kontrast zum andern setzt und dadurch eigenartig macht. Kulturerzeugnisse und Naturkunstwerke erhöhen gegenseitig ihren Reiz, wenn die einen die Kontrastfolie für die andern abgeben.
Falsche Analogien verhindern richtige Erkenntnisse. Den flüchtigen Zierat und Organschutz der Haare auf dem nackten menschlichen Körper mit dem tüchtigen, angewachsenen Kleid des Tieres zu verwechseln, dürfte die Einsicht in das Wesen der Sache ebensowenig fördern wie die Theorie, menschliche Nacktheit sei das Entwicklungsprodukt eines Haarausfalles. Als die junge Menschheit durch die Befruchtung des Himmels aus der Erde geboren wurde, war sie nackt und wußte es nicht. Neben sich sah sie ihre älteren Geschwister, die Tiergeschlechter. Diese waren bekleidet und wußten es nicht. In der Menschenseele drängte aber ein dunkles Etwas ans Tageslicht, in verworrener Verbindung mit geschlechtlichen Trieben, mit unklarer Erkenntnis eigener Schöpferfähigkeit verbunden. Dieses dunkle Etwas lehrte die Menschen erkennen, daß sie nackt waren. Daß sie sich Kleidung zu erfinden hatten. Daß sie die im Tier gegebene Identität von Natur und Kleid zu einer höheren Freiheitsform auseinanderspalten müßten, in welcher nackte Natur das Eine und schamhafte Kleidung das Andere sei. Die Menschheit ahnte, daß sie an ihrem Körper anfangen müsse, Kultur zu schaffen, welche sowohl sich selbst als die Natur mit gesteigerten Erlebnisinhalten begabt. Auf der ganzen weiten Erde entstanden die Völker der Menschheit. Und auf der ganzen weiten Erde sah der nackte Mensch neben sich das bekleidete Tier und vernahm in seinem Innern die imperative i Stimme: Du sollst durch Freiheit eine höhere Freiheit schaffen, während das Tier in Unfreiheit schon hat, was dir fehlt. Dein Körper ist hilflos geboren, damit dein Geist ihm hilfeschaffend eine höhere Freiheit gebe. Beim Tier ist alles Eins: Natur und Kleid. Deine Aufgabe ist, die im Tier verbundenen Funktionen zu trennen, zu verselbständigen, und zu einer schöpferischen Harmonie in Schönheit zu verbinden.
Damit nun berühren wir zum erstenmal unser eigentliches Thema, die Philosophie des Eros. Nicht nur die Kultur der Kleidung begann sich im Anfang der Geschichte in solchem Kontrast gegen die Tierheit allmählich auszubilden, sondern auch die Kultur des Geschlechtlichen. Auch in diesem Punkte war der primitive Mensch nicht eine Fortsetzung des Tieres, sondern ein Kontrast zu ihm. Seine Geschlechtlichkeit war nicht durch den Lauf der Jahreszeiten mechanisch geregelt. Er war nicht ein willenloses Werkzeug der Naturkraft, sondern er fühlte sich als Bewußtsein über diesen Kräften stehend, mit der Freiheit sie willkürlich zu äußern und zu lenken. Unheimlich war ihm, was dem Tiere mechanisch zufiel. Freiheit des Willens, Möglichkeit der Auswahl zwischen Tun und Lassen fühlte er, wo das Tier als Maschine funktionierte. Urgewaltige, unverständliche Regungen ohne Beziehung zu den geringeren Trieben des Alltags erfüllten ihn mit Unsicherheit. Fast war das doch stärker als er selbst. Ein Dämonisches schien darin zu leben. Das Bewußtsein der Sünde stellte sich ein. Nicht so leicht wie die Kultur der Kleidung war die Kultur des Erotischen geschaffen. Wir wissen aus der Geschichte, wie die Meinungen der Menschen vorangeschritten sind, wie sie von Volk zu Volk, von Zeitalter zu Zeitalter suchten und versuchten, fast ebenso reichhaltig gestaltet wie die Kleidermoden vom mythischen Feigenblatt der Mosaischen Anfangstheorie bis zum Frack des modernsten Oberkellners. Während man mit jedem Kleidungsstück in gewisser Hinsicht Zufriedenheit empfinden kann, läßt sich von den erotischen Ansichten vielleicht eher behaupten, daß man mit jeder von ihnen in gewissem Maße unzufrieden sein muß. Eine Verbindlichkeit, weiter zu suchen und Vollkommeneres zu finden, läßt gerade den Menschen unserer Zeit, sofern er geistig mündig ist, nicht so leicht frei. Wir kennen die asketischen Theorien des Urchristentums und des Buddhismus, wir kennen die naturalistischen Theorien der Darwinisten, wir kennen die vielen Kompromißversuche zwischen Askese und Lebensentfaltung, wie sie Religionen und Moralen in alter und neuer Zeit bei den verschiedenen Völkern empfohlen haben: aber es wird uns dadurch keine Binde von den Augen genommen. Wir stehen auch heute noch wie jene biblische Fiktion namens Adam fragend und zweifelnd vor den beiden Bäumen im Mittelpunkt des Lebensgartens: dem Baume des Lebens und dem Baume der Erkenntnis. Was darf, soll, will, muß, möchte ich tun und glauben von alledem? Ein Schweigen ist die Antwort.
