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Es ist eines der ausschließlichen Merkmale hoch- und feinentwickelter Menschennaturen, daß die Fähigkeit zur Liebe sich bei ihnen von der Welt des Geschlechtstriebes und von den sexuellen Mechanismen befreit hat und erst nach einem unendlichen Reichtum autonomen psychischen Erlebens wieder den Konzentrationswillen biologischer Organisation in den Bereich des Erlebens aufnimmt. Die metaphysische Trennung von Seele und Leib, unsterblichem Wesen und zeitlicher Erscheinung tritt auf keinem Gebiet der Wirklichkeit unmittelbarer in das menschliche Bewußtsein als in der Geburt der Liebe als einer grundsätzlichen Loslösung der Seele von den Verankerungen historisch-biologischen Daseins. Dieses Mysterium steht nun allerdings dem Begreifen sehr vieler, weniger feinentwickelter Menschen notwendig fern. Diesen erscheint es als eine der Kuriositäten des Lebens, welche entweder schleunigst auf physiologische und biologische Wurzeln reduziert oder als unverstandene Anomalie in die Region des Psychopathologischen abgeschoben werden sollte. Die Philosophie will diese Ungerechtigkeiten gegen edelstes Leben vermeiden. Sie möchte das Wesen der psychischen Liebe auf Grund wesenhaften Verständnisses vor den plumpen Entstellungen materialistischer Tendenzen in Schutz nehmen. Sie ist überzeugt, nachweisen zu können, daß die tiefsten Erlebnisse differenziertester Menschen auch diejenigen sind, welche die Idee einer vollkommenen Menschheit notwendig macht. In der Liebe als psychologisch eigenartiger Erlebniswirklichkeit erblickt die Philosophie die stärkste aller metaphysischen Erlösungskräfte, welche das Ewige im Menschen von den Gegenkräften der Zeitlichkeit emanzipieren, wobei sie diese Gegenkräfte allerdings nicht einfach ausschalten, sondern sie als Resonanzboden höherer Harmonien in der Endlichkeit unserer Menschlichkeit kontrastschaffend mitbenutzen.
Es täte uns leid, wenn man aus diesem Anfang unserer Untersuchungen den Schluß ziehen würde, unsere Philosophie des Eros sei eine idealistisch tendierte Form überlebter Phrasen. Wir wünschen den idealen und den realen Funktionen des erotischen Gesamtproblems gleicherweise gerecht zu werden und hoffen im physiologischen Abschnitt zu zeigen, daß unsere Philosophie überaus nüchtern und unphantastisch denkt. Im Anfang der Probleme des Eros steht aber, dem Zwang der Sache selbst entsprechend, die psychische Funktion als die Dominante des spezifisch Menschlichen im Liebesleben. Ihr kann nicht anders Recht geschaffen werden denn durch Anerkenntnis ihres überragenden metaphysischen Wertes. Daher ist der erste Teil unserer Darlegungen mit voller Absicht idealistisch gefärbt, weil uns das Ziel vorschwebt, in einer organischen Synthese höchsten Idealismus und höchsten Realismus die philosophische Grundlage reicherer Erlebnismöglichkeiten legen zu können, als sie bestehen, wenn man subjektiverweise irgendwelche Formen des Erlebens in tendenziöser Zwangsbehandlung verunstaltet und also ihres immanenten Phänomenwesens beraubt. Mag auch die psychische Liebesfähigkeit auf einen auserwählten Kreis edler Naturen beschränkt sein, wenigstens in jenem allgewaltigen Fühlen, wie es uns vom Hohelied Salomonis bis zu Wagners »Tristan« nur in seltensten Menschen, Werken und Momenten entgegentrat, so muß doch betont werden, daß gerade diese Gipfelpunkte es sind, in welchen sich der Adel des Wahrhaftmenschlichen normalerweise offenbart, und es liegt uns also ob, wenn wir den Universalcharakter des ganzen Menschen in seinem erotischen Erleben erschöpfen wollen, mit jenem tiefsten Ereignis der Menschenseele einen feinfühlend verstehenden Anfang zu machen.
Das Verhältnis der Seele zur Außenwelt möchten wir wesentlich und grundlegend unter dem Begriff einer allgemeinen Sinnlichkeit zusammenfassen. Unmittelbar und ohne abstrakte Zwischenglieder besteht jedes lebendige Wissen und Fühlen irgendwelcher Bewußtseinsinhalte. So haben wir zunächst die Sinnlichkeit im engeren Sinne, also Erlebnisse durch Auge, Ohr, Tastsinn, Temperatursinn, Geschmacks- und Geruchssinn und ähnliche, als Wesensbestand unserer psychischen Wirklichkeit einer vorurteilslosen Anerkennung zu würdigen. Zwar vermitteln uns diese Erlebnisformen nur Beziehungen zur materiell fundierten Umwelt. Sie gehören also zum oberflächlicheren Teile unseres unmittelbaren Bewußtseinslebens. Indessen gibt uns doch die Sinnlichkeit unmittelbare Erlebnisse, und aus diesem Grunde liegt es uns sehr fern, sie als Element des Lebens irgendwie verächtlich zu beurteilen. Die Sinnlichkeit ist das primitivste Geschenk Gottes an den Menschen, und nicht sie ist es, welche unser Leben und Denken von den Quellen des Edlen und Wahren ablenkt, sondern nur das subjektive Abstraktionsvermögen, die willkürliche Hypothesenbildung, welche sich auf dem Grunde der sinnlichen Wahrnehmung für manche psychischen Entwicklungen erheben mag. Wir beurteilen die Sinnlichkeit als ein unbedingt wertvolles Vermögen des Menschen, weil sie unmittelbare Beziehungen zur Außenwelt setzt, also echtes Erleben, wenn auch nicht gerade in tieferen Formen, ermöglicht.
Auf dem Fundament der Sinne mögen nun manche Denker und Menschenarten ein Kulturreich bloß mittelbarer, abstraktiver, hypothetischer, subjektiver Verstandesbildungen errichten und ihre Erkenntnistheorie auf die Hochschätzung dieser Menschenerfindungen des Bewußtseins ganz und gar einstellen. Unsere Beurteilung nimmt einen andern Weg. Sie folgt nicht Kant, sondern sie setzt Goethe fort. Die Sinnlichkeit im engeren Sinne betrachten wir durchaus nur als eine Form der allgemeinen Sinnlichkeit alles Erlebens im bewußten Geist. Wir koordinieren der Sinnlichkeit auch die höheren und tieferen Erlebniswirklichkeiten des intuitiven Kopfes, des intuitiven Herzens und der intuitiven Geschlechtlichkeit und betonen, daß all diese Bewußtseinserlebnisse unmittelbare Beziehungen zu objektiven Wirklichkeiten herstellen, die vom Menschen einfühlend in ihrem Wesen erfaßt werden, ähnlich wie etwa eine Farbe durch die Intuition des Auges einfühlend in ihrem Wesen erfaßt wird. Es ergibt sich daraus zugleich die Folge, daß wir die Theorie des Sensualismus, alle unsere Erlebnisse seien gleichsam aus einer mosaikartigen Zusammenfügung sinnlicher Erlebnisse im engeren Sinne entstanden, entschieden ablehnen. Die Sinnlichkeit im engeren Sinne ist die Anfangsstufe intuitiven Erkennens, aber nicht die Trägerin der Elemente alles intuitiven Erkennens. Die höheren Ganzheiten und Unmittelbarkeiten, welche wir mit der Sinnlichkeit unseres Geistes, unseres Herzens, unserer Geschlechtlichkeit unmittelbar erfassen und erfühlen, sind durchaus keine Additionen optischer, akustischer und ähnlicher Elemente, sie sind aber ebensowenig bloße Begriffe abstrakt-subjektiver Entstehung ohne unmittelbaren Wesensgehalt, sondern es sind eben Objekte unserer tieferen Sinnlichkeit. Die Sinnlichkeit des Bewußtseins entfaltet sich in vier Zweigen, von denen der sensorische im engeren Sinne an der hellen Oberfläche des Tages liegt. Die andern führen in ein tieferes Wunderreich der Nacht, dessen Wirklichkeiten jedoch denen des Tages weder an Wert noch an Realität das mindeste nachstehen. Im Gegenteil: die Sinnlichkeit des Geschlechts, die Sinnlichkeit des Herzens und die Sinnlichkeit des Geistes ergreifen progressiv immer tiefere und realere Bezirke der metaphysischen Wirklichkeit objektiven Seins, und die Sinnlichkeit der Sinne erscheint uns schließlich wie ein freundliches Symbol, welches den sich entwickelnden Lebenstrieb des Menschen zu ebenso schönen, aber immer gewaltigeren Herrlichkeiten der Welt vorwärtsweisen will.
Der fein und reich organisierte Mensch, den man mit einem oft mißbrauchten Wort manchmal auch als »genialen« Menschen bezeichnet, unterscheidet sich vom weniger hoch entwickelten Durchschnitt hauptsächlich durch eine vertiefte Sinnlichkeit naturgeborenen Adels. Jene Verfeinerung unseres Empfindungsvermögens, welche Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen als erste Forderung aller Kultur aufstellt, veredelt das menschliche Bewußtsein aus dem bloß sinnlichen Zustand des Primitivmenschen (welcher in affenartigen Manipulationen des Geistes zu praktischen Kausalabstraktionen voranschreitet und darin den Sinn und Zweck seines Lebens findet), zu unmittelbarem Erlebnisreichtum auf allen Gebieten. So etwa ist der Künstler eine bereits sinnlich vertiefte Entwicklungsstufe über den Primitivmenschen hinaus. Der Philosoph als intuitiver Künstler des Geistes geht in der Erweiterung seiner Sinnlichkeit zu universalerem Schauen noch einen Schritt voraus. Der religiös Erlebende erweitert seinen unmittelbaren Objektbereich bis zur Schwelle der Gottheit selbst und bildet vielleicht die letztmögliche Steigerung des höher organisierten Menschen. Aber auch in andern Erscheinungen des Alltags tritt uns die qualitative Eigenart besonders ausgebildeter Sinnlichkeitssphären manchmal entgegen. Von den Franzosen sagt man oft, sie besäßen »den sechsten Sinn«, worunter man mehr oder weniger scherzhaft eine von Natur gegebene besonders empfindliche Ausbildung der sexuellen Sinnlichkeit versteht. Von einigen großen Künstlern, etwa Goethe oder Novalis, hat man sehr treffend gesagt, sie besäßen eine spezifische »Sinnlichkeit des Herzens«, das heißt ein überaus fein organisiertes Vermögen, die Welt der psychischen Resonanzphänomene unter Menschen, die man als Sympathie und Liebe in positiver Gestalt besonders gern wahrnimmt, in dem zugehörigen Erlebniszentrum, dem Herzen, mit vollendeter Unmittelbarkeit virtuos zu erleben und zu beherrschen. Und schließlich gibt es immer wieder begnadete Geister, die gleichsam mit dem Auge des Geistes arbeitend fast mühelos in den Kosmos der philosophischen Wahrheiten einzudringen vermögen, welcher den meisten andern Denkern, welche das bekannte Brett vor ihrem Kopfe vergebens durch spitze Abstraktionen anzubohren versuchen, leider verschlossen ist. In all diesen verschiedenartigen Spezies des genialen Menschen ist eine feinfühlige Naturanlage wesentliche Voraussetzung. Allerdings läßt sich durch intuitiv arbeitende Erziehungskunst in allen Menschen die Anlage zum höheren Menschen entwickeln; so aristokratisch im Wesen eine zu Edlerem strebende Lebensauffassung auch immer im Grunde genommen sein muß – sie braucht und darf sich dennoch nicht der Einsicht verschließen, daß alles, was Menschenantlitz trägt, die Möglichkeit und Berufung in sich besitzt, an der Herrlichkeit des »Uebermenschen« teilzunehmen. Der »Uebermensch« ist uns nicht wie für Nietzsche ein biologisches Züchtungsprodukt darwinistischen Aberglaubens, sondern wie für Schiller ganz einfach die Läuterung des bestehenden Menschen zu seinem ureigensten Adel, der die Berufung seines Lebens bildet.
Nach dieser Umreißung des Begriffes einer universellen Sinnlichkeit als Wesenseigenschaft alles Erlebens dürfen wir nun an die besondere Art von Sinnlichkeit herantreten, welche das Thema unseres ersten, psychologischen Abschnittes ausmacht: die Sinnlichkeit des Herzens, durch welche das Resonanzphänomen der Liebe zustandekommt. Diese Sphäre der Intuition von andern scharf zu unterscheiden, mit welchen sie oft vermengt wird, ist unsere erste Aufgabe. Die Autonomie der psychischen Wurzel des Eros gegenüber der physiologischen und der reproduktiven muß entgegen allen entstellenden Interpretationen zunächst klar herausgearbeitet werden, und erst in sekundärem Belang dürfen wir allerdings nicht vergessen, das Verbundensein der psychischen Funktion mit andern, insbesondere der physiologischen, in der Totalität des Lebensorganismus zu ihrem Recht kommen zu lassen. Nicht von dem Trivialbegriff einer »Geschlechtsliebe« haben wir daher zunächst zu reden, sondern vom kosmischen Zentralbegriff der Liebe überhaupt. Wie sich diese auch in der für unser Thema besonders wichtigen Erscheinung der »Geschlechtsliebe« spezifizieren kann, werden wir in adäquater Weise nur begreifen können, wenn wir das Wesen der Liebe überhaupt verstehen. Sinn und Wert der »Geschlechtsliebe« läßt sich nur auf Grund einer umfassend philosophischen, nicht aber auf Grund irgendwelcher engen medizinischen oder moralischen Erörterungen organisch einsehen.
Die menschliche Seele erkennt sich als endliches, begrenztes Fragment in einer fremden, kalten Welt ebensolcher Bruchstücke. Keine organische Totalität, keine Harmonie ist ihr zunächst gegeben, sondern nur ein Wirrsal gegeneinander kämpfender Kräfte, von denen sie selbst eine einzige darstellt. Die Welt unseres irdischen Daseins erscheint der Seele mit Notwendigkeit wie das Ergebnis eines Sündenfalles von einem Zustand der Glückseligkeit in das chaotische Reich der Materie. Die Seele selbst eine endliche Nichtigkeit, das Dasein um sie her fremd und feindlich, die erste Forderung des Lebens der Kampf – in solcher Lage findet sich der Mensch abgeschnitten von einem Zustande des Friedens, den er gleichwohl als Ahnung in sich trägt, befindet sich die Seele außerhalb der Seligkeit, welche ihre ureigene Heimat ist. Verloren ist dieses Paradies durch den Fehltritt ins kämpfende Leben der Materie. Wiedergewonnen kann es werden, wenn die Seele aus den Mängeln ihrer Existenz die Hilfsmittel formt, um sich aus der Welt des Zerspaltenseins wieder zu sich selbst zu retten. Endlichkeit und Zerspaltenheit des Lebens sollen durch ihre eigene Voraussetzung aufgehoben werden zur Totalität und harmonischen Einheit. Die Natur aber hat dem Bewußtsein den Trieb zur Schönheit und Liebe aufgeprägt, damit es seine Aufgabe, den Reichtum des Lebens durch jene Rückverbindung seiner Mannigfaltigkeit mit der Einheit des Weltgrundes unerhört zu steigern, aus eigenpersönlichem freiem Wollen im Dienste des Logos erfüllen könne. »Religion«, im weitesten Sinne solcher Wiederverbindung der Fragmente mit der heimatlichen Seligkeit, ist das erste Kennzeichen wahrhaftmenschlichen Erlebens.
Dieses »religiöse« Erleben zielt darauf hin, den subjektiven und den objektiven Pol unserer Existenz schlechthin identisch werden zu lassen. Die Hilfsmittel der Natur, welche diese Vereinigung des Gespaltenen zustandebringen, sind die Veredelung des strebenden Subjekts zur Liebe und die Läuterung des seienden Objekts zur Schönheit, welche jener Liebe die Erfüllung darstellt. Je mehr der Erlebnisgehalt des Menschen durch Liebe beherrscht ist, und je mehr die objektiven Schöpfungen der Natur und der Kultur Schönheit entfalten, um so näher rückt der Menschheit das Ziel ihrer Erlösung. Sie ist erreicht, wenn außer den Kräften der Schönheit und Liebe nennenswerte Impulse anderer Art im Leben kaum noch existieren. Der Lauf der Weltgeschichte durch die Jahrtausende hat das Ziel, die Menschheit vom Zustande des Abfalls vom Logos durch die Mächte des Lebensgefühls bereichert dem Zustande der Erlösung zuzuführen. Wir alle, die wir in der Mitte dieses ungeheuren Stromes dahingetrieben werden, sehen die Erlösung nicht als historische Vollendung, sondern nur in der Form einzelseelischen Erlebnisses. Die Schönheit, welche Liebe weckt, und die Liebe, welche nach Schönheit strebt, sind im Wirrsal der Geschichte die Grundkräfte der Erlösung für die Menschenseele. Die bewußte Tendenz historischer Entwicklung wird erst dann restlos menschlich sein, wenn sie darauf ausgeht, die Machtsphäre von Schönheit und Liebe in der Kultur allenthalben zu vergrößern und diese beiden Grundkräfte der Erlösung zu den bewußten Grundkräften der geschichtlichen Entwicklung zu machen. Der »Wille zur Macht« ist das unreife Jünglingsideal einer Menschheit, welche noch nicht klar erfaßt hat, was sie eigentlich will, und was sie eigentlich im tiefsten Grunde befriedigt. Der Wille zur Schönheit und Liebe wird in kommenden Jahrtausenden das Machtstreben historischer Faktoren inhaltlich wertvoll machen. Vorerst handelt es sich bloß um leere Kraftübungen ohne Ziel.
An die eingehende Wesensbestimmung der Liebe wird das folgende Kapitel herantreten. Hier handelt es sich nur darum, diese tiefste aller Lebenskräfte in ihrer Selbständigkeit und Unabhängigkeit von untergeordneten Lebensbedürfnissen zu betonen. Schönheit und Liebe treten in den verschiedensten Formen in das Bewußtsein, von religiöser und philosophischer Geistigkeit der intellektuellen Liebe Gottes und der Natur über die reichen Phänomene der Sympathie und des Mitfühlens mit andern Menschen und Kreaturen bis zu jener umfassenden Sinnlichkeit höchster Potenz und zugleich individuellster Spezialisierung, welche in der beseligenden Leidenschaft des ganzen Menschen in bezug auf ein geliebtes Wesen zum Ausdruck gelangt. Diese letztere Form der Liebe ist der Brennpunkt aller Liebeskräfte überhaupt. In ihr konzentriert sich das Edle in der Menschenanlage zugleich in höchster Freiheit und höchster Notwendigkeit. Die tiefsten Strömungen des eigenen Willens werden als identisch empfunden mit dem Willen des Weltschöpfers selbst, und in der unbedingten Unendlichkeit eigenpersönlichen Fühlens und Erlebens erklimmt die Menschenseele den Gipfel ihrer Berufung und ihres Eigenwillens zugleich. Diese Form der Liebe findet in der objektiven Welt der Schönheit das antwortende Gegenbild, und zwar unabhängig von den Bedingungen materieller Körperlichkeit. Die höchste Steigerung des psychischen Erlebens tritt aber allerdings erst da auf, wo die Gesamtheit der Lebenskräfte, insbesondere der sexuellen, mit einbezogen werden kann in den Gesamtbereich einer Liebe im Dienst der Erlösung. So fassen wir die Sexualität nicht in der trivialen Weise als Fundament der Liebe auf, sondern als das große biologische Kontrastphänomen, welches durch seine Einbeziehung in die Liebe den Reichtum der Harmonien und Dissonanzen symphonisch zur höchsten Potenz steigert. In andern Worten: die Liebe als Universalkraft des Lebens ist kein abgeleitetes Phänomen der Sexualität, sondern die Geschlechtlichkeit ist ein ganz wesentlicher Resonanzboden für die Harmonien psychischer Wesensart, welche durch diese materielle Grundierung ihre letzte künstlerische Vollendung erhalten, ohne welche sie relativ seicht und kraftlos bleiben müßten.
