Honoré de Balzac
Seraphita
Honoré de Balzac

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Wilfrid

Wilfrid war ein Mann von sechsunddreißig Jahren. Kräftig entwickelt, stand seine Gestalt doch in angemessenen Verhältnissen. Er war mittlerer Größe, wie fast alle Männer, die sich über andere erhoben haben; Brust und Schultern waren breit, der Hals kurz, wie bei Männern, deren Herz dem Kopfe nahe gerückt ist. Volle schwarze Locken umgaben hellbraune Augen, deren sonnengleicher Glanz die Begierde andeutete, mit welcher seine Natur zum Lichte strebte. Erschienen auch seine männlich ausgeprägten Züge wegen Mangels der innern, ein sturmfreies Leben bezeichnenden Ruhe etwas zu kräftig, so verhießen sie dagegen unerschöpfliche Hilfsmittel in jeder Verlegenheit, und ebenso deuteten auch seine Bewegungen auf größte Vollkommenheit seiner physischen Kräfte. Ein solcher Mann durfte wohl wagen, mit einem Wilden den Kampf aufzunehmen, gleich ihm den Tritt der Feinde weit entfernt in Wäldern zu hören, ihre Annäherung in der Luft zu wittern und am fernen Horizonte ein befreundetes Zeichen zu erblicken. Sein Schlaf war leise, wie der aller Geschöpfe, die nicht in ihm überfallen sein wollen. Schnell gewöhnte sich sein Körper an das Klima jedes Landes, in das sein sturmbewegtes Leben ihn führte. Kunst und Wissenschaft würden eine solche Organisation als eine Art von menschlichem Modell aufstellen können; alles stand bei ihm im vollkommensten Gleichgewicht, Tat und Herz, Verstand und Wille. Anfangs schien er zu den rein instinktmäßig handelnden Wesen, die sich blindlings nur von materiellen Bedürfnissen hinreißen lassen, gezählt werden zu müssen, allein schon von seinem frühesten Lebensmorgen an hatte er sich in das Gewühl des gesellschaftlichen, seine Gesinnungen so sehr ansprechenden Lebens gestürzt. Ernstes Studium hatte seinen Verstand erweitert, Nachdenken seine Gedanken geschärft, Wissenschaften sein Verständnis vergrößert. Die menschlichen Satzungen waren von ihm ebenso emsig wie das durch Leidenschaften aufgeregte Spiel der Interessen durchforscht worden, und bei guter Zeit schon schien er sich sehr genau mit allen Abstraktionen bekannt gemacht zu haben, auf denen alle Gesellschaften beruhen. Bleich war er geworden über Büchern, diesen verstorbenen menschlichen Handlungen, dann hatte er wieder gewacht aus den nächtlichen Festen der europäischen Hauptstädte, und geschlafen vielleicht auf dem Schlachtfelde in der dem Kampfe vorgehenden und der dem Siege nachfolgenden Nacht; vielleicht hatte ihn sogar seine sturmvolle Jugend aus dem Verdecke eines Korsaren mitten durch die verschiedensten Länder der Erde geführt! So war er wenigstens zur Kenntnis des lebendigen Treibens der Menschen gelangt und kannte nun Gegenwart und Vergangenheit. Viele Menschen sind wie Wilfrid mächtig gewesen durch Faust, Herz und Kopf, die meisten aber mißbrauchten auch, wie er, diese dreifache Macht.

Hing nun dieser Mann vermittelst seiner Hülle noch mit dem sumpfigen Teile der Menschheit zusammen, so hatte doch gleicherweise auch eine andere Sphäre Anteil an ihm.

