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3. Beseitigung geläufiger Mißverständnisse.

In den allgemeinverbreiteten Auffassungen unserer Zeit von den erotischen Problemen spielt die Trennung der vier Funktionen kaum eine Rolle. Diese Auffassungen haben sich aber, so wenig klar sie sein mögen, doch in bestimmten Gefühlsurteilen konkretisiert, mit denen als historischen Tatsächlichkeiten gerechnet werden muß, mag man sie nun als triviale Gemeinplätze geringschätzen oder ihnen aber, da sie in der moralischen, medizinischen und schöngeistigen Literatur immer wieder vorkommen, eine höhere Bewertung entgegenbringen. Einige Grundvoraussetzungen sind es, die immer wiederkehren. Sei es der unbestimmte Begriff einer »Geschlechtsliebe«, in welcher physiologische, psychologische und biologische Komponenten einander gegenseitig verwirren, oder eine ethische Einheit von Liebe, Ehe und Kind, welcher gegenüber die Sexualität als das schlechthin Nichtseinsollende eine ärgerliche Nebenrolle im Hintergrunde spielt, oder schließlich jener Zwiespalt von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, der von den verschiedenen Parteien in verschiedensten Abstufungen zur Bekämpfung der vermeintlich minderwertigen und nichtseinsollenden Funktion mißbraucht wird. Diesen apriorischen Vorstellungen gegenüber glauben wir eine nüchterne Unterscheidung der vier Wurzeln des Problems empfehlen zu sollen, da nur durch solche begriffliche Unterscheidung der Blick des Beurteilers objektiv werden kann, wodurch die relative Wertgeltung aller Funktionen schließlich einleuchtend gemacht wird. Einer solchen anatomischen Verteilung der Frage in ihre einzelnen Organe steht nun allerdings ein gewisses Gefühl entgegen, in welchem sich mehr ausdrückt als untermenschliche Verworrenheit. Es ist das Gefühl, daß die organische Einheit dieser vier getrennten Funktionen gerade dasjenige ist, was die Kultur in letzter Linie wieder als Ideal erstreben soll. Die gesunde Abneigung gegen die mechanisch anmutende Zergliederung einer komplexen Lebenseinheit in ihre einzelnen Bestandteile ist etwas ganz anderes als rückständige Denkart. Wir begrüßen in diesem Gefühl vielmehr den Impuls zu einer ethischen Vollkommenheit, welche geringzuschätzen dem Philosophen sehr fernliegen muß. Und dennoch vertreten wir die These, daß für den gegenwärtigen Stand der Fragen nichts nützlicher sein kann als diese Zerteilung des Gesamtproblems in seine vier Funktionen, und Verselbständigung einer jeden Funktion in sich selbst. Wie lassen sich diese entgegengesetzten Tendenzen ohne Widerspruch verstehen?