Die biologischen Interessen und Eifersüchte untermenschlicher Tendenzen möchten das Verhältnis zwar umgekehrt fassen und sogar zwangsweise die kosmischen Gewalten der Liebe vor den barbarischen Triumphwagen eines sinnlosen Willens zur Macht spannen. Hier regt sich ein metaphysischer Gegensatz der Geister; ein Kampf zwischen Menschenfreiheit und animalischer Sklaverei in sogenannt menschlichen Formen deutet sich an. Die Theorie ist das erste und wichtigste Schlachtfeld dieses Kampfes. Denn jeder Intellekt ist konzentrierter Wille, und das Wollen der Menschen und Zeiten findet seine Quintessenz in den philosophischen Ueberzeugungen, mit welchen sie sich den Anschein geben, ihr Wollen »rational« zu begründen. In der Ratio des Kopfes hat die Natur etwas ganz anderes geschaffen als die Möglichkeit einer adynamischen Begründung dynamischer Willenskräfte. Der Gedanke ist recht eigentlich die Zeugungsfunktion des Willens selbst. Möge er sich auch noch so schamhaft von jeder Tendenz losgesagt haben: Gedanken ohne Tendenz sind überhaupt nicht lebensfähig. Und es kann sich höchstens darum handeln, Tendenzen des Willens intellektuell zu verschleiern, indem man sie rational zu »beweisen« sucht. Beweise sind, wie Goethe sagt, doch immer nur die Variationen unserer Meinungen, und hinter den Meinungen steht eine Willensrichtung, ein Charakter. Ehrliche und einsichtige Philosophen werden sich daher offen und klar zu dem Satze bekennen, daß ihr Denken intellektuelles Wollen und ihr Wollen dynamischer Gedanke ist. Nicht beweisen, sondern Freunde sammeln und Feinde bekämpfen ist der Sinn aller Philosophie. Dieser Sinn ist aber wahrhaft sinnvoll, weil der Urgegensatz zwischen Materie und Geist durch das Ringen zwischen den Charakteren in der Geschichte von der Tyrannis der Finsternis zur Freiheit des Lichtes geläutert werden muß. Was aber das Problem der Liebe betrifft, so haben wir zwei Seiten zu bekämpfen; erstens die biologistische, welche den freien Persönlichkeitswillen unter die Gewalt der Gattungsbedürfnisse spannen möchte, und zweitens die übersinnliche, welche die Grundlagen des physischen Lebens verachtet, anstatt sie in den Erlebnisbereich edler Liebe unter Wahrung ihrer ganzen Gewalt und Differenziertheit einzubeziehen. Der stupide Materialismus und der blasse Spiritualismus, welcher sich von körperlosen Ideen nährt, sind die Abweichungen von dem gesunden, allseitigen Lebensreichtum des Eros, dessen Verwirklichung durch die philosophische Analyse vorbereitet und begünstigt werden sollte. Die Erzeugung des Evidenzgefühls bei andern Menschen (was naiverweise oft als »Beweis« bezeichnet wird) ist das einzig in Betracht kommende Hilfsmittel zur intellektuellen Sammlung einsichtiger Charaktere und zu deren Abgrenzung von den übrigen. Versuchen wir bezüglich unseres Problems diese Sammlung und Abgrenzung zu vollziehen.
Die Autonomie der psychischen Funktion des Eros wird von verschiedenen Seiten in Abrede gestellt. Schopenhauer will die Liebe als Nebenerscheinung der Fortpflanzungsbedürfnisse der Gattung und damit als eine Art optischer Täuschung erklären. Der triviale Standpunkt, welcher aber in Medizin und Belletristik sehr stark zur Geltung gelangt, faßt die Liebe als bloße Erscheinungsform des physiologischen Geschlechtstriebes auf und interpretiert auf Grund dieses Vorurteils auch diejenigen Phänomene, welche ihm offenbar gerade entgegengesetzt sind, etwa die ideale Liebe zwischen gleichgeschlechtigen Wesen im Sinne Platos. Beide Standpunkte machen theoretisch den Menschen zum gezwungenen Werkzeug dämonischer Bedürfniskräfte der Gattung oder des Körpers. Jene Kontrasterscheinung zwischen Psychischem und Physischem, zwischen Geist und Körper, zwischen Liebe und Sexualität, zwischen seelischer Freiheit und unbewußtem Automatismus des Lebens wird als solche völlig ignoriert, wodurch der Eros ärmer erscheint, als er in Wirklichkeit ist. Die geltenden Auffassungen von Moral und Sittlichkeit sind ihrerseits weit entfernt davon, die Autonomie psychischer Interessen gelten lassen zu wollen. Sie stehen im Dienst des gleichen theoretischen Materialismus und Biologismus, da sie das Liebesleben des Menschen durchaus nur im Hinblick auf soziale und biologische Ergebnisse positiv werten und das Psychische als wünschenswerte platonische Verbrämung dieser nützlichen Lebenserfordernisse mit in Betracht ziehen, da ja diese Verbrämung den eigentlichen Zwecken des erotischen Mechanismus nicht hinderlich zu sein braucht, wenn sie die nötige Nebensächlichkeit wahrt, und da sie jedenfalls eine Gelegenheit bietet, die Bedürfnisse des Gattungslebens durch schöne Phrasen dem Individuum schmackhaft zu machen. So finden wir in der geltenden Moral und Sittlichkeit gleichsam eine Verbindung beschränkt materiellen Denkens mit dem theatralischen Flitterwerk spiritualistischer »Ideen«. Durch diese sekundäre Verbindung zweier unvollkommener Auffassungen wird jedoch die vollkommene Auffassung, welche das Wesen des Eros zu seinem individualistischen Recht kommen läßt, auch nicht hergestellt. Wir finden also in der Welt des objektiven Geistes keinen Anknüpfungspunkt philosophisch besonnenen erotischen Denkens, und nur die Aeußerungen und das Leben einzelner großer Lebenskünstler lehren uns implizite die Differenz des Geltenden vom Geltensollenden gerade auf diesem Gebiete anschaulichst empfinden.
Ueberaus naiv muß jeden psychologisch Sachkundigen die Schopenhauersche Erklärung der »Geschlechtsliebe« anmuten. Das Liebesfühlen zu einem bestimmten Menschen des andern Geschlechts erklärt sich nach diesem Denker daraus, daß unser Gattungsinstinkt unbewußt die Vorteile erkennt, welche sich aus der Vereinigung dieser beiden Körper für die Qualität der Nachkommenschaft ergeben würden. So liebt der Großgewachsene meistens Kleingewachsene, der Spitznäsige liebt das Stumpfnasige, kurz jeder Mangel oder jede Abweichung von der Gattungsmittelmäßigkeit liebt instinktiv die ergänzende Eigenschaft, welche eine harmonische Nachkommenschaft erhoffen ließe. Aus solchen Gründen erklärt sich die unendliche Liebe zwischen Petrarca und Laura, Tristan und Isolde. Alles an der Liebe ist ein Rätsel. Seine Lösung ist das Kind: so sagt uns Schopenhauer in Vorwegnahme eines ähnlichen Wortes seines Schülers Nietzsche, ohne irgendwie zu befürchten, durch diese »Erklärung« der Liebe aus den Bedürfnissen der Gattung eine gewisse Heiterkeit intellektueller Begründung zu erregen. Daß diese Hypothese in den Tatsachen mehr Widersprüche als Bestätigungen findet, kann zwar immerhin noch bezweifelt werden, und sicherlich läßt sich manche eheliche Sympathie zwischen Hans und Grete aus derlei Empfindungen ableiten. Die eigentlich psychische Liebe aber, welche anfängt, wo die Sphäre der Trivialität aufhört und welche in ihrem tiefsten Wollen und Wissen gerade die gewaltigste Losreißung der Seele von allen biologischen, physiologischen und soziologischen Rücksichten, enthält, wird man nie und nimmer durch diesen plebejischen Erklärungsversuch irgendwie berühren, da er gerade das Wesen der Liebe, ihren metaphysischen Freiheitsgehalt, ihr aristokratisches Abgeschlossensein von Nebenrücksichten und Folgerungen, zum Gegenteil verkehrt. Die Liebe zur Folge des Geschlechtstriebes machen, heißt die Königin zur Magd des Pöbels stempeln. Ein aussichtsloses Experiment für alle Feinfühligen, welche die Rangordnung des Daseins noch unverfälscht aus sich selbst zu begreifen vermögen. Die Liebe, welche alle biologischen Konsequenzen sehr oft auf das entschiedenste ablehnt, ja welche nicht einmal immer die physiologische Möglichkeit solcher Konsequenzen zu ihrer Voraussetzung macht, kann durch eine Erklärung aus Gattungsbedürfnissen bloß unverständlich gemacht werden. Das Gattungsbedürfnis würde sich am besten durch den Automatismus verwirklichen, den wir im Tierreich wahrnehmen. Liebe im spezifisch menschlichen Sinne enthält gerade den Gegensatz zu jenen biologischen Instinkten als ihr Wesen: die letzte Befreiung der Menschenseele vom Zwang der Dämonen und Unterwerfung aller materiellen Funktionen unter den großen Zweck freier, individueller Lebensbereicherung.
Die Liebe ist gleichsam die beginnende Gegenrevolution des Göttlichen gegen die materiellen Usurpatoren der Menschenseele. Abgeworfen wird der Zwang aufgenötigter Fesseln und Hüllen. Frei steht und stolz der Mensch über den seelenlosen Kräften der Gattung. Soll seine Freiheit ursprünglich in die Knechtschaft der biologischen Zwecke gespannt werden, so wird in der wahrhaft menschlichen, aristokratischen Liebe das Verhältnis umgekehrt: die materiellen Funktionen müssen dem Reichtum individuellen Lebens dienen. Der Mensch, welcher Spielball der Gattungskräfte war, ist selbständig geworden und benutzt die Gattungskräfte zur Lebensbereicherung. Im Tierreich herrscht die Gattung über das Individuum. In der Menschheit soll sich das Individuum immer mehr von diesem teuflischen Tyrannen befreien. Daher ist jede medizinische und belletristische Behandlung des erotischen Problems irreführend, wenn sie den Menschen als eine besondere Tierspezies ins Auge faßt, anstatt als Gegensatz gegen das Tierreich. Durch die Schiefheiten des Darwinismus wird die Menschheit nicht befreit, sondern in Knechtschaft gehalten, indem man ihr weismacht, die Gattungsknechtschaft sei eben ihre Berufung. Diese sich für aufgeklärt haltenden medizinischen und journalistischen Weisheiten tragen nicht dazu bei, der Menschheit ein harmonisches Liebesleben vorzubereiten, sondern es auf eine neue Art noch einmal in Fesseln zu schlagen. Der Macht des Teufels versuchte sich eine ältere Periode dadurch zu entwinden, daß sie das Liebesleben ablehnte und verpönte. Der Darwinismus will in seiner Sexualphilosophie diese falsche Abkehr vom Leben durch eine falsche Sklaverei des Lebens ersetzen. Der Standpunkt menschlicher Freiheit ist der dritte, welchen unsere Philosophie lehrt: die Gattungskräfte als Resonanzgegensatz für die seelischen Erlebnisse des Individuums zu benutzen, diese seelischen Erlebnisse aber weder zu verwerfen noch aus den Bedürfnissen der Gattung abzuleiten. Das freie Individuum in bewußter Beherrschung und Verwertung aller Liebeserlebnisse im Dasein zum Zwecke der Lebensbereicherung ist das unasketische und undarwinistische Ideal einer humanen Denkart.
Die vier Hauptpole des menschlichen Organismus, Kopf und Geschlecht, Herz und Nahrungszentrum, haben jeweils ihre eigenen, unabhängig voneinander bestehenden Bedürfnisse. Ein Wille zur Assimilierung objektiver Wirklichkeiten lebt in ihnen, ein Drang nach Befriedigung ungesättigter Kräfte, eine Sehnsucht nach Verbindung des Menschenatoms mit der Welt. Der Hunger des Geistes, als Lese-, Lern- und Bildungstrieb auftretend, kann nicht übersehen werden. Der Hunger des Nahrungszentrums, der Hunger der Geschlechtskräfte nach lösender Stillung ist als Doppelgrundkraft physiologischen Daseins allgemein anerkannt. Der Hunger des Herzens, jenes spezifische Bedürfnis nach seelischer Sättigung unbefriedigter Gefühlskräfte durch ihre Verbindung mit einem geliebten Wesen entzieht sich dagegen leicht der Aufmerksamkeit, weil es sich hier um feinste Seelenergien handelt, die ein grober Sinn nicht begreift. Der Hunger des Herzens aber ist als Lebensrealität mindestens ebenso gewichtig einzuschätzen wie der Hunger des Geistes, des Geschlechts, des Nahrungszentrums. Bei aller Zartheit der inneren Struktur vermag er sich bei hochentwickelten Menschen zu ungeheuren Spannungen zu potenzieren, aus denen die wertvollsten Kulturleistungen und die lebenswertesten Augenblicke des Daseins unmittelbar hervorgehen. Ob dieser Hunger mehr oder weniger gestillt werden kann, ist für seine Bedeutung als Lebensenergie nicht ausschlaggebend. Daß er existiert, ist seine Rechtfertigung, selbst dann, wenn mancher Träger dieser Kraft mit Schmerz erkennen muß, daß ihm nur beschieden ist, seine Sehnsucht ungestillt zu Grabe zu tragen, »bearing a lifelong hunger in his heart« (im Herzen einen lebenslangen Hunger tragend).
Das Herz ist ein magnetisches Zentrum, ein Organ, welches nicht nur den Blutkreislauf regelt, sondern auch durch Kräftestrahlungen mit der Außenwelt eine Verbindung herstellt. Diese mag meist unbewußter Natur sein. Daß schweres »Herzeleid« sogenannte nervöse Herzstörungen hervorruft, ist ja wohl immer noch eine Ausnahme, wie auch die Heilung solcher Störungen durch das Glück einer zufälligen Herzensliebe. Es handelt sich bei diesen Erscheinungen aber durchaus nicht um die Nerven, ebensowenig wie es sich beim Telegraphen in der Hauptsache um die Drähte handelt. Die magnetisch-elektrischen Kräfte, welche in den Nerven und Kraftzentren unseres Organismus verlaufen und umgeschaltet werden, sind allein die Träger psychischer Störungen und Befriedigungen, und durch diese Kräfte kann in besonderen Fällen der materielle Organismus (Nerven, Herz, Gehirn) beeinflußt werden, etwa indem Kurzschluß entsteht. Es ist aber ein Zeichen der kindlichen Rückständigkeit unseres heutigen Denkens, wenn überall nur von Nerven und Organen geredet wird, wo es sich um magnetisch-elektrische Kraft- und Spannungsverhältnisse handelt, welche in den Organen verlaufen. Das Herz aber ist das Zentrum der Sympathie- und Antipathiekräfte. Seine Energien strahlen in freudeschaffender Freiheit auf ein geliebtes Wesen, und sie krampfen sich in verschlossener Härte zusammen, wenn Mephistopheles naht. Wie die ungesättigten Kräfte des Nahrungszentrums suchen sie nach Stillung ihrer Halbheit durch einen ergänzenden Herzensstrom. Sie assimilieren aber nur die Nahrung, welche ihnen angemessen ist. Ungeeignete Nahrung nehmen sie nicht auf, mag dieselbe ihnen auch noch so real und zwingend dargeboten werden. »Le coeur a ses raisons que la raison ne comprend pas« (das Herz hat seine Gründe, welche der Verstand nicht versteht).
Wenn die Kräfte unseres Herzens in einem andern Menschen Wurzel schlagen, sei dies veranlaßt durch seine Erscheinung oder durch sein seelisches Wesen, so hat ein organischer Prozeß begonnen, der sich im Laufe der Zeit im normalen Falle wachsend immer mehr verstärkt. Die wenigen Kraftlinien, welche vom Herzen zum geliebten Wesen verlaufen, bereichern sich, indem sie gesättigt werden, und an ihren Kristallisationskern schließen bald neue Kraftlinien an, so daß schließlich sämtliche Lebenslinien eines Herzens mit einem geliebten Wesen in magnetischer Verbindung stehen können. Aus dem geringen Keim einer Sympathie, welche vielleicht nur durch den Blick eines Auges geknüpft wurde, wächst ein starker Baum, dessen Wurzeln im Herzen verankert sind. Wehe dem Herzen, wenn ein Sturm von außen diesen Baum gewaltsam entwurzelt! Mit dem zitternden Leben seiner Wurzeln kann das Herz selbst zum großen Teil herausgerissen werden, und es gibt Wunden, welche niemals mehr vernarben. Solange aber die magnetischen Kräfte fest und allgewaltig mit dem andern Menschen verbunden sind, lebt ihr Träger in einer Welt, welche von der des Alltags so verschieden ist wie der Himmel von der Erde oder wie vom Pöbel der Adel. »Eine Sonne ist der Mensch, allsehend, allverklärend, wenn er liebt; und liebt er nicht, so ist er eine dunkle Kammer, wo ein rauchend Lämpchen brennt.« Durch die Hinlenkung aller tiefsten Lebenskräfte auf einen objektiven Brennpunkt öffnet sich dem Erleben die ganze reiche Welt. Die Musik spricht ohne störende Wand unmittelbar zu unserem Herzen, die Natur redet zu uns die Sprache, welche der Künstler allein empfindet, alle Inhalte des Daseins sind verklärt vom Schein der göttlichen Freude. Nichts enthält die ganze Welt als das Bild der Geliebten, und in aller Pracht der Natur, in allem Reichtum des Lebens erklingt uns nur eine einzige selige Harmonie: das Wissen von der Lust des Lebens, welche endlich, endlich aus ihrer abstrakten Allgemeinheit auf das einzige Wesen konzentriert ist, welches Wirklichkeit schafft, wo sonst nur Begriffe wären, welches in menschlicher Weise dem Menschen ein göttliches Erleben möglich macht. Die Gnade einer großen Liebe bringt ins Menschenleben ein Element des Göttlichen, welches durch kein anderes auch nur annähernd ersetzt oder erläutert werden könnte.
