Ernst Barlach
Güstrower Fragmente
Ernst Barlach

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eis, Schnee und Januarwetter 1913

Vorgestern schon war dem Ostwind die Puste ausgegangen, und gelinderer Süd oder West von atlantischer Bastardmischung, vorläufig ohne Nordseeabkunft, nahm sich des Winters an. Mit Wässerigkeit schlechthin, wonach es deutlich roch, wagte er den Ost nicht gerade abzulösen, aber Schnee brachte er, wenn auch feuchten, und der weißliche, dickgewölkte Himmel machte es sich auf allen Feldern und Breiten fern und nah bequem, er kam einfach herunter und nahm überall vorlieb. Im Dämmer des Abends gingen die Felder mit dem Himmel in eins, und wer so im Schneetreiben stand, mochte getrost denken, er stände im Himmel. So etwa, denke ich mir, schneit unsichtbar und andersgeartet die Elektrizität und der Magnetismus durch alle Welt, und doch bleiben wir mitten drin, was wir sind, wie im Schneetreiben des Himmels die Menschen Erdentreter und Erleber irdischer Dinge sind. Aber das Bild ist doch anders, das Weiß-Grau überall hat die Welt für die Augen verwandelt und alle Schwere, alle Wucht und Niedergelegtheit der Erde auf Ewigkeit für den Beschauer aufgehoben. Aber plötzlich, wie man dem kleinen Teich am Kamelshöcker zustrebt, sieht man wie aus einer fremden Welt einschlagend überm Schneehügel, der mit dem Himmel eins ist, die schwarzen Mühlenflügel sich umwälzen, und kann sich doch den Hügel, der den Mühlenleib verbirgt, leicht als ein Stück Himmel denken. Sie schlagen wie toll um sich inmitten all dieser zimperlich-jüngferlichen Mattweiß-Ruhe. Kobolzende Kobolde im Himmel, frech und voll Höllenenergie in wütiger Lustigkeit, brechen sie wie durch einen Spalt in einen Papierbogen ein und schlagen rückwärts wieder hinaus. Auch der Teich hat sein Laken überbekommen, aber Schlittschuhläufer haben es gezerrt und in Falten gezogen, auch wohl ein Loch hineingeschlitzt und weithin gerissen. So ist er voll dunkler Bogen und Haken und wellender Züge. Die Schlittschuhläufer scheinen das Tuch in tausend Schnitzel teilen zu wollen und haben eine fröhliche Schlenkerwut in den Beinen gleich Mühlenflügeln, fahren ohne Ziel auf und nieder, gradeaus, rundherum und querdurch, keine andere Teufelei im Sinne als zu tausend und tausend neuen Streichen mit scharfer Stahlklinge. Oder ist es eine Ernte im Schnee; fast scheint es, als flögen die Schlittschuhe wie Sicheln durch unsichtbares Korn.

Der Klaus stolpert eifrig über hartes Ackerland zum Teich, und wir betreten den wässerig vom Westwind immerhin gewärmten Schnee, der so glatt überm Eis liegt wie auf einem Glasboden. Wo unser Schlitten, wenn wir umbiegen, im Schnee eine breite Gasse fegt, sieht man das Unheimliche des Grundes in tausend Luftbläschen im Eise stecken, wir steigen über verzauberte Luft und lassen den schwarzen Teichgrund mit seinen pflanzlichen Gespensterformen unter uns brüten. Die beiden Jungen kennen schon ihren Klaus, er kreuzt und befährt denselben Schulweg und hängt sich an die Großen mit den weiß und roten Mützen. Er wird gefragt, ob er über den Teich hin Vorspann braucht, und willigt ein oder sagt ab mit unbedenklicher Schroffheit. Bald will er selbst den Schlitten schieben, bald lädt er sich ein Heufuder von Menschenfracht darauf und zieht ihn am Bändchen mit festen Tritten in dem Schnee ein Stück vorwärts. Aber dann kaufte ich ihm die ersten Schlittschuhe, die lagen zu Mittag auf seinem kleinen Eßtisch, und als ich eintrat, kehrte er ihnen wie genierlichen Bekannten, die er doch sehr liebt, den Rücken; gewann aber schnell Vertrauen und übte sich mit Schnallen und Schrauben. Heute am Sonntagmorgen bei Nebel und leichtem Frost waren wir am Teich wie vorgestern. Der Schnee war weg, und die zweimal auf- und zweimal tief schwingende Linie der braunen Felder legte sich um das Rund wie die Fassung eines Schmuckes. Das Eis glänzte glatt und hart, und er saß nieder auf einen Grashügel und hielt die Füße zum Anschnallen hoch, dann trappelten sie, nämlich die Füße, zuversichtlich übers Ufergras aufs Eis und fochten sich mit Fehlstreichen und dieser wohlgemuten Ahnungslosigkeit aller Schwierigkeiten über den unschuldsblanken Boden mit den hundert Fallen und strampelten und ampelten, schleiften und wackelten mit allem guten Willen und [aller] Begierde. Der buschige Kamelshöcker war ausgewachsen und verblaßt von Nebel, und ein paar Krähen schwammen wie auf Irrwegen, vom Weißgrau übertuscht, in der eingedickten Luft vorbei. Aber am Nachmittag, nachdem er auf seinem Spezialruhebett aus Stuhlarchitektur neben mir mit der Spieldose gewacht und mich Punkt zwei Uhr unbarmherzig zum Wachen gebracht, fuhren wir mit der Bahn nach Primerburg und verbrachten eine Stunde im schneeigen Wald, zwischen weichen Nebelwitterungen und vergrauenden Waldhintergründen, er die Hundeleine in der einen, mich an der andern Hand, stiegen über aufgeweichte Decken der Rasenhügel und machten einen Halbzirkel über die Weide von Waldrand zu Waldrand. Hier sieht man die nahen Heidberge als unkörperliches Dunstgebilde lagern und Baumgruppen nah und fern über die Flächen immer mehr im allgemeinen Nebelgrau einschlagen und vom Dunst entstaltet und ausgelaugt werden. Aber was hilfts, seine Seele ist hungrig, seine Augen laufen noch spielend durch alles hin, decken auf oder lassen vorübergleiten, was in Formen und Farbe um uns starrt oder bei langsamem Vorwärtstreiben uns umkreist. Seine Seele will Futter, – Däumlingsgeschichten, und Däumling, auf der Suche nach den gläsernen Vettern und Oevelgönne, war gerade aus Island in Rostock angelangt, und so versetzten wir uns aus dem kulissenschiebenden Nebelwald an die Warnow.


 << zurück weiter >>