Honoré de Balzac
Die dreißig tolldreisten Geschichten – Drittes Zehent
Honoré de Balzac

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Der Vagabund von Rouen

Der alte Chronist, der den Flachs geliefert hat, aus dem die gegenwärtige Historie gesponnen ist, will selber zu der Zeit gelebt haben, in der diese Geschichte sich in der Stadt Rouen zugetragen hat, wo man tatsächlich seinen Namen in alten Urkunden und Registern verzeichnet findet. In der Umgebung dieser schönen Stadt, allwo damals der Herzog Richard hofhielt, trieb in jenen Tagen ein Vagabund und Landstreicher sein Wesen, der mit Namen Tryballot hieß, aber meistens ›der Vagabund‹ kurzweg genannt wurde. Obwohl er nie ein andres Dach über seinem Haupte wußte als das Zelt des Himmels und nur Lumpen seinen Leib bedeckten, seine Haut auch gelb war wie Leder von dem Umherstreichen auf Wegen und Stegen, über Berg und Tal, war er doch von jedermann geliebt im ganzen Herzogtum, wo man sich so an ihn gewöhnt hatte, daß man ihn vermißte, wenn einmal ein Monat verging, ohne daß er sich gezeigt mit seinem Napf. »Wo nur der Alte bleiben mag?« hieß es da. »In Vagabundien!« lautete die Antwort.

Dieser Vagierer hatte von seinem Vater, der ebenfalls ein Tryballot und überdies ein fleißiger Bürger und sparsamer Mann war, ein hübsches Vermögen geerbt, das ihm erlaubte, eine Zeitlang in Saus und Braus zu leben, da er sich gerade zu den entgegengesetzten Grundsätzen bekannte als sein Vater, der, wenn er vom Feld heimkehrte, links und rechts am Weg jedes Spreißelchen Holz auflas, jedes dürre Reis und Strohhälmchen zusammenklaubte, weil er sagte, daß ein Mann nicht mit leeren Händen nach Hause kommen soll. So heizte dieser brave Bürger im Winter seine Stube mit dem Holz der Fahrigen und Nachlässigen, und wahrlich, er tat wohl daran. Auch gab er mit seinem Tun ein so anreizendes Beispiel, daß ein Jahr vor seinem Tode auf Weg und Steg nicht das kleinste Holzsplitterchen mehr zu finden war; sein Exempel machte aus den Unordentlichsten umsichtige und sparsame Leute.

Nur sein Sohn verschmähte es, dem guten Beispiel seines Vaters zu folgen. Aber der Alte hatte ihm das schon in der frühsten Kindheit vorausgesagt. Wenn da der Vater den kleinen Tryballot auf seinen Acker hinausschickte, um die Vögel zu verjagen, die als freche Spitzbuben die Erbsen stibitzten und, was sie nicht fraßen, zu Boden hackten und verdarben, hatte er seine helle Freude an ihnen, an ihren zierlichen Gestalten, ihren hurtigen Bewegungen, wie sie kamen und beladen davonflogen und wiederkamen, und wollte sich ausschütten vor Lachen, wenn sie die Scheuchen und Schlingen, die der Vater gestellt hatte, mit klugen, listigen Blicken beäugelten und geschickt vermieden. Der Vater ärgerte sich grün und gelb, wenn es der Früchte oft drei gestrichene Maß weniger wurden. Es half auch nichts, daß er den Schlingel an den Ohren zog, wenn er ihn hinter einem Haselbusch über allerhand Allotria antraf; der Taugenichts fuhr dennoch fort, die Sitten der Häher, Amseln, Stare, Spatzen und andrer zu studieren, deren Klugheit und Verschmitztheit er nicht genug bewundern konnte. Oft sagte ihm sein Vater, daß er wahrlich gut daran tue, dem Geschmeiß seine Kniffe abzugucken; denn wenn er so fortfahre, werde er in seinen alten Tagen noch einen rechten Spitzbuben abgeben und selber vogelfrei werden, gehetzt und gejagt von den Dienern der Gerechtigkeit. Und diese Prophezeiung wurde wahr, da der junge Tryballot, wie wir schon gesagt haben, in der kürzesten Frist durchbrachte, was sein Vater in langen Jahren zusammengespart hatte. Er hielt es mit den Menschen wie seinerzeit mit den Spatzen, ließ jedermann in seinen Beutel greifen und hatte wieder seine Freude daran, wie sich die Leute drehten und wandten und lieb taten, um ihm seine Groschen abzulausen. Auf diese Weise kam er bald ans Ende. Aber er ließ sich darum keine grauen Haare wachsen, er pflegte zu sagen, seine Seligkeit sei ihm lieber als die Güter dieser Welt. Er hatte nicht umsonst seine Philosophie in der Schule der Vögel studiert.

