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2. Die Verwandtschaft der vier Wurzeln des Problems untereinander.

In der philosophischen Behandlung menschlicher Erotik hat man vor allen Dingen die elementare Unterscheidung der vierfachen Wurzel des Problems zu betonen, weil durch diese Unterschiedenheit das Wesen menschlicher Eigenart im Gegensatz zum tierischen Gattungsstoffwechsel charakterisiert ist und weil die klare Trennung der vier Wurzeln voneinander uns vor verworrenen moralischen Urteilen bewahren kann, welche dem unbestimmten Gefühl entspringen, die menschliche Geschlechtswirklichkeit sei eben im Grunde genommen doch nichts anderes als eine mit ärgerlichen Komplikationen verbundene Fortpflanzungsfunktion. Den immanenten Eigenwert des Erotischen für den Menschen wird man bei solcher Stellungnahme immer nur ablehnen können, wodurch man in der vermeintlich humansten Absicht den Menschen unter den Gesichtswinkel des Tieres degradiert, ähnlich wie wenn man menschliche Kultursteigerung auf dem Gebiete des kulinarischen Geschmacks unter dem Banne der Zweckvorstellung einer animalischen Ernährung und Tränkung mißverstehen wollte. Daß der Mensch ißt und trinkt, ohne durch Hunger und Durst dazu getrieben zu sein, aus reinem Selbstzweck, wird ihm zwar oft zum Vorwurf gemacht. Es scheint uns aber, daß der Moralist in diesem Falle einen wirklichen Freiheitsvorzug des Menschen vor dem Tier fälschlicherweise in einen Nachteil umdeutet.

Wenn der Mensch nach Mephistopheles' Worten das Himmelslicht der Vernunft oft nur dazu gebraucht, »um tierischer als jedes Tier zu sein«, so wäre dieser weitverbreiteten Meinung zu entgegnen, daß es sich im Gebrauch wie im Mißbrauch menschlicher Machtvollkommenheit niemals um eine Annäherung an das Tier handelt, als welches wesentlich mechanischer geartet ist. Das Tier überfrißt und betrinkt sich nicht, weil es im eigentlichen Sinne überhaupt nicht essen und trinken kann. Es besitzt keine Laster ausschweifender Geschlechtlichkeit, weil es im Grunde genommen überhaupt keine in bewußter Freiheit zu genießende Sinnlichkeit besitzt, sondern ein sexueller Automat ist. Und das Tier führt keine mörderischen Kriege um des Prinzips willen, weil es kein Nationalbewußtsein und auch keinen bewußten Eigenstolz und Fremdenhaß zu aktivieren vermag. Die zoologischen Kämpfe um Fraß oder Weibchen in der beliebten darwinistischen Art mit den menschlichen Kriegen in Beziehung zu setzen, dürfte nebenbei gesagt auch etwas kurzsichtig sein und das spezifisch Menschliche verkennen. Wenn der Mensch in den drei genannten Fällen »tierischer als jedes Tier« zu sein scheint, muß der Theoretiker doch festzuhalten bitten, daß es sich auch bei diesen Lastern nicht um einen Rückfall ins Animalische handelt, sondern um die Kehrseite der Freiheit, welche genau wie die Tugendseite dieser Freiheit spezifisch menschlich ist. Der Mensch ist grundsätzlich nicht mit einem durch Empfindung gelenkten karthesianischen Stoffwechselautomat zu vergleichen, da er den Stoffwechsel nur als Fundament zu einem viel feineren Energiewechsel benutzt. Und nach dem Gesetz des Kontrastes dürfte bei diesem Energienwechsel auch die Seite der Laster eine gewisse Existenzberechtigung haben, wie denn überhaupt das Böse ebenso wie das Gute aus dem Wesen der menschlichen Freiheit mit Notwendigkeit erfolgt. Will ein Darwinist den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier aus der ganzen Kultur nicht begreifen, so würde man ihm als letzte Illustration der großen Wahrheit einen Menschen zeigen dürfen, welcher raucht. Daß es hierbei nicht auf animalischen Stoffwechsel abgesehen ist, sondern auf freimenschlich selbstgenügsames Spiel von Energien, ist evident.

Lassen wir die vier Wurzeln des erotischen Problems noch einmal an uns vorüberziehen und beachten wir ihre relative Selbständigkeit. Dadurch gewinnen wir die erste Einführung in den Reichtum des Erotischen, welchen wir sine ira et cum studio analysieren wollen, uns immer bewußt bleibend, daß Tugenden und Laster auch auf diesem Gebiet gleichermaßen spezifisch menschlich sind und aus dem Wesen des Menschen begriffen werden müssen. Da haben wir zunächst das Herz des Erotischen, das psychologische Problem der Liebe. In ihm drückt sich gleichsam die Quintessenz des menschlichen Wesens aus, ein völlig auf differenzierteste Energien eingestelltes Erleben und Miterleben aus dem tiefsten seelischen Zentrum. Es gehört zu den elementarsten Merkmalen des menschlichen Menschen im Gegensatz zum untermenschlichen, der erst noch werden soll, was er ist, daß er ein klares, deutliches Empfinden davon besitzt, daß die Liebe etwas, grundsätzlich anderes ist als die Sexualität, der Geschlechtstrieb. Wie oft hören wir diesen Unterschied mißachtet und die Liebe verwechselt mit einer anderen Naturkraft, die als solche durchaus nicht zu verachten ist, aber doch nicht den Namen Liebe tragen kann. Indem wir das Psychische vom Physischen theoretisch zuerst einmal streng unterscheiden und feststellen, daß Herz und Geschlecht nicht identisch sind, schaffen wir die Voraussetzung zum Verständnis vieler Erscheinungen der Wirklichkeit, die der plumpe Sinn, für welchen Liebe gleich Geschlechtstrieb ist, niemals begreift, also nur feindlich vergewaltigen wird, obwohl sie es vom feiner empfindenden Standpunkt aus nicht verdienen.

