Honoré de Balzac
Seraphita
Honoré de Balzac

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Die Wolken des Allerheiligsten

Es gibt Schauspiele, bei denen alle dem Menschen zu Gebot stehende materielle Pracht mitwirken muß. Ganze aus Sklaven und Tauchern bestehende Völkerschaften mußten im Sande des Meeres, in den Eingeweiden der Felsen jene Perlen und Diamanten suchen, welche die Zuschauer schmücken. Durch Erbschaft von Hand in Hand gekommen, haben diese Juwelen auf allen gekrönten Stirnen geglänzt, und würden, wären sie mit Sprache begabt, die treueste der Menschengeschichten liefern. Kennen sie nicht die Freuden und Leiden der Großen und Kleinen? Sie sind überall gewesen; mit Stolz und Hochmut wurden sie bei hohen Festen, mit Verzweiflung im Herzen zum Wucherer getragen, mit Blut und Plünderung geraubt, in Meisterwerke der Kunst endlich zum Aufbewahren versetzt; mit Ausnahme jener Perle der Kleopatra ist keines dieser Prachtstücke verloren gegangen. Da sind die Großen, die Glücklichen versammelt und sehen einen König krönen, dessen Schmuck das Produkt des Menschenfleißes ist, doch aber ist er in seiner Glorie in einen weniger vollkommnen Purpur gekleidet als irgend eine einfache Blume des Feldes. Alle diese glanzstrahlenden, durch Harmonie der Töne verschönerten Feste, in denen das Wort des Menschen sogar den Donner nachzuahmen sucht, alle diese Triumphe seiner Hand werden durch einen Gedanken, durch ein Gefühl niedergeschmettert und vernichtet. Der Geist vermag um den Menschen und in dem Menschen viel helleres Licht zu verbreiten, ihn weit melodienreichere Harmonien vernehmen zu lassen und ihm jenseits der Wolken die glänzendsten Konstellationen zu zeigen, um sie zu befragen. Das Herz vermag noch mehr! Der Mensch kann ganz allein, Gesicht gegen Gesicht, mit einem einzigen Geschöpfe sein, und doch in einem einzigen Worte, in einem einzigen Blick, eine so schwer zu tragende, eine so hellstrahlende, eine so durchdringend tönende Last finden, daß er unterliegt und niederfällt. Die echteste Pracht liegt nicht in den Dingen, sie liegt in uns selbst. Bildet ein Geheimnis der Wissenschaft einem Gelehrten nicht eine ganze Welt voll Wunder? Begleiten die Posaunen der Stärke, die Juwelen des Reichtums, die Musik der Freude, begleitet eine unermeßliche Menschenmenge sein Fest? O nein! er begibt sich an irgend ein verstecktes Ruheplätzchen, wo ihm vielleicht ein blasser, kranker Mann ein einzig Wörtchen ins Ohr flüstert, und doch erleuchtet ihm dieses kleine Wort, wie eine in einen Keller geworfene Fackel, die gesamte Wissenschaft. So umgaben alle dem Menschen mögliche, in die anziehendsten Formen gekleidete und nur irgend vom Mysterium erfundene Ideen einen armen am Rande des Weges im Schmutz sitzenden Blinden. So entfalteten sich alle drei Welten, die natürliche, die geistige und die göttliche, samt allen ihren Sphären vor einem armen florentinischen Verbannten; er wandelte durch Himmel und Hölle, durch Betende und Fluchende, durch Engel und Teufel. Als der von Gott Gesendete, dem jedes Wissen und jede Macht zu Gebote stand, dreien seiner Jünger in der ärmlichsten Herberge beim gemeinschaftlichen Abendmahle erschien, da brach plötzlich das Licht durch, vernichtete die materiellen Formen, erleuchtete die geistigen Fähigkeiten, und sie erblickten ihn in seiner Verklärung, und die Erde war schon nicht fester an ihre Füße gekettet als eine Sandale, die eben abfallen will.

Als der alte Pfarrherr, Wilfrid und Minna auf dem Wege waren, um sich zu dem seltsamen Wesen mit dem Vorsatze, es auszuforschen, zu begeben, fühlten sie sich von mancher Furcht ergriffen. Jedem von ihnen erschien das Schwedenschloß wie eine große, riesenmäßige Schaubühne, ähnlich solcher, deren Massen Dichter geschickt zu verteilen und ihre Farben gut in Einklang zu setzen wissen und deren Personen für Menschen nur in der Einbildung bestehende Schauspieler, aber für die in die geistige Welt einzudringen Beginnenden volle Wirklichkeit sind. Auf die Stufen dieses gewaltigen Kolosseums lagerte der Pastor Becker die grauen Legionen des Zweifels, seine finstern Ideen, seine mangelhafte Disputierweise; er versammelte hier die vielerlei unter sich in Streit befangenen philosophischen und religiösen Welten, die alle unter der Gestalt eines fleischlosen Systems erscheinen, gleich der vom Menschen als Greis dargestellten Zeit, die mit einer Hand die Sense schwingt und mit der andern das schmächtige Menschenweltall hinwegreißt.