Nachdem er also eine kurze Zeit in dulci jubilo dahingelebt, hatte er eines Morgens nicht mehr in seinem Vermögen als einen Becher und drei Würfel. Das war genug, um zu trinken und zu spielen. Überdies war es ein leichtes Gepäck, das ihn wenig beschwerte. Er konnte also mit Recht die Großen der Erde bemitleiden, die sich nicht im geringsten in Bewegung setzen können ohne ganze Wagenladungen voll Kisten und Koffern, Schachteln und Schirmen und einen ganzen Troß von Dienervolk.

Tryballot zog aus, seine guten Freunde zu besuchen. Aber er traf keinen, der ihn wiederkannte. Das gab ihm das Recht, auch niemand mehr zu kennen. Da ihm aber bereits der Magen vor Hunger knurrte, beschloß er bei sich, einen Beruf zu ergreifen. Es sollte aber einer sein, der keine Arbeit verlangte und doch sehr einträglich wäre. Wie er darüber nachdachte, fielen ihm die Spatzen und Drosseln wieder ein. Da entschloß er sich kurzerhand und wählte den Beruf eines Bettlers und Landstreichers. Und siehe, wo er die Hand ausstreckte, erhielt er von den mitleidigen Leuten seinen Obolus. Wahrlich, er konnte zufrieden sein. Er fand seinen Beruf ganz herrlich. Es war vor allem ein Beruf, bei dem nichts zu verlieren war. Einen bequemeren Beruf konnte es in der Welt nicht geben. Und weil er sein Handwerk liebte, liebten ihn die Menschen. Er war überall wohl empfangen und erhielt tausend Tröstungen, die dem Reichen verweigert werden. Er sah die Landleute säen und mähen, pflanzen und ernten und sagte bei sich in seinem Herzen: ›Wie doch die Leute sich plagen, um mich zu nähren.‹ Wer ein Schwein in seinem Stalle hatte, schuldete, ohne es zu bedenken, dem Tryballot ein Stück davon, und der Hausfrau, die einen Ofen voll Brot buk, kam nicht der Einfall, daß eines davon notwendig dem Tryballot gehörte. Dennoch nahm er nichts mit Gewalt, im Gegenteil, die Leute gaben ihm noch gute Reden obendrein.

»Da, alter Vagierer«, sagten sie, »laß dir's schmecken! Geht's gut? Komm, das hat die Katze abgenagt, iß du's vollends auf.«

Bei allen Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen erschien Tryballot; denn er war überall, wo die Menschen, offen oder versteckt, sich ein Fest gaben. Mit großer Strenge beobachtete er das oberste Gesetz seines Berufs, nämlich: niemals etwas zu arbeiten. Denn wenn er gezeigt hätte, daß er auch nur das geringste arbeiten könne, würde ihm kein Mensch mehr einen Bissen gegeben haben.

Wenn er sich den Wanst gefüllt hatte, der Philosoph, streckte er sich in einem Straßengraben aus oder lehnte sich an den Pfeiler einer Kirche und träumte von den öffentlichen Angelegenheiten. Dann meditierte er über die Philosophie seiner liebenswürdigen Lehrer, der Herren Finken, Drosseln und Spatzen; denn wenn er auch am Leibe mit Lumpen bekleidet war wie ein Bettler, hatte er im Kopf doch keine lumpigen Gedanken. Das eine ist nicht notwendig die Folge des andern. Vielmehr war sein Gehirn glänzend ausgestattet. Mit seiner Philosophie belustigte er nicht wenig seine Kundschaft, denen er für die Brocken, die von ihrem Tische fielen, die Aphorismen, id est Brocken und Abfälle seiner Weisheit, mitteilte. Er sagte zum Beispiel, die Reichen hätten nur darum die Gicht, weil ihre Füße immer in weichen Pantoffeln steckten. Und er rühmte sich, so gut auf den Beinen zu sein, weil er per pedes apostolorum ginge. Er sprach von den Kopfschmerzen gekrönter Häupter, wovon er verschont sei, da weder Sorgen noch Kronen seine Stirne drückten und keine Ringe und Edelsteine ihm den Blutumlauf hinderten. In der Tat fühlte er sich gesund wie ein neugeborenes Kind, obwohl er sich von Zeit zu Zeit, wie es sein Beruf verlangte, die schlimmsten Wunden beibrachte.