Es scheint uns, daß die Entwicklung der menschlichen Kultur von einer einheitlichen Knospe über die Entfaltung in Blütenblätter zu einer einheitlichen Frucht voranschreiten soll. Die unbewußt schlummernde Einheit der Knospe liegt in der Vergangenheit, ist kein Ideal, sondern im Gegenteil das zu Ueberwindende. Die bewußte Ergebniseinheit der Frucht ist allerdings das Ideal. Doch läßt sich dieses nur auf dem Weg über die entfaltete Blüte erreichen, und wir stehen eben zur Zeit in einer Kulturperiode, wo es nützlich sein dürfte, den Gegensatz gegen jene verworrene Einheit der Knospe zu betonen, indem deren bewußte, klare Entfaltung in Funktionen herausgearbeitet wird. Wäre erst einmal der Bereich der genialen Liebe, der Bereich der Sexualität, der Bereich der Regeneration und der Bereich der Ehe in der Kultur vollkommen selbständig geworden, so würden wir ganz im Gegensatz dazu lehren müssen, daß es sich nun darum handle, aus den getrennten Funktionen eine neue, ideale Einheit zu gestalten, welche die Frucht der ganzen Entwicklung wäre. Aber soweit sind wir in unserem Jahrhundert nicht, und es hieße unseres Erachtens die Entwicklung als solche negieren, wollte man mit einem gewaltigen Sprung von der keimenden Einheit der Knospe zur plastischen Einheit der Frucht gelangen. Das langsame Wachstum der menschlichen Kultur macht uns heute zur Pflicht, die realen Anforderungen der Wirklichkeit stärker zu berücksichtigen als das Ideal, dessen Verwirklichung in sehr ferner Zukunft liegt. Dieses Ideal mit stabilisierten Größen der Vergangenheit oder Gegenwart zu verwechseln, wäre aber der verhängnisvollste Irrtum, weil dadurch die Entwicklung nur verzögert und das berechtigte Interesse des Lebens nur geschädigt werden kann. Jene Universalehe, in welcher alle Funktionen des Eros zu ihrem vollen Recht kommen, ist wohl ein zauberhaft schönes Bild, durch welches die Phantasie an den Wänden unseres Kerkers ein Elysium gestalten mag. In unserer, tausendfältig zersplitterten und in bloßen Bruchstücken existierenden Wirklichkeit lassen jedoch schon viel einfachere Koinzidentien, wie etwa das reziproke Zusammentreffen tief genialen Liebens und Geliebtwerdens, sich weit schwieriger finden, als uns der ideale Dichter glauben lassen möchte. Ist aber schon die Koinzidenz zweier ausgewählter Elemente als Ausnahme zu betrachten, wieviel mehr dann nicht die Koinzidenz all der vielen Elemente, welche zur Konstitution der genannten Universalehe unerläßlich wären! Durchaus nicht aus Mangel an Idealismus oder ethischem Willen, sondern aus klarer Einsicht in die tatsächliche Wirklichkeitsstruktur müssen wir es uns versagen, ein Ideal heranzwingen zu wollen, welches sich durch keine Menschenmacht heranzwingen läßt, sondern höchstens im langen Prozeß der Menschheitsentwicklung der Realität nähertritt.

Wollten wir uns aber auf den Standpunkt stellen, gewisse ethische Normen, durch welche eine oder die andere Funktion des Eros stets verkümmert wird, seien das einzigmögliche Symbol der idealen Universalehe auf Erden, und wollten wir infolgedessen die Entfaltung einer freieren Lebenseinheit auf diesem Gebiet zwangsweise hindern, so täten wir nichts anderes als uns einem Kulturprozeß entgegenstemmen, der mit der Naturnotwendigkeit eines Uhrwerks in der durch den Logos vorbestimmten Weise ablaufen soll. Dann würden wir aus vermeintlich göttlichen Beweggründen nur unser enges Menschenurteil in Gegensatz stellen zu den wahrhaft göttlichen Kräften, welche aus der Knospe die Blüte entfalten wollen, weil die Zeit hierzu reif geworden ist. Die erotischen Funktionen müssen sich erst verselbständigen, weil nur auf Grund ihrer Selbständigkeit die Möglichkeit eines später zu verwirklichenden universellen Ideals sich absehen läßt. Unterdrückung, Zwang und Verkümmerung dem Leben gegenüber ist nicht die Art, wie man den göttlichen Gesetzen, die darin vorwärtsdrängen, den schuldigen Gehorsam erweist. Ein feinfühlendes Verständnis für die Bedürfnisse einer Epoche muß darauf hinstreben, das Tempo der kulturellen Entwicklung durch beschränkten Menschenwillen weder gewaltsam zu verzögern noch phantastischerweise zu überstürzen, sondern ihm durch unsere geringe Mithilfe nach seinem Eigenrhythmus förderlich zu sein. Der Wagen der Kultur bewegt sich wie der Wagen des Sonnengottes nach unabänderlichen Gesetzen vorwärts, und weise ist es, wenn wir seinen Gang zu dem unsrigen machen.