Jedes Herz strahlt ungesättigte Kraftlinien von bestimmter individueller Qualität suchend und fragend in die objektive Welt aus. Das spezifische Phänomen der Liebe entsteht dann, wenn die Menschenseele oder der beseelte Menschenleib angetroffen wird, welcher möglichst alle dieser unbefriedigten Kräfte qualitativ bindet, wenn aus dem beseelten Objekt die Ruhe hervorgeht, welche sich nur dann einstellt, »wenn der Pol den Pol berührt«, das heißt wenn ergänzende, komplementäre Kräfte sich zu einer Einheit verbinden können. Ganz ähnlich wie im physiologischen Gebiet handelt es sich in der seelischen Liebe um ein Ergänzungsphänomen. Die Liebeskraft eines Menschen hat um so weniger Aussicht, in der Welt befriedigt zu werden, je komplizierter und eigenartiger sein seelischer Organismus gestaltet ist. Die Liebe kann aber auch nur auf Grund solch feiner Differenzierung zu ihrer höchsten Steigerung gelangen. Woraus hervorgeht, daß eine starke, große, aristokratisch ausgeprägte Liebe im Leben nur selten ihre Verwirklichung finden mag. Ist es aber ausnahmsweise der Fall, so ist es die höchste Freude der Gottheit. Der unkomplizierte Durchschnitt wird seine Liebeskräfte stets leichter befriedigt finden als der hervorragende Mensch. Solche Dutzendliebe hat aber dafür den Nachteil, der individuellen psychischen Spannung zu entbehren und meistens ganz einfach in physiologische, biologische und soziale Interessen sich zu verflüchtigen. Schopenhauers Erklärung der »Geschlechtsliebe« durch das Vorhandensein ergänzender Eigenschaften bei den Liebenden vertritt den sehr richtigen Gedanken der Komplemenz, leider aber nur in der trivialen Form, welche auf Hans und Grete paßt, nicht aber in der spezifisch psychischen Anwendung, welche bei feiner organisierten Menschen zweifellos viel wichtiger ist. Unser Philosoph erblickte die Menschen leider allzu ausnahmslos in den Krallen des Gattungsteufels, als daß er hätte einsehen können, wie die Liebe in ihren höheren, individualisierten Formen den Menschen gerade aus dieser Sklaverei befreit und sein Eigenleben demjenigen der Gattung überordnet. Den Freiheitswert der Sinnlichkeit des Herzens hat weder er begriffen noch sein Nachfolger Tolstoi, welcher durch eine vermeintliche Moral den Wert der Liebe nach asketischen Prinzipien leugnet, wodurch die Menschheit denn wieder restlos dem »Genius« der Gattung in die Krallen geführt wird, welchem das aristokratische Individuum eben gut genug scheint, der Fabrikware der Natur untertänigste Dienste zu leisten, indem es solche in dem Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit möglichst reichlich zu produzieren unternimmt.
Die Verbindung des Herzens mit einem geliebten Wesen dürfte durchaus auf wirklichen elektro-magnetischen Strömen beruhen, welche auf Grund psychischer Lenkung im Laufe der Zeit einen wirklichen Verbindungskontakt des liebenden Herzens mit dem Erleben des geliebten Menschen herstellen, etwa ähnlich einer Verbindung zweier Stationen drahtloser Telegraphie. Es ist von vielen Beobachtern festgestellt worden, daß telepathische Phänomene zwischen Liebenden besonders häufig auftreten, derart daß der Liebende fühlt, was dem Geliebten geschieht. Das Phänomen als solches würde uns nicht weiter interessieren, wenn es nicht ein Fingerzeig dafür wäre, daß die Herzensliebe auf bestimmten, eigenartigen Naturkräften beruht, welche mit realer Macht wirken, und nicht etwa bloß auf blasser Idee und gefühlsmäßiger Autosuggestion. Die Existenz magnetischer Naturkräfte des Herzens kann unseres Erachtens von keinem Kundigen geleugnet werden, und es handelt sich bei ihnen zweifellos um ebenso starke Naturwirklichkeiten wie etwa bei den geschlechtlichen Funktionen, welche in vielem den psychischen Phänomenen auch in der elektro-magnetischen Wesensart sehr ähnlich sind, aber einem andern Wirklichkeitsgebiet angehören. Die erfahrungsmäßige Einschätzung läßt allerdings als wahrscheinlich vermuten, daß nur verhältnismäßig wenige Menschen einer eigentlichen Herzensliebe in all ihrer Gewalt fähig sind. Diese Fähigkeit ist meistens mit einem besonders fein differenzierten Seelen- und Geistesleben verbunden und sollte mit den verworrenen Instinktgefühlen eines bloßen Geschlechtswesens nicht verwechselt werden.
Die Resonanz des Herzens auf alle Eindrücke der Außenwelt und seine Befreiung von den Reifen der Starrheit, welche es gewöhnlich umklammert halten, ist eine der wesentlichsten Vollkommenheiten der Herzensliebe. Durch das geliebte Wesen erfährt die menschliche Seele gleichsam eine Befruchtung, welche sie zum Gebären höchster Schöpfungen fähig machen kann. Dieser Vorgang ist vergleichbar der physiologischen Befruchtung, jedoch mit dem Unterschiede, daß gerade der liebende, aktive Teil den Segen solcher Lebenszeugung in sich erlebt, während der geliebte, passive Mensch oft sogar ohne es zu wissen, den Funken neuer Schöpfung in die fremde Seele fallen läßt. Vielleicht ist nur der spezifisch geniale männliche Mensch mit diesem weiblichen Vermögen, seelisch befruchtet werden zu können, ausgestattet. Jedenfalls treffen wir es in hervorragender Weise bei den meisten schöpferischen Geistern an, welche nur durch solche Befruchtung durch die Liebe in die Lage versetzt wurden, ihre Werke zu gebären. Die seelische Empfänglichkeit für Liebesfunken muß gegeben sein, wo Großes entstehen soll. Ohne den verjüngenden Augenblick einer neuen Liebe würde das Schaffen genialer Menschen absterben müssen, auch wenn sich an ihnen selbst und in ihrer psychischen Organisation nicht das geringste änderte. Zur Schaffung neuen Lebens ist die Befruchtung der Seele durch liebenswerte Menschen vielleicht die allererste Vorbedingung. Seelische Liebe wird dadurch nicht bloß zum wertvollsten Faktor individuellen Glückes, sondern auch zur Voraussetzung allen genialen Kulturschaffens. Ein Grund mehr, die Liebe nicht asketisch zu verpönen. Nicht ein Mittel zu untergeordneten Zwecken ist aber die Liebe, sondern der Gipfel und höchste Zweck des Lebens selbst, von welchem alle edle Kultur bestenfalls der festgehaltene Rückstand ist. Nicht damit Goethe seine Werke schreiben konnte, ist sein Liebesleben entschuldbar, sondern seine Werke haben ihren Wert deshalb, weil sie die höchsten Momente eines reichen Lebens für die Nachwelt aufbewahren, sei es auch nur in der toten Versteinerung des Wortes. Wenn nicht die Liebe das Leben rechtfertigte, so wäre es wertlos: »La vie est un sommeil, l'amour en est le rêve. Et vous avez vécu, si vous avez aimé.« (Das Leben ist ein Schlaf, dessen Traum die Liebe ist. Und ihr habt gelebt, wenn ihr geliebt habt.)
Die Bedingungen, unter welchen Liebe entsteht, sind im einzelnen sehr verschieden und geheimnisvoll. Schönheit, Seelentiefe, Poesie eines anmutigen Wesens mögen zu den auffallendsten Faktoren dieser Naturkraft gerechnet werden können: ausschlaggebend ist etwas anderes, das sich nur gleichnisweise charakterisieren läßt. Wie zwei musikalische Harmonien nur dann eine höhere ästhetische Verbindung eingehen, wenn die Mannigfaltigkeiten ihrer Schwingungsrhythmen ergänzend aufeinander abgestimmt sind, so scheint auch in der reichen Rhythmik der menschlichen Seele die Forderung nach synrhythmischer Ergänzung grundlegend zu sein. Wo diese zu finden sei, lehrt nur das Erlebnis. Es wäre töricht, in diese duftigste aller Welten mit rohen Begriffen leuchten zu wollen, welche das Gewebe nur zerstören würden. Die Rhythmen müssen ineinandergreifen wie zwei komplizierte Schlüssel, deren einer den andern ergänzt: die Mängel und Lücken des einen müssen durch Vollkommenheiten des andern befriedigt werden, und auch in der reichen Welt psychischer Qualitäten, wo von »Mängeln« und »Vollkommenheiten« gar nicht geredet werden kann, soll eine ähnliche Komplemenz stattfinden. Andernfalls besteht keine Liebe, sondern höchstens mittelbare Freundschaft und Wohlgeneigtheit, welche der spezifisch erotischen Eigenart ermangelt und diese niemals ersetzen kann. Der Schein der Liebe mag die Welt wohl täuschen: die Herzen täuscht er nicht. Nur dann besteht Liebe im eigentlichen Sinne, wenn ihre gewaltsame Zerreißung vom Herzen als der Tod eines lebenden Wesens empfunden würde, wenn es im ganzen Bereich der Wirklichkeit nichts gibt, das sich an Tiefe der Lebensbedeutung damit vergleichen ließe als eben den Tod selbst.
Liebe und Tod – diese beiden Grundpfeiler des Lebens lassen sich nur in ihrer gegenseitigen Verwandtschaft verstehen. »Das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes«, sagt zwar Oscar Wilde. Doch dürfte diese Betonung der Sache nicht richtiger sein als die gegenteilige. Wahr ist nur, daß Liebe und Tod eine metaphysische Identität bilden, an deren Erhabenheit nichts anderes reicht. Auch der Tod ist, wenn wir von der sehr wahrscheinlichen Annahme seelischer Unsterblichkeit ausgehen, ein psychisches Erlebnis, welches mit den Schmerzen, welche ihm voranzugehen pflegen, nicht verwechselt werden sollte. Dieses erhabene Erlebnis der Lösung aller Verbindungen zu der einen Welt, indem diejenigen zu einer andern Welt geknüpft werden, ist mit nichts als mit dem Erlebnis der Liebe zu vergleichen, welche ebenfalls sämtliche Lebensenergien auf eine neue Welt konzentriert, wodurch ein höherer Abschnitt des Lebens begonnen wird. Die Liebe entfaltet den Blick auf das Leben dieser Welt, indem sie uns zugleich völlig einsam macht im Bewußtsein einer ausschließlichen Verbindung mit dem geliebten Wesen allein. Der Tod entfaltet den Blick auf die jenseitige Welt, indem er unsere Verbindungen mit der schlechteren Vergangenheit löst. Die Liebe ist das Erlebnis des Todes innerhalb dieser Welt, und der Tod ist die Erfüllung unserer Sehnsucht in einer neuen Daseinssphäre. Beiden Erlebnissen gemeinsam ist die Erhabenheit ihrer unvergleichlichen Tiefe und hinreißenden Gewalt, welche darauf beruht, daß nicht Einzelnes innerhalb der Welt erlebt wird, sondern das Verhältnis zweier Welten im Wechselstrom einer seelischen Neuverbindung und Lösung von allem Untergeordneten. Liebe und Tod als die beiden einzigen Erlöser im Dasein enthalten das gleiche befreiende Erlebnis in verschiedener Richtung des Blickes: Diesseits und Jenseits der Psyche begegnen sich in diesen höchsten Momenten, und aus dem Bewußtsein der Doppelheit unserer Existenz folgt der Ewigkeitsinhalt dieser Erlebnisse.
Es ist mehr als eine Selbsttäuschung, wenn die echte Liebe mit dem Gepräge der Ewigkeit behaftet erscheint und mit dem Anspruch der Ewigkeit auftritt. Dieses Gefühl ist auch mehr als die bloße Projektion intensiver Erlebnistiefe auf die Linie der Zeit, als welche es von Simmel charakterisiert wird. In der Liebe erlebt sich die Seele selbst in der unverdorbenen Unmittelbarkeit ihrer metaphysischen Existenz. Der Augenblick ihres Erlebens wird erfüllt von dem Bewußtsein der Ewigkeit, der Zeitlosigkeit ihres Daseins. Die Liebe erfüllt den Augenblick mit der Tiefe der Ewigkeit, wodurch sie nur zum Bewußtsein erhebt, was dem seelischen Erleben als erste Wesenseigentümlichkeit anhaftet: die Unverlierbarkeit und Zeitlosigkeit ihrer selbst und aller Erlebnisinhalte. Was uns die Ernte der Lebenszeit an Früchten bietet, geht unverlierbar in den ewigen Besitz eines unsterblichen Wesens ein, dessen Bewußtsein alles aufbewahrt, was die Seele bereichert und qualitativ der Vollendung näherführt. Die Liebe aber ist unter allen denkbaren Erlebnissen nicht nur das tiefste, sondern auch inhaltlich aller Trivialität des Zeitverlaufes dadurch enthoben, daß sie die Verwandtschaft zweier Seelen zum Erlebnis erhebt, aus einem doppelt unsterblichen Schicksalspaar eine neue Seelenvollkommenheit erahnt, welche als solche ebenso zeitlos ewig ist oder diese Eigenschaft in noch höherem Maße verwirklicht als jede der Einzelseelen für sich allein. Das ist der Sinn der Unsterblichkeitsphilosophie im zweiten Akt des Wagnerschen »Tristan«.
In der Liebe erlebt die Seele ihre Ewigkeit durch die Resonanz an dem geliebten Wesen, welches als Symbol und Bürgschaft der Unsterblichkeit den Augenblick mit der Tiefe des zeitlosen Alls erfüllt. Mag dann diese Unendlichkeit des Fühlens immerhin auch auf reale Verhältnisse projiziert werden, und als ewiger Treuschwur ins Werden der Zeit die Ausschließlichkeit tragen wollen, welche schon in das erlebte Universum dadurch getragen wird, daß es nichts mehr dem Liebenden bedeutet als das Bild der Geliebten: dieser dem Wesen der Zeit nicht entsprechende Versuch einer historischen Realisierung metaphysischer Ewigkeit wird durch das fortschreitende Leben meistens irgendeinmal zum Scheitern gebracht oder in seiner Unzulänglichkeit enthüllt, ohne daß der Ewigkeitswert der Liebe selbst für die unsterbliche Wesenheit des Menschen dadurch irgend berührt werden kann. Sofern der Mensch der Zeit angehört und mit ihr sich wandelt, ist seine größte Weisheit, die Ewigkeitskräfte der Liebe in den Fluß des Werdens hineinzutragen, ohne dessen Reichtum eigensinnig durch den unmöglichen Stillstand einer »ewigen Dauer in der Zeit« zu verderben. Die immer aufs neue junge Fähigkeit zu großer, metaphysischer Liebe ist das sichere Merkmal des großen Lebenskünstlers, welcher Ewigkeit und Zeit als die Elemente seines seelischen Seins und Werdens gleichermaßen zu ihrem Rechte kommen läßt. Stetig sich neu gebärende seelische Jugend ist das Grundgesetz der kosmischen Entwicklung der Seele in der langen Reihe ihrer vielen Verkörperungen. Das gleiche Grundgesetz herrscht auch in den erotischen Wirklichkeiten innerhalb des Einzellebens. Auf psychischem und sogar auf physischem Gebiet bedeutet die Liebe die Rückkehr zum Wurzelpunkt einer neuen Periode der Zeit, die Regeneration des menschlichen Wesens durch den Kontakt mit den schöpferischen Energien des Universums.
Der tiefen Liebe ist das geliebte Wesen bei aller unvertauschbaren Individualität seiner Einzigkeit doch kein Einzelwesen, sondern das Symbol alles Hohen und Göttlichen, die Idee der Vollkommenheit in einer endlichen Gestalt. Was wir lieben, ist das Unendliche, welches wir im Kontakt mit dem geliebten Wesen erfahren, nicht das Wesen selbst in seiner bürgerlichen Wirklichkeit. In allem Reichtum schöner Gestalten ist es die Schönheit, welche wir lieben, und unser eigenes Wesen als Resonanzgeber einer solchen idealen Welt. Die einzelne Gestalt ist nur die Gelegenheitsursache zur Entfesselung einer universellen Freiheit der Seele, welche mit ihrer tiefsten Notwendigkeit identisch ist. Wie in der Schönheit, so fällt auch in der Liebe der Gegensatz von Einzelding und Idee, Freiheit und Notwendigkeit, Wollen und Sollen in ein einziges Erleben zusammen. Die »coincidentia oppositorum«, das Zusammenfallen der Gegensätze, welches die Renaissancephilosophen dem Göttlichen als Wesensmerkmal beilegten, tritt im Leben nirgendwo offenkundiger zutage als in der Liebe. Letzte Befreiung der Seele von allem Zwang der Abstraktionen, der Paragraphen, der engen Moralen eines künstlich verunstalteten Daseins, und doch wieder tiefste Notwendigkeit unentrinnbaren Schicksals werden im Erlebnis der Liebe identisch. Gerade weil das geliebte Wesen in seiner individuellen Ausprägung diese Eigenart besitzt, wird es der Seele zum Anlaß überindividuellen, platonisch allgemeinen Erlebens metaphysischer Ideen des Schönen und Vollkommenen. Und gerade weil unser individueller Wille die letzte Freiheit seiner persönlichen Steigerung erklimmt, wird er gebunden an die Notwendigkeit göttlichen Gesetzes, das sich in allgewaltigen Empfindungen nicht im geringsten mehr an die individuellen Interessen dieses Lebewesens wendet, sondern nur an sein Wissen vom Ewigen in ihm. Einer der vielen Widersprüche des Lebens erscheint hier auf die Spitze getrieben: höchste Steigerung der individuellen Freiheitskräfte führt zum Ergebnis einer überindividuellen Notwendigkeit. Stärkste Konzentration des Liebesgefühls auf einen einzelnen Menschen bedeutet den Beginn der Bewußtwerdung vom wesenlosen Schein alles Einzelnen, als des bloßen Abglanzes allgemeiner Schönheit und Vollendung, welche hier nur gleichsam als Einzelwesen sich darstellt.