Und doch ist dem Menschen, wenn er seinen Wesensgegensatz zum Tier gewahrt, auch in diesen Fragen ein sicherer Kompaß gegeben. Wie das schamhafte Gefühl der Nacktheit auf eine Differenzierung des tierisch Identischen in die getrennten Funktionen von Natur und Kleidung hindrängte, nicht bloß damit das Gefühl besiegt werde, sondern damit die menschliche Freiheit sich gesteigert entfalte, so scheint auch das Gefühl des Unbehaglichen, vielleicht Sündhaften, jedenfalls aber Unverstandenen in Ansehung des Geschlechtlichen auf die Ausgestaltung spezifisch menschlicher Freiheit hinzuarbeiten, welche gleich jener andern, einfacheren verwirklicht werden soll durch eine Verselbständigung all der Funktionen, die in der Sexualität des Tieres als starre Einheit freiheitslos gegeben sind. Indem aus dem unentwickelten Konglomerat des baren Gattungsstoffwechsels die einzelnen Kräfte voneinander gelöst werden, entfaltet sich aus dem animalischen Gattungsinstinkt die reiche Welt der menschlichen Erotik, wie die Blütenblätter sich in Schönheit aus dem starren Zwang der Knospe entfalten. Die Ueberlegung lehrt uns zwar, daß die Ueberwindung des sexuellen Unsicherheitsgefühls nicht ganz so einfach zu bewerkstelligen ist wie die Ueberwindung des Schamgefühls durch die Trennung von Natur und Kultur am menschlichen Körper. Die Dinge liegen ähnlich, aber etwas komplizierter. Wollten wir uns mit dem Gegensatz von Natur und Kultur begnügen, so würden wir das Problem nur zur Hälfte treffen. Auf diesem Standpunkte befindet sich allerdings eine gewisse Auffassung, welche im Gegensatz der kulturgewollten Ehe und der naturhaften Geschlechtlichkeit die menschliche Wesenspointe der Sexualphilosophie gefunden zu haben glaubt. Das ist wohl nicht mehr tierisch, aber es ist auch noch nicht in voller menschlicher Differenzierung gedacht. Mag es wohl auch der Standpunkt einer breiteren Oeffentlichkeit sein, in obengenanntem Gegensatze die menschliche Eigenart erschöpft zu wähnen, so können wir doch nicht umhin, die relative Unfreiheit einer derartigen Einstellung nachdrücklich zu betonen.
Die natürliche und die kulturelle Funktion des Erotischen spaltet sich nämlich bei näherem Zusehen jeweils wieder in zwei Teile, deren Verselbständigung ebenso notwendig erscheint wie die Trennung von Natur und Kultur. Wir stoßen hier auf das häufige logische Phänomen der Vierheit, des durchkreuzten Gegensatzes. Die vier Blütenblätter der Knospe, welche in der menschlichen Entwicklung immer freier entfaltet werden soll, lassen sich unschwer erkennen. Die natürliche Funktion des Erotischen enthält die von einander recht deutlich zu unterscheidenden psychischen und physischen Aeste, nämlich Liebe und Sexualität. Wohingegen die kulturelle Funktion sich in die Zweige der soziologischen Gemeinschaft und der Fortpflanzung spaltet. So finden wir als erstes Ergebnis, daß das spezifisch Menschliche am Erotischen in der Verselbständigung von vier Funktionen besteht, die in der tierischen Sexualität ununterschieden verbunden und infolgedessen als solche gar nicht vorhanden sind. Was beim Tier barer Gattungsstoffwechsel ist, wird beim Menschen ein wechselseitiger Energiekontrast von Liebe, Sexualität, Fortpflanzung und Eheform »Diese vier Wurzeln des erotischen Problems gilt es grundsätzlich zu trennen und jede in sich selbst möglichst stark zu vertiefen, damit der ganze Reichtum des Eros in der Menschheit zu voller Entfaltung gelange, damit also die Menschheit auf erotischem Gebiete die Freiheit sich erringe, welche ihr durch ihre Wesensart bestimmt ist. Das Tier hat keine erotischen Probleme. Die Problematik entsteht eben durch den wechselseitigen Kontrast der vier Wurzeln, aus denen der Baum des Lebens hervorwächst. Und als erste Richtlinie für unser Denken müssen wir die Einsicht festhalten, daß das spezifisch Menschliche im Erotischen dadurch charakterisiert ist, daß vier Funktionen, nämlich Liebe, Sexualität, Fortpflanzung und Ehe, sich in Freiheit verselbständigen wollen, und daß wir durch die bewußte Verselbständigung dieser Funktionen in unserem Denken das Gefühl der sexualphilosophischen Unbehaglichkeit aufzulösen hoffen dürfen, wie durch die Verselbständigung von Leib und Kleidung das Schamgefühl überwunden und zugleich seiner Bestimmung dienstbar gemacht wird.