Wilfrid lud auf diese Schaubühne seine ersten Illusionen und seine letzten Hoffnungen ein und setzte hier die menschliche Bestimmung und ihre Kämpfe, die Religion und ihre siegreiche Herrschaft nieder. Minna erblickte auf ihr den Himmel, aber nur undeutlich, wie durch eine schmale Öffnung; die Liebe erhob einen mit geheimnisvollen Bildern gestickten Vorhang, und harmonische, ihr Ohr treffende Töne verdoppelten ihre Neugierde. Für alle drei schien folglich dieser Abend das werden zu wollen, was das Nachtmahl in Emmaus den drei Jüngern, was eine Vision für Dante, was eine Inspiration für Homer wurde, sie hofften nämlich zu erblicken die Enthüllung der dreifachen Weltgestalt, aufgehobene Schleier, beseitigte Ungewißheiten, aufgehellte Dunkelheiten. Die ganze Menschheit mit allen ihren Anhängseln aber begierig das Licht erwartend, konnte durch nichts besser vorgestellt werden als durch diese Jungfrau, durch diesen Mann und durch diese beiden Greise, deren einer gerade so gelehrt war, um Zweifel aufwerfen zu können, der andere aber unwissend genug, um alles zu glauben. Selten war eine Szene dem ersten Anscheine nach so einfach, in der Wirklichkeit aber so großartig.

Als sie vom alten David geleitet eintraten, fanden sie Seraphita hinter einem Tische, auf welchem allerlei zu einem Tee gehörenden Dinge bereit standen, das heißt zu einer Kollation, die im Norden an die Stelle des den südlichen Ländern vorbehaltenen Weins tritt, und nichts schien in ihr oder in ihm, denn dies Wesen besaß die seltsame Macht, in zwei scharf getrennten Gestalten aufzutreten, die vielen ihr zu Gebote stehenden mächtigen Kreise zu erraten. Auf ganz gewöhnliche Art nur an das Wohlbefinden ihrer drei Gäste denkend, befahl Seraphita dem alten Diener, das Holz im Ofen nicht zu sparen.

»Guten Abend, liebe Nachbarn,« begann sie, »Sie haben sehr wohl daran getan, mein bester Pastor, daß Sie auch mitgekommen sind, denn vielleicht sehen Sie mich heute zum letztenmale. Dieser Winter hat mich getötet. – Setzen Sie sich doch!« sprach sie zu Wilfrid. – »Und du, Minna, nimmst hier Platz,« sagte sie zu dieser und deutete auf einen nahe bei ihr stehenden Stuhl, »du hast deine Handstickerei mitgebracht? Kommst du damit zurecht? Ist die Zeichnung hübsch? Für wen bestimmst du sie? Für deinen Vater oder für den Herrn dort,« setzte sie hinzu gegen Wilfrid gewendet. »Wir dürfen ihn ohne ein Andenken an Norwegens Töchter nicht abreisen lassen.«

»Sie waren also gestern doch sehr leidend?« fragte Wilfrid.

»Es war eigentlich nichts!« entgegnete sie. »Solches Leiden ist mir lieb; es ist notwendig, wenn man das Leben verlassen muß.«

»Besitzt der Tod nichts Schreckliches für Sie,« fragte lächelnd der Pfarrherr, der sie für nicht krank hielt.

»Nein, teurer Herr Pastor! Es gibt zwei Arten des Sterbens; für einige ist der Tod ein Sieg, für andere ein Untergang.«

»Sie glauben gesiegt zu haben?« meinte Minna.

»Ich weiß nicht,« erwiderte sie, »vielleicht war es nur ein Schritt weiter.«

Der blendende Glanz ihrer Stirne trübte, ihre Augen verschleierten sich unter den langsam herabsinkenden Augenlidern. Diese einfache Bewegung ergriff tief die drei Neugierigen und ließ sie verstummen. Der alte Pfarrherr war der Kühnste. »Teures Kind,« begann er, »Sie sind die Aufrichtigkeit selbst, Sie besitzen aber auch eine himmlische Güte, und so wünschte ich heute Abend andere Dinge von Ihnen zu empfangen als die Näschereien Ihres Tees. Soll man der Versicherung mancher Personen Glauben schenken, so müssen Sie ganz außergewöhnliche Dinge wissen, und verhält es sich wirklich so, wäre es denn nicht sehr liebreich von Ihnen, wenn Sie einige unserer Zweifel lösen wollten?«

»Aha!« entgegnete sie lächelnd, »ich schreite auf Wolken einher, ich bin gut befreundet mit den Schlünden des Fjords, das Meer ist ein durch meinen Zaum gebändigtes Roß, ich weiß, wo die singende Blume wächst, wo das redende Licht strahlt, wo die herrliche Wohlgerüche ausduftenden Farben glänzen und leben; ich besitze Salomons Ring, ich bin eine Fee und gebe meine Befehle dem Winde, der sie als demütiger Sklave ausführt; ich sehe die unterirdischen Schätze, ich bin die Jungfrau, der alle Perlen zufliegen und . . .«

»Und wir gehen ohne Gefahr auf den Falberg!« fiel Minna ihr ins Wort.