An zweiter Stelle haben wir das Geschlecht des Erotischen, das physiologische Problem der Sexualität. Dieses ist wie gesagt ein ganz anderes als das vorhergehende, und wenn auch, wie wir bald sehen werden, die vier Wurzeln des Erotischen untereinander ihre mannigfachen Verwandtschaften und Verschlingungen zeigen, so können wir selbst diese Verwandtschaften nur dann in ihrem klaren Sinn begreifen, wenn wir uns die gründliche Verschiedenheit der in Beziehung tretenden Elemente vorher zu deutlichem Bewußtsein gebracht haben. Das physiologische Problem der Sexualität will sinngemäß schon nach materielleren Gesichtspunkten beurteilt werden als das zarte Seelenwunder der Liebe. Vernunft und Nüchternheit müssen dazu führen, Phänomene des Physiologischen nach den allgemeinen Erfahrungsgesetzen alles Physiologischen zu ihrem relativen Rechte kommen zu lassen, wobei affektische Einreden eines vorlauten Gefühls mit der gleichen Ruhe und Besonnenheit in ihre berechtigten Schranken zu verweisen wären. Daß Geschlechtsmoral und Geschlechtselend heutzutage Zwillingsschwestern sind, dürfte nur von einem tendenziösen Willen übersehen werden können. Um so wertvoller und verantwortungsvoller wird eine philosophische Analyse des Sexuellen sein, als von ihr allein gehofft werden kann, sie werde es vorbereiten können, daß einmal das Menschenglück die unzertrennliche Begleiterin einer Geschlechtsmoral werden dürfte. Die Naturgesetze einer weisen Schöpfung durch engen Zwang zu verstümmeln, liegt nicht in der Absicht menschlicher Höherentwicklung. Eine sorgfältige Bewertung des physiologischen Problems kann noch zu notwendiger Aufklärung gereichen. Hauptsächlich kommt es dabei wohl darauf an, daß man beachte, daß trotz der Stoffwechselgrundlage auch das Physiologische an sich einen spezifisch menschlichen Energiewechsel begründet, dessen Kultivierung und Verfeinerung den Reichtum der menschlichen Natur steigert und befreit, indem durch solche Vermenschlichung der Sexualität den drei andern Wurzeln der Erotik gegenüber ein Kontrast und eine Resonanz geschaffen wird, welche die Gesamtheit des Lebens in einer dem Sinn der Menschheit entsprechenden Weise vertieft und bereichert.

An dritter Stelle nennen wir den Kopf des Erotischen, das biologische Problem der Fortpflanzung. So wenig man dessen Stellung im Gesamtkomplex unterschätzen wird, da es sich hier um Erhaltung und, nach Nietzsches Wort, Hinaufpflanzung der menschlichen Gattung handelt, so sehr muß doch betont werden, daß dieser Teil der erotischen Wirklichkeit von verschiedensten Seiten auf Kosten der drei anderen Wurzeln ungebührlich stark in den Vordergrund gestellt zu werden pflegt. So kennt man zum Beispiel Schopenhauers »Metaphysik der Geschlechtsliebe«, nach welcher die psychischen und physischen Kräfte des Eros in ihrer Eigenart dadurch erklärt werden sollen, daß die Natur im Interesse des Kindes die Menschheit dauernd prellt. Der ganze Bereich des Eros ist nach dieser Theorie eine unheimlich geschickte Erfindung der Natur, damit die Menschen sich törichterweise zu Zwecken aufopfern, die ihnen als Individuen ganz gleichgültig sein könnten: zu den Zwecken der Fortpflanzung. Es läßt sich schwerlich übersehen, daß der geniale Philosoph durch diese seine Voraussetzung zu einer Auffassung des Erotischen gelangt ist, welche trotz der oft zutagetretenden glänzenden Beobachtungsgabe des Denkers doch gerade den Wesenskenner der Probleme durch ihre Schiefheit in Verwunderung setzt. Hier wird das ganze Gebiet des Erotischen einem biologischen Zweckbegriff theoretisch geopfert, wodurch die drei andern Wurzeln des Problems ihre Selbständigkeit einbüßen und in der Erkenntnis zu kurz kommen. Doch spricht Schopenhauer eigentlich nur theoretisch einen Gedanken aus, der in den unbewußteren Regionen der Praxis und des verworrenen Moralinstinktes von jeher richtunggebend gewesen ist: den Glauben an die animalische Zweckgebundenheit und Zweckbeherrschtheit auch des menschlichen Eros. Daß dieser Gedanke an sich in jeder Hinsicht falsch sei, möchten wir durchaus nicht behaupten. Tatsächlich muß sich eben die spezifisch menschliche Freiheit in der ganzen Kultur aus den Banden einer untermenschlichen Zweckgebundenheit langsam herauslösen. Eine Philosophie der Angelegenheit wird aber den Nachdruck auf die fortschreitende Entwicklung legen müssen. Sie soll den Menschen Kompaß und Wegweiser sein. Dazu genügt aber keineswegs ein unhistorischer Determinismus, welcher den Menschen im Banne eines teuflischen Verhängnisses darstellt, aus welchem nur der Sprung ins Nirwana sollte befreien können. Unsere Philosophie wird ganz im Gegenteil den Fortschritt der Menschheit durch die Willensfreiheit ihrer Mitglieder zu zeigen versuchen, und wird einsehen lernen, daß im Kampf gegen die Widerstände auch auf erotischen Gebieten der Intellekt zu höheren Formen geschärft wird, welche aus der tierischen Zweckgebundenheit den Menschen allmählich zur vorausbestimmten Harmonie führen werden. Daß auch Staat und Kirche höhere Interessen wahrzunehmen vermeinen, wenn sie die Probleme des Eros fast ausschließlich unter biologischem Gesichtspunkt zu würdigen pflegen, dürfte lediglich darin seinen Grund haben, daß eine saubere Unterscheidung der Begriffe und damit eine besonnene Einsicht in die mannigfaltigen Lebensinteressen der Frage noch nicht zum öffentlichen Allgemeingut geworden ist. Es liegt der Philosophie ob, die Begriffe klären zu helfen. Das Psychische, das Physische und das Soziale hat jedenfalls neben dem Biologischen seinen selbständigen und gleichberechtigten Lebenswert.