Mit diesem Widerspruch eng verbunden ist auch die Gegensätzlichkeit unserer psychischen und physischen Organisation. Höchste Steigerung psychischer Liebeskraft findet nur durch das Ziel und die Grenze physischer Vereinigung den Frieden, gleich als ob die Sehnsucht, welche aus der materiellen Getrenntheit des zerspaltenen Weltgeistes entspringt, die Berufung in sich trüge, gerade vermöge der Materialisiertheit des unseligen Lebens auch erlöst zu werden. Wenn sich unser leidvolles Dasein tiefen Denkern gleichsam als Folge eines Sündenfalles darstellen muß, der den wandellosen Geist in ein Chaos der wirrsalschaffenden Materie hinabstürzte, werden wir diesen Gedanken erst dann in seiner ganzen Erhabenheit erfassen, wenn wir aus dem materiell fundierten Dasein selbst die einzige Möglichkeit ableiten, den Fehltritt, als welchen sich das Leben darstellt, im Lauf der Entwicklungen in Seele und Menschheit wieder aufzuheben: der Grund des Leidens birgt die Möglichkeit der Erlösung, und alle Seligkeiten des aufzuhebenden Sündenfalles sind nur auf Grund der Voraussetzung dieses Sündenfalls denkbar. Die Bewußtwerdung unbewußter Reichtümer des Logos und Eros, welche den letzten Wesenssinn des Lebens und seine einzige Rechtfertigung ausdrückt, kann nur auf Grund dessen gestaltet werden, daß das Negative am Anfang des Werdens steht und in sich selbst den Drang und die Möglichkeit enthält, sich zum Positiven umzuwandeln, indem es sich selbst betätigt. Widersprüchlich und schwer zu denken sind diese Wirklichkeitsstrukturen zweifellos. Aber ihre Wirklichkeit muß für ihre Schwerdenkbarkeit entschädigen. Für das Wesen der seelischen Liebe in ihrem Verhältnis zu den physischen Wirklichkeiten ergibt sich daraus jedenfalls eine ganz bedeutende Einsicht, welche auf metaphysischem Gebiet den lebensfeindlichen Erlösungsideen dadurch die Spitze bietet, daß sie eine lebensbejahende Erlösungsidee nahelegt: die Befreiung der Seele von den Lasten der Sehnsucht durch das Erleben selbst. So philosophisch gehaltvoll diese Formel uns begründet erscheint, so selbstverständlich klingt sie in ihrem schlichten Ausdruck: vielleicht zwei Gründe zugleich für ihre Richtigkeit.
Wenn nicht die menschliche Seele dazu verdammt ist, ihre Sehnsüchte unerfüllt in die Regionen des Wahnsinns zu steigern, muß in der Natur selbst die Möglichkeit gegeben sein, die Erlösung ohne grundsätzliche Entsagung und Verneinung auch zu verwirklichen. Von der Erlösung durch Lebensverneinung sprach uns mancher Weise, der durch den Hauch seines Mundes den Strom der Menschheitsenergien nicht hat vom Irrtum seines Strömens überzeugen können, weil darin Energien treiben, die wirklicher sind als die Meinung, welche sie verbieten möchte. Von der Erlösung durch Lebensbejahung zu reden schiene dem Wesen des Lebens angemessener zu sein. So ist es denn unsere reiflich und ernst erworbene Ueberzeugung, daß dem Wesen des Lebens schwerer Schaden zugefügt wird, wenn die materiellen Wirklichkeiten der Liebe, die als Resonanzgegensatz und Grenzziel diese zur Ruhe führen sollen, durch die Konvention öffentlichen Urteils, das durchaus nicht immer mit dem Urteil nach eigenem Wissen und Gewissen zusammenfällt, in geringschätziger Weise wie unedle Beigaben der Menschlichkeit gebrandmarkt werden. Dadurch, daß den Grundlagen des Lebens die Möglichkeit der Erlösung abgesprochen wird, hemmt sich die Menschheit selbst in ihrem Zug gegen das Ideal, das durch leidgegründete Wirklichkeit uns entrissen scheint, aber nur durch lebensfreudige Benutzung der Wirklichkeit wieder gewonnen werden kann. Leib und Seele bilden in der Menschheit einen untrennbaren Begriffszwilling, welchen bequem in zwei getrennte Gegenständlichkeiten auseinanderzulegen dem naiven Denken junger Epochen allein einfallen konnte. Der Leib ist ein Beseeltes, sofern er wirklicher Leib ist. Die Seele ist ein leibhaftig Gebundenes, sofern sie lebendige Seele ist. Seele und Leib gehören als die beiden gleichberechtigten, gleich edlen Hälften der Menschlichkeit untrennbar zusammen, sich gegenseitig verjüngend, steigernd und beflügelnd zu höheren Erlebnisstufen. Das Wesen der seelischen Liebe kann also nicht ohne enge Verbindung mit den leiblichen Wirklichkeiten verstanden werden. Nur der erst erwachenden Menschlichkeit des Kindes, die im künstlich konservierten Stadium der Unreife bei beiden Geschlechtern bis in ein höheres Alter hineinreichen mag, erscheint der Leib als Resonanzgrundlage der Seele entbehrlich zu sein und ganz dem minderwertigen, nicht seinsollenden Bereich der sündigen Materie anzugehören. Mit der Reife vollzieht sich normalerweise in der Menschheit auch die Synthese aller organischen Funktionen zur Totalität, die um so reicher ist, je plastischer die einzelnen Funktionen voneinander verselbständigt sind. In der Wechselwirkung zwischen leiblichen und seelischen Komponenten des Erlebens liegt für die Welt des Eros das Geheimnis der Gesundheit und schönen Menschlichkeit auf allen Gebieten, mögen sie den Mediziner oder den Ethiker besonders zu interessieren haben.
Ein ähnlicher Widerspruch, wie ihn die verbundene Getrenntheit von Leib und Seele enthält, zeigt sich im Verhältnis der Liebe zur Zeit und Ewigkeit. Und wenn jener erste Gegensatz eine Reform der Einschätzung des Erotischen im engeren Sinne unvermeidbar machen dürfte, so entfaltet der letztere seine ethischen Kräfte, indem er die Ehe als den Versuch, die lebendige Natur des Lebens einzupanzern, einem zwingenden Bedenken unterwirft. Die Ewigkeitserlebnisse der Liebe gewinnen ihre Gewalt gerade dadurch, daß sie an den unwiederholbaren Augenblick eines Hier und Jetzt gebunden sind. Das Leben bedient sich seiner fliehenden Lebendigkeit im höchsten Steigerungsfall zum Erlebnis der an die Zeit gebundenen Zeitlosigkeit. Sicherlich ist diese Eigenart der Wirklichkeit völlig unlogisch und widerspruchsvoll. Nicht der Philosoph ist schuld an dieser Struktur der Sache selbst. Der Wille zur Rationalisierung des Irrationalen ist es, der dem Dilemma auf gute Weise entgehen möchte, indem er dessen Lebensenergien schwächt. Das geschieht entweder, indem die Leichtfertigkeit flüchtiger Liebelei als Lebenskunst empfohlen wird, oder indem der reiche Augenblick festgehalten werden soll durch soziale Satzungen, die an Stelle des Erlebens das Surrogat der Ehe an die erste Stelle der Lebenswerte setzen. Entweder soll die Zeit als solche oder die Ewigkeit als solche Alleinherrscherin auf den Gebieten des Eros sein: und beides läßt sich rational besser begründen als die unglaubliche Gegensatzverschlingung jenes Widerspruches der Wirklichkeit, der Weisen wie Toren gleich unfaßbar ist und dennoch allem tiefsten Erleben zugrunde liegt. Die Gewalt des Lebens bejaht nur, wer unter keinen Umständen die eine Seite der Liebe preiszugeben gewillt ist: wer dem Erleben des Augenblicks die Tiefe der Ewigkeit und dem Erhabenen im Zeitlosen den ewigjungen Erlebniswert erhalten will. Zwischen diesen unvereinbaren Tendenzen schwebt die Menschenseele hin und her, auch hier das Umfassen einer großen Empfindung durch die Gegensätze steigernd. Die Schönheit des flüchtigen Augenblicks zu vermählen mit der Erhabenheit kosmischer Weltentiefe ist das einzige Programm einer Lebenskunst, an der die Wertvollsten befriedigt werden, indem sie an ihr immer zu lernen haben. Zwischen der Oberflächlichkeit leeren Erscheinungswesens und der dem Herzen unfruchtbaren Versteinerung tiefbegründeter Kulturformen liegt in der Mitte die Region des eigentlichen Lebens mit seinen unfaßbaren Widersprüchen und unsagbaren Seligkeiten, die wohl ein und dasselbe sind, von Verstand und Gefühl nach zwei Seiten betrachtet.
Alles Verstehen tötet. Alles Lebendige ist unverständlich. Ueber die Welt des Eros philosophieren ist ein Widerspruch höherer Ordnung, der als solcher wieder seinen eigenen Erlebniswert besitzt. Mit dem Verstand sogar läßt sich einsehen, daß das Leben irrational ist. Daß die Sympathiekräfte des Gefühls, die von Menschen zu Menschen überströmen, eine andere Welt ausmachen als die Harmonien des kameradschaftlichen Verstehens. Daß Liebe des Herzens zwischen fremdesten Menschen, die einander nie verstehen können, so gut möglich ist wie Herzenstod zwischen den verwandtesten Ueberzeugungsfreunden und Kampfgenossen. Daß die Erlebnisse der Liebe und Nichtliebe, ja auch des Hasses, nur erlebt werden, ohne daß Außenstehende aus Merkmalen dieses Erleben begründen könnten. Und daß die scheinbare Begründung des Gefühlsverhältnisses zwischen Menschen durch objektive Merkmale und Eigenschaften in jedem Falle einen Irrtum darstellt, falls es sich in den betreffenden Menschenverhältnissen und Erlebnisgrößen um unmittelbare Sympathiephänomene handelt. Interessengemeinschaft, kameradschaftliche Freundschaft, objektives Wohlgefallen lassen sich durch Merkmale begründen. Liebe läßt sich nur erleben, nicht verstehen. Ihr Erlebnis greift auf dritte Personen nicht über. Sie bleibt verschlossen, vielleicht sogar unsichtbar verschlossen im Eigenerleben eines Menschen, ohne daß sie auch nur den geliebten Gegenpol mit einem Erlebnisschatten dessen erfüllen könnte, was urgewaltig in ihr strömt und mit Lust oder Leid begnadet.
Das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der Liebeskraft von einem Menschen zu einem andern läßt sich schlechterdings nur feststellen, nicht aber begründen. Es ließe sich wohl beweisen, daß eigentlich ein Mensch einen andern lieben müßte oder nicht sollte lieben können, und doch kümmern sich die Herzenskräfte nicht um solche Weisheiten. Es sind dynamisch irrationale Naturkräfte seelischer Eigenart. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich nun aber unmittelbar eine für das Leben tragische Folgerung: die Fremdheit der Menschen, die weder durch bewußten Willen noch durch belehrendes Wort überbrückt werden kann. Wohl gefällt sich die Menschheit darin (und ihre Dichter lieben diesen Fall seiner Heiligkeit wegen darzustellen), eine gegenseitige Liebesverbindung der Herzen als Normalphänomen der Liebe zu betrachten. Leider handelt es sich dabei meist um eine Täuschung, die auf der Beeinflußbarkeit des sichtbaren Lebensausdruckes durch den Willen beruht.
Ein Liebender findet in der Regel im geliebten Wesen ein Fremdes vor, das sein Erleben nicht empfindet, sondern den Versuch macht, auf Grund der geahnten fremden Liebe Autosuggestionen und willentliche Beeinflussung seiner Ausdrucksakte vorzunehmen, die der Liebe diejenige Erfüllung geben, welche von den idealen Gesinnungen der Menschheit ersehnt wird. Die Fremdheit der Seelen wird durch solche Güte oder solche Erlebnissehnsucht zwar verdeckt, aber nicht beseitigt. Fremdheit ist die letzte und unaufhebbarste Beziehung zwischen Menschenseelen, und es mag der Gesinnung idealen Wunsches zugute geschrieben werden, wenn diese Tragik im Verhältnis zu ihrer Schwere so wenig betont wird. Aus dieser Fremdheit gibt es wenig Wege, die das Erleben befriedigen. Der Naturmensch empfindet sie als gesetztes Fatum und sucht durch den Machtgedanken die Tragik zu besiegen. Gewalt und Eroberung ist sein Weg, mit dem Leben fertig zu werden. Wer die Tiefen des Daseins etwas reicher erlebt hat, sieht mit dem Christentum ein, daß der Weg der Gewalt die Tragik nicht beseitigt, den Schmerz des Lebens dagegen vergrößert. Für ihn gibt es einen andern Weg: den der Güte und der allgemeinen Menschenliebe, wo sie sich auf die Bedürfnisse des Herzens erstreckt. Auch durch Güte, welche wie eben gesagt in mancher gegenseitigen Liebe eine größere Rolle unbewußterweise spielt, als man zu erkennen pflegt, wird die Tragik der Fremdheit nicht beseitigt. Dieser Tragik wird aber ein Merkliches von ihrem Schmerz genommen, wenn der gütige Wille durch Menschlichkeit ein verlorenes Paradies zu zaubern unternimmt, das die Kräfte der Natur nicht zu schaffen vermögen.
Allzu pessimistisch scheint die These von der Fremdheit der Menschenseelen zu klingen, weil selten nur die tiefsten Bezirke der Liebe in Betracht gezogen werden. Für die Bedürfnisse durchschnittlicher Art dürfte die tiefste Liebe ohnedies entbehrlich sein. Es ist aber fast mathematisch klar, daß tiefe Liebe, die an sich schon ein Ausnahmsphänomen des Lebens darstellt, erst noch einer Ausnahme zweiter Potenz bedürfte, damit sie gerade zufällig mit dem Wesen sich verbunden fühlte, das in sich selbst durch eine prästabilierte Harmonie veranlaßt wäre, dem ersten gegenüber jene selben urgewaltigen Empfindungen zu erleben, die jenes beseeligen. Wird aber Urfremdheit zwischen den Menschen anerkannt, so bleibt nur die Wahl zwischen den beiden Wegen, sie dem Vergessen zu überantworten, obwohl sie nicht beseitigt werden kann. Der erste ist der Weg des barbarischen Egoismus, der im Beherrschen glücklich ist. Der andere ist der Weg der Güte und Menschlichkeit: in der fremden Seele das Wesen zu lieben, das wir beglücken können. Die Kluft zwischen den Menschen wird durch beide offen gelassen. Der Rohe überwindet die Tragik, indem er sie auf die Schultern des Nächsten bürdet. Der Edle überwindet sie für den Nächsten, indem er ihre Last auf sich nimmt. Jeder Lebende ist König und Bettler zugleich, und dies zumeist in den Regungen des Herzens. Sofern er schenken kann, verschließe er nicht seine Hand, damit auch ihm gegeben werde, wo er bittet. Vor einigen Jahrtausenden spielte diese Denkweise in der Sozialethik des bedeutendsten Menschen die ausschlaggebende Rolle. Es wäre nötig, sie auf die Bezirke des tiefsten Hungers zu erweitern, die im Herzen ihren Sitz haben. Ihre Seltsamkeit erscheint dann wohl noch um einen Grad gesteigert. Aber ihr ganzer Sinn und Gehalt wird auch erst dann vollendet.
Die Fremdheit und Unvereinbarkeit menschlicher Eigenarten tritt wohl am deutlichsten in jenem Falle in Erscheinung, der auf dem Gebiet der Liebe von grundlegender Bedeutung ist: im charakterologischen Gegensatz der Geschlechter. Abstrahieren wir von allen psychophysisch begründeten Unterschieden der Temperamente, so bleibt in jeder Psyche eine rein geistige Richtung des Fühlens, Wollens und Urteilens zurück, die wir, zum Unterschied vom psychophysischen Temperament, als Charakter bezeichnen möchten und in welcher die Widersprüchlichkeit der Weltstruktur wieder besonders klar in Erscheinung tritt. Denn jeder Mensch ist das Produkt einer Gegensatzverbindung, und dies sowohl leiblich als geistig. Im Entstehen des Lebens wird eine Verbindung des logisch Unvereinbaren zu neuer Lebenskraft angelegt, und die Polarität der Gegensätze und Widersprüche der beiden Geschlechtskomponenten baut sowohl die Energien des Leibes als diejenigen der Seele auf. In jeder Zeugung wird ein materiell-weiblicher Halbkeim durch energetisch-männliche Energien erfüllt und so zur Lebensfähigkeit ergänzt. Dieses Schema der Verbindung lebensunfähiger Einzelpole zu lebendigen Einheiten dürfte sogar für die Urzeugung des Lebens aus dem Kosmos zutreffen, bei welcher himmlische Kraft und irdische Materie durch Zeugung zu Leben verbunden wurden, so daß in allem Lebendigen die Urpole materieller wie geistiger Art gegensätzlich und unvereinbar getrennt und doch wieder verbunden sind zu jenem Unfaßbaren, das als »Lebenskraft« wenigstens ins Bild eines Wortes gebannt erscheint. Jedes individuelle Wesen erlangt bei seinem Entstehen energetische Tendenzen durch den väterlichen Pol, materielle Grundlagen und Formveranlagungen durch den mütterlichen. Zwei unvereinbare Welten in ihrem Widerspruch ergeben eine Wirklichkeit, die man Leben nennt.
Diese Geschlechtspolarität ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Weltpolarität, die in ihrer Wichtigkeit für das Begreifen der Wirklichkeitsstruktur nicht überschätzt werden kann. Der Geschlechtsgegensatz liegt aber nicht bloß auf dem Gebiet des Körpers, sondern auch auf dem des Charakters. Und hier tritt er wohl in den feinsten Formen auf, deren Verständnis noch der Aufhellung bedarf. Es müßte zunächst einmal klar und deutlich eingesehen werden, daß beide Geschlechtspole gleich selbständig sind und daß nicht etwa der eine eine quantitative Modifikation des andern darstellt. Polaritäten sind etwas anderes als Gradunterschiede. Der Richtungsgegensatz Rechts–Links erläutert den Unterschied gegen die quantitative Sphäre anschaulichst. Und es ist mit ein Hauptfehler auch der modernen Naturwissenschaft, daß sie dem Bestehen von Polargegensätzen neben bloß quantitativen Differenzen fast noch keine Rolle zuerkennt. Der Geschlechtsgegensatz ist polar-konträr, nicht quantitativ-graduell zu verstehen. Die populären Auffassungen, nach welchen also zum Beispiel das Weib als das »schwächere« oder als das »minderwertige« oder als das »untergeordnete« Geschlecht gleichsam durch graduellen Unterschied aus dem männlichen abgeleitet gedacht wird, kennzeichnen sich für den philosophisch Denkenden von vornherein als fundamentale Irrtümer. Sie übersehen gerade das Wesentliche am Naturbau, das allerdings auch etwas schwerer zu denken ist als ein Gradunterschied: daß alles in widersprüchlich unvereinbaren Richtungsgegensätzen geordnet ist, deren einer aus dem andern nicht abgeleitet werden kann. Jeder plumpe »Monismus« erleidet schon hier offenbaren Schiffbruch: die Welt ist eben gerade nicht nach gemütlichen Syllogismen, Gegenständlichkeiten und zahlenmäßig klaren Kausalzusammenhängen konstruiert, sondern durch Gegensätze und Widersprüche unvereinbarer Art, in denen das Wesen der Kraft liegt, die sich in tausend irrationalen Formen in ihren Spannungen steigert oder durchkreuzt. Männliche und weibliche Psyche sind ebensowenig wie die entgegengesetzten Raumrichtungen durch graduelles Verfahren auseinander abzuleiten und aufeinander zurückzuführen. Sie haben gleiche Ursprünglichkeit, und in der Unvereinbarkeit ihrer Tendenzen sind alle psychischen Lebenskräfte begründet als Spannungen zwischen zwei Polen, deren keiner für sich existiert, sondern nur vermöge des kraftgebundenen Gegensatzes gegen seinen Widerpart.