Ungeachtet der verschiedenen seiner Seele anklebenden Flecken, fanden sich in ihm doch jene unnennbaren, nur dem Auge reiner Wesen, den Augen der Kinder, deren Unschuld noch durch keine böse Leidenschaft getrübt, und den Augen der Greise, die sie wiedererlangt, sichtbaren Kennzeichen vor, und diese Merkmale bezeichneten einen Kain, dem noch Hoffnung blieb, und der in irgend einem Winkel der Erde Vergeben zu suchen schien. Minna vermutete einen aus Ruhmsucht zum Verbrecher gewordenen Menschen in ihm, Seraphita erkannte ihn als solchen; beide bewunderten und beklagten ihn. Woher wurde ihnen diese Ahnung? Nichts einfacher und doch zugleich nichts seltsamer! Sobald der Mensch einzudringen begehrt in die Geheimnisse der Natur, in der es keine Geheimnisse gibt, wo es sich einzig und allein um das Sehen handelt, dann kommt er zu der Erkenntnis, daß das Einfache das Wunderbare erzeugt.

»Seraphitus,« sprach Minna eines Abends wenige Tage nach Wilfrids Ankunft in Jarvis, »Sie lesen in der Seele dieses Fremden, während ich nur zu unbestimmten Ansichten über ihn gelangen kann. Mich überfällt Hitze oder Frost bei seinem Anblicke, Sie aber scheinen die Ursache dieser Wärme und Kälte zu kennen. Sie vermögen mir dieses Rätsel zu lösen, denn Ihnen ist von ihm nichts unbekannt.«

»Ja, wohl sind mir diese Ursachen bekannt,« entgegnete Seraphitus und senkte seine schönen Augen.

»Durch welche Macht?« fragte die neugierige Minna weiter.

»Ich besitze die Gabe der Spezialität,« antwortete er, »eine Art inneren Gesichts, das alles durchdringt, und dessen Wichtigkeit du nur durch ein Gleichnis verstehen kannst. In den großen Städten Europas, von denen die Werke ausgehen, durch welche des Menschen Hand eben so wohl die moralischen, als auch die Taten der physischen Natur darstellt, gibt es hochgestellte Männer, welche Gedanken in Marmor ausdrücken. Der Bildhauer bearbeitet den Marmor und legte eine Welt voll Ideen in ihm nieder. So gibt es Marmorbilder, denen die Hand des Menschen die Fähigkeit verliehen hat, eine erhabene oder eine schlechte Seite der Menschheit darzustellen. Die Mehrzahl der Menschen erblickt dann in ihnen eine menschliche Figur und nichts weiter; einige andere auf der Stufenleiter der Wesen etwas Höhergestellte bemerken an ihr einige der vom Bildhauer in sie übertragenen Gedanken und bewundern deren Form. Aber die in die Geheimnisse der Kunst Eingeweihten sind ganz im Einverständnis mit dem Bildner, wenn sie seinen Marmor sehen; sie erkennen die volle Welt seiner Gedanken, und dies sind die Fürsten der Kunst, und in sich selbst tragen sie einen Spiegel, in dem sich die Natur in ihren geheimsten Falten zeigt. Ein solcher Spiegel liegt nun auch in mir, der die moralische Natur mit allen ihren Falten widerstrahlt; ich errate Vergangenheit und Zukunft und durchdringe so das Gewissen. Aber wie? wirst du mich immer wieder fragen. Denke, der Marmor sei der Körper eines Menschen, denke, der Künstler sei das Gefühl, die Leidenschaft, die Tugend, sei Laster oder Reue, dann wirst du verstehen, wie ich in der Seele des Fremden zu lesen vermochte, ohne daß du wissest, was Spezialität sei, denn um diese Gabe zu verstehen, muß man sie besitzen.«