An vierter Stelle bleibt uns schließlich das bürgerliche Nährzentrum des Erotischen zu nennen, das soziologische Problem der Ehe. Auch die Ehe wird vom allgemeinen Bewußtsein allzusehr als Mittel zum Zweck und viel zu wenig als Selbstzweck beurteilt. Und doch erschöpft sich der ethische Eigenwert der Ehe, insbesondere der Einehe, bei weitem nicht in dem biologischen Zweck in Verbindung mit psychischen und physischen Begleitumständen. Die Selbständigkeit der soziologischen Interessen muß einer solchen Auffassung gegenüber entschieden verteidigt werden. Auch angenommen, die Liebe, die Sexualität und die Fortpflanzung fänden in der Menschheit ihre Interessen auch anderweitig restlos gewahrt, so bliebe im Umkreis des Erotischen eine bedeutende Lücke sozialer Natur, welche durch die Ehe ausgefüllt wird. »Es ist dem Menschen nicht gut, daß er allein sei«, sagt in schmuckloser Einfachheit die Heilige Schrift. Der einzelne Mensch ist ein Abstraktum, eine ergänzungsbedürftige Funktion, gleichsam ein sozialer Krüppel. Erst der Bund zweier Menschen schafft die soziale Substanz, in welcher die tausend ungesättigten Strebekräfte des Einzelnen ihr Ziel finden, in welcher Unvollkommenheiten der Natur durch unbewußte Ergänzungen verschwinden, in welcher die unvollkommenen Lebensrhythmen des einen Menschen durch in anderem Sinne unvollkommene Lebensrhythmen des andern zu einem vollkommenen Lebensrhythmus verbunden werden. Von der Fiktion einer Idealehe soll hier nicht gesprochen werden, sondern nur von der soziologischen Grundtatsache, daß aus dem Zusammenwirken zweier sozial unzulänglicher Elemente in der Regel ein sozial zulänglicher Organismus entsteht. Abstrahieren wir sogar von jeder Liebe im eigentlichen Sinne, von jeder sexuellen oder biologischen Hilfsfunktion, welche den Wert einer Ehe vergrößern könnten. Nehmen wir nur die Ehe, als soziales Zusammenwirken zweier oder mehrerer Menschen in der Gestalt engster und vorbehaltlosester Symbiose. Dann ist zu sagen, daß an und für sich die Ehe ethisch wertvoll ist und zum Gebiet des Eros gehört, weil sie die Keimzelle jener praktischen Menschenliebe schafft, welche den Einzelnen in gewissenhafter Weise zu Wohl und Förderung des andern durch Willen und Tat verbindet. Diese Art der Liebe, welche meist als Caritas im Gegensatz zu amor bezeichnet wird, hat nichtsdestoweniger mit den tiefen Lebenskräften der Seele, die in der genialen Liebe zu elementarer Gewalt konzentriert sind, eine seltsame Verwandtschaft. Von der ehelichen Liebe erstrecken sich zur allgemeinen Menschenliebe, zur religiösen Liebe, zur künstlerischen Liebe und schließlich zur sonntäglichen Lebensfeier des von Dichtern besungenen großen Herzensereignisses kontinuierliche Bande. Die Ehe als reines Sozialphänomen muß zweifellos ebenso selbständig gewertet werden wie die Liebe, die Sexualität und die Fortpflanzung. Frommer Wunsch ist ja zweifellos die Personalunion aller vier Wurzeln in einer Universalehe, über welches Ideal auch noch ausführlich zu handeln sein wird. Vorläufig ist lediglich nötig, daß man unabhängig von den möglichen Beziehungen der Ehe zu andern erotischen Kräften ihren selbständigen Eigenwert neben diesen Kräften deutlich einsehe.

Wir haben nun die vier Wurzeln des erotischen Problems, welche die vier Hauptteile unseres Buches ausmachen, kurz Revue passieren lassen. Mit Absicht wurde jede der Wurzeln mit einem der vier elektrochemischen Hauptzentren des menschlichen Körpers sinngemäß analogisiert, wodurch die Funktionen eine bildhafte Charakterisierung und Bewertung erlangen. Die geniale Liebe entspricht dem Herzen, dem hochempfindlichen Zentrum der Lebensströme. Die Sexualität dem Geschlecht, dem universalen Ausgleichsapparat der elektrischen Spannungen des Organismus. Die Fortpflanzung dem Kopf als dem denkenden, vernünftig Vorschau haltenden Wächter der Zukunft. Die Ehe dem Nahrungszentrum, in welchem die Kräfte der Außenwelt in Lebenssäfte des Eigenkörpers assimiliert werden. Diese konkreten Analogien scheinen uns ebensowenig willkürlich zu sein wie die Vierzahl der Wurzeln und ihre begriffliche Unterscheidung. Wir glauben dadurch keine subjektive Theorie aufgestellt zu haben, sondern hineinzuleuchten in die vom Logos geschaffene Eigenstruktur der organischen Wirklichkeit. In ähnlicher Weise, wie Herz, Geschlecht, Kopf und Nahrungszentrum grundsätzlich ganz verschiedene Organe sind, die aber doch in der Einheit eines Organismus ineinanderarbeiten, so daß keines entfernt werden könnte, ohne die andern unmöglich zu machen – in ähnlicher Weise, sagen wir, verhalten sich auch die vier Wurzeln des erotischen Problems. Sie sind begrifflich durchaus verschieden und selbständig, hängen aber im allgemeinen Organismus der erotischen Welt durch tausend gröbere und feinere Beziehungen miteinander zusammen. An uns ist es, die Erkenntnis dieses Organismus möglichst plastisch werden zu lassen.