»Also auch du!« fuhr das sonderbare Wesen fort, und warf dem Mädchen einen seiner Lichtblicke zu, der sie ganz außer Fassung brachte. »Besäße ich nicht das Vermögen, auf eurer Stirn den Wunsch, der euch zu mir geführt hat, zu lesen, wäre ich dann wohl das, wofür ihr mich haltet!« sprach sie weiter, zu großer Genugtuung des sich die Hände reibenden David, und alle drei mit einem hohen Blick umfassend. »Ihr seid alle von wahrer Kinderneugier gestachelt zu mir gekommen. Sie, mein armer Pastor, haben sich gefragt, ob es möglich sei, daß ein siebzehnjähriges Mädchen eines der tausend von den Gelehrten mit der Nase aus der Erde, statt mit gen Himmel gerichteten Augen gesuchten Geheimnisse wisse? Wollte ich Ihnen nun zum Beispiel erklären, wie und wodurch die Pflanze mit dem Tiere in Verbindung stände, so würden Sie anfangen, Ihre Zweifel selbst zu bezweifeln. Sie haben ein Komplott gemacht, mich auszuforschen; gestehen Sie es nur!«

»Ja, teuerste Seraphita,« antwortete Wilfrid, »ist dies aber nicht ein den Menschen ganz natürlicher Wunsch?«

»Aber dies Kind wird sich dabei langweilen,« versetzte sie und legte liebkosend ihre Hand auf Minnas Locken; das junge Mädchen schlug die Augen auf und schien sich gänzlich in sie versenken zu wollen.

»Das Wort ist die allen gemeinschaftlich verliehene schöne Gabe!« fuhr ernst das rätselhafte Wesen fort. »Wehe dem, der in der Wüste selbst in dem Wahne Schweigen beobachten würde, daß doch niemand ihn höre, denn alles hienieden spricht und hört, das Wort bewegt die Welt. Ich wünsche sehr, lieber Pastor, nichts vergeblich zu reden! Genau kenne ich die Sie am meisten in Anspruch nehmenden Schwierigkeiten. Würde es nicht ein Wunder sein, wenn ich Ihnen mit kurzen Worten die ganze Reihenfolge Ihrer Gedanken vorlegte? Geben Sie acht! das Wunder soll geschehen. Hören Sie mir zu. Sie selbst haben nie gewagt, Ihre Zweifel sich in ihrer ganzen Ausdehnung zu gestehen. Ich allein, stets unerschütterlich in meinem Glauben, kann sie Ihnen enthüllen und Sie vor sich selbst erbeben machen. Sie leben auf der allerdunkelsten Seite des Zweifels; Sie glauben nicht an Gott, alles Ding auf dieser Welt wird aber Nebensache für den, der das Grundprinzip der Dinge angreift.