Der Gevatter belustigte sich viel mit andern seinesgleichen. Willkommenen Zeitvertreib verschafften ihm seine drei Würfel, die er sorgfältig aufgehoben hatte, um damit jederzeit sein Geld verspielen zu können und also seinem Gelübde der Armut nicht untreu zu werden. Aber wie den Bettlerorden flossen ihm seinem Gelübde zum Trotz so viele Einkünfte zu, daß er einmal an einem Ostersonntag zehn Taler ausschlug, die ihm ein Mitbruder zum voraus für das Erträgnis des Tages geboten hatte. In der Tat konnte er am Abend vierzehn Taler für ein Festessen und Bankettieren ausgeben, das er seinen Kameraden, den Almosenspendern zu Ehren, veranstaltete, da es zu den Gesetzen des Bettlertums gehört, gegen die Geber dankbar zu sein. Obwohl er sich sorgfältig alles dessen entledigte, was den andern Sorge machte, als welche, weil es ihnen zu gut geht, sich Kümmernisse suchen, war er unendlich besser daran, als wenn er sich mit den Talern seines Vaters durchs Leben geschleppt hätte. Er konnte sich sogar von Adel dünken; denn er tat nur, was seiner Phantasie zusagte, und lebte in Hülle und Fülle, ohne eine Hand zu rühren. Er wäre für dreißig Taler nicht aufgestanden, wenn er sich einmal zur Ruhe hingelegt hatte. Seine Lebensregel war: Kommt der Tag, bringt der Tag, und wenn wir dem Meister Plato glauben dürfen, dessen Autorität schon einmal in einer unsrer Historien angerufen wurde, so glich sein Leben auf ein Haar dem Leben der größten Weisen des Altertums.

Zweiundachtzig Jahre war er so nach und nach alt geworden, ohne daß er einen einzigen Tag ohne Heller gewesen wäre, und noch immer leuchtete sein Gesicht in der Farbe, die man sich vorstellen kann. Dabei war er überzeugt, daß man ihn längst eingescharrt haben würde, wenn er dazu verdammt gewesen wäre, unter dem Fluch des Reichtums zu leben, und es ist wohl möglich, daß er recht hatte.

In seiner grünen Jugend hatte er für einen großen Schwerenöter gegolten, will sagen in puncto puncti, und es wurde behauptet, daß in diesem wie in andern Punkten das Gevögel des Feldes, die Spatzen, Turteltauben und andre, seine Lehrmeister waren. Zu jeder Stunde war er aufgelegt, die Weiber niederzulegen; denn da er nie etwas tat, war er immer bereit zu tun. Die Waschfrauen des Landes pflegten zu sagen: wie sie auch die Damen einseiften, der Tryballot verstünde es doch noch besser. Und diese seine Facultas occulta, wie man sagte, war der heimliche Grund seiner großen Beliebtheit weit herum im Lande. Man erzählt sich, daß ihn die Schloßdame von Caumont eines Tages auf ihr Schloß rufen ließ, um über die genannte Facultas der Wahrheit auf den Grund zu kommen; acht Tage soll sie ihn bei sich eingeschlossen haben, um ihm das leidige Betteln abzugewöhnen, aber aus Furcht, im Wohlleben zu verkommen, sei er ihr zuletzt auf und davon gegangen.

Wie er aber nun älter und älter wurde, sah sich dieser seltene Philosoph, der seine Philosophie bei den Vögeln studiert hatte, immer mehr verschmäht, wozu doch, wie er nur allzu gut wußte, gar kein Grund vorlag. Hier aber ist die erste Ursache und der Ausgangspunkt des Prozesses zu suchen, der in Rouen zu seiner Zeit so großes Aufsehen erregt hat und von dem nun endlich die Rede sein soll.