Gehörte auch Wilfrid zu den beiden ersten so scharf getrennten Klassen der Menschheit, zu den Kraft- und zu den Gedankenmenschen, so hatten ihn doch seine Ausschweifungen, sein stürmisches Leben und seine Fehler oft zum Glauben geleitet, denn der Zweifel besitzt zwei Seiten, die Seite des Lichts und die Seite der Finsternis. Wilfrid hatte die Welt in ihren beiden Gestalten, Materie und Geist, zu genau durchforscht, um nicht Durst nach dem Unbekannten, Verlangen nach oben bekommen zu haben, von dem fast alle Menschen ergriffen werden, die wissen, können und wollen. Aber weder sein Willen noch sein Tun, noch sein Wollen besaß die unumschränkte Oberherrschaft. Aus Notwendigkeit hatte er das gesellschaftliche Leben geflohen, wie ein großer Verbrecher das Kloster sucht. Gewissensbisse, diese Tugend der Schwächlinge, erreichten ihn nicht; der Gewissensbiß ist eine kraftlose Macht, der sein Vergehen von neuem beginnen würde, Reue allein ist gewaltig, sie endigt alles. Wilfrid hatte aber bis jetzt bei seinem Durchstreifen der Welt, die er als sein Kloster ansah, noch nirgends Balsam auf seine Wunden, noch nirgends ein Herz gefunden, dem er sich hätte anschließen mögen. Schon begann bei ihm Verzweiflung die Quellen des Verlangens auszutrocknen, denn er gehörte zu den Gemütern, die, Meister und Herr geworden der empörten Leidenschaften, nun nichts mehr zu beginnen wissen, die, wenn ihnen die Gelegenheit mangelt, an der Spitze ihrer Genossen ganze Bevölkerungen unter den Hufen ihrer Rosse zu vernichten, gerne um den Preis des furchtbarsten Märtyrtums die Gabe erkaufen würden, durch irgend eine Art des Glaubens ganz zugrunde zu gehen, die endlich Felsen zu vergleichen sind, die vergeblich den Schlag des Zauberstabes, der ihnen die erquickendsten Quellen entlocken würde, erwarten. Durch einen Plan seines unruhigen und abenteuernden Lebens nach Norwegen verschlagen, hatte ihn der Winter in Jarvis überrascht.

Der Tag, an dem er zum erstenmale Seraphita erblickte, ließ ihn sein ganzes vergangenes Leben vergessen. Ihr Bild regte in ihm jene extremen Gefühle wieder auf, die er schon längst tot und begraben glaubte; aus dem Aschenhaufen schlug noch einmal eine Flamme auf. Wer hat nicht schon eine solche Verjüngung und neue Reinheit sich wieder gewünscht, wenn ihn vorher frühes Alter erkältet, wüstes Leben beschmutzt hatte? Plötzlich liebte Wilfrid, wie er nie geliebt, denn er liebte schweigend, glaubend, fürchtend, kurz, mit allen innern Torheiten. Sein Leben wurde in der innersten Quelle des eigenen Lebens schon durch den einzigen Gedanken, Seraphita zu sehen, aufgeregt. Vernahm er sie, so geriet er in neue Welten; in ihrer Gegenwart verstummte er; gänzlich war er von ihr bezaubert. Hier unter Eis und Schnee war diese himmlische Blume aufgewachsen, nach der sein bis jetzt stets getäuschtes Sehnen verlangte, und deren Anblick jugendliche Gedanken, Hoffnungen, Gefühle erweckte, von denen umgeben wir zu höhern Regionen emporstreben, gleich wie auf symbolischen Gemälden die Auserkorenen durch Engel gen Himmel geleitet werden.