»Halten wir uns nicht auf bei den fruchtlosen, von den unechten Philosophien erhobenen Diskussionen: die spiritualistischen Generationen haben ebenso vergeblich ihre Kräfte aufgeboten, um die Materie zu leugnen, als die materialistischen versucht haben, den Geist in Abrede zu stellen. Warum aber dieser Streit? Lieferte der Mensch nicht für beide Systeme unumstößliche Beweise? Finden sich nicht in ihm so viel materielle als spirituale Dinge? Nur ein Narr kann sich weigern, im Menschenkörper ein Fragment der Materie zu erblicken; wenn man ihn zerlegt, so finden eure Naturwissenschaften in ihm zwischen seinen und anderer Tiere Grundbestandteilen wenig Unterschied. Ich spreche mich hierüber nicht weiter aus, denn es handelt sich hier nicht von meinen Überzeugungen, sondern von Ihren Zweifeln. Ihnen, wie den meisten Denkern, scheinen die Ähnlichkeiten, die sie zwischen Dingen, deren Realität Ihre Sinne Ihnen verbürgen, aufzufinden vermögen, nicht notwendig materieller Natur sein zu müssen. Das natürliche Universum endigt sich folglich für den Menschen durch das übernatürliche Universum der Gleichheiten oder Verschiedenheiten, die er zwischen den unzählbaren Formen der Natur bemerkt, die so vielfache Verhältnisse darbieten, daß sie unendlich erscheinen, denn niemand ist bis jetzt imstande gewesen nur die irdischen Schöpfungen allein zu zählen, welcher Mensch hätte nun ihre Korrespondenzen vollends zählen können. Verhält sich nicht das Ihnen davon bekannte Bruchteil zu der ganzen Summe, wie eine Zahl zum Unendlichen? Hier geraten Sie schon in den Begriff des Unendlichen, der Sie ganz gewiß in eine rein spirituale Welt leitet. Der Mensch liefert folglich einen hinreichenden Beweis von der in ihm vorhandenen Materie und dem in ihm befindlichen Geiste. In ihm endigt sich ein endliches sichtbares Universum, in ihm beginnt ein anderes unendliches und unsichtbares, zwei Welten, die einander nicht kennen. Besitzen die Kiesel des Fjords das Verständnis ihrer Zusammensetzungen, haben sie Bewußtsein von den Farben, die sie dem Menschenauge darbieten, verstehen sie die Musik der sie umspielenden Wellen? Überspringen wir ohne weitere Untersuchungen den Abgrund, den die Vereinigung dieser beiden Welten, der materiellen und spirituellen, öffnen; beide einander ganz unähnlich, scharf getrennt und doch durch unwiderlegbare Korrespondenzen verbunden oder in einem Wesen, das jeder zu gleichen Teilen gehört, vereint! Verschmelzen wir diese beiden, von euern Philosophien nicht zu vereinigenden, der Tatsache nach aber vereinbaren Welten in ein einziges Geschöpf. Das Verhältnis, mag es der Mensch auch noch so abstrakt sich denken, welches zwei Dinge mit einander verbindet, wird immer einen gewissen Eindruck zulassen. Wo und wie wird aber dieser Eindruck stattfinden? Wir wollen hier nicht untersuchen, bis zu welchem Grade die Verfeinerung der Materie getrieben werden kann; wäre dies die Frage, so würde ich keinen Grund einsehen, warum derjenige, der durch in unendlichen Entfernungen befestigte Gestirne sich einen Schleier wob, nicht auch denkende Substanzen hätte schaffen können, oder warum ihr ihm die Fähigkeit versagen wollt, dem Gedanken einen Körper zu verleihen!

»Wenn nun also eure unsichtbare moralische und eure sichtbare physische Welt eine und dieselbe Materie ausmachen, so wollen auch wir weder die Eigenschaften und die Körper, noch die Verhältnisse und die Gegenstände von einander trennen. Alles, was existiert, was uns drängt und uns über, unter, vor oder in uns beschwerlich fällt, was unsere äußern und innern Augen bemerken, alle diese benannten und unbenannten Dinge, alles dies zusammen wird, um das Problem der Schöpfung dem Maßstabe eurer Logik anzupassen, eine Masse endlicher Materie bilden, denn, wäre sie unendlich, so würde Gott nicht mehr Herr darüber sein.

»Wollte man nun, Ihren Ansichten, mein lieber Pastor, gemäß, auf irgend eine Weise einen unendlichen Gott mit dieser Masse endlicher Materie in Verbindung bringen, so würde Gott, mit den ihm von den Menschen beigelegten Attributen gar nicht bestehen können, weil er sowohl materiell wie spirituell gänzlich undenkbar und folglich unmöglich wird. Wollen wir den Schlüssen der Vernunft bis in die äußersten Folgerungen nachspüren?

»Betrachten wir Gott mit Einsicht auf dieses große All (Materie), so gibt es nur zwei mögliche Fälle: Gott und die Materie sind gleichzeitig, oder Gott war früher als die Materie. Nehmen wir an, alle Vernunft, welche die Menschengeschlechter seit ihrer Entstehung erleuchtete, sei in einem einzigen Haupte gesammelt, so würde dieser Riesenkopf keine dritte Gattung von Dasein erfinden können, er müßte denn zuvor Gott und die Materie als gar nicht bestehend betrachten. Mögen menschliche Philosophien auch noch so große Berge von Worten und Gedanken aufhäufen, die Religionen noch so viele Bilder und Glaubensmeinungen, Offenbarungen und Mysterien zusammenschmelzen, immer wird man zuletzt auf dieses furchtbare Dilemma zurückgeführt werden, und zwischen den beiden notwendigen Schlußfolgerungen wählen müssen. Es bleibt euch aber nicht einmal die Wahl übrig, denn beide führen die menschliche Vernunft zum Zweifel.

»Hat man die Frage endlich so gestellt, was liegt dann am Geiste und an der Materie? Was liegt daran, ob der Lauf der Welten so oder so geht, wenn das sie in Bewegung setzende Wesen zur Albernheit gemacht worden ist? Zu was dient die Untersuchung, ob der Mensch sich dem Himmel nähere oder sich von ihm entferne, ob die Schöpfung zum Geist hinstrebe oder zur Materie zurücksinke, wenn die befragten Welten keine Antwort geben? Was bedeuten alle Theogonien mit ihren unzähligen Heeren? Was wollen alle Theologien mit ihren Dogmen von dem Momente an, wo der Gott des Menschen, welcher Seite er sich auch zuwenden möge, gar nicht mehr existiert.