Der Vagabund stand also in seinem zweiundachtzigsten Lebensjahr und sah sich seit ungefähr sieben Monaten zur gänzlichen Enthaltsamkeit verurteilt, da er kein Weib mehr finden konnte, das etwas von ihm wissen wollte. Er sagte später vor dem Richter, daß ihm eine so schreckliche Sache in seinem ganzen ehrenhaften Leben nicht vorgekommen war. In diesem qualvollen Zustand gewahrte er eines schönen Tages im Monat Mai auf dem Feld ein junges Mädchen, das bei seiner Herde eingeschlafen war, wie die Landleute auf dem Feld zur Mittagszeit bei großer Hitze wohl zu tun pflegen. Das arme Ding, zufällig eine Jungfrau, lag also da hinter einem Busch, das Gesicht im kühlen Gras, während sein Vieh wiederkäute, und erwachte plötzlich über der Tat des Alten, der ihr das geraubt hatte, was ein Mädchen nur einmal verlieren kann. Als sie sich den Schaden besah, den ihr der Vagabund ohne ihre Einwilligung und ohne ihr damit ein Vergnügen zu machen, zugefügt hatte, erhob sie ein großes Geschrei, also daß von weither die Leute zusammenliefen und von ihr zu Zeugen ihres Zustands aufgerufen wurden, der kein andrer war als derjenige einer jungfräulichen Braut nach der Hochzeitsnacht. Sie flennte und jammerte immerfort und sagte, der alte Affe hätte doch lieber ihre Mutter notzüchtigen sollen, die würde jedenfalls nichts dagegen gehabt haben. Auf die Vorwürfe der Bauern, die den Vagabunden mit ihren Gabeln und Karsten bedrohten, gab er zur Antwort, daß er im Drange der Not gehandelt, worauf die Leute mit Recht erwiderten, daß ein Mann sich sein Vergnügen suchen könnte, ohne eine Jungfrau zu schänden, als welches ein Fall sei, auf dem der Galgen steht. Und mit großem Geschrei brachten sie ihn nach den Gefängnissen von Rouen.

Vor dem Profosen erzählte das Mädchen die Sache also: Sie sei in der Mittagshitze eingeschlafen, weil sie nichts andres zu tun gehabt habe; da sei ihr im Traum ihr Bräutigam vorgekommen, mit dem sie sich seit langem herumgestritten, weil er ihr das vorwegnehmen wollte, was sie ihm erst nach der Kopulation zu geben entschlossen war. Im Traum habe sie ihm nun das gezeigt, was er doch einmal kennenlernen mußte, um ihn zu überzeugen, daß alles mit ihr seine Richtigkeit habe und später nicht Zank und Mißhelligkeit entstehe. Trotz ihres Widerstands sei er dann weitergegangen, als sie ihm erlauben wollte, und da sie dabei mehr Schmerz als Lust empfunden, sei sie darüber erwacht und habe sich vergewaltigt gesehen von dem alten Vagabunden, der sich über sie geworfen wie ein Kapuziner über einen Schinken am Ende der Fasten.

Der Fall machte ein solches Aufsehen in der Stadt Rouen, daß der Profos vor den Herzog gerufen wurde, der sich vergewissern wollte, was an der Sache Wahres sei. Auf die Aussage des Richters hin befahl er, daß ihm der alte Tryballot vorgeführt werde, und war sehr neugierig darauf, was der seltsame Greis zu seiner Verteidigung vorbringen möchte. Der Landstreicher erschien also vor dem Fürsten. Und in aller Unbefangenheit erklärte er: daß das Ungestüm seiner Natur, die ihn fortreiße wie einen Jüngling, allein an dem Unglück schuld sei; daß ihm die käuflichen Menscher nichts nützten, da er kein Geld habe; daß er auch bis auf dieses Jahr nie der Weiber ermangelt; daß er nun aber an die acht Monate gefastet, weil die ehrbaren Frauen, die ihm früher diese Mildtätigkeit erwiesen, sich von ihm abgekehrt hatten, seitdem seine Haare ergrauten, wie sehr auch die Liebe noch grüne in seinem Herzen; daß er also wohl gezwungen sei, sich die Lust zu nehmen, wo er sie finde; daß ihm da der Teufel hinter dieser Buchenhecke die Jungfrau in den Weg gelegt und so kitzlig entblößt habe, worüber er in seinem ausgehungerten Zustand alle Vernunft verloren; daß nicht er, sondern das Mädchen schuldig sei, da es den Jungfrauen nicht erlaubt wäre, vor den Vorübergehenden das so sorglos zu entblößen, wovon die Frau Venus Kallipygos ihren Namen habe; endlich, daß der Herzog gewiß aus eigner Erfahrung wisse, mit welcher Mühe zu solcher warmen Mittagsstunde ein Mann die Begierden an sich halte, als welche dann schwerer zu bändigen seien denn die Jagdrüden an der Leine, was schon der König David erfahren habe, als er zu dieser Stunde das Weib des Herrn Urias erblickt; daß man da, wo ein so frommer König gestrauchelt, der ein Geliebter Gottes war, mit einem armen verachteten Teufel nicht allzu streng ins Gericht gehen dürfe; daß er sich übrigens gern bereit erkläre, für den Rest seines Lebens zur Harfe bußhafte Psalmen zu singen, wie jener fromme König getan, der sich außerdem mit der großen Missetat beladen, einen Ehemann ermordet zu haben, während er, der Vagabund, einer Dirne des Feldes höchstens einen kleinen Schaden zugefügt.