Der Idealfall, daß in einer durch gegenseitige tiefe Liebe begründeten Ehe die Erfüllung aller Probleme des Eros gefunden werde, soll durch die logische Unterscheidung der vier Funktionen weder in seiner Wünschbarkeit noch in seiner Möglichkeit angezweifelt werden. Es wird stets das Bestreben jedes Menschen sein müssen, diesem Ideal nahezukommen. Es dürfte jedoch nicht zu bezweifeln sein, daß nur besondere Glücksfälle und sogenannte Zufälle die Verwirklichung des Ideals als seltene Ausnahme hervorzubringen vermögen. Auf Ausnahmen und Grenzwerte lassen sich aber keine Kulturnormen gründen. Eine nützliche Wirklichkeitsphilosophie kultureller Angelegenheiten wird gerade die üblichen Fälle ins Auge fassen müssen, in welchen der Faktor des Unzulänglichen, den wir in allem Menschlichen in der Regel antreffen, als wesentlich mitzuberücksichtigen ist. Die Unsicherheit des Urteils über erotische Probleme, das mannigfache Elend, welches die Phänomene der Liebe, die Phänomene der Sexualität, die Phänomene der Regeneration, die Phänomene des Ehelebens schon jeweils in sich selbst, noch mehr in ihrer gegenseitigen Komplikation im Gefolge haben, die tausend bekannten und unbekannten Tragödien, welche sich im Menschenleben und in der Menschenseele im Zusammenhang mit diesen Kräften täglich abspielen, lassen das Urteil nicht zu, daß durch die aufgestellte Idealnorm, welche natürlich auch in unserer Zeit gilt, ein Mittel gegeben sei, welches dem Leben zu seinem Naturrecht verhilft. Mag auch der Moralist vielleicht ankämpfen gegen den Begriff eines Naturrechts, mag er vielleicht all diese Wirrnisse als bloße Folgen der Sünde betrachten, welche aus der Menschheit ausgerottet werden sollte, so gelingt es ihm doch nicht, das Leben in den Panzer einzuschließen, in welchem er es als gut und glücklich beurteilen würde. Es walten da die unüberwindlichsten Gewalten im Grunde des Daseins, welche durch die Tat zu erkennen geben, daß sie noch tieferes Recht im Leben besitzen als das Wort des Moralisten, mag es auch unserer besten Sympathie würdig sein. Das moderne Leben verkörpert mit seinen Problemen und Tragödien die Willenswahrheit, daß die Moral, welche diesem Leben angemessen ist, eine andere sein dürfte als diejenige, welche Ausnahmen und Grenzfälle an Stelle der Regel und des allgemeinen Prozesses setzen möchte. In dieser nur allzu wirklichen Lebensschwierigkeit kann vielleicht eine sorgfältige, ruhige Durchleuchtung der Begriffe durch philosophisches Denken etwas weiterführen.

Doch würde man die Absicht der Philosophie verkennen, wollte man aus ihr irgendwelche Vorschriften oder Ratschläge herauslesen, welche den idealen Forderungen der Gegenwartsethik zuwiderlaufen. Durch Vermehrung und Klärung der Einsicht wird sie wohl auch das moralische Urteil des Einzelnen beeinflussen; aber nur dadurch, daß sie ihn die Wirklichkeit erkennen lehrt. Eine Moral des Unzulänglichen mag aus einer solchen Darstellung wohl hervorgehen. Doch darf es keine unzulängliche Moral sein. Eines schickt sich nicht für alle, und es muß der Gedanke zurückgewiesen werden, als ob eine Philosophie des Eros moralische Richtlinien zu geben gewillt sei, die irgendeinen Menschen von der Eigenverantwortlichkeit in ethischen Fragen oder insbesondere von taktvoller Pietät gegenüber ehrwürdigen Ueberlieferungen entbinden sollte. So sehr sich zu ergeben scheint, daß nicht jedermann mit üblichen Auffassungen einverstanden sein kann, so wenig wird eine bedächtige Philosophie es wagen dürfen, allgemeine Normen aufzustellen. Die Einsicht in den komplizierten Charakter all dieser Probleme verbietet es, Moral zu predigen, wo erst die Vorarbeit geleistet werden muß, um Moral zu begründen. Einen einzigen Gesichtspunkt wird man indessen festhalten können: daß die ganze Natur und Kultur eine Harmonie von Bruchstücken ist, und daß es dem Reichtum des Lebens Eintrag tun würde, wenn man irgendwelche Vollkommenheit erträumen wollte, die nicht auf lebensvoller Abwechslung, auf Spiel und Widerspiel zwischen konträren Größen beruhte, deren jede in ihrer Weise vollkommen-unvollkommen genannt werden kann. Das einzig Beständige auch in diesen Lebensströmungen ist ein Gesetz mannigfachen Wechsels, künstlerischer Einheit in der Mannigfaltigkeit. In diesem letzteren Ideal aber findet die Wirklichkeit, so wie sie ist, ihre Verwirklichung, indem sie aus dem Zwange wechselloser Versteinerung befreit wird. Die Welt ist unvollkommen, sagt ein junges Urteil und bemüht sich, über der Welt ein Reich vollkommener Größen zu schaffen. Die Unvollkommenheit alles Einzelnen in der Welt ist gerade die Vorbedingung und Grundlage ihrer künstlerischen Vollkommenheit im ganzen – so sagt ein reiferes Urteil und sucht der Wirklichkeit Ausdruck zu geben, ohne sie zu meistern.