Der Charaktergegensatz der Geschlechter ist ebenso wie ihr leiblicher von Natur aus angelegt und kann durch Erziehung und kulturelle Einflüsse überhaupt nur verstärkt worden sein. Diese Vertiefung der Kluft zwischen der Eigenart der Geschlechter ist zweifellos ein Fortschritt für die Erlebnisbereicherung, die daraus erwächst. Es ist ein klägliches Mißverständnis des Lebens, wenn man glaubt, Gegensätze der Natur seien dazu berufen, von der Kultur nivelliert zu werden. Nicht in der schwächlichen Verwischtheit der Lebenspole beruht die Kraft und Tiefe des Lebens, sondern in der immer plastischeren Ausprägung naturgeschaffener Kontraste. Den Wesensunterschied der Geschlechter wird man nur auf Kosten des Erlebnisreichtums nivellieren können. Nicht darauf aber kommt es an, sondern auf die Anerkennung der Gleichberechtigung des männlichen und des weiblichen Wesenspoles, damit in der gleichschwebenden Spannung zwischen diesen Grundfesten der sozialen Wirklichkeit ein kühner Kraftstrom der Liebe und der Toleranz einen erhabenen Abgrund erlebnisschaffend überbrücken kann. Jämmerlich erscheint das Bestreben gewisser Weiblichkeiten, in den Sphären aktiver Mannestätigkeit den Egoismus zu befriedigen, der zu hochmütig fühlt, um in der schenkenden Begnadung das Glück zu erstreben, und der zu feige ist, um das Frauenrecht der Liebe den materiellen Kämpfen überzuordnen. Die Frauenfrage gehört zu den brennendsten der Gegenwart. Ihre Lösung ist aber nur denkbar, wenn sich die Frau nicht darüber täuscht, daß ihre tiefste Berufung nicht dem Erwerbsleben und der Politik, sondern der Erleuchtung des Daseins durch Liebe angehört. Auf dem Gebiet der Moral und Sitte liegen die Lösungen der Frauenfrage ganz ausschließlich, und es ist nur feiges Ausweichen in die Tangente, wenn die gefesselten Energien in wirtschaftlichen Kämpfen letzte Befriedigung scheinen suchen zu wollen.
Es wäre nun allerdings wieder verkehrt, wollte man »die Männer« und »die Frauen« einer durchgehend einheitlichen Geschlechtscharakterisierung unterwerfen. Die einfachste Beobachtung lehrt, daß die einzelnen Menschen seelisch ungeheuer verschieden sind, und zwar auch in Bezug auf Männlichkeit und Weiblichkeit in der Zusammensetzung ihres Wesens. Das Wirrsal der realen Charaktere läßt sich am besten dadurch aufhellen, daß man die Seele wie den Leib jedes Menschen als Spaltung zwischen sexuellen Grenzwirklichkeiten M (männlich) und W (weiblich) Bezeichnung nach Weininger. betrachtet, die sich im konkreten Menschen in allen möglichen Mischungsverhältnissen und Stärkebetonungen kombiniert finden. Wie nach Goethes Farbenlehre die Farbe eine optische Verbindung heller und dunkler Grenzpole in verschiedenen Verhältnissen darstellt, so dürfte ein Charakter wirklichkeitsgetreu aufzufassen sein als die psychische Verbindung des männlichen und weiblichen Extrempoles in verschiedensten Abstufungen. Der Charakter ist jeweils gleich einer bestimmten chemischen Verbindung, die mit andern Verbindungen naturnotwendige Reaktionen erzeugt und in ihrer Eigenart unvertauschbar ist. Die Struktur dieser psychischen Verbindungen beruht auf dem Polargegensatz eines absolut männlichen und eines absolut weiblichen Grenzpoles, welche beide in der Wirklichkeit niemals verkörpert werden, da Lebensfähigkeit gebunden ist an die Lebenskraft, die zwischen den Extremen fließt und sie nur als abstrakte Grenzpfähle benutzt, die dem Spannungsphänomen seinen Halt geben. Schon die innere Erfahrung lehrt den Menschen, daß sein Wesen von unvereinbaren Gegensätzen durchzogen ist, die um so stärker empfunden werden, je gewaltiger das Leben zum Bewußtsein gelangt. Die beiden Seelen in der Brust Fausts leben schließlich in jedem Menschen, wenn auch nicht in jedem mit der gleichen schmerzbetonten Deutlichkeit problematischer Naturanlage. Der Gegensatz als solcher gehört aber zum Wesen des Bewußtseins selbst, und schon innerhalb des Einzelmenschen spielt sich zwischen Willen und Gegenwillen derselbe Kampf ab, den die äußere Wirklichkeit in Alltagsleben und Weltgeschichte in vergrößerten Formen tausendfältig wiederholt.
Die Spaltung der Weltseele in kämpfend Unvereinbares setzt sich bis in die Tiefen der scheinbar einheitlichen Menschenseele fort. Ein männlich aktiver und ein weiblich passiver Pol verbinden sich in gegenseitiger Herausforderung zu den verschiedensten Spannungen. Jeder wirkliche Charakter ist durch das Mischungsverhältnis der beiden Pole und durch die Vertiefung ihrer Eigenart in sich selbst erschöpfend gekennzeichnet, und es ist eine reizvolle Aufgabe der Lebensbeobachtung, sich in die Struktur der Charaktere analysierend einzufühlen, um ihr Wesen objektiv zu erfassen. Dabei ist nicht außer acht zu lassen, daß alles Leben in der Zeit sich wandelt und umlagert. Zwischen Geburt und Tod eines Menschen vollziehen sich sehr große Aenderungen in jedem Charakter, bezüglich deren nur ein letztes Element unwandelbar feststeht und auf die kosmische Eigenart der betreffenden unsterblichen Wesenheit hindeutet, die vom Wandel einer Einzelexistenz so gut wie unberührt erscheint. In diesem zeitlichen Wandel des Charakters liegen auch die wechselnden erotischen Einstellungen begründet, die den verschiedenen Lebensepochen eines Menschen das besondere Urteil nahelegen, das zu verschiedenen Zeiten sich diametral widersprechen kann. Eine allgemeine Linie der Entwicklung läßt sich, bei aller Verschiedenheit im einzelnen, wohl auch hier feststellen. Am Anfang des Lebens ist jeder Mensch Teil des weiblichen Organismus, und aus dem Zustand der Weiblichkeit an Leib und Seele entwickelt sich das Kind erst langsam zu seiner eigenen geschlechtlichen Natur. Gegen das Greisenalter läßt sich die entgegengesetzte Wandlung beobachten: die Vermännlichung des Organismus vor der Schwelle des Grabes dürfte das erfahrungsgemäß zu belegende Widerspiel der Entwicklung aus weiblichen Anfängen darstellen. Zwischen dem negativ-weiblich-materiellen Pol des Anfangs und dem positiv-männlich-geistigen Pol des Endes verlaufen die Lebensreihen in ähnlicher individueller Verschiedenheit, wie wir sie bei den Charakteren selbst in bestimmten Augenblicken der Zeit sehen. Allgemeine Regeln lassen sich schwerlich erkennen, wenn auch manche charakteristisch wiederkehrenden Entwicklungsverläufe im folgenden Abschnitt noch zu besprechen sein werden, da sie für das Verständnis menschlicher Erotik wesentlich sein dürften.
In der Regel beherrscht der Abstraktionspol M den Charakter erwachsener Männer, der Abstraktionspol W den Charakter erwachsener Frauen. Insofern hat das männliche wie das weibliche Geschlecht als solches seine normalen Grundeigenschaften, die als allgemeine Regel den individuellen Abweichungen zugrundeliegen. Indessen sind doch gerade die Abweichungen in den Einzelfällen sehr beträchtlicher Art, so daß nur wiederholt davor gewarnt sei, »die Männer« und »die Frauen« unter ein starres Charakterschema zwängen zu wollen. Es scheint geradezu eine wesentliche Absicht der Natur zu sein, die Individuen in denkbar größter Mannigfaltigkeit zu variieren und eben dadurch den Reichtum des Lebens zu steigern. Die Besprechung einiger Charaktertypen wird uns bald in diese Verschiedenheit Einblick geben. Vorläufig sei nur die ausdrückliche Bemerkung gestattet, daß bei weiblichen Wesen auch der Pol M, bei männlichen auch der Pol W durchaus führend sein kann, wenngleich es sich dabei schon um wenig harmonische Erscheinungen handelt, die durch ihre Ausnahmsnatur die Schönheit der Regel bestätigen helfen. Die innige Verbindung geistiger Charaktertendenzen mit den Temperamenten der leiblichen Organisation schafft für die Gesamtnatur des Menschen eine weitere, schwer durch Normen erfaßbare Komplikation. Und schließlich ergeben sich schon aus der verschiedenen Leibesgestaltung, der verschiedenen Feinheit der leiblichen Materie und den verschiedenen Funktionen der Geschlechter im Hinblick auf die Höherentwicklung der Menschheit eine große Anzahl von Gesichtspunkten, welche die folgenden Aussagen über das speziell Charakterologische ergänzen müssen. Doch scheint der rein geistige Tendenzgegensatz in den Richtungen des Wollens und Urteilens wichtiger für das Verständnis der Eigenart der Geschlechter als die übrigen Momente. Aus diesem Grunde wird versucht, gerade diesen Charaktergegensatz in der Psyche der Geschlechter besonders deutlich werden zu lassen, wenn auch die letzten Feinheiten auf der Universalität aller Lebensfunktionen beruhen und rational kaum erfaßbar sein dürften.
Die Charakterextreme M und W haben jeweils ihre eigenen Grundeigenschaften und Tendenzen, ihre eigenen Ideale, ihre eigenen Tugenden und Laster, ihre eigene Lebenseinstellung, ihre eigene Auffassung von Moral und Sitte. Die Berechtigung der diametral entgegengesetzten Gesichtspunkte läßt sich weder beweisen noch widerlegen, da jeder auf seinem eigenen Axiom fußt, welches ihm als Voraussetzung letzter Rechtfertigung erscheint und erscheinen muß. Gesichtspunkte in der Lebensbeurteilung, die allen Charakteren gleichmäßig einleuchten müßten, gibt es nicht. Aktivität und Passivität sind die beiden gleich notwendigen, aber unvereinbaren Grundfesten des ethischen Dilemmas. Aus dem Wesen der Aktivität ergeben sich die Wesensmerkmale des Poles M, aus dem der Passivität diejenigen des Poles W. Wenn wir im folgenden beide zu kennzeichnen versuchen, wolle man nicht das Mißverständnis hineintragen, als ob wir »die Männer« oder »die Frauen« in affektischer Weise loben oder tadeln. Wir geben eine objektive Wesensanalyse beider Pole in ihren positiven und negativen Eigenschaften, weisen jedem seine Tugenden und Laster parteilos begründend zu und betonen nachdrücklichst, daß jeder wirkliche Charakter, sei es der eines Mannes oder einer Frau, nur als Spannung zwischen den so gekennzeichneten Extremen verstanden werden kann, also in irgendeiner Weise beide in sich enthält.
Aus dem Wesen der Aktivität ergeben sich für den Pol M als Grundeigenschaften die Macht des Willens, ein dem Willen verwandtes starkes Gedächtnis, das im Festhalten des Vergangenen und in der Vorschau für die Zukunft die Flüchtigkeit der Gegenwart und des Augenblicks überwindet, damit verbunden ein besonderes Bewußtsein geistiger Kraft und Würde, die sich im furchtlosen Ehrgefühl und Wissen von der Heiligkeit des Wortes fortsetzt, was besonders darin sich äußert, daß die Verpflichtung, Worte und Versprechen durchaus zu halten, als solche empfunden wird. Persönlicher Mut, Tapferkeit, Unerschrockenheit, auch eine natürliche Tendenz, körperliche Kraft zu schätzen und zu entwickeln, dürften aus den genannten geistigen Grundeigenschaften folgerichtig ableitbar sein. Aus dem Wesen der Passivität ergeben sich für den Pol W entgegengesetzte Grundeigenschaften: die Feinheit des Gefühls, das Hingegebensein an die machtvollen Eindrücke des Augenblicks, viel Beeinflußbarkeit, eine rege Phantasie, hohe Entwicklung des Zartgefühls, das im Willen zur Schamhaftigkeit und Keuschheit besonders in Erscheinung tritt. Der Wunsch nach möglichster Kultivierung körperlicher Anmut und Schönheit, sowie eine Vorliebe für alles Taktvolle und Feindifferenzierte ergeben sich als fernere Folgen aus den geistigen Grundeigenschaften. Jeder Pol hat die Vorzüge seiner selbst, und die Vorzüge des Gegenpoles treten in ihm als Mängel auf. So mangelt dem Pole M der ganze Bezirk passiver Tugenden, und er erscheint an ihnen gemessen als der minderwertige: nämlich der Rohe, Plumpe, Brutale. Dem Pole W mangeln die Vorzüge der Aktivität in gleicher Weise. Er erscheint an ihnen gemessen als ebenso minderwertig: nämlich als unehrlich, feig, flatterhaft. Mögen sich die Geschlechter in ihrem Haß ihre Mängel gegenseitig vorwerfen: sie sind beide im Recht. Mögen sie aber in ihrer Liebe auch ihre gegenseitigen Vorzüge erkennen und empfinden: so werden sie nicht weniger im Rechte sein.
Verständnislos und fremd stehen die geschlechtlichen Extrempole den Tugenden und Lastern des Gegenpoles gegenüber. Jeder von ihnen hat seine eigene Moral, von welcher aus die Moral der Gegenseite als die falsche erscheint. Der aktive Pol M kennt ein Kardinallaster der Schwäche und Unehrlichkeit, eine Kardinaltugend der starken Ehre und Zuverlässigkeit. Es ist seinem Erleben ewig unbegreiflich, daß Scham, Keuschheit und Prüderie nicht bloß keine Laster, sondern sogar Tugenden sein sollen. Verkappte Feigheit und Unehrlichkeit scheint hinter diesen »Tugenden« zu lauern. Der passive Pol W dagegen kennt ein Kardinallaster der Schamlosigkeit und Unzartheit, eine Kardinaltugend der feinen Klugheit und Anpassungsfähigkeit an den Augenblick. Seinem Fühlen bleibt ewig unbegreiflich, daß unbedingte Wahrheitsliebe, Offenheit und sachliche Objektivität der Urgrund der Tugend sein könnte. Scheint doch vielmehr nur das Laster der Grobheit dahinter zu stehen. So bleiben sich die Charakterextreme in ihren fundamentalen sittlichen Wertungen absolut fremd, so fremd wie subjektive Impulsivität und objektive Vernunft. Aus dieser Fremdheit folgt für enge Geister unmittelbar jene Feindschaft, die aus dem Leben den Kampf der Geschlechter macht. Menschen von höherem Erleben sehen dagegen ein, daß die Kluft des Gegensatzes vorhanden ist, damit Liebe und Duldsamkeit die Brücke eines neuen Erlebens über sie schlagen. Schwer ist es, diesen hohen Standpunkt einzunehmen, setzt er doch nicht bloß voraus, daß man dem andern zumute, uns selbst gütig zu verstehen, sondern mehr noch die Forderung an uns selbst, die gleiche Güte, die in der Anerkennung des Unverständlichen erfordert wird, dem Nächsten zu erweisen. Die Erziehung erwachsener Menschen in Bezug auf solches seelische Verhalten könnte viel Einsamkeit unter den Menschen beseitigen. Sie ist unerläßlich, da die Triebe der Natur hier nur die Schranke zwischen Menschen errichten. Es gibt eine Formel, nach welcher sich die Beziehungen zwischen gegensätzlich gearteten Menschen erfreulich gestalten lassen: Willst du, daß ich deine Tugenden als Tugenden anerkenne, so wolle mir selbst die gleiche Gerechtigkeit erweisen. Meine Laster magst du dulden, wie ich die deinen dulde, ohne daß wir uns einzureden brauchen, es seien Tugenden. Denn in allem Lebendigen muß Positives und Negatives gleichzeitig vorhanden sein, und keine Tugend ist möglich ohne das Laster, das sie selbst von der Kehrseite zeigt.
Ehrlichkeit und Kraft auf der einen, Schamhaftigkeit und List auf der andern Seite der charakterologischen Reihe setzen die unvereinbaren Meinungsverschiedenheiten in den Auffassungen der Geschlechter von Gut und Böse. Dem männlichen Manne ist die Lüge der Inbegriff alles Schändlichen, die ehrliche Anerkennung der naturgeschaffenen Geschlechtlichkeit selbstverständlich. Das weibliche Weib haßt mit tiefstem Ingrimm die ihrem Schamgefühl unverständliche Geschlechtlichkeit als höchstes Laster, sieht dagegen in der Lüge nichts weiter als einen kleinen Lebenskunstgriff, welchen zu hassen oder auch nur von Wahrheit wesentlich unterscheiden zu können ihm unmöglich ist. Dem männlichen Manne normal ist der Haß gegen Feigheit, List und Lüge, und eine unbefangene Anerkennung des Geschlechtlichen im Leben und im wollenden Denken. Das weibliche Weib ist normalerweise indifferent gegen den Unterschied von Ehrlichkeit und Unehrlichkeit. Klugheit, List, Lüge und eine feige Akkomodation an das, »was die Leute sagen«, geben ihm die wesentlichen Richtlinien. Es haßt aus Urtiefen seines Gefühls die Geschlechtlichkeit als das Nichtseinsollende, welches nur leider zugelassen sein muß zum Zwecke der Fortpflanzung und auf Grund der allerstriktesten Verbindlichkeiten des Mannes, für Weib und Nachkommenschaft dauernde materielle Sicherheit zu gewährleisten. Es dürfte ein kleines Mißverständnis auch mancher Mediziner sein, wenn sie das geschlechtskalte Weib unter die Anomalien der Schöpfung einordnen. Diese Veranlagung ist dem weiblichen Pole als solchem eigentümlich, und erst seine Kombination mit den aktiven Eigenschaften des Gegensatzes ergibt die wirkliche Welt, in welcher die Stellung der Geschlechter zum Sexualleben nicht notwendig grundverschieden ist, obwohl die Einzelfälle, welche den Gegensatz deutlich werden lassen, sehr zahlreich sein dürften.