Himmlischer Wohlgeruch erweichte den Granit dieses Felsens, wortbegabtes Licht überschüttete ihn mit göttlichen, den Weg zum Himmel begleitenden Melodien. Den Becher der irdischen Liebe hatte er bis auf die untersten Hefen geleert, und nun erblickte er erst den heiligen Gral, mit seinem funkelnden Inhalte, der demjenigen einen unauslöschlichen Durst nach unvergänglicher Wonne gibt, der, ohne Furcht, ihn in Scherben fallen zu sehen, ihm mit gläubigen Lippen sich nähert. Es war ihm endlich gelungen, die von ihm auf der ganzen Erde gesuchte erzene Mauer zu finden, um an ihrer Ersteigung seine Kraft zu erproben. Unaufhaltsam rasch suchte Wilfrid nun in Seraphitas Nähe in der Absicht zu kommen, ihr die Unermeßlichkeit seiner Leidenschaft zu gestehen, gegen welche er ankämpfte, wie das Roß in der Fabel gegen seinen Reiter von Erz, den nichts aus seinem graden Sitze zu bringen vermag und den die gewaltsamsten Anstrengungen des schaumbedeckten edeln Tieres nur immer schwerer und drückender machen. Er kam mit dem Vorsatze zu ihr, um ihr sein Leben zu erzählen, um die Größe seiner Seele durch die Größe seiner Fehler zu schildern, um ihr die Ruinen seiner Wüsten zu malen; als er nun aber vor ihr stand und sich in der unendlichen, von jenen Augen umfaßten Zone erblickte, deren flammender Azur keine Grenzen kannte, da wurde er still und unterwürfig wie der Löwe, der in Afrikas Ebenen auf seine Beute stürzend durch die geflügelten Winde eine Liebesbotschaft erhält und plötzlich stillsteht. Ein Abgrund öffnete sich vor ihm, der alle Worte seines Wahnsinns verschlang, und aus dem eine ihn ganz umwandelnde Stimme sich erhob. Wie ein sechzehnjähriger Knabe stand er schüchtern und furchtsam vor dem Mädchen mit der reinen Stirn, vor der weißen Gestalt, deren eiserne Ruhe der furchtbaren Leidenschaftslosigkeit der Menschengerechtigkeit glich. Und nur an diesem Abende hatte der gewaltige Kampf damit geendet, daß ein Blick von ihr ihn so niederwarf, wie ein Falke seine Beute durch betäubendes Umkreisen erschöpft erst niedersinken läßt, bevor er sie in seinen Horst trägt. Es gibt in uns selbst schwere Kämpfe, die nur durch Taten beendigt werden können, und die so die Nachtseite der Menschheit vorstellen, und diese Nachtseite kennt nur Gott. Mehr als einmal hatte sich Seraphita bemüht, Wilfrid den Beweis zu geben, daß sie diese so vielgestaltige Nachtseite wohl kenne, die bei den meisten Menschen ein zweites Leben ausmacht. Oft konnte sie mit ihrer Taubenstimme zu ihm sagen: »Heute waren wir recht im Harnisch!« wenn Wilfrid auf dem Wege zu ihr sich bestimmt vorgenommen hatte, sie mit Gewalt zu entführen, um sie zu seinem Eigentume zu machen. Nur Wilfrid besaß Kraft genug, sich gewaltig gegen ihre Herrschaft zu sträuben, wie er soeben erst beim Pfarrherrn, wunderbar aber durch dessen Erzählung besänftigt, einen Beweis geliefert hatte. Endlich schien diesem alles verhöhnenden und nichts achtenden Menschen in seiner Nacht ein helles Glaubensgestirn aufzugehen; er fragte sich, ob Seraphita nicht vielleicht eine aus den höhern Sphären Verbannte sein könnte, die jetzt wieder ihrem Vaterlande zueile! Die Ehre der in allen Ländern von Verliebten gemißbrauchten Vergötterung brauchte er nicht erst dieser nordischen Lilie zuzuerkennen, er glaubte schon längst an ihre Göttlichkeit. Warum verweilte sie aber in diesem abgelegenen Fjord? Was tat sie hier? Sein Geist wimmelte von solchen unbeantworteten Fragen. – Für ihn war Seraphita die unbewegliche, aber schattenleichte Bildsäule, die er erst vor kurzem, über den Abgrund gelehnt, erblickt hatte; so stand sie vor allen Tiefen ohne Zucken der Augen in unerschütterlicher Ruhe. Es war folglich eine hoffnungslose, aber gewiß eine merkwürdige Erscheinungen liefernde Liebe.

