Ernst Barlach
Güstrower Fragmente
Ernst Barlach

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So leben wir

18. Febr. 1913

Warum setzt Mutter abends vorm Zubettgehen ihre Blumenstöcke, die Araukarie, die Azalie mit einer Blüte und ein anderes Pflänzchen vom Blumentisch aufs Büfett rechts vom Fenster? Weil sie dort von der Morgensonne gleich die ersten Strahlen bekommen, wenn sie über dem neuen roten Dach hinten im Garten aufsteigt. Das ist ihr Letztes am Abend, damit ein Haupterstes am Morgen vorgesorgt ist. Und dann, wenn die Sonne am Tag von rechts des Zimmers nach der Mitte und langsam bis vier Uhr an die linke Wand gelangt, zieht sie mit den Töpfen hinterdrein, und die Araukarie kommt sogar auf die Kommode hinten im Zimmer, denn da flaut die Sonne ab, aber ihr Licht ist, wie ein dünner Kaffeeaufguß für Kaffeetanten, immer noch elementar und annehmbar für Stubengewächse. Jetzt, wo der Klaus mit seinem Keuchhusten ihren Schlaf mindert und sie ins blaue Zimmer getrieben hat und da ich bei ihm liege, jetzt darf die Wanduhr über Nacht ticken, so viel sie mag, da hinten stört sies nicht, aber früher nahm sie das Gewicht ab, und das Werk stand – – – das war ihr Allerletztes am Abend. Und so stand die Uhr von 10 Uhr an bis da, wo das Gewicht morgens wieder angehakt wurde, denn das war ihr Erstes am Morgen, und das war im Winter bald nach sieben. Dann mußte ich die Uhr zurückstellen von neun bis sieben, das sind zwei Stunden. Das ist im Winter. Im Sommer schiebts sich etwas auseinander, aber nicht viel.

Nach dem Tee am Nachmittag geht sie an die Luft, und ich bleibe beim Klaus im Haus. Wir spielen und bauen aus Tischen und Stühlen eine bessere Zukunft oder Phantasie-Vergangenheit. Ein Schiff, da sitze ich im Lehnstuhl hinten, am Steuer, Klaus auf dem Tisch sitzt auf dem Schlitten, der Kommandobrücke, und zündet, so oft die Kriegslage es verlangt, den Leuchter an, das tut er am liebsten. Auch kriecht er unter den Tisch und spricht vernehmlich mit dem Maschinisten, klopft auf mein Kommando auf die Tischglocke und läßt das Schiff volle Fahrt machen oder halbe, je nach der Kriegslage. Auch kanonieren wir gewaltig, das ist das Beste und macht viel Lärm, aber seitdem die alte Feuersteinschloß-Pistole keine Funken mehr gibt, ist der Spaß aus. Da bauen wir auf dem Tisch und mit Stühlen rund herum als Wall und Wachtgang die Burg Ratzenstein, und Klaus ist Herr von Ratzenstein, ich sein alter, treuer schlechter Knecht. Der Molly aus Plüsch sitzt überm Torweg und hat die Verantwortung für alles. Einen großen, viereckigen Burghof haben wir natürlich, und nachts wandere ich hinter der Mauer und liege wachend rastlos da, während Herr von Ratzenstein mit Schlafen beschäftigt ist. Unterm Tisch ist das Gemach, da haben wir auch eine Bibliothek, und wieder, wenn wir in Winternächten, umheult von Sturm und Wölfen, uns auf unser besseres Selbst besinnen, zünden wir den alten braven Leuchter da unten an und lesen beim Schein des tröpfelnden Wachses, während Klaus mit den Fingern an der Flamme hantiert, die Geschichte von der Jungfrau Maleen.

Dann, wenn es morgent, rüsten wir und lassen Paul und Liese satteln, bewaffnen uns, stärken uns mit Hummer, Lachs und Bärenschinken und reiten aus, lassen die Pferde auf dem Bauernhofe, das ist mein Bett, und baden einmal im See, das ist der Teppich der Weihnachtsstube, dann schleichen wir weiter übern Korridor, in die Küche und zur Speisekammer, wo ein Bär erlegt wird, natürlich auch ausgeweidet, und während Herr von Ratzenstein voranschreitet, wanke ich stöhnend über Fels und Waldpfade mit der Zottellast hinterdrein zurück. Auf dem Bauernhofe kaufen wir für den Burgbedarf fünfzig Hühner, sieben Ziegen und drei Kühe, dann gehts heimwärts, und Ställe für das Vieh werden ausgemacht, und wie nun der Abend wieder da ist, wird von neuem der Leuchter unterm Tisch angezündet, und wir lagern uns wieder, müde von den Tagesstrapazen, um des Lichts gesellige Flamme beim Buch auf dem Bauch.

Der Mantel ist mehr Flick als Stück
Holzschnitt, 1922
11,5 x 8/6 cm

Dann klingelts draußen, und Mutter ist wieder da, und somit ist der Ruin Ratzensteins besiegelt, Stühle und Tische sind wieder Stühle und Tische, ich bin wieder der Bildhauer Barlach und durchaus kein schlechter Knecht, greif nach meinem Paletot von Rudolf Herzog und mache zum Abendgang mobil. Moritz ist nicht mehr dabei.