»Lassen Sie uns bei der ersten Seite desselben noch einige Augenblicke verweilen, und nehmen wir an, Gott sei gleichzeitig mit der Materie! Kann Gott gedacht werden unter dem Einflusse oder auch nur unter der Mitexistenz einer der seinen fremden Substanz? Erscheint Gott in diesem Systeme nicht als Handlanger bei der Organisation der Materie? Wer hat ihn dazu gezwungen? Wer war Schiedsrichter zwischen ihm und seiner massiven Gefährtin? Wer hat dem Großkünstler den Lohn gezahlt für seine sechs Schöpfungstage? Wäre man auf irgend eine Kraft gestoßen, die, ohne Gott und Materie zu sein, alles geregelt hätte, so würde es ebenso lächerlich geklungen haben, Gott, als gezwungenen Weltmaschinenbaumeister, wirklich Gott zu nennen, als einen die Mühle treibenden Sklaven römischen Bürger zu heißen. Übrigens bietet sich hierbei noch eine Schwierigkeit dar, die jener angeblich höchsten Kraft ebenso unlöslich bleibt als für jenen Gott. Verfolgen wir in diesem Sinne unser Problem noch weiter hinaus, so kommen wir so weit wie die Hindus, welche die Welt auf eine Schildkröte, die Schildkröte auf einen Elephanten stellen, dann aber nicht sagen können, worauf die Füße ihres Elephanten ruhen. Kann nun diese höchste, aus dem Streite Gottes mit der Materie entsprungene Macht, dieser eigentliche Gott, eine Ewigkeit lang zugebracht haben, ohne zu wollen, was er von Anfang an gewollt hat, wenn wir nicht annehmen wollen, daß es eine doppelte Ewigkeit gibt. Mag nun aber Gott sein, wo er will, muß aber seine Anschauungsintelligenz nicht in Abrede gezogen werden, wenn er seinen spätern Gedanken nicht schon vorher gekannt hat? Wer hätte nun am Ende recht von diesen beiden Ewigkeiten? Die unerschaffene oder die erschaffene Ewigkeit? Hat er von Anfang an die Welt so gewollt, wie sie ist, so zieht diese neue übrigens zu der Idee einer höchsten Intelligenz ganz passende Notwendigkeit, die Mit-Ewigkeit der Materie mit ins Spiel. Sei nun aber die Materie durch einen göttlichen, notwendiger Weise von jeher sich selbst gleichen Beschluß gleich ewig, oder sei dies durch eigene Kraft, so muß die absolut gewordene Macht Gottes mit seinem freien Willen zugleich zugrunde gehen, denn es würde sich in ihm selbst stets eine auf seinen Entschluß einwirkende Ursache vorgefunden haben: heißt es denn Gott sein, wenn man sich von seiner Schöpfung weder durch eine nachfolgende noch durch eine vorhergehende Ewigkeit trennen kann? Diese Seite unseres Problems ist folglich unlösbar in ihrer Grundursache, versuchen wir eine Lösung durch ihre Wirkungen.

»Wenn folglich Gott, gezwungen, die Welt von aller Ewigkeit erschaffen zu haben, unerklärbar erscheint, so ist dieses noch mehr der Fall, betrachtet man seinen ununterbrochenen Zusammenhang mit seinem Werke; wird er aber genötigt, ewig vereinigt mit seinem Werke zu bleiben, so ist er dadurch ebenso sehr herabgewürdigt, als durch die ihm oben beigelegte Handwerksarbeit. Können Sie sich einen Gott denken, dem es nicht frei steht, abhängig oder unabhängig von seiner Schöpfung zu sein? Vermag er sie zu zerstören, ohne sich selbst dadurch für unfähig zu erklären? Prüfen und dann wählen Sie! Vernichte er einst sein Werk, oder vernichte er es nicht, beides ist gleich gefährlich für die Attribute, ohne die er nicht gedacht werden kann. Ist aber die Welt nur ein Versuch, eine vergängliche Form, deren Zerstörung einst stattfinden wird, so erscheint Gott inkonsequent und unmächtig, inkonsequent, weil er das Resultat seines Versuchs schon im voraus erblicken muß, und warum zaudert er dann mit der Vernichtung dessen, was doch vernichtet werden muß? Unmächtig, weil er eine unvollkommene Welt erschuf. Widerstrebt nun aber eine unvollkommne Schöpfung den von Menschen Gott beigelegten Eigenschaften, so wollen wir die Frage umkehren und folglich eine vollkommne Schöpfung annehmen. Ein solcher Gedanke harmoniert ganz mit dem eines höchst intelligenten und sich in nichts täuschen könnenden Gottes, warum aber in diesem Falle Zerstörung? warum Wiedergeburt? Wenn daher die vollkommene Welt notwendig unzerstörbar ist, so folgt daraus, daß sie weder vor- noch rückwärts schreitet und einen ewigen Kreislauf beschreiben muß. Die Welt im unvollkommnen Zustande läßt Fortschritte zu, vollkommen hingegen bleibt sie stillstehend. Kann ein Fortschritt machender Gott nicht gedacht werden, weil er von Ewigkeit das Resultat seiner Schöpfung kennen muß, so muß es folglich einen stillstehenden Gott geben. Ist dies aber nicht der Sieg der Materie? Ist dieses nicht die größte aller Negationen? In der ersten Hypothese wird Gott durch seine Schwäche, in der zweiten durch die Gewalt seiner Trägheit vernichtet.