Der Herzog fand Geschmack an den Verteidigungsgründen des Vagabunden. Er bemerkte lächelnd, der Alte müsse wahrhaftig ein Kerl von guten H... sein. Dann fällte er folgendes denkwürdiges Urteil: Wenn es wahr sei, wie der Bettler aussage, daß er in seinem Alter noch solche unwiderstehliche Anwandlungen habe, so möge er dies unter dem Galgen, wozu ihn der Profos bereits verurteilt hatte, beweisen. Wenn ihm dort, am Fuß der Leiter zwischen dem Beichtvater und dem Henker, mit dem Strick um den Hals noch einmal dergleichen Phantasie ankomme, solle er begnadigt werden.

Dieses Urteil des Fürsten verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt, und als der arme Teufel zur Richtstätte geführt wurde, strömte eine unerhörte Menschenmenge zusammen, nicht anders als bei einem herzoglichen Einzug; doch sah man, wie ihr euch wohl denken könnt, mehr Hauben unter der Menge als Hüte. Der Vagabund aber wurde gerettet durch eine Dame, die ungeheuer neugierig war, wie es mit dem erbarmungswürdigen Alten endigen werde. Sie hatte dem Herzog gesagt, daß es die christliche Barmherzigkeit verlange, dem armen Menschen seine Rettung soviel als möglich zu erleichtern. Schmückte sich die genannte Dame also wie zu einem Tanzfest, entblößte tief ihre wunderbar geformten schneeweißen Brüste – viel weißer als das schneeige Leinen ihres Fürtuchs –, bei deren Anblick dem Sattesten das Wasser im Mund zusammenlief, so niedlich waren sie. Und mit einem Lächeln auf den Lippen, das ganz Herausforderung, ganz Einladung war, stellte sie sich vor den armen Verurteilten, der in einem Kittel von grober Leinwand traurig und niedergeschlagen zwischen den Gerichtsknechten heranschritt und sehr befürchtete, das unmöglich vor dem Gehenktwerden zu erreichen, was hernach ja nicht ausbleiben werde. Denn einstweilen sah er, wie er auch um sich blickte, nichts als Hüte und Hauben. Er würde, so waren später seine eignen Worte, in diesem Augenblick gern tausend Taler dafür gegeben haben, eine Dirne vor Augen zu bekommen in der Situation jener Kuhhirtin, an deren Entblößungen er jetzt dachte. Sie hatten ihm Verderben gebracht und wären jetzt sicher imstande gewesen, ihn zu retten. Er suchte sie sich also recht deutlich vorzustellen, fand aber in seiner Greisenphantasie nur abgeblaßte, schwache Bilder. In dieser höchsten Not, als er schon einen Fuß auf die Leiter setzte, erschien vor ihm jene Dame; er sah die zierlichen schimmernden Rundungen mit dem süßen Delta dazwischen, und der Anblick versetzte seinen Meister Iste in solche Aufwallung, daß der Leinenstoff seines engen Kittels eine plötzliche straffe Falte schlug.