Draußen mischen sich Ostwind-Klarheit und Februar-Frost hinter den heiligen Feldern, die so unter dem Himmel hinschmachten und sich so demütig hinanbiegen, so Unermeßliches betend anbieten, daß man ohne Spott sagen kann: »heilige« Felder; hinter ihnen, über sie her, in sie hinein sinkt die Sonne, von hinten her weißlich mit einer ganz dünnen Perlmutterglanzschicht macht das Wunder des Vollmonds am Himmel auf seinen bescheidenen, verblaßten Weltruhm aufmerksam, und zwischen beiden so hin auf dem geschlängelten Weg von Ost nach West: ich. Zwar die Beine sind ganz rüstig, doch das Herz weniger, aber wenn man die kalte, klare Luft beim Schreiten wie etwas Neues und Besseres in sich saugt und den Atem wie etwas Schlechtes, Bitteres ausläßt, dann schafft man sich die Vorstellung von einem Austausch und wirft seine Sinne den Formen und Farben entgegen und reißt all das geahnte Gewünschte in ihnen wie die Ersatzteile und Bausteine zu einem Besser-Ich an sich und doppelt und dreifacht sich zum Über-Ich durch das Mittel der Ahnung dessen, was an Bedeutung und Sinn hinter aller Farb- und Formhülle waltet. Nur zu, hallt es hinter mir, es wird schon besser werden, wenigstens anders, und wer Glauben hat, braucht um Trost nicht bange zu sein. Die Rehe, die da braun auf braunem Acker, aber hinten weiß gepunktet, wie ein Siebengestirn am Boden stecken oder am Felderhorizont wie zierliche Schatten aus der Erde dunsten, halten mich wohl für nichts Besseres als eine wandernde Vogelscheuche, zum Unterschied von dem stocksteifen Dutzend rassiger Lumpenträger, die wie holzknochige Gespenster gegen das Feldgrau grau oder gegen den Himmel schwarz, entsetzlich menschengespensterhaft, mit Schreckgebärden aufstehen, denn einzeln, wie sie sind, fängt sie der überraschende Blick ein, und so können sie ganz gut plötzlich aus dem Boden gekrochen oder vom Himmel niedergesprungen sein; vom Menschenblick aber sind sie gebannt, und nur ihr Gelumpe hat noch Atem und schlottert erbärmlich frostig im Winde. Ich weiß: Vogelscheuchen; aber das Dutzend im Ganzen auf der Bodenbreite, von denen ich auf dem Schlängelweg über die heiligen Felder nur drei erkenne, gibt den Augen immer wieder zu tun, man schaut sich um und denkt: nur ein bißchen reeller Spuk, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden ließe, der sich betasten und ausfragen lassen wollte, um endlich bei hellem Mondlicht in Himmelsluft zu zerschmelzen, – – – und die Welt hätte ein anderes Gesicht. Nur vorwärts, brummt es in mir, das ist mein Verstand, der mich auslacht, halte dich an Farben und Formen, vergleiche, grabe aus, numeriere – – – und wirklich, die ferne Baumreihe der Chaussee, mit kahlem Geäst gegen den Himmel gelegt, sieht mit ihren Gipfelrundungen von weitem aus wie eine Spitzenkrause von brauner Seide, und das Rebhuhnvolk, das sich von meinen Tritten aufscheuchen läßt und flach wie der Bogen des Feldes braun und dicht über die braune Erde gleitet und hinterm Rand einen Augenblick gegen den Himmel geschnitten sogleich in der Mutterfarbe wie in einem See eintaucht und verschwindet, wird aus der Erde im Traubenschuß, wie aus einem Luftmörser in der Erde, hervorgeprallt. Gespenster lassen sich einmal nicht heranpfeifen, und die Gleichnisse sind eine Chiffre-Sprache, mit der man sich sein Augenblicksgefühl verdolmetscht und ins Gedächtnis hängt.

Der Hundekarren, Holzschnitt
1922 10,2 X 13,9 cm
»Der Findling«, Blatt 6

Dem monumentalen Flächengeschiebe sind Monumente von Strohdiemen aufgeladen, Monumente an Masse und Form, aber vom Winter zerfressen und von Schauflern und Forkern und anderen Knechten der Landverpflegung angegraben und geschleift. Wie man von fern kommt und vorbeiwandert, ändern sie ihre Formen. Einer sieht aus wie ein Riesenschädel, der aus einem vieltausendjährigen Grabe ans Licht auftaucht und um sich schaut, ein anderer gleicht dem abgetragenen, weggeschwemmten Reste eines Sündflutmammuts, aber nach einigen Minuten hat er die Massen und Grenzen eines Mausoleums, und nun ist der Riesenschädel nur eine Unform.

Sackträger, Taschenbuchblatt aus Güstrow
Bleistift- und Federzeichnung, 1912
16.4 X 10,2 cm Barlach-Nachlaßverwaltung Güstrow (Heidberg)


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