»Für jeden vorurteilsfreien Geist heißt die Annahme, daß die Materie gleichzeitig mit Gott sei, in Beziehung auf das Empfangen des Gedankens einer Weltschöpfung sowohl, wie auf die Ausführung desselben nichts anderes, als die Existenz Gottes geradezu ableugnen. Gezwungen, unter diesen zwei Seiten des Problems zu wählen, haben ganze Geschlechtsfolgen großer Denker, um die Völker beherrschen zu können, für diese letztere Ansicht gestimmt, und daher entsprang die Lehre von den zwei Grundwesen, die von Asien nach Europa unter der Gestalt des den ewigen Vater bekämpfenden Satans überging. Ist aber diese religiöse Formel nebst allen von ihr abgeleiteten sozialen Vergötterungen nicht ein Verbrechen an der beleidigten göttlichen Majestät? Denn mit welchem andern Namen soll man den Glauben belegen, der eine Personifikation des bösen Gott zum Nebenbuhler setzt, der ewig mit dem Spiele seiner allmächtigen Intelligenz gegen das Böse ankämpft, ohne es besiegen zu können? Eure Mechanik lehrt, daß zwei so gestaltete Kräfte einander gegenseitig aufheben.

»Nun wenden wir uns gegen die zweite Seite des Problems! Gott war also einzig und allein von Ewigkeit an vorhanden!

»Wir wollen nicht nochmals die eben geführten Beweise wiederholen, die in ihrer ganzen Stärke auch auf die Teilung der Ewigkeit in eine unerschaffene und geschaffene anwendbar sind; ebenso wollen wir die Fragen über das Fortschreiten oder das Stillestehen der Welten beseitigen, und uns nur auf die diesem zweiten Thema zugehörenden Schwierigkeiten beschränken.

