Honoré de Balzac
Seraphita
Honoré de Balzac

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Der zu Gott führende Weg

Am Tage, der demjenigen folgte, an welchem Seraphita ihr Ende geahnet und Abschied von der Erde genommen hatte, gleich einem Gefangenen, der seinen Kerker, bevor er ihn verläßt, noch einmal überblickt, wurde sie von Schmerzen gezwungen, in der vollkommenen Unbeweglichkeit derer zu verharren, die sehr heftiges Weh empfinden. Als Wilfrid und Minna sie besuchten, fanden sie sie ruhend auf ihrem mit Pelzwerk bedeckten Divan. Noch vom Fleische gefesselt, strahlte ihre Seele hell durch diesen Schleier hervor und bleichte ihn täglich mehr. Die Fortschritte des Geistes, der die letzten der ihn von der Unendlichkeit trennenden Schranken zu untergraben suchte, wurden von ihnen Krankheit genannt; die Stunde des beginnenden Lebens hieß Tod!

David weinte, als er seine Herrin, ohne auf seine Tröstungen zu achten, so leiden sah; der Greis war unverständig geworden wie ein Kind. Auch der alte Pfarrherr bat Seraphita dringend aber vergebens um größere Schonung und bessere Pflege.

Eines Tages verlangte sie nach den beiden von ihr geliebten Wesen, um ihnen zu sagen, daß dieser Tag der letzte ihrer bösen Tage sein werde. Von Furcht ergriffen, eilten Wilfrid und Minna herbei; nur zu gut wußten sie, welcher Verlust ihnen bevorstand. Seraphita empfing sie mit dem Lächeln, das man an jenen beobachtet, die in eine bessere Welt hinübergehen; sie neigte ihr Haupt gleich einer tauschweren Blume, die zum letzten Male ihren Kelch enthüllt und den Lüften ihren letzten Wohlgeruch mitteilt. Mit Schwermut, deren Ursache aber sie waren, wurden sie von ihr angeblickt, denn nicht an sich selbst, nur an sie dachte sie in diesem Augenblicke, und außerstande fühlten sie sich dagegen, einen Schmerz auszudrücken, dem Dankbarkeit sich beimischte. Schweigend und unbeweglich, in eine jener durch Dinge, deren Größe uns hienieden eine erhabene Unermeßlichkeit begreifen läßt, erregten Betrachtungen versunken, blieb Wilfrid hochaufgerichtet stehen. Kühn geworden durch die jetzige Schwäche des sonst so mächtigen Wesens, oder vielleicht aus Furcht, es für immer zu verlieren, beugte sich Minna über dasselbe und bat: »Gestatte mir, Seraphitus, dir zu folgen!«

»Kann ich dir dies verbieten?«

»Warum liebst du mich doch nicht so sehr, um lieber hienieden zu bleiben?«

»Ich darf hienieden nichts lieben.«

»Wen aber liebst du?«

»Den Himmel!«

»Bist du würdig des Himmels, wenn du so die Geschöpfe Gottes verachtest?«

»Können wir zwei Wesen zumal lieben, Minna? Wäre der Inniggeliebte, was er ist, wenn er nicht das ganze Herz erfüllte? Muß er nicht der erste, der letzte, der einzige sein? Soll diejenige, die ganz Liebe ist, nicht zum Besten ihres Inniggeliebten die Welt verlassen? Vater und Mutter, Schwester und Bruder treten zurück als schwache Erinnerungen, sie besitzt nur einen Blutsfreund, Ihn! Ihre Seele gehört nicht ihr, sondern Ihm! Bewahrt sie in sich selbst irgend etwas, was nicht Ihm gehört, so liebt sie nicht! Heißt schwach lieben wirklich lieben? Das Wort des Inniggeliebten macht sie ganz Freude und durchströmt ihre Adern mit viel herrlicherm Purpur, als Blut je sein kann. Sein Blick ist sie durchdringendes Licht, sie verschmilzt in Ihm; nur da, wo Er weilt, ist alles schön. Er erwärmt die Seele, Er erleuchtet alles. Wird es in Seiner Nähe je kalt oder Nacht? Er ist nie abwesend, stets lebt Er in uns, wir denken in Ihm, zu Ihm, durch Ihn! So, Minna, liebe ich!«

»Wen?« fragte Minna, von tödlicher Eifersucht ergriffen.