Das weibliche Schamgefühl gehört wie das männliche Ehrgefühl nicht zu den angelernten Affektiertheiten der Kultur, sondern entspricht der weiblichen Natur, die sich in ihrer harmonischen Gestalt der Scham und Keuschheit wie eines Schmuckes bedient, welchen zu vermissen nach dem Zeugnis von Menschenkennern auch dem Manne nicht angenehm sein kann. Diesem wieder gereicht eine objektive Einstellung zur Welt zur Zierde. Unabhängig von den Eindrücken der Gegenwart beherrscht er durch starkes Gedächtnis weitere Zusammenhänge, als die unmittelbare Sprache von Sinn und Gefühl lehrt. Er ist dem Augenblick nicht hingegeben wie das völlig subjektiv und nur ichbezüglich urteilende Weib, sondern steht einen Schritt höher über den Gegenwartsimpressionen der Zeit. Der Mann ist von Natur objektiv, verständig, vernünftig, das Weib dagegen feinsinnig, intuitiv, voll taktgemäßer Empfindung für das vorüberströmende Jetzt. Objektivität ist keine Eigenschaft des weiblichen Weibes. Sein Bereich ist die Oberfläche des Daseins. Es ist zu den Tugenden der Anmut und Schönheit berufen, die sich an der Materie seiner Formen verwirklichen sollen, gleichsam als Symbole vollendeten Lebens, dessen nächtige Tiefen ganz ins Licht des Tages getreten sind. Die Oberfläche verachten ziemt nur Menschen, die selbst nicht zur Weite und Tiefe des vollmenschlichen Erlebens durchgedrungen sind. Der tiefe Geist liebt die Oberfläche, weil sich in ihr das Ziel des Lebens ausdrückt, als einer Sehnsuchtsströmung aus der Nacht zum Lichte der Erscheinungswelt. »Le devoir de la femme c'est de plaire« sagen die oberflächlichen Franzosen, und manche Frau, die dieser Anforderung fremd gegenübersteht, glaubt sich durch diese Auffassung des Weiblichen mißverstanden oder degradiert. Es dürfte aber wahrscheinlich sein, daß der Ausspruch eine Wesenstendenz der weiblichen Natur zum Ausdruck bringt: Energien schöpferischer Art, die in der männlichen Aktivität wurzeln, durch Begeisterung zu beflügeln. »Das Ewigweibliche zieht uns hinan« – dieses Goethesche Wort drückt in germanischer Empfindungsweise dieselbe Wesenswahrheit aus, daß Formenharmonie des Leibes oder der Seele die Tugenden sind, durch welche das Weibliche seine Berufung in der Menschheit erfüllt.
Entsprechend dieser Tendenz des Weiblichen zur Oberflächenhaftigkeit gestaltet sich auch sein Liebeserleben und seine Auffassung von Treue anders als die entsprechenden psychischen Wirklichkeiten des Mannes. Das Erleben des weiblichen Weibes von Liebe ist durchaus oberflächlich, wobei zu beachten bleibt, daß diese Charakterisierung den weiblichen Pol, aber nicht »die Frauen« betrifft. Nietzsche dürfte den Wesensunterschied männlichen und weiblichen Erlebens wesensrichtig erfaßt haben durch seinen Ausspruch: »Oberfläche ist des Weibes Gemüt, eine bewegliche stürmische Haut auf einem seichten Gewässer. Des Mannes Gemüt aber ist tief, sein Strom rauscht in unterirdischen Höhlen: das Weib ahnt seine Kraft, aber begreift sie nicht.« Auch das Wort »Treue« bezeichnet in der Idealempfindung beider Geschlechter etwas anderes, entsprechend dieser verschiedenen Art des Erlebens, und entsprechend der verschiedenen physischen Funktionen und Berufungen der Geschlechter. Dem Manne ist Treue das Synonymon für wurzelhaftes Erleben selbst, das als solches festgehalten wird durch die Macht der unbewußten Willenskräfte und so der Zeit und ihrem Wandel überlegen ist. Die Treue des Mannes ist eine Energie, die in jedem Punkt der Zeit neuschöpferisch einsetzt und auf ewige Verjüngung des Erlebnisses zielt. Des Weibes Treue dagegen ist Beharrungsvermögen: keine energievolle, sondern eine materielle Eigenschaft. Im Zustande angenommenen Sozialgefüges und der damit verbundenen physischen Beziehung soll Gleichförmigkeit herrschen, die durch keine Eingriffe von außen gestört werden soll, und die letzten Endes teleologisch begründet ist durch die Verpflichtung des Weibes, den Nachkommen ein Leben maximaler Entfaltungsmöglichkeit zu gewährleisten. Das Beharrungsvermögen des Weibes bedarf nicht wie die Erlebnisenergie des Mannes einer fortwährenden Neugeburt aus sich selbst. Sondern sie besteht mühelos, selbstverständlich und mit größter Zuverlässigkeit als Wesenseigenschaft der materiellen Lebenskomponente. Die Treue des Mannes erscheint demgegenüber wertvoller und verdienstlicher, weil auf eigene Schöpfung gegründet, aber auch problematischer und weniger vertrauenswürdig als das Beharrungsvermögen, dem die Macht der Trägheit von selbst Dauer unbegrenzter Art verleiht. Es ergibt sich daraus die Erfahrungswahrheit, daß die männliche Treue mit der weiblichen Auffassung dieses selben Ideals sehr oft in Konflikte gerät, die darauf beruhen, daß für das Weib Treue soviel wie materielles Verhalten, für den Mann soviel wie wurzelhafte Erlebnisspannung über die Zeit hinweg bedeutet. Das materiell treulose Weib entspricht ebensowenig dem weiblichen Extrempol der Natur wie der mit trägem Beharrungsvermögen ausgestattete Mann dem männlichen Extrempol. Die wirklichen Charaktere sind, wie immer wieder betont werden muß, Durchdringungen beider Kontraste, und eine triviale Uebertragung obiger wohlbegründeten Aussagen auf »die Männer« und »die Frauen« wäre infolgedessen oft unzutreffend.
Es dürfte grundlegend für jede wesensanalytische Einsicht in das Geschlechterproblem sein, daß man den Mann als energetische, das Weib als materielle Komponente des Lebens einsehe. Kraft und Schönheit sind die höchsten Tugenden dieser Urgegensätze. In der Verbindung dieser durch Zeugung entsteht neues Leben, wobei dem Kinde die energetischen Tendenzen vom Vater, die materiellen Leibesgrundlagen von der Mutter normalerweise vererbt werden. Dieses Grundgesetz der Vererbung bestand wohl auch in der Periode der Urzeugung des Lebens überhaupt auf der Erde. Organisches Leben entstand jedenfalls nicht aus einer zufälligen und unerklärlichen Umbildung anorganischer Moleküle, sondern aus einem Zeugungsvorgang, welcher Gesamtangelegenheit des ganzen Kosmos gewesen sein dürfte, welcher nach neuen, modernen Erwägungen wahrscheinlich aus den Gegensatzgrößen »Himmel« und »Erde« dennoch besteht. Aus einer Verbindung der materiellen Mutter mit den Energien des Vaters ließe sich allein sinnvoll eine Entstehung des Lebens begreifen. Und nach demselben Schema führt die geschlechtliche Zeugung der Mikroorganismen das Werk des Makrokosmos fort. Jener Urgegensatz von Materie und Energie tritt auch als Gegensatz des Unbewußtseins und Bewußtseins in Erscheinung. Der Mann ist wesentlich Träger des bewußten Geistes, der Vernunftenergie, der Verstandesklarheit. Seine Tugenden, die ihn begehrenswert für das andere Geschlecht machen, bestehen denn auch in der möglichsten Steigerung dieser Kräfte. Anders wird die weibliche Natur gewertet. An ihr schätzt das andere Geschlecht die unbewußt schlummernden Harmonien als liebenswert, die in einer gefühlten Irrationalität einen Reichtum tragen, der aus wachem Verstande schwerlich zusammenaddiert werden könnte. Seele und Gemüt bilden den Adel des Weibes. Vernunft und Willensklarheit geben dem Manne seinen spezifischen Wert, wobei die Durchdringung beider Pole in aller Wirklichkeit wieder ausdrücklich zu bemerken bleibt. Damit die Wirklichkeit nicht falsch geschildert sei, muß hervorgehoben werden, daß der charakterologische Polgegensatz in jedem Menschen durch einen ethischen Polgegensatz zur Vierheit durchkreuzt erscheint. Nicht alle stark männlichen oder stark weiblichen Naturen brauchen notwendig an den Mängeln ihres herrschenden Poles zu leiden und ihnen unterworfen zu sein. Die ethische Freiheit des Willens ermöglicht es dem extremen Manne, ehrlich und tapfer zu sein, ohne Brutalität und Roheit damit zu verbinden. Und aus dem gleichen Grunde wird ein sehr weibliches Weib durch Zartgefühl und edle Scham ausgezeichnet sein können, ohne daß es Unehrlichkeit und Feigheit in sich besonders braucht hervortreten zu lassen. Ethisch wertvolle Charaktere betonen durch ihre sittliche Freiheit die positiven Merkmale ihrer Geschlechtspole und lassen die negativen nach Möglichkeit verkümmern. Doch ist nicht zu übersehen, daß eine merkliche Ueberlegenheit des freien ethischen Willens über die naturgegebene Polarität der psychischen Eigenschaften unter die verdienstvollen Ausnahmen des Unbewußten gehört, während in der Regel doch jede Tugend mit dem ihr zugehörigen Laster behaftet sein dürfte: Tapferkeit mit Grobheit, Feingefühl mit Feigheit. Daß dies jedoch nicht die ausnahmslose Regel ist, muß im Interesse der Genauigkeit ausdrücklich hervorgehoben werden.
In der großen Mannigfaltigkeit, nach welcher sich die beiden charakterologischen Extrempole im Leben verbinden, lassen sich gewisse Spezialtypen als Merksteine herausheben, zwischen denen alle übrigen Charaktere lokalisiert werden können. Zählen wir einige dieser Typen schildernd auf. Da ist zunächst der Normaltypus des Durchschnittsmenschen, sei es Mann oder Weib. In ihm herrscht der Pol des eigenen Geschlechts merklich als führender vor, während der Gegenpol nur als sekundäre Beigabe eine Rolle spielt. Die Ausprägung auch des führenden Poles überschreitet eine mittelmäßige Energie nicht, bewegt sich auf dem braven und nützlichen Niveau einer brauchbaren Mittelmäßigkeit. Was Schopenhauer »Fabrikware der Natur« nennt, ist durch diese Charakterstruktur wesentlich gekennzeichnet, Sie ist kulturell durchaus wertvoll als Massenträger der Menschheitsentwicklung und in den meisten Lebenslagen ihrem Träger ebenso vorteilhaft wie angenehm. Einen andern Typus finden wir im extremen Mann, der den Abstraktionspol M fast in Reinkultur zeigt. Alles Weiblich-Passive ist völlig nebensächlich und kaum erkennbar vorhanden. Die männlich-aktiven Tendenzen erheben sich aber über den Grad einer bloß durchschnittlichen Betonung merklich: die männlichen Energien treten mit Urgewalt ins kämpfende Dasein. Dieser Charaktertypus ist zum kulturellen Führer auf Gebieten der Politik, des Sozialwesens, der praktischen Wirtschaft prädestiniert. Er reißt durch seine Gewalt die Massen durchschnittlicher Männlichkeit in seinen zwingenden Bann und ist kulturgeschichtlich infolgedessen hochbedeutsam. Ihm entspricht konträr der Typus des weiblich-extremen Weibes, das den Pol W fast in Reinkultur darstellt. Männlich-aktive Eigenschaften fehlen fast vollständig, dagegen ist die Weiblichkeit mit allen Kräften menschlichen Temperaments begabt und stärkstens ausgeprägt. Auch dieser Charakter ist zum kulturellen Führer bestellt, nur nicht auf den Mannesgebieten. Als Schöpfer und Führer in Sitte, Moral, Religionsströmungen in Anlehnung an männlich Geschaffenes hat dieser Charakter ebenfalls eine hervorragende Bedeutung in der menschlichen Kultur. Die spezifisch weibliche Moral des Abendlandes, der Sieg der passiven Genialität des Christentums sind dem maßgebenden Einfluß weiblicher Führung zuzuschreiben, die alles gleichgestimmt Schwächere ihrer Macht unterstellt. Als gesellschaftliches Zentrum, als wenig beachtete Triebkraft wichtiger Entscheidungen spielt das extrem-weibliche Weib eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Ein weiterer besonders wichtiger charakterologischer Spezialfall ist der des spezifischen Genies, in welchem ein extremer Mann und ein extremes Weib vereinigt scheinen. Dieser wertvollste aller Charaktere, der seinem Träger jedoch weder nützlich noch erfreulich, sondern leidschaffend ist, umspannt mit seinem Erleben die beiden Hälften der Welt gleichermaßen, und jede einzelne Hälfte so stark, als ob sie allein vorhanden wäre. Diese aus Aktivität und Passivität in höchsten Steigerungen bestehenden problematischen Naturen sind es fast ausschließlich, die vermöge ihrer Passivität die Empfängnis der Welt reich und tief erleben, um sie nach organischem Wachstum in der aktiven Gestaltung männlicher Schöpferkraft bewußten Willens zu Kulturwerken zu reobjektivieren. Ohne diesen Doppelstrom von Aktivität und Passivität besteht kein wirklicher Künstler, Denker, Erfinder oder Religionsschöpfer. Das Höchste in der Menschheit ist bei seinem Entstehen gebunden an die universale Weite des Erlebnishorizontes, für welchen alle Erlebnisse des männlichsten Mannes wie des weiblichsten Weibes gleich gut möglich sind und mit gleicher Selbstverständlichkeit eintreten, wo die Gelegenheit es anregt. Im Genie spielt trotz männlichen Körpers der weibliche Charakterpol eine ebenso bedeutende Rolle wie der männliche, und zwar in ausgeprägtester Form wie dieser. Am schwersten verständlich ist die Charakteranlage jedem, der von sich selbst aus einseitig erlebt. Aus der Schwerverständlichkeit entspringt für das Genie neues Lebensleid, das sich dem inneren Zwiespalt ungeheurer Kräfte noch zugesellt, so daß wohl behauptet werden darf, daß jeder große Schöpfer der Menschheit durch sein Lebensleid die Werke erkauft, die er zu schenken berufen ist.
Alle bisher genannten Charaktertypen sind in ihrer Art kulturell wertvoll. Es gibt einige andere, von denen dies Urteil wohl nicht gelten dürfte. Etwa der schwächlich problematische Mensch, in dessen Psyche ebenfalls männliche und weibliche Tendenzen sich die Wage halten, ohne daß die Ausprägung jeder Seite mehr erlaubt als klägliches Schwanken, Unzuverlässigkeit und Richtungslosigkeit der Lebenseinstellung. Minderwertig im praktischen Leben, unfähig, sich zum Genie zu erheben stellt dieser Charaktertypus in der Welt des Verbrechens eine häufige Erscheinung dar: das Nochnichtgenie als Vertreter sozialer Unberechenbarkeit. Kulturell ebenfalls wenig wertvoll erscheinen die Typen, bei denen der Geschlechtspol des Gegensatzes führend auftritt: das männlich geartete Weib und der weibische Mann. Diese letzteren Phänomene dürften als unharmonische Variationen im Reich der Möglichkeiten einzuschätzen sein, obwohl ihre Funktionen im Sozialganzen nicht wertlos zu sein brauchen.
Zwischen diesen auffälligen Merkpunkten in der Welt der Charaktere dehnt sich die ganze Wirklichkeit in ihrem unendlichen Reichtum aus. Diese Mannigfaltigkeit gehört zum Wesen des Lebens, und nur durch sie gestaltet sich der Reichtum menschlichen Schaffens und Erlebens. Die Widersprüche im Denken und Fühlen, die sich aus der Verschiedenheit der Charaktere ergeben, müssen von vornherein als notwendig und unaufhebbar erkannt werden, damit nicht die falsche Meinung entstehe, es ließe sich eine Weltanschauung, eine Ethik, eine Sitte denken, die allen Charakteren gleichermaßen einleuchtend sein müsse und für alle gleichsam naturverbindlich wäre. Nur in der Mannigfaltigkeit besteht die Einheit der Schöpfung des Weltkünstlers. Dies erkannt haben bedeutet zugleich, die Kräfte der Liebe und Duldung in ihrer hohen Aufgabe begreifen: jene künstlerische Einheit des Lebens aus den Widersprüchen auch wirklich entstehen zu lassen. Relativ sind menschliche Einsichten und Tendenzen nur insofern nicht, als der weitere Charakterhorizont über den engeren das absolute Vorrecht behaupten darf. Die Führung des geistigen Genies ist nötig, damit aus der Vielheit der Tendenzen in der Menschheit die organische Einheit im Laufe der Zeit geschaffen werde, die uns berechtigt, in dem erhabenen Worte »Menschheit« mehr als einen leeren Begriff zu sehen. In der Hinaufpflanzung der Individuen geistig und leiblich durch männliche und weibliche Zeugungen soll sich das Ziel einer Menschheit nicht bloß trotz der Unvereinbarkeit ihrer Fragmente, sondern gerade vermöge dieser Unvereinbarkeit auf Grund der übercharakterologischen Kräfte von Liebe und Toleranz verwirklichen.
Nicht nur die Einzelseelen, sondern auch die Völker- und Gruppenseelen in der Menschheit werden durch den zugrundeliegenden Geschlechtsgegensatz beherrscht und in Vielheit zerspalten. Auch die Kulturen schreiten, trotz Spengler, mit dem Aelterwerden der Menschheit zu weiteren Horizonten voran. Auch im Leben der Völker gilt der Leitgedanke der Ethik, daß durch Liebe und Toleranz die Unvereinbarkeit der Naturgegensätze übercharakterologisch überbrückt werden soll, wobei die in sich gefestigte Eigenart der Völker im Fortschreiten der Geschichte nicht nivelliert, sondern plastisch ausgeprägt werden soll. In der völkerpsychologischen Charakterologie dürften einige Punkte auch hier erwähnenswert sein. So der weib-männliche Charakter der französischen Psyche im Gegensatz zum mann-weiblichen der deutschen. Der Franzose ist an der Oberfläche das Weib unter den Nationen, der Preuße der ausgeprägteste Mann. Infolgedessen tritt das extrem weibliche Weib unter Französinnen merklich häufiger zutage als unter Deutschen, während der französische Mann Züge der Weiblichkeit an sich kultiviert, die dem deutschen Empfinden bekanntlich unverständlich sind. Unter der weiblichen Oberfläche trägt jedoch die französische Nation ein männliches Inneres, das sich im klaren, rationalen Denken, im Willen zur Arithmetik, in der bürokratischen und militärischen Maschinerie, in jenem gleichsam mathematischen Bewußtsein von »Gerechtigkeit« ausdrückt, dessen Mangel man dem deutschen Nationalgeist dort vorwirft. Umgekehrt trägt der Deutsche unter seiner männlichen Oberfläche ein ausgesprochen weibliches Inneres, das dem Franzosen fehlt und zum größten Teil unverständlich ist: das deutsche Gemüt, die deutsche Seele, jene weibhaft-geniale Empfänglichkeit für die Ideale aller großen Lehrer der Menschheit, vergleichbar der fruchtbaren Mutterkraft des Ackerbodens, in welchem jeder gesunde Same lebendig emporkeimt. Aus dieser kurzen Darstellung dürfte sich bereits ergeben, daß der Geschlechtsgegensatz der Völkerseelen völkerpsychologisch grundlegend ist.
Der weibliche Charakter der abendländischen Moral sollte ebenfalls als solcher betont werden, damit die darin zum Ausdruck gelangende Einseitigkeit in ihrem Wesen erfaßt werde. Den Tendenzen des männlichen Poles ist eine Einstellung, nach welcher Geschlechtlichkeit und Sünde geradezu Synonyma sind, wesensfremd. Die Sittlichkeit hängt in ihrer Ausgestaltung von den religiösen Grundlagen ab, die im Christentum ebenfalls spezifisch weiblich sind, sofern sie in die lebenbejahende Welt des Heidentums die Wahrheit von der neuen Genialität passiver Tugenden hineintrugen. Mit der christlichen Geschlechtsmoral eng verbunden erscheint wieder die romantische Uebersteigerung rein seelischer Liebe, die in der Neuzeit vorherrschend ist. Plato, als Vorläufer des Christentums und der romantischen Liebe, ist vermöge der Umgestaltung des Fühlens nach dem Untergang der Antike zum geistigen Begründer einer Welt des Eros geworden, von welcher ausführlich zu handeln dem nächsten Abschnitt vorbehalten ist.