Die erste Eigentümlichkeit aller wahrhaft menschlichen Erotik im Gegensatz zu untermenschlicher Verworrenheit ist die führende Stellung des Herzens, die Vorherrschaft des genial schöpferischen Moments, die Befreiung vom biologischen Zweckbegriff durch das unmittelbare Erleben einer selbständig gewordenen Psyche, deren Sympathiekräfte eine Menschheit schaffen, indem sie Menschlichkeit gestalten, wo sonst nur animalische Zweckverbände bestehen. Daher lebt im Gefühl menschlicher Kultur der Imperativ, daß die Liebe gleichsam die Ursache sein soll, aus welcher die Phänomene der Sexualität, der Fortpflanzung, des Ehebundes als Folgen hervorgehen. Dieser Imperativ möchte das Gesetz der Tierheit durch die Stufen des Untermenschlichen in eine höhere Norm verwandeln, in welcher die dämonischen Gesetzestafeln des Lebenszwanges durch ein Evangelium der Freiheit überwunden seien. Ein solches Ideal wäre aber Torheit und Utopie, wenn es nicht die Selbständigkeit der vier Funktionen gelten lassen würde, aus deren Getrenntheit erst der Organismus menschlicher Erotik begriffen werden kann. Das Herz soll nicht dadurch eine führende Rolle erlangen, daß es die andern Organe negiert, sondern nur dadurch, daß von ihm aus die belebenden Ströme als Grundtatsachen der Existenz überall hingelangen und fühlbar werden. Daraus ergibt sich aber eine Umkehrung der apriorischen Vorurteile des Untermenschen in eine Moral wahrhaft menschlicher Erotik. Nicht zum Zwecke der Fortpflanzung sollen die übrigen Funktionen des Eros als wertvoll gelten, sondern zum Zweck der Liebe. Eine neue Gewalt soll die Zügel ergreifen und Werte schaffen, welche durch die Geburt der Menschheit im Gegensatz zum Animalischen möglich geworden sind. Während ein biologisches Urteil behauptet, daß Liebe, Sexualität und Ehe zum Zwecke der Fortpflanzung da sind und aus diesem Zwecke ihre Rechtfertigung erlangen, wird ein wahrhaftmenschliches Urteil, dem die Höherentwicklung der Kultur anvertraut ist, das Steuer des Schiffes in eine Richtung stellen, welche besagt: das Fortbestehen der Menschheit hätte keinen Wert, es sei denn um der Liebe willen; die Sexualität und die Ehe hätten keinen Wert, außer durch die Menschenliebe, die sich in ihnen ein Werkzeug schafft. Ist der Zweck des Lebens nicht die Liebe, sondern die Existenz, so wäre die Menschheit mit ihren ungeheuren Komplikationen eine überaus verunglückte Schöpfung der Natur, da in ihr im Vergleich zum Tierreich bezüglich dieses Zweckes nur unnütze Hindernisse gegeben sind. Ist aber der Sinn des Lebens nicht die Existenz, sondern die Liebe, so ist die Menschheit mit ihren Komplikationen die Erfüllung der Natur, da diese Komplikationen es sind, welche die Existenz in den Dienst der Liebe stellen. Wir berühren in diesem Punkte den Gegensatz zweier ethischen Weltanschauungen, deren eine wir im Interesse der andern bekämpfen müssen.

Eine recht verbreitete Ansicht des Erotischen behauptet, die geniale Liebe erkläre sich durch die Interessen der Fortpflanzung, der individuelle Mensch sei, sofern er liebt, das willenlose Werkzeug des Dämons der Gattung. Sie behauptet ferner, die Sexualität sei insofern berechtigt, als die Menschheit durch sie fortgepflanzt werde. Die sexuellen Triebe seien da, damit die Gattung nicht aussterbe. Abgesehen davon hätten sie jedoch keinen Lebenszweck. Und schließlich behauptet dieselbe Ansicht, die Ehe sei eine Einrichtung, welche auf Grund mehr oder weniger ausgeprägter Liebe geschlossen werde, damit die Gattung zu ihrer Erhaltung eine geeignete Form finde. Alles erotische Erleben und Streben wird durch diese Ansicht theoretisch und praktisch dem Prinzip der Fortpflanzung untergeordnet. Nach ihr ist der Mensch nicht um seiner selbst willen da, nicht um des Erlebens willen, nicht um des Genusses willen, nicht um der Liebe willen, sondern in letzter Linie nur, damit er die Gattung fortsetze und zu diesem Zwecke auch seinen eigenen Leib ernähre und tränke, da ja sein eigenes Leben notwendiges Mittel des Gattungszweckes ist. Der Mensch ist nach dieser Theorie weder in erotischer noch in irgendeiner andern Hinsicht ein Eigenwesen, dessen freie Lebensentfaltung im Dasein Zweck aller Zwecke ist, sondern ein Mittel der Gattung, ein Korallentier im gemeinsamen Stock, das verächtliche Glied der Herde, dieselbe Fabrikware der Natur, welche im Tierreich hergestellt wird.

Diese Theorie nun wäre nicht gefährlich, wenn sie bloß einem System des ernsten Pessimismus entspränge. Als solche könnte sie uns vielmehr ein Ansporn dazu werden, die in ihr geschilderte untermenschliche Stufe der Wirklichkeit, welche ja zweifellos besteht und mächtig ist, durch eine fortschreitende Individualisierung und Genialisierung der menschlichen Lebensumstände zu überwinden. Der Mensch mag zwar großenteils Fabrikware der Natur sein, aber er soll daran arbeiten, diesen Charakter als Fabrikware zu verlieren, damit es nicht mehr nötig sei, ihn mit pessimistischen Blicken zu beurteilen und zu verurteilen. Aber leider treten diese biologistischen Theorien auch unter der Form eines vermeintlichen Ideals auf. Sie fordern von uns, daß wir unser Erleben verkrüppeln und uns als Mittel zum Zweck der Gattung herabwürdigen. Sie nennen es Pflicht, die animalischen Gesichtspunkte im Erotischen festzuhalten und keine spezifisch menschlichen Freiheiten einreißen zu lassen. In einem Wort: sie wollen, daß der Mensch unfrei bleibe, daß das Untermenschliche niemals dem Wahrhaftmenschlichen angenähert werde. Nähre und tränke dich, pflanze dich fort, handle nur nach den Zwecken des Stockes, dessen verächtlicher Teil du bist, und dränge die Kräfte der Liebe, die in mannigfacher Gestalt in dir zum Lichte drängen, ins Leblose zurück. Dann hast du deine Pflicht auf Erden getan, und für alle Fälle erinnere dich der Weisheit, daß die Erde ein Jammertal ist und sein soll.