»Gott!« entgegnete Seraphitus, dessen Stimme in den Seelen erglänzte gleich einem von Berg zu Berg entzündeten Freiheitsfeuer, »Gott, der uns niemals verrät! Gott, der uns nie verläßt, unaufhörlich unsere Wünsche erfüllt, der allein sein Geschöpf mit unendlicher und ungetrübter Freude zu erquicken vermag; Gott, der in uns herniedersteigt, um da Blüten zu treiben, der alle unsere Wünsche erhört, nicht mit uns ins Gericht geht, wenn wir ihm angehören, sich aber uns ganz gibt, uns erquickt, uns erfüllt, uns vervielfacht in sich, kurz, Gott! Gott! Gott! Ich liebe dich, Minna, weil auch du ihm angehören kannst! Ich liebe dich, weil du, wenn du zu ihm kommst, auch bei mir sein wirst!«

»O, leite du also meine Schritte!« flehete sie niederknieend. »Fasse meine Hand, damit ich nie dich verlasse!«

»Leite uns, Seraphita!« rief Wilfrid, der ungestüm sich neben Minna niederwarf. »Ja, du hast mir endlich Durst erweckt nach dem Lichte, nach dem Worte! Meine Seele soll die deinige bewahren, sprich aus deinen Willen, allem werde ich folgen, was du befiehlst! Kann ich dich nicht besitzen, so will ich wenigstens alle Gefühle bewahren, die du mir mitteilen wirst; vermag ich nur durch eigene Kraft mich mit dir zu vereinigen, so will ich fester an dir hängen, als das Feuer an dem, was es verzehrt. Rede!«

»Engel!« rief das unbegreifliche Wesen und umfaßte beide mit einem Blicke gleich einem azurnen Mantel. »Engel! der Himmel wird dein Erbteil sein!«