Sobald Wilfrid die ätherische Natur der Zauberin vermutete, die ihm in süßen Träumen das Geheimnis seines Lebens enthüllt hatte, faßte er den Entschluß, sie sich zu unterwerfen, sie zu behalten, sie dem Himmel zu rauben, der sie vielleicht schon erwarte, und wollte demnach als Kämpfer der nach ihrer entfliehenden Beute begierigen Menschheit und Erde auftreten. Das einzige Gefühl, das lange Zeit einen Menschen in großer Aufregung erhalten kann, der Stolz auf diesen Sieg würde ihn, wie er meinte, für sein ganzes übriges Leben glücklich machen. Heftiger strömte das Blut bei diesem Gedanken durch seine Adern, mächtig erhob er sein Herz. Mißglückte sein Plan, so wollte er sie wenigstens vernichten, denn es liegt in der Menschennatur, das zu zerstören, was man nicht besitzen kann, das zu leugnen, was man nicht versteht, das zu beleidigen, was man beneidet.

Noch ganz befangen von der Szene, deren Zeuge er in verflossener Nacht gewesen war, wollte Wilfrid den alten David näher darüber ausforschen, und begab sich deshalb unter dem Vorwande, sich nach Seraphitens Befinden zu erkundigen, nach dem Schlosse. Obgleich der Pastor Becker den armen alten Mann für ganz kindisch erklärte, traute Wilfrid seinem Scharfsinne doch so viel zu, um einige Körnchen Wahrheit aus dem hervorsprudelnden Strome der sonderbaren Reden des treuen Dieners herauslesen zu können.

David besaß ganz die kalte unbewegliche Physiognomie eines Achtzigers; unter seinen weißen Haaren wölbte sich eine von tiefen Runzeln durchfurchte Stirn, sein Gesicht war wie das ausgetrocknete Bett eines Bergstromes durchrissen. Sein Leben schien sich gänzlich in seine Augen, aus denen ein einziger Strahl hervorbrach, geflüchtet zu haben, doch war dieser Schimmer durch ein Gewölk bedeckt und ließ ebenso gut auf wirkliche Geistesverwirrung, als durch seinen einfältig starren Blick auf Trunkenheit schließen. Seine schwerfällig langsamen Bewegungen verkündeten das Eis des hohen Alters und teilten sich denen mit, die es wagten, ihn lange anzuschauen, denn er besaß eine einschläfernde, betäubende Macht in seinem Blicke. Sein eingeschränkter Verstand wurde nur durch die Stimme, den Anblick seiner Gebieterin, oder durch das Denken an sie geweckt. Sah man David allein, so hätte man ihn für eine Leiche gehalten; zeigte sich Seraphita, redete sie, oder wurde ihrer nur erwähnt, so verließ der Tote sein Grab und erlangte Sprache und Bewegung. Niemals gab es wohl ein treueres Bild von Wiederbelebung der vertrockneten Gebeine im Tale Josaphat durch den Hauch des Herrn, als dieser durch die Stimme seiner jugendlichen Herrin unaufhörlich aus dem Grab gerufene Lazarus vorstellte. Sein beständiges, oft ganz unverständliches Reden in Bildern verhinderte die Bewohner der Umgegend, mit ihm zu sprechen, sie achteten aber in ihm jenen ganz vom gewöhnlichen Wege abgewichenen Geist, der vom Volke instinktmäßig bewundert wird.

Wilfrid fand ihn, dem Anscheine nach schlafend, im ersten Gemache: Gleich einem Hunde, der die Freunde des Hauses am Tritt erkennt, schlug der Greis die Augen auf, bemerkte den Fremden, und rührte sich nicht.

»Nun! wo ist sie?« fragte Wilfrid den Greis und setzte sich neben ihn.

David fuhr mit den Fingern durch die Luft, wie wenn er damit den Flug eines Vogels andeuten wollte.

»Leidet sie nicht mehr?« fragte Wilfrid weiter.