Diese Lebensauffassung müssen wir als tierähnlich insofern ablehnen, als wir die Impulse zu unterstützen gedenken, welche die Menschheit zu menschlicheren Idealen weiterentwickeln. Wir fragen uns zunächst mit dem Ernst des Pessimisten, inwiefern sich überhaupt fordern lasse, die Menschheit solle sich fortpflanzen. Wäre das Leben jenes Jammertal von Leid und schwacher Befriedigung von Bedürfnissen, und außerdem nichts anderes, so wäre die Fortpflanzung eine Torheit, der Zweck der Zwecke also eine Torheit, das Leben und die Welt eine Schöpfung, die am besten überhaupt nicht da wäre. Dies ist Schopenhauers folgerichtiger Standpunkt. Ein Biologist, welcher außerdem menschliches Gefühl sein eigen nennt, kann gar nicht umhin, zu dieser Theorie zu gelangen. Aber glücklicherweise brauchen wir sie nicht zu der unsern zu machen, da ihre Voraussetzung falsch ist. Sie verkennt das Wesen des spezifisch Menschlichen, aus welchem unter anderem allerdings auch viel leidvolles Erleben hervorgehen muß. Sie beachtet nicht, daß das menschliche Leben tatsächlich einen inhaltlichen Erlebnis zweck positiven Charakters besitzt, aus welchem heraus die Existenz als Mittel zu diesem Zweck sich zweifellos rechtfertigt. Dieser wahre Zweck aller Zwecke in der Welt, um dessentwillen sich das Leben lohnt und allein lohnt, ist die Liebe in ihren überaus mannigfaltigen Gestaltungen. Nicht allein die geniale Liebe, welche als größte aller Lebensausnahmen dem Herzen bedeutender Menschen von Zeit zu Zeit geschenkt wird, sondern auch die künstlerische Liebe, die wir im Gefühl der Schönheit erleben, die erkennende Liebe, welche der Philosoph in der Wahrnehmung der Harmonien der Schöpfung erlebt, die religiöse Liebe, die der tiefe Mensch in der unmittelbaren Verbindung mit dem Wesensgrunde der Welt erlebt, die sinnliche Liebe, welche in den Formen der Sexualität zum Ausdruck kommt, die Liebe zum Kind, in welchem sich der Morgenstrahl einer neuen Menschheit darstellt, die eheliche Liebe, in welcher uns das reife Bewußtsein von Lust und Leid mit allen Menschen verbindet, die gleich uns den Kampf um Erlebnisinhalte positiver Art bewußt oder unbewußt als Verbündete führen. Die Liebe in all diesen Formen ist es, welche aus untermenschlichem Drang eine Menschheit gestaltet. Sie ist die letzte aller treibenden Kräfte der Weltschöpfung, und als solche ein Lebenszweck, der in sich selbst seine Befriedigung findet.

Damit Menschen geschaffen werden, welche Liebe erleben und Liebe erwecken, ist nötig, daß der Mensch sich fortpflanze. Damit die Liebe eine starke, feste, naturgewaltige Grundlage unter Menschen besitze, ist nötig, daß die Sexualität beim Menschen existiert. Damit die Liebe der Menschheit einen wirklichen Kern besitze, ist nötig, daß die Ehe besteht. Den Adel des Guten erhalten alle erotischen Wurzeln durch die Liebe. Und weil sie alle durch die Liebe geheiligt sind, sei es auch in unverstandener Weise, sind sie alle ohne Ausnahme gut und durchaus nicht sündhaft. Wenn wir auch erst später das Problem der Sünde in Ausführlichkeit besprechen werden, dürfen wir doch schon hier betonen, daß Lebensfeindschaft in jeder Form stets nur auf mangelnder philosophischer Vertiefung der Auffassungen beruht, und daß insbesondere die Ablehnung des biologistischen Standpunktes vollzogen sein muß, damit die Moral der Lebensfreude einer tieferen Einsicht entspringen könne. Die ganze menschliche Kultur ist ein Mittel zum Zweck der sich steigernden Lebensfreude, und eine eigentliche Lebensfreude ist nur dem Menschen möglich. Der schöne griechische Gruß: »Chairete« (Freuet euch) ist wie kein anderer einer gewissenhaften Menschheit angemessen.