Langes, tiefes Schweigen herrschte unter ihnen nach diesem Ausrufe, der in Wilfrids und Minnas Seelen nachtönte, wie der erste Akkord himmlischer Musik. »Wollt ihr eure Füße an den zu Gott führenden Pfad gewöhnen, so wisset, daß sein Anfang rauh ist,« begann endlich diese schmerzleidende Seele. »Gott will um sich selbst gesucht sein, und eifersüchtig ist er in diesem Falle, denn er begehrt euch ganz; habt ihr euch aber ihm ergeben, so verläßt er euch nie mehr. Ich will euch die Schlüssel lassen zum Reiche, in dem sein Licht glänzt, wo ihr überall liegen werdet am Busen des Vaters, am Herzen des Gatten. Kein Wächter verwehrt den Eingang, von allen Seiten habt ihr Zutritt, sein Palast, seine Schätze, sein Szepter, nichts ist bewacht, zu allen hat er gesprochen: nehmet alles! Aber man muß den Willen haben, dahin zu gehen. Gleich wie beim Antritte einer Reise ist es notwendig, seine Wohnung zu verlassen, seine Pläne aufzugeben, seinen Freunden, seinem Vater, seiner Mutter, seiner Schwester und selbst dem jüngsten bittenden Bruder Lebewohl zu sagen, und zwar ewiges Lebewohl, denn ebenso wenig wie die zum Holzstoße wandelnden Märtyrer werdet auch ihr je eure Wohnung wieder betreten, kurz aller Gefühle und Dinge müßt ihr euch entäußern, an denen der Menschen Herzen hängen, denn sonst seid ihr nicht ganz und völlig bei eurem Unternehmen. Tut für Gott, was ihr für eure ehrsüchtigen Absichten, was ihr für irgendeine Kunst tut, was ihr getan habt, als ihr ein Geschöpf mehr als ihn liebtet, oder als ihr ein Geheimnis der Menschenwissenschaft verfolgtet. Ist Gott nicht die Wissenschaft, die Liebe, die Quelle aller Poesie selbst? Kann sein Schatz keine Begierde erregen? Sein Reichtum ist unerschöpflich, seine Poesie unendlich, seine Liebe unveränderlich, seine Wissenschaft untrüglich und ohne Geheimnis! Laßt euch durch nichts fesseln, denn er wird euch alles geben. Ja, in seinem Herzen werdet ihr unvergänglich höhere Güter finden als solche, die ihr auf Erden verloren. Das, was ich euch sage, ist wahr; seiner Macht werdet ihr teilhaftig werden, und sie wird euch zu Gebote stehen wie alles, was euer Geliebter oder eure Gebieterin besitzt! Ach! nur der zu große Tell der Menschen liegt im Zweifel befangen und mangelt des Glaubens, des Willens, des Ausharrens! Beginnen auch einige den Weg, so blicken sie bald zurück und kehren um; nur wenige Geschöpfe wissen unter zwei Extremen zu wählen, bleiben oder gehen, Himmel oder Erde! Jeder zweifelt, Schwäche beginnt das Umherirren, Leidenschaft reißt euch zum schlimmen Wege hinab, Laster zieht euch immer tiefer hinein, und ihr macht keinen Schritt weiter zum bessern Zustande. Alle Wesen durchleben ein erstes Leben in dem Kreise des Instinkts, wo sie emsig daran arbeiten, die Nichtigkeit irdischer Schätze zu erkennen, denen sie doch so begierig nachjagten. Wie oft lebt man in dieser ersten Welt, ohne sie so vorbereitet zu verlassen, um andere Prüfungen in der Sphäre der Abstraktionen zu beginnen, wo der Gedanke sich übt in trügerischen Wissenschaften, wo der Geist endlich des Menschenwortes müde wird. Denn, wenn die Materie erschöpft ist, dann kommt der Geist an die Reihe. Wie viele Gestalten hat das dem Himmel verheißene Wesen abgenützt, bevor es dahin gelangt, den Wert des Schweigens und der Einsamkeit zu begreifen, die die Vorhalle bilden zu den geistigen Welten! Hat man das öde, hohle Nichts versucht, dann richten sich die Augen auf den guten Weg. Hier gibt es andere Formen abzunützen, bevor man zum Pfade des Lichts gelangt; der Tod selbst ist nur eine Zwischenstation dieser Reise. Nun aber werden die Prüfungen im umgekehrten Sinne vorgenommen; oft reicht kaum ein ganzes Leben aus, um die Tugenden zu erwerben, die den Gegensatz des Irrwahns bilden, in dem man sonst gelebt hat. Daher folgt jetzt das Leben der Leiden, dessen qualvolle Bangigkeiten Sehnsucht nach der Liebe erwecken. Nun schließt sich auf das Leben der Liebe, wo aufopfernde Liebe zu dem Geschöpf zur Demut gegen den Schöpfer führen, wo die Tugenden der Liebe mit den Tausenden ihrer Bekenner, im Gefolge englischer Zukunft, schmerzgemischter Freuden und geduldiger Ergebung, nach göttlichen Dingen nur noch begieriger machen. Jetzt folgt das Leben, in welchem man schweigend den Spuren des Wortes nachforscht, wo man demütig wird und mildtätig, dann das Leben des Verlangens und endlich das Leben des Gebetes! In ihm ist die ewige Sonnenhöhe, in ihm sind die Blüten, in ihm ist die Ernte! Die erworbenen und langsam in uns sich entwickelnden Eigenschaften sind die unsichtbaren Bande, wodurch unsere verschiedenen Existenzen miteinander verbunden werden, von denen aber nur die Seele einiges Bewußtsein hat, denn die Materie vermag sich keiner geistigen Dinge zu erinnern; der Gedanke allein besitzt Gedächtnis für das Vorhergegangene. In diesem fortlaufenden Vermächtnis der Vergangenheit an die Gegenwart und der Gegenwart an die Zukunft liegt das Geheimnis genialer Menschen, von denen einige die Gabe der Formen, andere die Gabe der Harmonien besitzen, und dieses sind lauter Stufen aufwärts auf dem Wege zum Lichte. Ja, wer eine dieser Gaben besitzt, berührt schon an einem Punkte die Unendlichkeit. Das Wort – von dem ich euch hier einige Buchstaben offenbare – hat die Erde an sich gerissen, es in Staub verwandelt, und allen ihren Werken, Lehren, Dichtungen beigemischt. Und wenn ein unsichtbares Körnchen dieses Wortes in irgendeinem Werke widerstrahlet, so sprechet ihr: Wie groß ist das, wie wahr und wie erhaben! und Schwingungen von diesem kleinen Ding durchbeben euch und regen auf das Vorgefühl des Himmels. Denn alles ist in euch Ahnung der göttlichen Welt, bei einem ist es Krankheit, die ihn von der Welt trennt, bei jenem Einsamkeit, die ihn zu Gott leitet, und bei dem dritten Dichtung, kurz alles, was euch in euch selbst zurückführt, euch trifft und auch vernichtet, euch hebt und auch erniedrigt, ist alles hierzu dienlich. Eine einzige grade gezogene Furche sichert die Richtung der andern. Ein einziger plötzlich entstandener Gedanke, eine gehörte Stimme, ein bitteres Leid, ein einziger Ton, der das in euch verborgene Wort trifft, ändert eure Seele für alle Ewigkeit. Alles endigt zuletzt in Gott, es gibt daher viel Wege, ihn zu finden, wenn jeder stets in grader Richtung fortgeht.