»Wenn Gott allein von Ewigkeit da war, so ist die Welt von ihm ausgegangen und die Materie aus seinem Grundwesen entstanden; daher fort mit der Materie! Alle Formen sind nur Schleier, unter denen sich der göttliche Geist verbirgt. Folglich ist aber die Welt ewig, und abermals folglich ist die Welt selbst Gott! Paßt nun dieser Schluß nicht noch weit weniger als der vorhergehende zu den vom menschlichen Verstande Gott beigelegten Eigenschaften? Von Gott selbst entsprungen, stets mit ihm verbunden, wie ist da der jetzige Zustand der Materien erklärlich? Wie kann man glauben, daß der Allmächtige, in seinem Wesen und seinen Eigenschaften Allgütige, Dinge erzeugt habe, die ihm unähnlich sind, und daß er nicht überall sich selbst gleichen sollte? Könnten sich denn in ihm verwerfliche Teile befunden haben, deren er sich einst entledigt hätte? – eine weniger beleidigende und lächerliche als schreckliche Hypothese, denn sie führt uns noch einmal auf jene zwei Grundwesen zurück, welche der vorhergehende Satz für unzulässig erklärt hat. Gott muß eins sein, er darf sich nicht teilen, wenn er nicht auf die wichtigste seiner göttlichen Eigenschaften verzichten will. Ist es folglich möglich, einen Teil Gottes anzunehmen, der nicht selbst Gott sei? Diese Hypothese erschien der römischen Kirche so verbrecherisch, daß sie die Allgegenwart Gottes in den kleinsten Teilen des Abendmahles als Glaubensartikel aufstellte. Wie kann man aber eine alles könnende Weisheit voraussetzen, die nicht zu siegen imstande ist? Wie vermag man sie ohne unmittelbare Wirkungen mit einer Natur zu verbinden, welche forscht, berechnet, stirbt und wiedergeboren wird, welche tätiger wirkt, wenn sie erschafft, als wenn schon alles im Gange ist, welche leidet, seufzt, ausartet, Böses tut, irrt, verschwindet und von neuem beginnt? Wie vermag man das fast allgemeine Mißkennen des göttlichen Grundwesens zu rechtfertigen? Warum der Tod? Warum wurde das Böse, dieser König der Erde, von einem in seinem Grundwesen und seinen Eigenschaften allgütigen Gott erzeugt, der nichts als nur ihm ähnliches schaffen sollte? Wenn wir aber von diesen unbeugsamen Schlüssen, die uns sogleich in das Ungereimte führen, zu Einzelheiten übergehen, welches Ende können wir zum Beispiel der Welt verheißen? Wenn alles Gott ist, so ist alles gegenseitig Ursache und Wirkung, oder es gibt vielmehr weder Ursache noch Wirkung, alles ist Eins gleich Gott, und ihr bemerkt weder einen Ausgangs- noch Heimkehrpunkt. Sollte das wirkliche Ende in einer sich endlich verflüchtigenden Rotation der Materie bestehen? Mag das Ende aber einbrechen, auf welche Art es wolle, so wäre der Mechanismus dieser von Gott ausgehenden und wieder zu ihm zurückkehrenden Materie nur ein wahres Kinderspiel. Warum sollte er sich dabei so plump benehmen? Unter welcher Form ist Gott am meisten wirklich Gott? Wer kann Gott in dieser ewigen Tätigkeit erkennen, durch welche er sich selbst in zwei Naturen teilt, von denen die eine gar nichts, die andere alles weiß? Begreifen Sie Gott, wenn er in Menschengestalt sich an sich selbst belustigend seiner eigenen Anstrengungen lacht, am Freitage stirbt, um am Sonntage wieder aufzustehen, und von Jahrhundert zu Jahrhundert diesen Scherz fortsetzt, weil er schon von aller Ewigkeit her das Ende weiß? Wenn er zu sich als Geschöpf nichts von dem, was er als Schöpfer tut, sagt? Der Gott der vorhergehenden Hypothese, dieser vermöge der Kraft seiner Trägheit so nichtige Gott, scheint doch eher möglich, wenn man unter Unmöglichkeiten wählen muß, als dieser so kindisch lächelnde Gott, der sich selbst totschießt, wenn zwei Teile der Menschheit mit Waffen in der Hand gegeneinander stehen.