»Dem Himmel geweihte Geschöpfe vermögen allein zu leiden, ohne daß Leiden ihre Liebe vermindert,« antwortete ernst der Greis, wie ein zufällig angeschlagenes Instrument einen Ton von sich gibt. »Das ist das Zeichen des wahren Glaubens.«

»Von wem habt ihr diese Worte?«

»Vom Geiste!«

»Was ist ihr denn gestern Nacht zugestoßen? Habt ihr endlich den Schildwache stehenden Vertumnus auf die Seite gebracht? oder seid ihr dem Mammon hinten herum geschlüpft?«

»Ja!« erwiderte David wie aus einem Traume erwachend.

Der sinnverwirrte Blick seiner Augen sank nieder vor einem aus der Seele aufsteigendem Schimmer, der sie nach und nach strahlend erscheinen ließ, gleich dem Auge des Adlers, voll Einsicht, gleich dem eines Dichters.

»Was habt ihr gesehen?« fragte Wilfrid hoch erstaunt über diese plötzliche Veränderung.

»Ich habe gesehen Geschlechter und Gestalten, ich habe vernommen den Geist der Dinge, ich habe geschaut den Aufruhr der Sünder, ich habe gehört das Wort der Gerechten! Es sind gekommen sieben Dämonen, es sind herabgestiegen sieben Erzengel; die Erzengel waren weit entfernt, verschleiert schienen sie in Betrachtungen versunken; die bösen Geister aber waren nahe, voller Tätigkeit und Glanz. Mammon erschien in seinen Perlenmuscheln in der Gestalt eines schönen nackten Weibes; der Schnee seines Körpers blendete, nie wird menschliche Gestalt so vollkommen sein, und er sprach: ›Ich bin die Lust, und du sollst mich besitzen.‹ Luzifer, der Fürst der Schlangen, erschien in seiner ganzen Herrscherpracht, der Mensch war in ihm schön wie ein Engel, und er sprach: ›Die ganze Menschheit soll dir dienen!‹ Die Königin der Geizigen, die, die nichts Empfangenes zurück gibt, die See erschien, gehüllt in ihren grünen Mantel; sie öffnete ihren Busen, sie zeigte ihren Schrein voll Edelgesteinen, sie schüttete ihre Schätze aus und bot sie dar. Smaragdene und saphyrne Wogen rollten einher und priesen ihre Erzeugnisse. Die schönste der Perlen entfaltete ihre Schmetterlingsschwingen, schimmerte in größter Pracht und sprach unter den anmutigsten Tönen des Meeres: ›Als Töchter des Leidens sind wir Schwestern; erwartest du mich? Wir gehen vereint, ich muß nur Weib noch erst werden!‹ Das Getier, mit Adlersflügeln, Löwenklauen, Frauenhaupt und Rossesleib, dies Getier ist herniedergefahren, hat ihr die Füße geleckt und ihrer vielgeliebten Tochter siebenhundertjährigen Überfluß verheißen. Die furchtbarste Erscheinung, das Kind, ist bis zu ihren Knien gelangt und flehete weinend ›Du willst mich verlassen? Mich, schwach und leidend, o bleibe, Mutter!‹ Es spielte mit den andern, verbreitete Trägheit durch die ganze Luft, und selbst der Himmel würde sich seiner Klage erbarmt haben. Die Jungfrau des Gesangs ließ ihre die Seele abspannenden Harmonien ertönen. Die Könige des Morgenlandes traten auf mit ihren Sklaven, Heeren und Frauen; die Verwundeten flehten um Hilfe, die Unglücklichen reckten bittend die Hände empor: ›Verlaß uns nicht! Verlaß uns nicht!‹ Ich selbst habe geschrien: ›Verlaß uns nicht! Wir wollen dich anbeten! Bleibe! Die Blumen brachen hervor aus ihrer Samenhülle, umdufteten sie mit ihren Wohlgerüchen und sprachen: ›Bleibe!‹ Enakim, der Riese, stieg herab vom Jupiter in Begleitung des Goldes und seiner Freunde, und führte die ihm angeschlossenen Geister der Astralländer vor, alle riefen: ›Siebenhundert Jahre lang wollen wir dir dienen!‹ Endlich stieg der Tod sogar herab von seinem fahlen Pferde und sprach: ›Auch ich will dir gehorchen!‹ Alle beugten sich vor ihren Füßen, und ihrer waren so viele, daß sie die weite Ebene erfüllten, und alle schrien: ›Wir haben dich gepflegt und genährt, du bist unser Kind, verlaß uns nicht.‹ Das Leben selbst stieg hervor aus seinen roten Wassern und sprach: ›Ich will dich nie verlassen!‹ Es glänzte gleich der Sonne und rief: ›Denn ich bin das Licht!‹