»Wenn endlich nun der glückliche Tag anbricht, an dem der Fuß den rechten Pfad betritt und eure Pilgerfahrt beginnt, dann weiß die Erde gar nichts mehr von euch, und ihr und sie verstehet euch nicht mehr. Allein von den Männern, die zur Erkenntnis dieser Dinge kommen und einige Silben fallen lassen von dem wahren Worte, von diesen finden viele keine Stelle, um ruhig ihren Kopf darauf zu legen, und andere sind verfolgt gleich wilden Tieren und werden hingerichtet oft zur Freude der versammelten Nationen, während die Engel ihnen des Himmels Pforten öffnen. Euer Weg wird folglich sein ein Geheimnis zwischen Gott und euch, gleich wie die Liebe ein Geheimnis zweier Herzen ist, und gleichen werdet ihr dem tief vergrabenen Schatze, über welchen goldgierige Menschenfüße, ohne seine Nähe zu ahnen, vorübereilen. Und eure Existenz wird nun fortwährend ununterbrochen tätig, und jede eurer Taten besitzt nun einen Sinn, der sich auf Gott bezieht, und eure Gedanken sind erfüllt von Liebe für die Kreatur, allein die Liebe selbst und ihre Freuden, die Liebe und die Lust, beschränkt durch eure Sinne, entwerfen nur ein unvollkommenes Bild von der unendlich großen Liebe, die euch des Himmels Bräutigam vermählt. Jedwede Erdenfreude wird von Schmerz begleitet und von Mißbehagen, und wenn die Liebe rein und klar und ohne Ekel mir erscheinen soll, so muß sie durch den Tod in der höchsten Glut der Flamme begrenzt werden, dann werdet ihr die Asche nur von ihr erkennen; Gott aber schafft hienieden unser Elend um in Wonne, und dann vervielfacht durch sich selbst sich seine Freude, und immer wachsend kennt sie keine Grenzen. Die flüchtige Erdenliebe endigt stets durch viele schwere Trübsale, wenn in dem geistigen Leben Trübsale eines Tages durch ewige Wonne schön vergolten werden. Aufjauchzet eure Seele dann für immer, die Nähe Gottes fühlt ihr dann in euch, und er verleiht dann jedem Dinge heilige Salbung, er strahlt in eurer Seele herrlich wieder, begnadigt euch mit seiner Güte, entfesselt von der Erde euch durch euch selbst, und stellt sich selbst an ihre Stelle. In seinem Namen tut ihr dann die Werke, zu denen er euch selbst begeistert, ihr trocknet Tränen, handelt ganz für ihn, besitzet nichts, was euch nur angehöre, und liebt gleich ihm mit unveränderlicher Liebe die Werke seiner Schöpfung, und wünscht alle auf dem Wege zu ihm zu sehen, gleich einer wahrhaftig innig Liebenden, die alle Völker dieser Welt dem einzig nur von ihr Geliebten gehorchen sehen möchte.

