Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am Schlusse meines kleinen Buches über Goethes Wissenschaftslehre mußte ich feststellen, daß eine Philosophie des Eros auf Grund einer philosophischen Besonnenheit, wie sie gerade diesem Denker in allen wissenschaftlichen Forschungen eigen war, noch zu den Wünschen einer Zukunft gehört. Aus dem Reichtum des Erlebens zu intellektueller Klärung gesteigert zu werden, war durch Goethes Geist manchem wissenschaftlichen Problem beschieden. Das eine große, umfassende, aus welchem Welt und Lebensweisheit grundlegende Befruchtung schöpfen, sei sie auch unbewußt, blieb uns nur im literarischen Zustand dichterischer Sensibilität erhalten. Lebendig zwar und tief in dieser Ursprünglichkeit, aber in frauenhafter Passivität genialen Zufalls: noch nicht ergriffen von der formenden, klärenden Hand des männlichen Gedankens, der auf harten Marmor das Leben meißelt, welches als flüchtiger Traum den Menschen nur nach langem, irrendem Streben zur Erlösung emporführt. Wie dürfte man es dem philosophischen Bildhauer verdenken, wenn er die klare Statue des Eros, die in der Mannigfaltigkeit des Lebens erahnt wird, in das widerspenstige Material des Gedankens prägen möchte, wenn er den Urquell der Dichtung und Wirklichkeit in die Sprache der Gedankenkunst übersetzen möchte, damit er in dieser Form dem Menschen ein wissender Aufblick werde! So wollen wir denn hier den Versuch wagen, über dem wirren Spiel der Gefühle und Meinungen, der Moralen und Unmoralen eine begrifflich nüchterne, wegweisende Figur aufzustellen.
Ueber das erotische Problem ist ja ungeheuer viel geschrieben worden, von Medizinern und Moralisten, von Literaten und Philosophen, daneben auch von Unberufenen. Diese Bestrebungen alle, Licht in das Wirrsal zu bringen, haben das Nachdenken befreit und das Urteil fruchtbar gemacht. Daß gegenwärtige Philosophie der Sache durch diese Veröffentlichungen irgendwie vorweggenommen oder überflüssig gemacht sei, glaube ich nicht. Die Tendenz läßt eine Universalität der Gesichtspunkte nur selten aufkommen, und über der Tatsachenwissenschaft kommt der denkerische, wahrhaft aufklärende Geist meistens zu kurz. Der Wunsch, irgendeine reale Wirkung auszuüben, sei es im Interesse des Staates oder der etablierten Sitte oder des Gegenteils von alledem, ist meist stärker als der andere, die Problematik rein philosophisch, gleichsam »interesselos«, zu erkennen. Die Besprechung und Erläuterung von Tatsachen legt der Einsicht nur neues Material vor, ohne sie selbst wesentlich zu fördern. Die Unklarheit gefühlsmäßiger Wertungen und Wollungen tut ein übriges, um eine ruhige, reife Philosophie dieser Fragen als dringende Notwendigkeit hinzustellen.
Wenn wir bei der Abfassung des Buches eine Absicht hatten, so war es nicht die, irgendwelchen Richtungen zu dienen oder zu widersprechen, sondern der Wirklichkeit der Problematik volle und allseitige Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Damit sich das Leben harmonisch entfalte, wie es will und muß, ist es nötig, daß man seine Kräfte in ihrem Wesen erfasse und rechtfertige, daß man das relative Recht jeder Funktion mit philosophischem Feingefühl in Schutz nehme und aus dem Organismus, den die geklärten Funktionen alsdann bilden, die Tendenz und Moral einer ethischen Fortentwicklung von selbst hervorgehen lasse. Würden sich unsere Einsichten und Ergebnisse mit denjenigen irgendeiner bestehenden Partei decken, so wäre das Buch ungeschrieben geblieben. Wer aus Büchern nur herauslesen will, was er und seine Freunde bisher geglaubt und gewollt haben, wird nur einen Teil unserer Darlegungen billigen können. Aber wir glauben uns auf den etwas veralteten Standpunkt stellen zu sollen, daß der Autor nicht zu schreiben hat, was das Publikum schon will und weiß, sondern was es aus dem Buche erst zu seinem Willen und Wissen erheben sollte.
Den Problemen wissenschaftlich und furchtlos ins Auge zu sehen, ist besser, als ihre Ungelöstheit in falscher Verlegenheit als Gift weiterwuchern zu lassen. Mit dem Gleichmut des Mathematikers behandeln wir unsere Begriffe. Wir wollen eine Philosophie des Eros liefern, wie es eine Philosophie der Erkenntnis, der Geschichte, der Religion, des Geldes, der Natur, des Staates gibt. Die Methode soll uns für alle diese Wirklichkeitsgebiete die gleiche sein, nämlich die der rationalen, kritischen Vernunft. Daß die Probleme der Erotik eine inhaltliche Gefühlsbetonung für die meisten Menschen immer haben werden, kümmert den Philosophen nicht und darf ihn nicht davon abhalten, dem Gebiet die gleiche Durchleuchtung angedeihen zu lassen wie allen anderen.
Ruhig abwägend eine Synthese der echt menschlichen Einsichten zu geben, Unklares zu klären, Gefesseltes zu befreien, Anarchisches in Ketten zu legen, und dies alles auf Grund eines universellen Ueberblicks über das Leben; den philosophischen, erfahrenen Gedanken zur Aufklärung werden zu lassen, welche in der Medizin zu enggeistig, in der Moralistik zu banausenhaft, in den Reformvorschlägen zu unreif hie und da hervorgetreten zu sein scheint, wäre unser Ideal. Ob es mehr oder weniger angenähert erreicht wird, ist Sache des Schicksals. Die widerstrebenden Interessen glauben wir innerhalb eines weiteren Horizontes zum Ausgleich bringen zu sollen, indem wir ihre Einseitigkeit preisgeben. Die Gefühle möchten wir mit Vernunft durchleuchten, dem Ressentiment der Moralen und Unmoralen die Spitze abbrechen, damit nur das Ressentiment gegen das Kleinliche, Allzukleinliche übrigbleibe. Als Grundlage der sozialen und politischen Probleme glauben wir dem erotischen einen sehr großen Wert beilegen zu müssen, und wenn eine Kraft unsere Feder geführt hat, dann ist es die der optimistischen Ueberzeugung von einer Dennochentwicklung in der Menschheit, die gefördert werden kann. Im übrigen muß der Verfasser mit tiefem Dank auch hier den Pessimisten Schopenhauer und Nietzsche als dessen Fortbildner als seinen neben Erlebtem und Erfahrenem besten Anreger bekennen, gerade wegen seiner einseitigen Verzerrung des Problems.
Unwesentliches lassen wir beiseite, Wesentliches wollen wir um so deutlicher hervortreten lassen. Es gibt Probleme, über welche jedermann glaubt ein Urteil haben zu sollen, und vielleicht gehört das unsere dazu. Gerade bei diesen ist aber das Urteil gewöhnlich schwieriger, als es aussieht, und wir möchten sowohl gegen die Kritik eines bequemen Dogmatismus als gegen diejenige einer leichtfertigen Umstürzerei von vornherein bemerkt haben, daß wir noch weniger von gestern sind als bequeme Kritiken, und daß wir Für und Wider recht reiflich erwogen haben. Wem aber das ernste Nachdenken über das Problem ein Stein des Anstoßes ist, mag sich über das Buch trösten, indem er es als eine Art Medizin betrachtet, die er selbst nicht braucht, wohl aber das Zeitalter.
Köln, Ostern 1925.
Privatdozent Dr.
Ernst Barthel.