Die hohe Liebe, welche Plato in seinem Dialog »Phädros« verherrlicht hat und die zum kulturellen Ausgangspunkt dessen geworden ist, was man seither als »platonische Liebe« bezeichnet, ist durch eine bewußte, unmittelbare Gefühlsbetonung des begeisternden Wertes reiner Seelenliebe im Gegensatz zu jeder Geschlechtlichkeit gekennzeichnet. Dem Platoniker des Eros gilt das Geschlechtliche in der Menschennatur als minderwertig, wenn nicht als sündhaft. Plato selbst hat die Idee einer gegen alles Physische abneigungsvoll empfindenden Liebe mit dem andern Gedanken eng verbunden, daß die Herzensneigung zum jugendlichen Freund an Erlebnisadel jede Beziehung zu Frauen überragt, weil in der Liebe zwischen Angehörigen der beiden Geschlechter der naturbegründete physische Faktor die ausschließliche Seelenliebe zu beeinträchtigen pflegt. Zwei getrennte Gedanken begegnen sich demnach im Liebesideal Platos: die Freihaltung der Seele von den Trieben der Leiblichkeit, und die Lenkung der Seelenliebe auf den begeisternden Freund. Diese beiden Gedanken müssen getrennt behandelt und ihre innere Verwandtschaft kann erst nachträglich besprochen werden, nachdem die platonische Gestalt des Androgyns, die auch in der modernen Kultur wieder eine Rolle spielt, gegen eine Form der psychopathia sexualis abgegrenzt worden ist, die als männliche Homosexualität mit den Tendenzen Platos manchmal in irrtümliche Verbindung gebracht wird. Auf die Abhängigkeit der Gefühlsweise Platos von der kulturellen Eigenart der orientalisch-antiken Welt wird besonders hinzuweisen sein, und es wird ein Urteil darüber gefunden werden müssen, ob und inwiefern der mehrdeutige Begriff des platonischen Liebesideals in unserer Zeit positiv eingeschätzt zu werden verdient.
Zwischen Herz und Geschlecht, den beiden Eroszentren des menschlichen Organismus, besteht in mancher Hinsicht ein Verhältnis harmonischer Ergänzung, in vieler aber auch ein Gegensatz, der zwischen Sexualität und Herzensliebe dieselbe »Feindschaft« setzt, welche zwischen Sonne und Sternenwelt besteht, so daß am Firmament nicht beide zugleich sichtbar sein können. Der Resonanzapparat des Herzens, empfänglich für feinste Schwingungen von kosmischer Herrlichkeit, kann nur da seine Empfindlichkeit ausgestalten, wo die heftigeren Strahlungen des Organismus in Verschlossenheit schlummern. Erscheint die gewaltig leuchtende Energiekraft der Geschlechtlichkeit über dem Horizont des Erlebens, so löschen die kosmischen Lichter ihre Strahlen vor der allbeherrschenden Gewalt des großen Gestirnes, das die Erde erleuchtet und mit Freude erfüllt. So besteht zwischen Geschlechtlichkeit und Herzensliebe der Gegensatz der Energiemenge und der Spannungsdifferenzierung: das Sexuelle ist das Gebiet starker Energien von verhältnismäßig geringer Erlebnisdifferenzierung, während in der Herzensliebe dieselben magnetischen Naturkräfte mit verhältnismäßig geringer Energiemenge vorkommen, welche aber zu den ungeheuersten Erlebnisspannungen innerlich potenziert erscheint. Zwischen Stromstärke und Spannung der betreffenden Naturkraft besteht eben kein Parallelismus, sondern jene gegenseitige Unabhängigkeit, die an der Durchkreuzung gerade der Gegensätze besonderes Interesse zu nehmen scheint. Die beiden an verschiedene Apparate des Menschenleibes gebundenen Energieformen ergänzen einander zu harmonischer Einheit und in wechselseitiger Steigerung, sofern sie nach dem Rhythmus größerer oder geringerer Zeiträume abwechselnd erlebt werden. Sie sind aber Feinde, sofern sie sich die Seele streitig machen, die nicht beiden zugleich die Gegenwart schenken kann.
Der grundsätzliche Platoniker der Liebe betrachtet den hier gekennzeichneten qualitativen Unterschied der Naturkräfte zugleich als absoluten Wertunterschied, derart daß die Geschlechtlichkeit in jedem Sinne die minderwertige Kraft sei. Schon durch die Lokalisation der psychophysischen Zentren im Menschenleib scheint die Natur diesen Wertunterschied anzudeuten: Geschlecht und Magen gehören der unteren, gleichsam irdischen und symbolisch schlechteren Hälfte an, Herz und Geist dagegen der oberen, gleichsam himmlischen und symbolisch besseren Seite. Geschlechtlichkeit ist irdische, materielle, hinabziehende Liebe, reines Seelentum dagegen das Himmlische, Göttliche, Emporziehende in der Doppelheit unseres Wesens. Und da der Platoniker eine Abart der vielen Menschen darstellt, die eine weise Polarität in ihrem Widerspruch dadurch rational zu machen streben, daß sie sich auf eine Seite schlagen, nicht ahnend, daß diese Seite ohne die andere gar nicht existieren könnte, ergibt sich für ihn die Abneigung des geistigen gegen den sexuellen Menschen mit natürlicher Selbstverständlichkeit. Und betätigt er nicht in seiner Parteilichkeit eine ganz richtige Wesenseinsicht? So hoch, wie die Bedürfnisse des Geistes über den Bedürfnissen des Magens stehen, erhebt sich der Hunger des Herzens über den Hunger des Geschlechts. Das Feine ist wertvoller als das Grobe, das seelische Erlebnis tiefer als das leibliche, das Positive der emporziehenden Logoskräfte metaphysisch führend, wohingegen das Negative der hinabziehenden Schwerkräfte der Mutter Erde mehr hemmend sein dürfte. Viel Wahres und Wesensgemäßes empfindet demnach der Platonismus zweifellos. Hat er aber recht, wenn er den Zwiespalt zwischen den Gegensatztendenzen in seiner grundlegenden Lebensberechtigung verkennt und ihn vielmehr zugunsten einer Idealisierung der Wirklichkeit beiseiteschaffen möchte? Hier liegt Kurzsichtigkeit des Fühlens und Urteilens, welche eine besonnene Philosophie zur Vorsicht mahnen sollte.
Zwischen einem negativen Anfang und einem positiven Ende spannt sich der Bogen der Menschheitsentwicklung: am Anfang war das Chaos, da die Menschheit sich in völliger Zersplitterung gegen gröbste Gefahren zu schützen hatte. Am Ende liegt eine Harmonie, da sie organisch gefestigt eine sinnvolle Logoseinheit geschaffen hat, deren geistige Nachwirkungen bis zum Menschheitstode aufbewahrt werden. Zwischen Unvernunft und Vernunft, Tierischem und Göttlichem verläuft die Entwicklung der Menschheit innerhalb ihrer selbst. Sie war niemals Tier, noch wird sie jemals Gott werden. Aber ihre Lebenslinie ist durch die genannte Polarität wesenhaft charakterisierbar. Wie der Mensch leiblich zwischen Himmel und Erde eine Gemeinschaft zu enthalten scheint, so ist seelisch alles Menschliche zwischen Tierisches und Göttliches einordenbar. Wer könnte aber bezweifeln, daß der Platonismus recht hat, wenn er die Erdkräfte der Geschlechtlichkeit dem tierischen, die Himmelskräfte der Herzensliebe dem göttlichen Pole koordiniert? Doch ist der gute Gedanke leicht falscher Auslegung fähig. Ebenso wie es verkehrt sein dürfte, zu behaupten, der Mensch habe sich aus dem Tier realiter entwickelt und seine biologische Gattung werde sich realiter zu einer Uebermenschengattung weiterentwickeln – Gründe führt das Buch »Lebensphilosophie« an –, so falsch wäre es zu glauben, daß das Geschlechtliche untermenschlich, das heißt des Menschen nicht würdig, und die Seelenliebe übermenschlich, das heißt dem gewöhnlichen Menschen zu erhaben sei. Gerade dies entstellt und schwächt den guten Gedanken der in der Menschheit selbst bestehenden Spannungskräfte zwischen negativen und positiven Polen. Diese Pole lassen sich nicht isolieren, sondern gehören einander zu. Die ganze Gegensatzspannung besteht innerhalb der Menschheit, welche nicht bloß das Mittelstück der Brücke, sondern die Brücke selbst mit ihren Pfeilern bildet. Auch das Geschlechtliche ist nicht tierisch, sondern menschlich, da es die Berufung hat, durchseelt zu werden. Die Seelenliebe ihrerseits ist nicht göttlich, sondern ebenfalls menschlich, das sie ohne die Gestalt des Leibes undenkbar wäre und insofern den Beruf hat, sich durch leibliche Gegenwart zur Schöpfung zu gestalten.
Auch für den Platoniker ist die Wirklichkeit leiblicher Existenz und die Möglichkeit leiblicher Liebeserweisungen die Voraussetzung der Seelenliebe. Das Seelische ist ihm mit der Gestalt in Schönheit gegeben, und der Liebreiz erscheinender Seelenhaftigkeit kann ihm nur in der feinen leiblichen Verbindung zum vollen Erlebnis werden. Die Materie ist ihm Träger der Form, und die leibliche Existenz das Mittel, zwischen Seelen unmittelbare Gefühlsverbindungen zu schaffen, die der Sphäre des Wortes transzendent sind. Das Wort trägt in seiner analytischen Begrifflichkeit eine Feindschaft gegen unmittelbare Menschenverbindung in sich. Es ist in seinem Urwesen polemischer Eigenart. Es schneidet Organisches rational auseinander. Es verbindet die Geister nur in einer Bündnisgemeinschaft gegen ein Drittes, das als Feind im Hintergrund steht. Es dient zur Wehr und zum Angriff, in der Schärfe seiner Abgrenzung liegt die Wahrscheinlichkeit, daß es oft den Partner verletzt. Kalt und tot erscheint das Wort im Vergleich zur Sprache des Schweigens, des Gefühls. Deren Reichtum will der Platoniker ausgestalten und benutzen, bis zu jener Grenze, wo die schweigende Sympathieverbindung wieder den Charakter des Verletzenden gewinnt, indem sie Realbedeutungen annimmt, die über den Bereich sympathischer Liebeserweisung hinausragen. Durch die Sprache des Schweigens verleiblicht der Platoniker das seelische Erlebnis, ohne es seiner Zartheit zu berauben. Die Mittel dieser Sprache sind mannigfaltig: von der Welt des Blickes über die Welt begriffloser Musik der Menschenstimme und die Bereiche duftiger Ahnung und atmender Lebensrhythmen bis zur reichen Sprachwelt der berührenden Liebkosung und des Kusses. Diese Formen gefühlsmäßiger Sympathieerweisung verbinden die Seelen unmittelbar, im Gegensatz zu aller Wortsprache, welche eigentlich nur polemisch trennt und höchstens sekundär, in der Dichtung, gewisse Eigenschaften der schweigenden Seele wiedergewinnen kann, die ihr als begrifflichem Ausdrucksmittel abhanden gekommen sind. Die Welt der schweigenden Sympathieverbindungen ist für die Ausgestaltung realer Sympathien unter den Menschen überaus wichtig, und es ist ein unverzeihlicher Mangel einer Kultur, wenn sie diese Liebeserweisungen, sofern sie durch Sympathiebeziehung zwischen Menschen gefühlsmäßig als beglückend empfunden werden, durch lebentötende Vorschriften unterbindet. Sie schädigt dadurch die Menschenliebe, die nur durch Liebeserweisungen vor der Flucht ins Reich der leeren Phrase abgehalten werden kann. Im Platonismus scheinen somit wertvolle Elemente der Lebendigerhaltung menschlichen Gefühlslebens und damit einer humanen Kultur zu dienen.
Die Sinnlichkeit des Feingefühls zu kultivieren gehört zu den wertvollsten Funktionen der platonischen Liebe. Die Gestaltwerdung der Seele ist sein innerstes Mysterium, und die Begabung seelischer Erlebnisse mit den Wirklichkeitsgrundlagen leiblicher Schönheit und Anmut in Erlebnissen einer zarten Sinnenhaftigkeit sein Weg zur Gestaltung des Menschenideals. Vom Himmel steigend mit der Erde den Bund der göttlichen Gestaltung in Schönheit schließend verwirklicht der Platonismus den einen der beiden Wege zur Vollendung des Eros. Den andern Weg, der den Aufstieg vom Irdischen durch dessen Beseelung erstrebt, werden wir später erst zu würdigen haben. Wie dieser letztere die sublimsten Feinheiten seelischen Erlebens aus dem Bereich seiner Möglichkeiten ausgeschaltet sieht, so muß der Platonismus, soll er seine Vorzüge bewahren, die Grenze gegen den physiologischen Bereich materieller Erdnatur stets betonen und aufrechterhalten. Die Aeolsharfe wird nur solange auf den Hauch des sanften Zephirs antworten, als ihre Saiten nicht vom Sturmeswehen erhabener Erdgewalten erschüttert sind. Der duftige Hauch auf den Schmetterlingsflügeln Amors würde durch plumpe Berührung verschwinden. Nur dem jungfräulichen Geist redet die Liebe in dem blühenden Reichtum einer unendlichen Gefühlswelt ohne gegenständlich abstrakte Begrenzungen. Wenige erhalten sich die Jugend der Seele, falls sie überhaupt merkbar zum Erleben gelangte, bis ins höhere Alter. Dichter und Künstler besitzen diese Fähigkeit, selbst nach den Erfahrungen irdischer Liebe die Feinheit des Himmelsgefühls immer wieder zu erneuern. Die immerwährende Jugend des seelisch Schaffenden besteht in seiner Verbindung mit dem geistigen Pol der Welt, von welchem die Erdkräfte ihn nicht abgerissen haben, mögen sie auch eine andere Hälfte seines Wesens beherrschen. Universale Menschen der Liebe sind selten: Goethe scheint uns ein Beispiel zu sein. Meist bestehen die schöpferischen Kräfte des Platonismus nur in jungem Alter, und der Schritt zur irdischen Liebe bedeutet ihre Preisgabe. Zwischen dem Erleben, das sich vom Geschlechtlichen zu seelischer Vertiefung erheben will, und dem platonischen, das aus den einsamen Gefilden der Seele in der schönen Gestalt die Menschwerdung des Ideals empfindet, besteht der unvereinbare Gegensatz konträrer Richtungen. Es müssen schon besondere Virtuosen des Erlebens sein, die zwischen beiden abzuwechseln verstehen, ohne auf die irdischen Energien dauernd verbunden zu bleiben. Die Empfindlichkeit der Seele für die feinsten Düfte des Erlebens läßt sich nur selten wahren, wenn sie gröberen Einwirkungen, deren Eigenwert dadurch nicht in Zweifel gesetzt werden soll, unterstellt ist.
Die seelische Liebe des Platonikers, die in der Schönheit und Anmut liebreizender Gestalten ihre Erfüllung und in der feinsten Ausdruckssprache stummer Leiblichkeit ihre Befriedigung findet, ist grundsätzlich durchaus geschlechtslos. Die physischen Strukturen sind für sie ohne Belang. Sie ist keine Form der Geschlechtsliebe, sondern eine übergeschlechtliche Liebe, die als solche nur von denen verstanden wird, die sich zu einer so hochliegenden Erlebnisebene selbst einmal hinaufgeschwungen haben oder ihr durch die Gnade der Natur angehören. Männliche und weibliche Schönheit liegen dem Platoniker gleich nahe, ja er ist geneigt, aus einer gewissen Reaktionsempfindung heraus gerade die Schönheit des eigenen Geschlechts in den Vordergrund zu stellen, weil hier geschlechtliche Impulse, die als Störung aufgefaßt werden, nicht in Betracht kommen. Der Platoniker hat eine so absolute Auffassung vom Menschen, daß er sogar von der allgemeinsten Relativierung seines Wesens, die sich im Geschlecht kundgibt, absieht und rein menschlich die Vollendung der Gestalten erlebt. In dieser übergeschlechtlichen Empfindungsweise des Platonikers liegt es auch begründet, daß ihm der jugendliche Mensch, in welchem die Züge beider Geschlechter noch ungetrennt zu schlummern scheinen, besondere Sympathien erweckt. Von diesen Höhen des Erlebens zu der Perversion eines verkehrten Geschlechtstriebes ist ein weiter Weg. Daß dieser beschritten werden kann und beschritten worden ist, braucht nicht geleugnet zu werden, so wenig wie die Tatsache, daß das Aufkommen des Platonismus durch das fast gleichstarke Vertretensein von Hetero- und Homosexualität im Altertum eine gewisse inhaltliche Vorbereitung erhielt. Als Wesenserlebnis muß jedoch das Uebersexuelle von jeder Form des Sexuellen, sei es die normale oder die verkehrte, unterschieden werden.
Die nach Sättigung sich sehnenden Energien des Herzens scheinen dem höherkultivierten Menschen gegenüber dem Hunger des Geschlechts an Gewalt und Tiefe weit überlegen zu sein. Nur der Primitive ist zufrieden, wenn Magen und Geschlechtstrieb nicht zu hungern brauchen. Der menschlich gewordene Mensch steht vor den schwierigsten Problemen gerade dann, wenn jene roheren Energien seine Aufmerksamkeit nicht mehr fesseln. Die soziale Unterschicht sieht im Nahrungs- und Geschlechtsproblem die wesentlichsten Lebensinhalte. Die soziale Oberschicht, welche in der glücklichen Lage ist, diese beiden Probleme soweit gelöst zu finden als ihre Lösbarkeit gewünscht wird, erblickt in den Nöten des Geistes und des Herzens die treibenden Energien ihres Daseins. Der Platonismus ist von Anbeginn eine aristokratische Einstellung zum Leben, im Gegensatz zu den Angelegenheiten des Geschlechtstriebes, welche dem gesamten Volk als Probleme erscheinen. Die Liebe des Herzens ist auch unter diesem Gesichtspunkt als die edlere der beiden Funktionen einzuschätzen, die den Höhen menschlichen Erlebens ihre Eigenart verleiht. Auch im Herzen geschieht Befruchtung zu organischem Wachstum. Auch in ihm ist das Mysterium von der Identität des Gebens und Nehmens verwirklicht. Das Leben, welches durch Herzensbefruchtung entsteht und schließlich unter Schmerzen geboren wird, ist aber ein geistiges Kind: eine Neuschöpfung zur Erhöhung der Menschenkultur. Die Verteilung männlicher und weiblicher Funktionen bei diesem Prozeß ist nicht durch das feste Gefüge des Körperbaues bedingt und vorgeschrieben, sondern stellt sich erst her, indem aus der seelischen Berührung der Gegensatz entspringt. Es handelt sich hierbei um eine Analogie zur Urzeugung des Lebens selbst, in welcher auch mit dem Auseinandertreten der Gegensätze zugleich der Befruchtungsvorgang sich vollzog. Körperliche Zeugung ist bereits eine Stabilisierung geistiger Sexualität durch festgefügte organische Formen.
