Ernst Barlach
Güstrower Fragmente
Ernst Barlach

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Chronik 4. März 1913

Am soundsovielten Keuchhustentag wurde ein großer Dampfer gebaut. Auf dem Tisch stand eine große Röhre aus Packpapier, das ist der Schornstein, daran reihen sich Stühle und der Lehnstuhl als Passagierdeck. In den Schornstein, wenn die Fahrt beginnt, schmeißt Klaus einen Stein, damit ist der Dampfer symbolisch geheizt, und »in einer Minute« geht die Fahrt los. Zur Verpflegung wird ein Armvoll Apfelsinen auf den Stuhl gelegt, und der Kapitän Klaus empfängt die Ordre zu fahren vom Passagier Vater. Zuerst nach Amerika, da sind wir, wenn der große Zeiger (der Wanduhr) auf 5 steht, jetzt steht er auf 4, also 5 Minuten. Molly aus Plüsch macht die Fahrt mit, und Mutter, auf dem Stuhl am Fenster mit Weißnähen beschäftigt, bedroht die Reise als Nebelfrau mit Nebel, weil Molly sie gräßlich anbellt. In Amerika steigen wir aus, und Molly beriecht die amerikanischen Ecken und jagt Ratten. Soviel ich bisher über Amerika las, daß alles von Ratten wimmelt, hat niemand gemerkt. Sie laufen uns sogar in die Hosenbeine und müssen darin zerquetscht werden. Onkel Niko war am Ufer, als wir landeten, Tante Amanda hat aber auf der Farm Kühe zu melken und die Lisel zu füttern. Klaus spricht ganz brav mit Onkel Niko, und dann geht die Fahrt weiter nach Afrika; wir halten aber unterwegs wegen Nebels, weil Mutter Ernst macht, und später steigen wir an den Azoren aus und vertreten uns die Beine und sehen uns am Lande um, Molly kommt mit und beriecht die Ecken von Funchal, die wieder anders riechen als die amerikanischen. Es ist ein sonderbares Land. Da steht hinterm Ofen die Bambusstange, daran sehen wir, was da für Bambus wächst, und sonderbare Leute gibt es, man braucht nur das Wandbild anzusehen, die schöne Porzia und ihr Kaufmann mit den drei Kästen sind ja Azoren-Eingeborene. Auch sonderbare Ähnlichkeiten tauchen auf, die zwei (auf dem Büfett) sehen Onkel Niko und Tante Amanda verteufelt ähnlich, und eine Frau (auch auf dem Büfett) sieht aus wie Tante Olga. Der Mond wackelt auf den Azoren hin und her, grade wie das Pendel unserer Wanduhr, und nun gehts mal landeinwärts (in mein Zimmer). Da sitzen wir auf dem Blumenteppich (meines Betts) und wundern uns, was für sonderbare Blumen hier vorkommen.

Die Jugendstilzeichner scheinen ihre Studien auf den Azoren gemacht zu haben, sie brauchen bloß den Rasen zu kopieren, er ist gebrauchsfertig gemustert. Und nun ringelt sich auf dem Felsen eine Riesenbandschlange, die fangen wir und nehmen sie mit an Bord, da wird sie mit Kopf und Schwanz an die Reling gebunden. Und nun geht die Fahrt weiter, weil es aber schon sehr spät ist, gehts spornstreichs nach Hamburg zurück.

Diese ganze Zeit über, nämlich seit Anfang Februar, bin ich aus meiner Werkstatt ausgelassen, denn eine neue, größere wird herangebaut, und mit dem Bauherrn Zimmermann habe ich eigenhändig Kalk gelöscht, dann kamen Maurer, und so wuchsen die drei Wände, denn die vierte Wand bildet die alte Mauer meines bisherigen Loches, das jetzt Rumpelkammer wird und Entree. Jeden Morgen spazierte ich hinaus und bewies mir meine eigenen Weltanschauungen, schrie alle Einwände nieder und siegte, wo ich meine Bombenworte hinwarf, weil ich nichts anderes wünschte, als besiegt zu werden. An den Abenden las ich die »Siderische Geburt« von Volker, und weil ich schon vollgesogen bin, so wurde ich bald trunken. Meine apokalyptischen Zeichnungen sind nun so ziemlich auf dem Haufen, wenigstens der größere ist beisammen, und von späteren Abenden hoffe ich im Laufe des Sommers den Rest. Heute entdeckte ich mir selbst, daß mein Drama »Der tote Tag« so etwas ist wie eine Phantasie über unbefleckte Empfängnis, das heißt geistige Abstammung des Menschen im Gegensatz zur leiblichen, die so befleckt sein mag, wie man nur wünscht, so tierisch und von primitiven Zuständen herangerollt und heraufgeformt, wie Haeckel für anständig hält. Auf den Schlangenwindungen des Deiches längs der Nebel wurde mir alles klar. Niemand hört mich da gageien als gelegentlich ein paar Enten, die beizeiten aus ihrem Kämmerlein in Schilf und Rohr zwischen Eis und gurgelndem Wasser aufsteigen und sich ein besser gesichertes und bequemeres Örtchen suchen; ihr Widerspruch stört mich nicht, sie mögen das lauteste Wort haben; aber ich will doch nicht vergessen, daß ich oft mitten im Text abbreche und mit einem Blick rundum die ganze Logik meines Beliebens ausschwemme und die Schleuse der inneren Erlebnisse hochziehe, daß auch die leisen Worte zwischen den andern Worten herankönnen. Am Ende ist die ganze Arbeit nur eine Art Bewegung, eine Atemgymnastik gewesen, und so habe ich doch recht getan.

Der Träumer, Holz, 1925
34 X 77 X 29,5 cm
Vorbereitet durch Zeichnungen aus den »Däubler-Jahren« 1909 und 1912
Barlach-Nachlaßverwaltung Güstrow (Heidberg)


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