›Das Licht ist dort!‹ rief aber sie, und deutete auf das die Erzengel verhüllende Gewölk. Sie ward erschöpft, das Verlangen hatte ihre Nerven erlähmt, sie vermochte nur noch den Ruf hervorzubringen: ›O mein Gott!‹ Aber Gott hatte sie erhört, und siegreich ging sie aus dem Kampfe hervor. Wie viele Engelgeister strauchelten bei dem Aufklimmen und nahe am Gipfel an einem unbedeutenden Steine, der sie zum Fallen brachte und wieder in die Abgründe versenkte! Alle diese gefallenen Geister bewunderten ihre mutvolle Standhaftigkeit, alle waren versammelt zu einem unbeweglichen Chore und alle riefen ihr weinend zu: ›Mut! Mut!‹ Endlich besiegte sie die ihr in jeder Gestalt und Gattung entgegengetretene Begierde. In Gebeten versunken behauptete sie das Kampffeld, und als sie die Augen aufschlug, sah sie die Füße der wieder zum Himmel aufschwebenden Engel.«

»Sah sie die Füße der Engel?« wiederholte Wilfrid.

»Ja!« entgegnete der Greis.

»Das war ein Traum, den sie Euch erzählte?« meinte Wilfrid.

»Ja, ein Traum, so ernst wie der Ihres Lebens«, versetzte David. »Ich war zugegen!« Der Ernst des alten Dieners machte, daß Wilfrid ihn nachdenklich verließ und unterwegs überlegte, ob diese Visionen wohl seltsamer gewesen wären als die von Swedenborg beschriebenen und am verflossenen Abende von ihm gelesenen.

»Wenn es wirklich Geister gibt, so müssen sie auch tätig handeln«, sprach er zu sich selbst, als er in das Pfarrhaus eintrat und den alten Pastor allein traf.

»Teuerster Freund!« sprach Wilfrid, »Seraphita gehört nur der Gestalt nach zu uns, ihre Gestalt aber ist undurchdringlich. Halten Sie mich weder für einen Narren, noch für einen Verliebten! Überzeugung läßt keine Erörterung zu. Bekehren Sie meinen Glauben, und suchen wir uns Licht zu verschaffen. Morgen abend wollen wir beide zu ihr gehen.«

»Wohl!« entgegnete der Pfarrherr.

»Wenn ihr Auge keinen Raum kennt,« fuhr Wilfrid fort, »wenn ihr Gedanke nur in der intelligenten Übersicht besteht, die ihr verstattet, die Dinge in ihrem Grundwesen zu umfassen, wenn sie, mit einem Worte, alles weiß und alles sieht, so wollen wir die Pythia auf ihren Dreifuß niedersetzen und diesen unversöhnlichen Adler zwingen, seine Schwingen zu entfalten.

»Helfen Sie mir! Ich atme ein mich verzehrendes Feuer und will es löschen oder mich auch ganz verzehren lassen. Kurz, ich habe eine Beute aufgejagt, und die muß ich besitzen.«

»Das würde«, meinte der Pfarrherr, »eine peinlich schwer zu bewerkstelligende Eroberung werden, denn das arme Kind ist . . .«

»Ist?« unterbrach ihn Wilfrid.

»Verrückt!« vollendete der Alte.