»He, Männer der Gerechtigkeit«, rief er, »kommt schnell und beaugenscheinigt, ich habe meine Begnadigung gewonnen; doch wie lang es der Kerl treibt, dafür kann ich nicht stehen.«

Die Dame zeigte sich mit dieser Huldigung sehr zufrieden. Sie erklärte, das gehe über eine Vergewaltigung, und die Gerichtsbüttel, mit der Beaugenscheinigung beauftragt, glaubten nicht anders, als daß der Alte der leibhaftige Teufel sei; denn nie hatten sie in Büchern und Geschrift ein so aufrichtiges I gefunden, als ihnen hier entgegenstarrte. Wurde denn auch der Begnadigte im Triumph durch die Stadt zum Palast des Herzogs geführt, vor dem der Profos und andre die Richtigkeit der Tatsachen beglaubigten. In jenen Zeiten der Unwissenheit erregte diese kuriose Art der Rechtsprechung die größte Bewunderung, und einstimmig verlangte die Bevölkerung, daß dem seltenen Mann an der Stelle, wo er sich seine Begnadigung gewonnen, eine Statue errichtet werde, die ihn dergestalt verewige, wie ihn alles Volk beim Anblick jener tugendsamen und vornehmen Dame mit Staunen betrachtet hatte. Diese Statue war noch zu sehen zur Zeit, als die Stadt Rouen von den Engländern eingenommen wurde, und die zeitgenössischen Chronisten erzählen die Geschichte unter den wichtigsten Begebenheiten der Stadt und der Provinz.

Als die gute Stadt Rouen beschloß, dem Alten so viel Dirnen zu liefern, als er haben wolle, und auch für sein sonstiges Auskommen reichlich zu sorgen, legte sich der Herzog ins Mittel, schenkte der Entjungferten ein Tausender Taler und verheiratete sie mit dem neugebackenen Volkshelden, der damit seinen alten Namen Tryballot verlor, wofür ihm der Herzog einen neuen gab und ihn zu einem Junker von Bonne-Chouse, Gutenhoden, erhob. Seine Frau aber gebar ihm nach neun Monaten einen wohlgebildeten Knaben, der mit zwei Zähnen zur Welt kam. Aus dieser Heirat erwuchs die edle Familie derer von Bonne-Chouse, die später, weil sie sich, aber mit Unrecht, ihres Namens schämten, von dem vielgeliebten König Ludwig dem Elften ein Patent auswirkten, das ihren ursprünglichen Namen in Gutenhuden umwandelte. Bei dieser Gelegenheit bemerkte König Ludwig den Herren von Bonne-Chouse, daß es in dem Staat der Herren von Venedig eine sehr berühmte Familie gebe, die den Namen Coglioni und drei H... in ihrem Wappen führe. Darauf erwiderten die Herren von Bonne-Chouse dem König, daß ihre Damen immer erröteten, wenn sie am Hof und in den Sälen der guten Gesellschaft mit diesem Namen genannt würden. »Sie sind nicht klug«, entgegnete der König lachend, »sie wollen ihren eignen Schaden. Mit dem Namen wird auch die Sache flötengehen.«

Er gab ihnen dennoch das verlangte Patent. Seitdem lebt die Familie unter dem neuen Namen und hat sich über mehrere Provinzen des Königreichs ausgebreitet. Der erste Herr von Bonne-Chouse aber lebte noch siebenundzwanzig Jahre und bekam einen weiteren Sohn und zwei Töchter. Er war nur darüber unglücklich, daß er nun doch als ein Reicher enden mußte und nicht mehr von Haus zu Haus sein Brot betteln durfte.

Daraus könnt ihr eine schönere Lehre ziehen und eine dickere Moral entnehmen als aus irgendeiner Geschichte, die ihr in eurem Leben lesen mögt, meine ›Dreißig Tolldreisten Geschichten‹ glorreichen Angedenkens natürlich ausgenommen. Nämlich die Wahrheit: daß ein Abenteuer dieses Kalibers niemals weichlichen und morschen Hofleuten oder andern reichen Prassern begegnet wäre, die mit übermäßigem Essen und Trinken ihr bestes Werkzeug frühzeitig dem Verfall überantworten und auf weichen Daunen schlafen, während der Herr von Bonne-Chouse die Erde zum Lager und einen Stein zum Kopfkissen hatte. Viele in seiner Lage würden, wie das Volk sagt, nachdem sie Kraut gegessen hatten, Dreck geschissen haben. Das mag vielleicht viele, die diese Geschichte lesen, dazu bewegen, ihr Leben von Grund aus zu ändern, um, wenn sie in die Jahre kommen, dem alten Tryballot nachzuahmen.


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