»Das letzte Leben endlich, in dem die andern alle sich vereinen, und alle Kräfte sich zusammenfinden, und wo als Lohn der Tugenden die heilige Pforte zu dem höchsten Wesen geöffnet wird, dies ist das Leben des Gebets. Wer aber ist imstande, des Gebetes Kraft und Größe und Majestät begreiflich euch zu machen? So mag denn meine Stimme in euren Herzen widerhallen und möge Kraft besitzen, sie zu ändern. O seid doch gleich, was nach den Prüfungen ihr werdet sein! Es gibt gewisse hochbegnadete Geschöpfe, als Seher und Propheten, Gesendete und die Bekenner, die freudig für das Wort dem Tod entgegengingen und aller Welt es lehrten; die Seelen dieser Männer bedurften nicht, den Kreis der Menschensphären zu durchlaufen, und hoben gleich empor sich zum Gebete; und ebenso auch, die von des Glaubens Feuer brannten! O werdet einem dieser kühnen Wesen gleich! Denn Gott sieht Kühnheit wohlgefällig, und liebt, wenn man ihm naht mit Hast, und nie verwirft er den, der bis zu ihm vordringen kann. Und wisset, daß Verlangen, der Ausfluß eures Willens ist so sehr mächtig in dem Menschen, daß ein recht herzenskräftiger Wunsch oft hinreicht, alles zu erlangen, und daß ein einziger echter Ruf des Glaubens schon genügt. So werdet eines jener Wesen, an Kraft, an Willen und an Liebe kräftig! und werdet Sieger auf der Erde! Laßt Durst und Hunger nach dem Worte Gottes euch ergreifen! und eilt zu ihm, wie der erhitzte Hirsch eilt zu der Quelle; mit seinen Flügeln wird Verlangen euch bewaffnen, und Tränen, jene Blumen großer Reue, die werden euch als Himmelstaufe dienen, aus der gereinigt euer Wesen dann hervorgeht. Erhebt euch aus dem Schoße dieser Wellen zum Gebete!