Man wird es verstehen, daß der Platoniker sein Erleben als »rein« im Gegensatz zur »unreinen« Geschlechtlichkeit empfindet. Diese Wertbetonung wurde im Lauf der Jahrhunderte jedoch dermaßen häufig ohne viel Verständnis nachgebetet, daß daraus bald eine natur- und lebensfeindliche Einstellung erwuchs, die durch religiöse Lehren von der Sündhaftigkeit des Geschlechtlichen noch sehr verstärkt wurde. Dieses Werturteil einer berechtigten und wertvollen psychischen Einstellung über den Gegensatz ihrer selbst ist als Abgrenzungsurteil verständlich, ohne daß es Allgemeingültigkeit beanspruchen könnte. Urteilt es doch über diejenige Seite der Wirklichkeit, die es seinem Wesen nach nicht verstehen kann. Diese andere Seite kann an sich eine ebensolche Daseinsberechtigung und Erlebnisbedeutung besitzen, ohne daß das absprechende Empfinden des Platonismus etwas daran ändern könnte. Die Zweiheit der Weltstruktur tritt in den konträren Wertsetzungen des geistigen und des sexuellen Poles zutage, ohne daß die Eigenart des einen die des andern entbehrlich machen könnte. Die Durchseelung des Leiblichen und die Verleiblichung des Seelischen stellen das Doppelproblem einer totalen Erlebniseinheit dar, die von keiner Seite her voll erzielt wird. Infolgedessen haben beide Ausgangspunkte des Erlebens, Leib und Seele, eine unersetzliche Eigenbedeutung für das Erleben. Dieses soll alles Leibliche in möglichstem Grade durchseelen, was aber niemals bis zu den letzten Zartheiten möglich ist, die am Anfang platonischen Erlebens stehen. Andererseits soll das Geistig-Seelische in möglichstem Grade Gestalt und Wirklichkeit werden, doch wird die befreiende Gewalt des Gegenwartserlebens, von welcher der leibliche Eros seinen Ausgang nimmt, nicht erreicht werden. Daß das Sexuelle mit der ganzen seelischen Zartheit der platonischen Liebe erfüllt und die platonische Liebe in ihrer geistgebundenen Eigenart bis zur sexuellen Liebeserweisung herabsteigen könne, wäre die Vollendung der beiden Harmonisierungstendenzen in der Menschennatur. Sie werden, wenn überhaupt, nur in seltenen Ausnahmsfällen verwirklicht werden.
In der naturgemäßen Entwicklung des edelgearteten Menschen spielt die platonische Liebe als Frühlingsstadium menschlichen Erlebens die zeitlich erste und inhaltlich freudvollste Rolle. Der ebenso naturgemäße Uebertritt zu sexuellem Erleben wird, dem soeben gekennzeichneten Wesen der Zusammenhänge entsprechend, meist als Absturz in ein Gegenteil empfunden. Dieser Fall ins Reich der Materie aus dem Zustand angeborener Geistigkeit des Erlebens ist zweifellos ein wichtiges Lebensereignis für jeden Menschen, sei er Mann oder Weib, Seine seelischen Folgen sind beträchtlich, und zwar sowohl im erfreulichen wie im unerfreulichen Sinne. Er bedeutet den Beginn der Reife im Gegensatz zur Kindheit. Den Beginn der realen Lebensverbundenheit im Gegensatz zur Einsamkeit der glücklichen Seele. Den Beginn eines positiven, bejahenden Verhältnisses zum irdischen Leben im Gegensatz zum Weltschmerzzustand der im fremden Kerker gefangenen Seele. Die eigentliche Geburt der Seele in diese Welt, während vorher erst der Leib zur Erde geboren war. Das Verblassen der feinsten Weltallsterne zugunsten des majestätischen Gestirns irdischer Freude. Die Erfüllung der Liebe mit materiellen Resonanzen, deren Leidenschaft mit leidschaffenden Dissonanzen auf irgendeine Art eng sich zu verbinden pflegt. Eine Vorwärtsentwicklung der Innenwelt, die zugleich eine Preisgabe innerer Harmonien mit bedeutet, wenn nicht der Mensch ausnahmsweise die Weite des Erlebens erringt, die nur besonders Begnadeten vorbehalten zu sein scheint. Der jungfräuliche Zustand der Menschennatur ist bei beiden Geschlechtern Träger eines eigenen Mysteriums, dessen Wert von manchen Religionen nicht zu Unrecht ausdrücklich hervorgehoben wird. Andererseits bedeutet die Geschlechtlichkeit ein ebenso tiefes Mysterium, das von Religionen, die aus den Kräften der Erde genährt sind, in seiner dem Göttlichen wohlgefälligen Natur mit nicht geringerer Berechtigung unbefangen anerkannt wird. Die platonische Liebe hat die Tendenz, den Menschen der Welt zu entfremden, indem sie ihn der seligen Einsamkeit seines Himmels überläßt. Das Geschlechtliche verbindet den Menschen mit der Menschheit und allen wirksamen Kräften, die der Erde entstammen. Wer könnte gewissenhafterweise behaupten, daß nicht beide Gegenwerte im Ganzen der Menschennatur ihre berechtigte Stelle haben! Der Platonismus, als Ablehnung des Geschlechtlichen, enthält seine Sonderwerte, welche auszugestalten er unabhängig von den Gegensätzen leiblicher Geschlechtlichkeit logisch berechtigt ist, während das Geschlechtliche gerade an diesen Gegensatz gebunden ist und nur unharmonischerweise in den homosexuellen Krankheitserscheinungen von dieser Wesensbedingtheit seiner selbst sich entfernen kann.
Damit gelangen wir zum zweiten Teil des platonischen Problems: der seelischen Liebe zwischen gleichgeschlechtigen Wesen, insbesondere der Freundesliebe oder der Liebe zwischen reifem Mann und heranwachsendem Jüngling. Was die entsprechende Seelenliebe im weiblichen Geschlecht betrifft, so bedarf sie deshalb keiner besonderen Erörterung, weil ihr in unserer Kultur nicht das mindeste Hemmnis entgegensteht. Die innige Zuneigung sowie die Erweisung platonischer Zärtlichkeiten zwischen Frauen wird vom Gefühl unserer Zivilisation durchaus nicht abgelehnt. Ob dieser beneidenswerte Vorzug der Gefühlskultur sowie der hämische Blick auf jede noch so ätherische Liebe zwischen männlichen Wesen auf einem richtigen Gefühl für den Wesensunterschied der Geschlechter oder auf der Mißgunst derer beruht, die sich als Monopolinhaberinnen der Liebe betrachten, dürfte schwer zu entscheiden sein. Beide Standpunkte sind bekanntlich vertreten worden. Wie dem auch sei: dem Manne wird es schwerer gemacht, sein Gefühl zu kultivieren, da es durch den Willen der Kultur den Geschlechtsunterschied als unerläßliche Vorbedingung auch der platonischen Liebe anerkennen soll. Zwischen Männern darf außer hölzerner Kameraderie höchstens nur noch Feindschaft als Gefühl wirksam sein. Liebe erscheint verdächtig. Man scheint vorauszusetzen, daß der Mann keine seelische Erziehung durch Liebe brauche, oder daß er der platonischen Liebe nicht fähig sei, oder daß er die Verpflichtung habe, unter den liebreizenden Wesen, die Gott geboren werden läßt, eine Auswahl nach Geschlechtsmerkmalen zu treffen, die allenfalls gestatten würden, die an und für sich unnütze Seelenliebe durch Folgerungen zu krönen, die auch praktische Bedeutung für den Staat besitzen. Da wir aber die psychische Liebe unabhängig von den drei andern Wurzeln des Eros zu ihrem Recht möchten kommen lassen, können wir den letzteren Gesichtspunkt nur als barbarisch abweisen. Was die beiden ersteren betrifft: der Mann sei seinem Wesen nach im Gefühlsleben weniger fein organisiert als die Frau, so würden sie, wenn sie recht haben, doch nicht den Imperativ begründen können, der Mann solle in seinen Gefühlen nach Möglichkeit verkümmert werden. Auf dem Gebiet der platonischen Liebe glauben wir, da sie ihrem Wesen nach mit Geschlechtlichkeit nichts zu tun hat und diese geradezu ablehnt, die Autonomie des Herzens derart betonen zu müssen, daß wir den Standpunkt vertreten, Seelenliebe in allem Adel ihres Wesens sei zwischen gleichgeschlechtigen Menschen genau ebenso gut möglich wie zwischen ungleichgeschlechtigen. Sie erfaßt keine Merkmale, sondern das Wesen eines Menschen. Sie ist geschlechtslos.
Daß bei Plato selbst die Meinung vertreten wird, höhere Seelenliebe sei in mann-männlicher Liebe zu gestalten, während die Frauenliebe durch ihre sexuellen und biologischen Zwecke minder wertvoll sei, ist gewiß eine ähnliche Verkehrtheit, die aus der griechisch-orientalischen Kultur begreiflich wird. Die Frau galt jenen Völkern als Mensch zweiter Ordnung. Als Reaktion zu diesem ungerechten Zustande läßt sich die spätere Ablehnung der Liebe des Mannes zum Manne wohl begreifen, doch überschreitet sie zweifellos ihre berechtigten Grenzen ihrerseits, da sie die männliche Natur im Liebeserleben vereinseitigt, was der weiblichen nicht zugemutet wird und der Harmonie keineswegs entsprechen dürfte. Herzensliebe ist geschlechtslos. Sie bezieht sich auf jedes liebreizende Wesen, das durch die Zentralenergien des Gefühls als Mittelpunkt einer Welt erfaßt wird. Ob dieses Wesen männliche oder weibliche Merkmale trägt, ist gleichgültig. In der ungebührlich starken Betonung des Geschlechtsgegensatzes in der Liebe scheint sich die Ansicht auszudrücken, als ob Seelenliebe ja doch nur eine bloße Vorbereitung auf Ehe, oder Sexualbeziehung, oder Kindererzeugung wäre. Dieser Verleugnung des Eigenwertes im Seelischen muß die Philosophie im allgemeinen wie im besonderen entgegentreten. Im besonderen aber ist es nötig bei dem Problem der Freundesliebe, welche Herzensliebe und nicht bloß Kameraderie ist. Deren sehr hohen Kulturwert zu verkümmern dürfte nicht in der Absicht einer Kultur liegen, die im schöpferischen Geist ihre Entfaltung erstrebt. Liebe und Liebeserweisung verkümmern ist das große Verbrechen wider das Leben, das auch dadurch nichts von seiner Natur verliert, daß sich die Sitte bestimmter Zeiten selbst zu seinem Träger macht. Während eine humane Sitte dem Grundsatz huldigen würde, daß alle Liebe und Liebeserweisung gut ist, sofern sie kein Leid schafft noch Rechte kränkt oder berechtigte Gefühle anderer verletzt, scheint es Moralen zu geben, denen Liebe und Liebeserweisung als Urbild des Schlechten erscheinen, und welche daher Liebe nur insofern zulassen möchten, als sie dem Zweck der Fortpflanzung unterjocht ist. Aber auch bezüglich dieses Prinzips besteht eine Inkonsequenz, da Liebe und Liebeserweisungen zwischen weiblichen Wesen selbstverständlich zugelassen sind. Sollte es sich nicht doch um weibliche Monopol- und Konkurrenzgefühle handeln, die sich in der abschätzigen Beurteilung platonischer Liebe zwischen Mann und Jüngling einen unschönen Ausdruck verschaffen?
Freundesliebe ist nicht nur bei Plato, sondern bei auffallend viel bedeutenden Geistesschöpfern die Wurzel der Begeisterung gewesen, deren sie zu ihrem Schaffen bedurften. Michelangelo, Shakespeare, Winckelmann mögen als historische Beispiele genügen. Die umfassende Erlebnispsyche des Genies scheint durch die Hinwendung der Liebe auf Angehörige des andern Geschlechtes nicht nach all ihren Möglichkeiten erschöpft werden zu können. Der jugendliche Mann, in dessen knospendem Wesen der Liebreiz der weiblichen Anmut noch nicht durch eigene Geschlechtlichkeit ausgeschaltet worden ist, scheint von Natur aus kaum weniger dazu bestimmt zu sein, zum Träger begeisternder Energien für große Gestalter zu werden als das Weib. Der Androgyn, die jünglinghafte Verbindung weiblicher Formenzartheit mit dem Versprechen männlichen Adels ist unter den schönen Schöpfungen der Natur ein nicht zu vernachlässigendes Sonderphänomen. Liebe, als Kraft unbewußter Harmoniesehnsucht der Menschenseele, läßt sich nicht durch enge Pedanterie vorschreiben, daß sie nicht auftreten »solle«, wenn die Vorbedingungen zu ihrer Aktivierung gegeben sind. Der Edelwert platonischer Liebe zwischen gleichgeschlechtigen Wesen läßt sich durch kein einziges Argument in Frage ziehen, das nicht den Stempel der Borniertheit und eigentlichen Feindschaft gegen freudige Lebensbejahung auf der Stirn trüge. Wenn Variabilität und Abwechslungsreichtum ein Grundgesetz der Lebensfreude ist, so läßt sich die willkürliche Verpönung bestimmter Formen der Liebe, die für gewisse Perioden des Lebens oder Zustände der Innenentwicklung die einzig befreienden sein können, nicht rechtfertigen. Wohl verbindet sich diese Art von Liebe manchmal mit einer Abneigung gegen das andere Geschlecht, die als Lebenseinstellung beklagenswert ist, möge sie nun als Frauenhaß oder als Männerhaß auftreten. Es ist auch möglich, daß sie, wenn sie ihre platonische Eigenart zu ihrem eigenen Schaden preisgibt, in die Regionen disharmonischer Verkehrtheit sich entwickelt. Diese sekundären Mängel dürften aber keinen zureichenden Grund dafür abgeben, das Wesen der Liebesform selbst zu beleidigen. Der vorbeugende Wille gegen möglichen Lebensmißbrauch sollte auf allen Gebieten des Eros, nicht nur auf diesem, in gesunden Schranken gehalten werden, damit er das Leben nicht ungebührlich verarme. Sonst erschiene es am besten, mit dem Erlebnisreichtum des Lebens auch das Leben selbst zu verneinen – welche gründlichste aller Vorbeugungsmaßregeln sich selbst ad absurdum führt.
Frauenhaß und Männerhaß ist eine Schwächeerscheinung des Lebens, das nicht Stärke genug empfindet, die gewaltigsten Gegensätze in sich zu bejahen. Homosexualität, als Ausdruck dieses instinktiven Hasses ist eine krankhafte Kurzschlußerscheinung, die das Leben einer ganzen Welt von Resonanzen beraubt, die nur auf Grund des Geschlechtergegensatzes möglich sind. Die energische Abneigung gesunder Menschen gegen diese Verirrungen dürfte durchaus berechtigt und begründbar sein, da es zum Wesen aller Geschlechtlichkeit gehört, die Zweiheit des Geschlechts zur Voraussetzung zu haben. Doch wird man trotzdem eine Einreihung dieser psychischen Krankheitserscheinungen unter die gemeinen Verbrechen und deren entsprechende rohe Bestrafung in manchen Ländern nicht zu billigen brauchen, so wenig wie den Unterschied, der zwischen männlicher und weiblicher Homosexualität in dieser Hinsicht gemacht wird. Ist dem Weibe alles erlaubt, dem Manne dagegen nur ein Minimum, so ergibt sich auch aus diesem nebensächlichen Bestandteil des geltenden Rechts wieder nur die ungebührliche Beherrschtheit aller sexuellen Beurteilung durch weibliche Interessen. Es sind dieselben Interessen, welche auch die berechtigten platonischen Formen gleichgeschlechtlicher Liebe beim Manne nicht wollen gelten lassen. Dieselben Interessen, die das naturgemäße Bedürfnis des Mannes nach Liebeserweisung an die Region des Häßlichen drängen, da der weibliche Korpsgeist seine Unterdrückung verlangt, es sei denn, daß juristische Maßregeln, die nur im Hinblick auf materielle Sicherungen sinnvoll sind, die Aufhebung des Liebesverbots begründen. Entsagung und Einsamkeit ist für die meisten das Ergebnis dieser femininen Weltordnung, und die Steigerung des platonischen Ideals ins Religiöse die einzige Zuflucht, die den gefesselten Liebesenergien in der Kultur noch möglich ist. Grob materielle Interessenwahrnehmung und Verflüchtigung der Liebe in ein Reich jenseits der Erde erscheinen paradoxerweise auf das engste verbunden, und die Weltflucht der besten Energien des Herzens als letzte Folge einer praktischen Interessenvertretung sehr diesseitiger Wesensart. Der Auseinanderfall der harmonischen Menschennatur in eine Welt unerfüllbarer Sehnsüchte und eine Welt sozialer Interessen ist das betrübliche Kennzeichen heutiger Kultur. Die Ueberwindung dieses Zustandes ist an die Einsicht von der vierfachen Wurzel des Eros gebunden und an die zivilisatorischen Fortschritte, die deren Verselbständigung gewährleisten.
In der platonischen Liebe, beziehe sie sich nun auf ein Wesen gleichen Geschlechts oder des andern, liegt die feinste Blüte menschlichen Erlebens für alle Zeiten. Am Zwiespalt von Schönheit und Charakter erlebt wohl auch sie notwendige Dissonanzen, doch enthalten diese das versöhnende Moment einer großen Welttragik, deren Erlebnis selbst wieder zu den Schönheiten gehört. Alles Sein strebt zur Gestaltung, und die schöne Gestalt bleibt das Symbol für die Vollendung des Lebens, das positiv strömend aus der Nacht des Mystischen ins Reich der Sonne strebt. Gestaltwerdung des Weltgrundes ist das Geheimnis, in dessen Erlebnis der Platoniker seine Seligkeit und seine Schmerzen findet. Als spezifische Liebesform junger Menschen und solcher, die trotz fortschreitenden Alters als Künstler jung geblieben sind, liegt über dieser Liebesform der Zauber der jungfräulichen Natur, die in den Erlebnissen der Zartheit ihre höchsten Begeisterungen schafft. Wohl hat die platonische Liebe die Tendenz des Herabsteigens zu wirklicheren Regionen. Wohl sind ihr Liebeserweisungen das Ziel der strebenden Gefühle. Aber bei der Geburt dieser Liebe stand doch die Einsamkeit des heiligsten Empfindens, das in sich selbst noch beseligt ist und in souveräner Lebenshoheit dem geliebten Wesen innerlich die Frage entgegenträgt: Was geht es dich an, daß ich dich liebe? Das unvereinbare Doppelproblem von Lieben und Geliebtwerden macht sich nur in den Formen schöner Tragik geltend. Die Roheit des Lebens scheint noch vom Glanz einer göttlichen Leichtigkeit überstrahlt, die dem Leben einst zum Opfer fällt. Mag das Liebesverbot der Kulturen auch dieser Liebe manche Qual verursachen: in Frühlingsschönheit leuchtet sie doch über den Toren des Lebens, jedem ein Glück gewährend, der sie mit zartem Sinn erwartet.