Doch wir wären kurzsichtig, wollten wir die Probleme des Eros auf die Stimmung einer allgemeinen Sentimentalität einstellen. Wir würden dadurch in ähnlicher Weise dem Sinn der Kultur und unserem besten Wollen zuwiderhandeln wie derjenige, der das nüchterne Kleid geringschätzt, um dadurch vermeintlich erweise den künstlerischen Wert der nackten Menschengestalt besser hervortreten zu lassen. Die Begriffe sind überall von einem seltsamen Widerspruch durchzogen. Nur dadurch, daß die kultivierten Völker das paradiesische Negerideal durch künstliche Kleidung abgeschafft haben, hat bei ihnen auch die Nacktheit ihren Kulturwert erhalten. Ebenso gelangt der naturhafte Erlebniswert des Erotischen, sei er psychisch oder physisch, nur im Kontrast gegen bestehende Kulturformen künstlicher Art zur vollen und eigentlichen Geltung. Normen im Interesse der Fortpflanzung und der Ehe umhüllen mit einem mehr oder weniger konventionellen Kleid der Sittlichkeit die pulsierenden Lebenskräfte der Sinnlichkeit im eigentlichen Belang und derjenigen des Herzens. Die Unterschiedenheit der sinnlichen und der sittlichen Wurzeln des erotischen Problems ist der zweite Punkt, den wir für das gegenseitige Verhältnis der vier Funktionen ins Auge zu fassen haben. Wie so oft, hat der Sprachgebrauch mit den Worten zugleich eine moralische Wertung verbunden, die uns daran hindern könnte, die Dinge objektiv zu beurteilen. Es sei daher zuerst festgestellt, daß sittlich hier soviel bedeutet wie kulturell, während sinnlich mit dem Wort naturhaft wiederzugeben wäre. Die natürlichen und konventionellen Wurzeln des Erotischen stehen im Gegensatz des Körpers zum Kleide, ohne daß etwa gesagt werden soll, die »sittlichen« Funktionen seien die wertvollen, während die »sinnlichen« wertärmer oder gar schlecht zu nennen wären. Mit dem Ausdruck Sinnlichkeit wird durch das konventionelle Gefühl eine abschätzende Bewertung verbunden, welche für eine objektive Philosophie der Begriffe keineswegs maßgebend sein kann. Wird ja wohl auch ein Schneider über die Nacktkultur absprechend urteilen, weil das aus seinem Begriff hervorgeht, ohne daß deswegen der Philosoph die Meinung des Schneiders mit einem Gesetz des Logos zu verwechseln braucht. Die Genialität der Sprache drückt durch den Ausdruck Sinnlichkeit für gewisse erotische Kräfte den überaus richtigen Gedanken aus, daß diese Kräfte eine ebenso unmittelbare Beziehung des Subjekts zu den Objekten herstellen wie die Sinne der Wahrnehmung, also etwa das Auge, das Ohr, der Geruchsinn, der Geschmacksinn. In dieser treffenden Charakterisierung liegt aber nicht im geringsten ein abschätziges Werturteil. Im Gegenteil: dieselbe unmittelbare Freude des Erlebens, welche uns die Wahrnehmung einer Farbenharmonie und einer Musik gewährt, erfahren wir auch durch jene »sinnlichen« Kräfte, welche einerseits im Geschlecht, anderseits im Herzen ihren realen Brennpunkt besitzen. Und wie die Sinnlichkeit im allgemeinen eine der wertvollsten Hilfskräfte des Lebens darstellt, so auch die Sinnlichkeit der erotischen Qualitäten.

Aber die Sinnlichkeit steht allerdings auf allen Gebieten in einem Gegensatz zu abstrakteren Geisteswirklichkeiten, etwa zum Verstand oder zu Hypothesen des Verstandes. Diese abstrakteren Wirklichkeiten im Erotischen sind eben die Kulturerfindungen der Fortpflanzungsregeln und der Eheformen. Durch das Bestehen einer solchen Sittlichkeit wird einerseits eine ganz neue Kultursphäre des Erotischen geschaffen, welche in der Natur im engeren Sinne nicht vorkommt, andererseits aber wird durch die Sittlichkeit auch ihr naturhafter Gegensatz viel eigenartiger und selbständiger herausgearbeitet, als es sonst der Fall sein könnte. Sinnlichkeit des Geschlechts und Sinnlichkeit des Herzens gewinnen gerade im Kontrast zu den sittlichen Konventionen eine selbständige Dynamik, welche man im Tierreich vergebens suchen würde. Es ist ein Irrtum zu glauben, das Tier sei sinnlich in diesem bewußten Belang, und die Sinnlichkeit im Erotischen sei also gleichsam ein animalisches Phänomen. Das dürfte ebensowenig der Fall sein, wie daß die Nacktheit als tierische Körperqualität zu verstehen wäre. Das Tier ist wesentlich bekleidet und unsinnlich. Erst durch die Spaltung der Wirklichkeit in den Gegensatz von Natur und Kultur entstehen Nacktheit und Sinnlichkeit, und sie sind mit der Tendenz ausgestattet, durch den Gegensatz von Kleid und Sittlichkeit in sich selbst gesteigert zu werden. Hierbei dürfte sich, wie in so vielen Zusammenhängen, nicht sagen lassen, was Ursache und was Wirkung sei. Die erwachende Sinnlichkeit kann wohl als Ursache der werdenden Sittlichkeit betrachtet werden. Ebenso aber ist es möglich, den Zwang der sittlichen Normen als Ursache der selbstbewußten Sinnlichkeit anzugeben. In Wahrheit sind beide Zweige des Gegensatzes ihre wechselseitige Ursache und Wirkung zugleich. Nicht die Sinnlichkeit allein noch die Sittlichkeit allein steht am Anfang der Kultur, sondern das Bewußtsein ihres Gegensatzes, der mit der Tendenz ausgestattet ist, sich durch die fortschreitende Kultur immer mehr zu steigern und also die Menschheit zu bereichern. Zugleich mit der Spaltung der tierischen Ureinheit in Sinnlichkeit und Sittlichkeit war aber auch die Unterscheidung des Psychischen und Physischen einerseits, des Biologischen und Soziologischen andererseits gegeben. Das Tier besitzt weder selbständige Herzensliebe noch selbständige Eheformen. Sein Fortpflanzungsautomatismus ist nur ein prosaischer Zweig, über welchem auf ein Wort des Logos die vierblättrige Blüte menschlicher Erotik sich entfaltete. Diese Entfaltung der Blüte aber ist ein einziger Akt der Natur. Es wäre ein Irrtum, wollte man eines der Blütenblätter vor dem andern entstehen lassen, damit es selbst die Ursache, die andern aber Wirkungen seien. Was zu konstatieren ist, ist keine Kausalbeziehung, sondern lediglich die Tatsache, daß in der Menschheit die Blüte aus einer Knospe langsam zur Erscheinung gelangt. Diese Knospe wächst aber nicht auf einem nebensächlichen Stengel des Lebensbaumes, welcher einfach seine Zellen zu regenerieren hat, ohne weiteren Entfaltungsdrang, sondern sie wächst auf dem ausgezeichneten mittleren Stamme, und um ihre Einsamkeit drängen sich huldigend die blütenlosen Zweige, als schlichte Diener ihrer Schönheit. Die menschliche Kultur ist die Blüte des Lebensbaumes und ihre erotischen Funktionen sind deren leuchtendste Blütenblätter.