»Ernste Betrachtung, tiefes Schweigen sind wirksame Mittel, um auf diesem Wege zu verharren, denn immer offenbart sich Gott dem einsamen und in sich gekehrten Menschen. Auf solche Weise wird vollbracht die Trennung der Materie, die euch so lang in ihrer finstren Nacht festhielt, und des Geistes, der in euch aufsproßt und euch hell erleuchtet, denn klar wirds nun in eurer Seele. Licht strömet jetzt in euer schwer verletztes Herz, nicht mehr von Überzeugung sprecht ihr dann, euch ward hellstrahlende Gewißheit. Der Dichter schildert, nachdenkt der Weise und der Gerechte handelt, doch der, der an dem Rand von Gottes höhern Welten steht, der betet, und sein Gebet wird Wort, Gedanke und Handlung auch zu gleicher Zeit! Ja, sein Gebet umfasset alles, und es vollendet die Natur in euch, indem es euch den Geist und dessen Weg in ihr enthüllt. O du, Gebet! lichtvolle, keusche Tochter der Menschentugenden, du Bundeslade zwischen Erde und Himmel, sanfte Genossin, der Taube und dem Löwen ähnlich, wirst ihnen du des Himmels Schlüssel reichen? Wie Unschuld rein und kühn und stark, wie alles Einzige und Einfache, stürzt diese unbesiegte holde Königin sich auf die materielle Welt, die sie beherrscht, denn gleich der Sonne wirkt sie auf diese durch einen Kreis voll Licht. Das ganze Universum steht zu Gebote dem, der beten kann und will, allein dazu gehöret Wille, Wissen und Können, und Kraft, Weisheit und Glaube. So vieler Prüfungen Ergebnis, ist das Gebet daher nun auch der Inbegriff jedweder Wahrheit, aller Macht und aller Gefühle der Natur! Als Frucht der tätigen, ununterbrochen fortschreitenden Entwicklung der natürlichen, vom göttlichen Hauche des Wortes belebten Eigenschaften ist es die letzte, höchste Art des Kultus, allein kein materieller bilderreicher Kultus, kein viel mit Formeln überhäufter geistiger Kultus, göttlicher Welten reiner Kultus ist es nur! Mit Worten beten dann nicht länger wir; Gebet entsteht in uns und ist eine Fähigkeit, die durch sich selbst sich übt, und wird sie durch innere Tätigkeit erhaben über alle Formen, dann fesselt sie die Seele an Gott, mit dem sie euch vereinigt, wie der Bäume Wurzeln mit der Erde sich verbinden, wie ihr selbst entsprosset vom Prinzip der Dinge und wie ihr lebt das Leben selbst der Welten. Gebet gewähret äußere Überzeugung, weil es die materielle Welt von euch durchdringen läßt, vermöge des Zusammenhanges eurer Eigenschaften mit den Elementarsubstanzen; Gebet verleihet innere Überzeugung, weil es entwickelt eures Wesens tiefstes Wesen und es verbindet mit dem Grundwesen der geistigen Welten. Wer aber solche Kraft des Lebens will erproben, der muß sich aller Fleischeslust entschlagen! Durch Läuterungsfeuer müsset ihr des Diamanten Reinheit euch erwerben, denn jene innige Verbindung wird nur erlangt durch ungestörte Ruhe und durch die Unterdrückung aller Seelenstürme. Ja, das Gebet, der wahre Atem der gänzlich von dem Leibe getrennten Seele, nimmt alle Kräfte ganz allein in Anspruch, die es verwendet zur beharrlichen und unauflöslichen Verbindung des Unsichtbaren mit dem Sichtlichen. Wenn ihr die Eigenschaft besitzt, zu beten ohne Müdigkeit, mit Liebe, Überzeugung, Kraft und mit Intelligenz, so wird auch eurer vergeistigten Natur sehr bald die Macht verliehen werden, die in einem heftigen Sturme einem Blitze gleich alles durchdringt und teil nimmt an der Allmacht Gottes. Euch wird Geschwindigkeit des Geistes, in einem Augenblicke seid ihr in allen Regionen gegenwärtig, und gleich dem Worte flieget ihr von einem Ende unserer Welt zum anderen. Teil nehmt ihr nun an jener hohen Harmonie und schaut das Licht, und die Akkorde jener holden Melodie sind nun in euch! Jetzt fühlt ihr eure Intelligenz sich erst entwickeln und vergrößern, und ihre Aussicht reicht in wunderbare Fernen, denn für den Geist gibt's weder Zeit noch Ort, weil Raum und Dauer zur Materie gehören und Geist nichts mit Materie gemein hat. Und obgleich diese Dinge vollendet werden mit ruhigem Schweigen und ohne äußere sichtbare Bewegung, so ist nichtsdestoweniger doch im Gebete alles Handlung und zwar ganz reine, von aller Substantialität entbundene Handlung, gleich wie der Welten Kreisen ist eine unsichtbare Kraft. Und überall ergießt es sich wie Licht und flößet Leben ein den Seelen, die unter seinen Strahlen wohnen wie die Natur im Schein der Sonne; und überall erwecket es die Tugend, reinigt und heiligt alle Taten, bevölkert Wüsten und gibt Vorahnung himmlischer Genüsse. Habt ihr ein einzig Mal erprobt die Wonne der durch eure innere Anstrengung erzeugten göttlichen Begeisterung, vollbracht ist alles! Habt ihr ein einzig Mal die Harfe in der Hand gehabt, mit der man Gott Loblieder singt, so legt ihr sie nimmer weg. Und daher kommt die Einsamkeit, in der die Engelgeister wohnen, und ihr verächtliches Herniederblicken auf alle Menschenfreuden. Ich aber sage euch, geschieden sind sie von der Anzahl derer, die sterben müssen, und wenn sie diese Worte vernehmen, vermögen sie nicht mehr einzugehen in ihre Gedanken und staunen über das, was ihr hienieden Politik, Gesellschaft und materielle Satzungen benennet; für sie gibt's jetzt nur Wahrheiten und keine weiteren Geheimnisse. Wer endlich an der Stelle angelangt, wo seinen Augen sich die heilige Pforte zeigt, und wenn er ohne rückwärts einen Blick zu werfen und ohne Äußerung des leisesten Bedauerns die Welten betrachten kann in Hinsicht ihrer endlichen Bestimmung, dann wird er schweigend harren und der letzten Kämpfe Schmerz erdulden. Der letzte Kampf ist auch der schwerste, die höchste Tugend aber ist Ergebung. Man ist verbannt und darf sich nicht beklagen, den irdischen Dingen soll man ganz entsagen und dabei lächeln, man soll nur Gott gehören und dabei unter Menschen weilen! Ihr höret wohl die Stimme, die euch zuruft: ›Nur aufwärts! Aufwärts!‹ und oft erscheinen euch in himmlischen Visionen heruntersteigend viele Engelscharen, die euch erquicken mit erhabenen Liedern! Doch ohne Tränen, ohne Murren müßt ihr der Heimat zu sie wieder fliegen sehen, denn, euch beklagen wollen, würde heruntersinken heißen. Ergebung ist die Frucht, die einzig an des Himmels Pforten zeitigt. Wie mächtig und wie schön ist das ruhige Lächeln und die klare Stirn des gottergebenen Geschöpfes! und strahlend ist der Schein, der seine Stirn umspielt! Wer gleiche Luft einatmet mit ihm, der wird besser. Sein Blick durchdringt und rührt! Beredter durch sein Schweigen, als der Prophet es ist durch seine Worte, siegt solch Geschöpf durch seine bloße Gegenwart. Es spitzt die Ohren wie der treue Hund, der seinen Herrn erwartet. Viel stärker noch als Liebe, lebendiger noch als Hoffnung und größer noch als Glaube wirkt es alsdann, als der hochgebenedeite Auserwählte, der, hingebeugt zur Erde, für einen Augenblick die schwer errungene Palme zeigt, und dann den Eindruck seiner lichten Füße hinterläßt, und wenn er nicht mehr ist, dann eilt herbei der Menschenmenge Haufen, und alle rufen: ›Schaut!‹ Gott hält ihn aufrecht als ein Sinnbild, an dessen Füße Formen und Arten der Tierheit sich drängen, um den Weg zu erkennen. Zuweilen schüttelt er das Licht der Locken und man sieht, er spricht und man versteht und alles Volk schreit: ›Wunder!‹ – Oft siegt er auch im Namen Gottes und die erschrockenen Menschen verleugnen ihn und führen ihn zum Tode, er aber legt sein Schwert dann nieder, nachdem den Völkern er zum Retter war geworden. Wieviel gefallne Engel sind nicht als Märtyrer zum Himmel aufgestiegen, und Sinai und Golgatha sind weder hier noch dort, denn gekreuzigt ward der Engel aller Orten und in allen Sphären, und Seufzer steigen auf zu Gott von allen Seiten! Die Erde, wo wir sind, ist wie eine Ähre im vollen Felde, die Menschheit ist nur ein Geschlecht der Pflanzen im weiten Acker, auf dem des Himmels Blumen wachsen, und überall ist Gott sich gleich und überall kommt betend man sehr leicht zu ihm!«