Auch eine Moral, welche auf einer geheimen Furcht vor dem Unverstandenen beruht und aus diesem Grunde asketisch und lebensfeindlich auftritt, mit der einzigen Einschränkung, daß sie die Regeneration des Menschengeschlechtes nicht verhindern will, dürfte durchaus zu den jungen Urteilen zu rechnen sein, die durch ein reiferes abzulösen wären. Gegen einen grundsätzlichen Pessimismus des Lebens, wie er etwa in Schopenhauer erscheint, wird sich zu unserem Kapitel dieses einwenden lassen, daß selbst wenn die Welt lieber nicht bestehen sollte, es doch töricht wäre, das geringe Maß von Lebensfreude, welches sie noch zu bieten hat, auch zu verdammen, obwohl es dem pessimistischen Grundwillen im übrigen gar nicht zuwiderläuft. Ist die Welt miserabel, so wäre dies ein Grund mehr, das Mögliche an positiven Werten in ihr um so höher einzuschätzen. Andererseits wird sich gegen eine Moral, welche voraussetzt, die Welt ist gut und soll bestehen, das Erotische aber sei an sich schlecht, einwenden lassen, daß für die Behauptung von der sündhaften Natur des Lebens in seinem wurzelhaften Fundament wohl eine verworrene Gefühlsmasse aufgeboten werden kann, welche später zu analysieren bleibt, dagegen kaum ein besonnener Grund, es sei denn der, daß die Begleitumstände des Erotischen mangels reifer Einsicht oft zu leidvollen und widerharmonischen Erscheinungen Anlaß geben. Ist das Leben an sich gottgewollt, so wäre es nicht folgerichtig, wollte man nicht die Wurzel und höchste Konzentration des Lebens, wie sie im Erotischen auftritt, um so positiver bewerten. Das negative ethische Bestreben ist wenigstens folgerichtig, sofern es überhaupt lebensverneinend ist. Es wird aber zur Sinnlosigkeit, wenn es lediglich auf das Erotische einen hämischen Blick des Unverständnisses wirft, während es gleichzeitig Diener des Lebens, nicht sein Feind, zu sein behauptet. Die ethische Herabwürdigung des Erotischen durch eine Moral, welche das Leben als Gotteswerk rechtfertigt, dürfte nur der mangelnden Reife solchen Standpunktes zuzuschreiben sein. Das Erotische ist nicht nur Mittel zum Zweck schwächerer Lebensrhythmen, sondern es ist selbst der allerstärkste der Lebensrhythmen, und alle schwächeren können nur durch die Liebe als letzten aller Zwecke wertvoll sein. Die höchsten Lebenssteigerungen sind nicht sündhafte Mittel zum Zwecke trivialer Lebensprozesse weniger zentraler Natur, sondern umgekehrt, all die trivialeren Kräfte und Formen des Lebens und der Kultur sind bloß Mittel zum höheren Zweck: der Befreiung und Steigerung des Eros in der Menschheit. Weil dieser höchste aller Zwecke besteht, deshalb allein ist das ganze komplizierte Leben als Mittel dazu vorbehaltlos zu bejahen. Im andern Falle, wenn die Kleinlichkeiten trivialen Alltags der Zweck des Daseins wären, bliebe dem großzügigen Geiste nur das Achselzucken Schopenhauers übrig: was soll uns soviel Arbeit um ein Leichentuch? In Wahrheit aber ist es Arbeit um Liebe – und das ändert den Aspekt.


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