Die Verselbständigung der Liebe von der Sexualität und der Sexualität von der Liebe scheint uns eine weitere Wesenseigenschaft menschlicher Erotik zu sein, die aber offensichtlich erst im Stadium ihres Wachstums begriffen ist. Mit der Weite des menschlichen Bewußtseins prägt sich auch der Unterschied von genialer Herzensliebe und erotischer Genußfähigkeit immer stärker aus. Je reicher der Mensch organisiert ist, desto schärfer und grundsätzlicher wird dieser Unterschied empfunden. Die verworrene Einheit beider Funktionen im trivialen Begriff des »Geschlechtstriebes« wird von jedem einigermaßen kultivierten Menschen als minderwertig und verächtlich empfunden. Der Mensch im Gegensatz zum Untermenschen weiß, daß naturhafte, mit dynamischer Macht die Wesen verkettende Herzensliebe völlig unabhängig von allem geschlechtlichen Begehren möglich ist und gerade in solcher Isolierung ihre leidenschaftlichste Vollendung erhält. Andererseits wird der wohldifferenzierte »Lebemann« Wert darauf legen, daß auch die spezifisch menschliche Selbständigkeit der erotischen Genußfähigkeit unabhängig von jeglicher Herzensangelegenheit als Tatsache anerkannt werde. Es wird nun wohl die Regel unter den Menschen sein, daß der wesentlich sentimental Veranlagte für die sexuelle Genußsphäre kein oder nur wenig Verständnis entwickelt, während umgekehrt der erotische Genußmensch von dem Gefühl einer genialen Herzensliebe keine unmittelbare Vorstellung besitzt. Wie die Natur die Geschlechter in Mann und Weib auseinanderspaltet, so finden wir in der Wirklichkeit der Charaktere einen ähnlichen – aber natürlich nicht damit zusammenfallenden – Gegensatz von sentimentaler und sexueller Leidenschaftlichkeit. Aus der Stärke des betreffenden Erlebnisempfindens leitet sich sein Erlebniswert jeweils ab. Wie nun aber ein wahrhaft vollendeter genialer Mensch auf keinem Gebiete der Einseitigkeit eines engen Erlebnishorizontes ausgeliefert ist, so auch nicht auf dem Gebiete erotischer Leidenschaft. Ein vollkommener Mensch wird sich von weniger vollkommenen unter anderem dadurch unterscheiden, daß in seinem Gefühl die Erlebnismöglichkeiten sexueller und sentimentaler Art beide stark in sich selbst vertieft sind, durch welchen Kontrast der Erlebnismöglichkeiten ihre Stärke und ihre eigenartliche Differenzierung erst zu voller Entwicklung gelangen. Der untermenschliche »Geschlechtstrieb«, welcher ein trübes Gemenge von Sentimentalität, Sexualität und Regenerationswillen zu sein pflegt, wird durch die wahrhaft menschliche Trennung der Funktionen zu einer eigenartigen Kulturkraft. Nur in der rein psychisch gesteigerten Seelenverbindung kann sich die tiefste Leidenschaft entfalten, und nur in der Freiheit von sentimentalen Störungen vollendet sich der Sinn des Genusses – beide zur Bereicherung menschlicher. Erlebnismöglichkeit. Die eine oder die andere Funktion geringzuschätzen, muß der Philosoph den einzelnen Charakteren überlassen. Wie sie als zunächst einmal grundsätzlich getrennte Funktionen später wieder zu einem höheren Kosmos des Erlebens verbunden werden können, ist an einer folgenden Stelle zu erörtern.

Wie sich in der sinnlichen Welthälfte der erotischen Wirklichkeit eine Zweiteilung zwischen genialer Liebe und Sexualität im Laufe der Kultur und Menschenentwicklung langsam zu konsolidieren im Begriff ist, so scheint es auch, daß in der sittlichen Welthälfte eine ähnliche Dichotomie der Funktionen immer deutlicher werden sollte, je mehr die Geschichte sich dem Reifezustand nähert. Fortpflanzung und Ehe bilden in der Zivilisation im großen und ganzen eine Personalunion, und es offenbart sich erst einer fortgeschrittenen Kultur die Wahrheit, daß die Interessen der Fortpflanzung und die Interessen der Ehe eigentlich ganz verschieden sind, und daß die Anerkennung dieser Verschiedenheit sowohl der Fortpflanzung als der Ehe förderlich sein dürfte. Insbesondere die Gegenwart leidet zusehends an Mißständen, welche sich daraus ergeben, daß das soziologische Eheinteresse zweier Individuen und das biologische Gattungsinteresse der Regeneration einander gegenseitig beeinträchtigen. Primitivere Sittlichkeitsformen wie etwa im Islam lassen diesen Interessengegensatz weniger stark erkennen, weil sie spezifisch menschliche Anforderungen, zum Beispiel die Wertung des Weibes als Persönlichkeit statt als Ware, unter »barbarischen« Formen noch nicht zu ihrem Recht kommen lassen. Für unsere schon plastischer entwickelten Sittenzustände ist der Widerstreit zwischen soziologischen und biologischen Kulturerfordernissen kaum zu übersehen, und aus diesem Widerstreit die notwendigen Konsequenzen für eine künftige Fortentwicklung der Sittlichkeitsformen zu ziehen, dürfte die Aufgabe einer Zukunft sein, die sich in Kämpfen der Gegenwart vorbereitet.