Nach diesen wie den Lippen einer zweiten Hagar in der Wüste entfallenen Worten, die aber, in die Seele gelangt, sie ergriffen gleich den durch Jesaias feuriges Wort geschleuderten Pfeilen, schwieg dieses Wesen, um seine letzten Kräfte zu sammeln. Weder Wilfrid noch Minna wagten zu sprechen, doch plötzlich richtete es sich auf.

»Seele aller Dinge, o du mein Gott, du, den ich liebe um deinetwillen selbst! Du Richter wie auch Vater, ergründe einen Eifer, der nur in deiner unermeßlichen großen Güte sein Ziel vermag zu finden! Verleihe mir dein Wesen und deine Eigenschaften, damit noch besser ich ganz dir gehöre! O nimm mich gnädig auf, damit ich destoweniger ich selbst noch sei! und wenn ich noch nicht rein genug erfunden werde, so stürze mich zurück ins Läuterungsfeuer! Bin ich falsch geschmiedet, so mache aus mir einen nährenden Pflug oder ein siegendes Schwert. Verstatte mir ein glänzend Martyrium, damit dein Wort ich laut verkünden könne; doch wenn du mich verwirfst, so wird doch auch von mir gepriesen werden deine Gerechtigkeit. Und wenn ein Überfluß von Liebe in einem Augenblick von dir empfängt, was harter und geduldiger Arbeit verweigert werden sollte, so führe mich zu dir empor auf deinem Feuerwagen! Doch sei gepriesen laut, du wollest mir nun Sieg verleihen oder neue Schmerzen! Ist aber für dich leiden nicht auch ein hoher Sieg? Nimm mich und trage mich zu dir hinauf! Und wenn du mich verwirfst, so mag auch dann geschehen ganz dein Wille, du bleibst ja doch der Hochgebenedeite, der Übles nie zu tun vermag!«

»Ah!« rief er aus nach einigem Schweigen, »jetzt lösen sich die Fesseln!«

»Reine Geister, geheiligte Schar! verlaßt eure Höhen und schwebt hernieder auf lichten Wellen! Geschlagen hat die Stunde, kommt und versammelt euch! Singt an den Pforten des Allerheiligsten, damit seine letzten Wolken verschwinden. Laßt unsere Stimmen vereinigt ertönen, um würdig zu grüßen den Anbruch des ewigen Tages! So glänzt die Morgenröte des wahren Lichtes? O dürfte die Freunde ich doch mit mir führen! Leb wohl, arme Erde, leb wohl!«

*


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