»Ich pflichte Ihrer Meinung bei, wenn Sie mir dagegen ihre Überlegenheit nicht in Abrede stellen. Oft schon hat sie mich durch ihre Gelehrsamkeit in Verwirrung gesetzt. Hat sie Reisen gemacht?«

»Von ihrem Hause bis zu dem Fjord.«

»Wie! Sie ist nicht von hier weggekommen!« rief Wilfrid. »Sie muß also viel gelesen haben?«

»Keine Seite, kein Jota! Ich ganz allein besitze in Jarvis Bücher. Swedenborgs Werke, die einzigen im Schlosse befindlichen Bücher, stehen hier! Nie hat sie ein einziges auch nur berührt.«

»Haben Sie jemals versucht, mit ihr ein Gespräch anzuknüpfen?«

»Zu was hätte dies dienen sollen?«

»Hat niemand unter ihrem Dache gewohnt?«

»Nie besaß sie andere Freunde als Sie und Minna, nie einen andern Diener als David.«

»Hörte sie niemals von Wissenschaften, von Künsten reden?«

»Wer hätte davon mit ihr reden sollen?«

»Wenn sie nun ganz treffend über solche Dinge sich ausläßt, wie sie es schon sehr häufig gegen mich getan hat, was würden Sie glauben?«

»Daß dieses Mädchen vielleicht durch mehrjähriges Schweigen die Eigenschaften sich erworben hat, die Apollonius von Tyana und viele andere vorgebliche von der Inquisition verbrannte Hexenmeister besaßen, wenn wir nicht vielleicht annehmen wollen, sie sei mit dem zweiten Gesicht begabt.«

»Wenn sie arabisch redete, was würden Sie dazu sagen?«

»Die Geschichte der medizinischen Wissenschaften liefert mehrere Exempel von Mädchen, die in fremden, ihnen unbekannten Zungen gesprochen haben.«

»Was denken Sie aber davon, wenn ich Ihnen sage, daß sie Dinge aus meinem Leben kennt, deren Geheimnis ich allein besitze?«

»Wir wollen abwarten,« entgegnete der Pfarrherr, »ob sie auch mir Gedanken zu sagen weiß, die ich niemand anvertraut habe.«

»Wie befindet sich dein Dämon, liebe Minna?« fragte er die eben eintretende Tochter.

»Er leidet, lieber Vater!« antwortete sie und begrüßte Wilfrid. »Alle Leidenschaften der Menschen haben ihn, behängt mit ihrem gesamten Flitterstaate, während der Nacht umstanden und unerhörte Pracht vor seinen Augen entfaltet. Ihnen gelten aber alle diese Dinge für Märchen . . .«

»Ja, Märchen für den, der sie im eignen Heim liest, so schön, wie für gewöhnliche Menschen die Märchen von Tausend und einer Nacht«, sagte lächelnd der Pfarrherr.

»Hat nicht der Satan«, fuhr sie fort, »unsern Herrn und Heiland auf die Zinne des Tempels geführt, und ihm alle Völker der Erde zu seinen Füßen liegend gezeigt?«

»Man findet in den Evangelisten gar mancherlei Lesarten über diese Stelle«, meinte der Pfarrherr.

»Sie glauben also an die Wirklichkeit ihrer Visionen?« fragte Wilfrid Minna.

»Wer kann daran zweifeln, wenn man sie von ihm erzählen hört!«

»Ihm! Ihm! wer ist Er«, fragte Wilfrid wiederholt.

»Der, der dort wohnt«, entgegnete Minna und deutete auf das Schwedenschloß.

»Sie reden von Seraphita?« sprach der Fremde verwundert.

Das Mädchen nickte bejahend, nicht aber ohne ihn vorher mit einem halb spöttischen Blicke zu betrachten.

»Und auch Sie, Minna,« setzte Wilfrid hinzu, »machen sich ein Vergnügen daraus, meine Ansichten über sie vollends in Verwirrung zu stürzen! Wer ist sie? Was denken Sie von ihr?«

»Das, was ich empfinde«, entgegnete Minna errötend, »kann nicht mit Worten ausgedrückt werden.«

»Ihr seid beide Toren!« rief der Pfarrherr.

»Morgen!« sprach Wilfrid.

*


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