Das Interesse der Regeneration besteht offenbar in einer nach vernünftigen Gesichtspunkten des Staates wie der Menschheit gewährleisteten kontinuierlichen Neuschöpfung bzw. Steigerung der biologischen Existenzgrundlage. Diese Forderung umfaßt qualitative und quantitative Einzelheiten. Offenbar kranke, minderwertige, untüchtige Elemente sollten nach Möglichkeit aus den Ursachen einer künftigen Menschheit ausgeschaltet sein. Offenbar reich und fein organisierte Wesen, seien sie durch natürliche oder intellektuelle Harmonie ausgezeichnet, sollten unter diesen Ursachen eine möglichst große Bedeutung haben, so daß, auch wenn das seelische Zentrum eines Menschen als unererbt zugegeben wird, doch mindestens das vererbte Material der biologischen Tendenzen ein möglichst vollkommenes sei. Ob diese Forderung praktisch verwirklicht werden könne, soll hier außer Betracht bleiben, ebenso wie die ungeheuren Hindernisse an menschlicher Täuschbarkeit, die einer Verwirklichung sicherlich entgegenstehen würden. Doch besteht die Feststellung, daß das qualitative Interesse der Regeneration in den angedeuteten Momenten enthalten ist, zweifellos zu Recht. Dazu kommt noch ein quantitatives Interesse, welches Zahl und Verteilung betrifft. Es wäre zu wünschen, daß nach Maßgabe einer universalen, uneingeengten Vernunft in einem Volke weder »zuwenig« noch »zuviel« Menschen geboren werden; beziehungsweise daß ihre historischen Verteilungsgesetze über die gesamte Erdoberfläche in harmonischer Weise berücksichtigt würden; und daß schließlich auch in den verschiedenen sozialen Schichten der Völker ein gesundes zahlenmäßiges Verhältnis nicht ganz vermißt werde; wobei in Betracht zu ziehen ist, daß persönliche Eigenart den Menschen möglicherweise in eine biologisch nicht prädestinierte Sozialschicht verweisen kann. Lauter komplizierte, überaus schwer faßbare Momente sind es also, welche das Eigeninteresse menschlicher Fortpflanzung konstituieren. Und wir möchten nochmals betonen, daß wir hier nicht, wie manchmal unreiferweise geschieht, dem Glauben huldigen, diese Interessen ließen sich von heute auf morgen oder übermorgen praktisch verwirklichen, sondern wir möchten bloß festgestellt haben, daß in solchen Wünschen und Idealen die Interessen der menschlichen Regeneration tatsächlich formuliert sein dürften.

Wie anders und grundverschieden sind aber die Interessen der Ehe! Ihre Erfordernisse verweisen uns nicht auf die Zukunft, sondern auf die Gegenwart in ihrer bestimmten sozialen Ausprägung, mag man diese nun als gut oder schlecht beurteilen. Zwei erwachsene Menschen sollen sich zum Zwecke der sozialen Verwirklichung ihrer selbst zu einer vorbehaltlosen Symbiose verbinden. Hundert Momente sind hierbei gegeneinander abzuwägen, von der Verträglichkeit der Charaktere über die nationale, soziale und überhaupt milieubedingte Harmonisierbarkeit der beiderseitigen Lebenstendenzen bis zur sozialen Möglichkeit eines festen Bündnisses, welche in der derzeitigen Kultur als Geld- und Einkommensfrage charakterisiert ist. Sind all diese Bedingungen einer Ehe gegeben – wobei wieder von den beiden Funktionen der Sinnlichkeit abstrahiert sei – so können hierbei die Interessen der Regeneration auf das schlimmste beeinträchtigt sein. Und andererseits können die Vorbedingungen zum Ehebund zweier Menschen gänzlich fehlen, während ihre Verbindung den Regenerationsinteressen der Menschheit nur dienlich sein dürfte. Aus dieser Erwägung ergibt sich, daß Ehe und Regeneration im Rahmen der Sittlichkeit sich jedenfalls immer mehr voneinander verselbständigen werden, und daß auf diese Weise sowohl die biologischen Interessen der Regeneration als die soziologischen der Ehe eine fortschreitende Förderung erfahren. An uns ist es nicht, Vermutungen darüber auszusprechen, in welcher Gestalt sich die Sittlichkeit ferner Jahrtausende darstellen wird. Wir können aber beispielsweise auf sichere Fälle hinweisen, in denen der sittliche Charakter regenerationsloser Ehe und eheloser Regeneration deutlich wird. Nehmen wir an, in einer Ehe bestehen schwerwiegende Gründe gegen die Wünschbarkeit einer Nachkommenschaft, etwa weil der eine Teil an einer erblichen schweren Krankheit leidet, oder weil die sozialen Umstände eine fundamentale Lebensverkümmerung des neuen Lebens notwendig machen würden – so ist die Ehe auch dann als Ehe vollwertig und heilig, wenn sie den Kräften der Regeneration in höhermenschlichem Interesse keine Auswirkung gestattet, ohne im übrigen die lebenden Individuen an Lebensfreude zu kürzen. Und auf der andern Seite wird man es einem Zola vom Standpunkt einer besonnenen Sittlichkeit nicht vorwerfen können, daß er den wohlbegründbaren Wunsch nach einem Nachkommen außerhalb einer Ehe verwirklichte, welche von Natur diesem Wunsche nicht genügen konnte. Regeneration und Ehe sind innerhalb der sittlichen Normen wesentlich zu unterscheiden, und Sittlichkeit bedeutet durchaus nicht das Verbundensein dieser beiden Funktionen des Eros zu einer einzigen, unlösbaren, sondern Verwirklichung des Eigenwertes jeder der beiden Funktionen in menschlichem Höchstmaße.

Wir glauben nunmehr für den ersten, vorläufigen Gebrauch die gegenseitige Verwandtschaft der vier Wurzeln des erotischen Problems dadurch gezeigt zu haben, daß wir die individuellen Kontraste zwischen den vier Funktionen klarwerden ließen. Die Einwände und Fragen, die Kritik und das Unbehagen, welche der geneigte Leser wahrscheinlich hie und da zwischen die Zeilen streuen mußte, haben wir jetzt noch in dem letzten Einleitungskapitel zu erwägen. Auch dürfen wir unsere Vorbereitung verdeutlichen und den Versuch machen, etwaige Mißverständnisse, welche man in unsere Meinung hineinlegen könnte, auszuschalten.


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