»So komisch auch dieser höchste Ausdruck der zweiten Seite unseres Problems sein mag, so wurde er dennoch von der Hälfte des Menschengeschlechtes, und zwar von den Völkern angenommen, die sich fröhliche Mythologien erschufen. Diese liebeatmenden Nationen handelten ganz folgerecht, bei ihnen war alles Gott, selbst Furcht und Feigheit, selbst Laster und Verbrechen. Wer weiß, auf welcher Seite sich die Vernunft findet, wenn der Pantheismus, die Religion mancher großen Menschengeister, angenommen würde! Findet sie sich beim Wilden, der frei in der Wüste, in seine Nacktheit gekleidet, großherzig und stets gerecht in allen seinen Taten, die Stimme der Donner versteht und mit dem Meere spricht? Findet sie sich beim zivilisierten Menschen, der seine höchsten Genüsse nur Lügen verdankt, der, um eine Flinte auf die Schulter zu nehmen, die Natur zwängt und verunstaltet, der seine Intelligenz abnutzt, um seine Sterbestunde zu beschleunigen und um sich Krankheiten in allen seinen Vergnügungen zu bereiten? Wenn die Sichel der Pest oder das Schwert des Krieges, wenn der Genius der Verödung über einen Winkel des Erdballs alles vertilgend hinübergefahren ist, wer hat dann Recht, der Wilde aus Nubien oder der Patrizier aus Theben? Eure Zweifel steigen von oben nach unten herab, sie umfassen alles, das Ende wie die dazu dienenden Mittel. Wenn die physische Welt schon unerklärbar scheint, so zeugt die moralische Welt noch weit mehr gegen Gott. Wo ist also ein Fortschritt? Wenn alles einer Verbesserung entgegengeht, warum sterben wir als Kinder? Warum leben wenigstens Völker nicht ewig? Sollte die von Gott entsprungene, die in Gott enthaltene Welt wohl stillstehend sein? Leben wir nur einmal? Leben wir ewig? Wenn wir nur einmal leben, und zwar getrieben durch den unaufhaltsamen Gang des großen Alls, so wollen wir auch ganz nach unserer Weise leben! Sind wir ewig, so wollen wir uns leiten lassen! Ist das Geschöpf verantwortlich, wenn es im Momente des Überganges existiert? Wenn es in der Stunde einer großen Umwandlung sündigt, wird es erst dann bestraft, wenn die Umwandlung vollendet ist? Was wird aus der göttlichen Güte, wenn sie uns nicht unmittelbar in glücklichere Gefilde versetzt, vorausgesetzt, daß es deren gibt? Was wird aus Gottes Vorsehung, wenn er das Ergebnis der von ihm aufgelegten Prüfungen nicht kennt? Was ist von der dem Menschen in allen Religionen dargebotenen Doppelwahl zu halten, ob er entweder in einem Kessel ewig sieden, oder in weißem Gewande, einen Palmzweig in der Hand und einen Heiligenschein um den Kopf, spazieren gehen will? Ist es möglich, daß diese heidnische Erfindung das letzte Wort eines Gottes sein kann? Welch edeldenkendes Gemüt wird es übrigens nicht des Menschen und Gottes unwürdig finden, daß der berechnenden Tugend, welche während einer kurzen Existenz gewisse seltsame und oft unnatürliche Bedingungen erfüllt, vermöge der Satzungen aller Religionen, ein ewiges Freudenreich verheißen wird? Ist es nicht lächerlich, den Menschen mit ungestümen Forderungen der Sinne zu begaben und ihm deren Befriedigung zu untersagen? Wozu dienen übrigens diese magern Einwürfe, wenn das Gute ebenso wie das Böse annulliert ist? Existiert das Böse wirklich? Wenn die Substanz aller Dinge Gott ist, so ist das Böse selbst Gott. Wenn die Urteilskraft und das Empfindungsvermögen dem Menschen zu seinem Gebrauche verliehen worden sind, so ist nichts verzeihlicher, als eine Bedeutung für menschliche Schmerzen zu suchen, und die Zukunft darüber zu befragen; wenn nun aber diese scharfen und strengen Untersuchungen zu solchen Schlüssen führen, welche Verwirrung entsteht alsdann! Nichts ist feststehend auf dieser Welt, nichts schreitet vor, doch nichts bleibt auch stehen, alles verändert sich, nichts wird aber vernichtet, nach jeder Trennung folgt gewiß wieder Vereinigung, denn, vermag euer Geist euch nicht auf das bestimmteste ein Ende zu beweisen, so vermag er auch nicht die Vernichtung des kleinsten Stäubchens der Materie darzutun, es kann umgewandelt aber nicht zerstört werden. Wenn die Annahme einer blind herrschenden Gewalt dem Atheisten gewonnen Spiel gibt, so ist dagegen eine intelligente Gewalt unerklärbar, denn darf sie, ausgegangen von Gott, auch nur dem kleinsten Widerstand begegnen? Wo ist Gott? Wenn ihn die Lebenden nicht sehen, werden ihn die Toten finden? Stürzet zusammen, Götzendienst und Religionen! Stürzet ein, zu schwache Schlußsteine der gesellschaftlichen Hallen, die ihr weder den Fall, noch den Tod, noch das Vergessenwerden ganzer Völker, so fest gegründet sie auch sein mochten, verhindern konntet! Weg mit allerlei Moral, mit aller Gerechtigkeitspflege! Alle unsere Verbrechen sind rein göttliche Wirkungen, deren Ursachen der Mensch nicht kennt! Alles ist Gott, und demnach sind auch wir Gott, oder es gibt keinen Gott!

»Schaue hier, o Greis! Du Kind eines Jahrhunderts, von dem jedes einzelne Jahr auf deiner Stirn das Eis seines Unglaubens gehäuft hat! Schaue hier den ganzen Inbegriff deiner Wissenschaften und deines langen Nachdenkens! Sie, mein teurer Herr Becker, haben Ihr Haupt auf das Kopfkissen des Zweifels gelegt, weil Sie auf ihm die leichteste Lösung fanden und dabei nur wie der größte Teil des Menschengeschlechts handelten, der zu sich selbst spricht: ›Warum sollen wir uns länger den Kopf mit diesem Rätsel zermartern, wenn Gott uns nicht mit einem mathematischen Beweise zu dessen Lösung begnadigt hat, während er uns doch so viel Algebra verlieh, um sicher von der Erde zu den Sternen gelangen zu können?‹ Sind dieses nicht Ihre geheimsten Gedanken? Ich habe sie nicht zu verschönern, sondern in ihrer nackten Gestalt darzustellen gesucht. Die Lehren der beiden Hauptsätze, aus denen die auf Erden herrschenden Religionen entspringen, nämlich der Antagonismus, der Gott dadurch vernichtet, weil er ihm, obgleich allmächtig, doch die Lust beilegt, Streit zu beginnen, und der alberne Pantheismus, der, weil bei ihm alles Gott ist, Gott ebenso vernichtet, diese beiden Hauptprinzipien sind gleich verderblich! – Hier liegt nun zwischen uns die zweischneidige Axt, mit der Sie dem alten, von Ihnen auf einen gemalten Wolkenthron gesetzten Greise das Haupt abgeschlagen haben! Jetzt reichen Sie mir diese Axt!«

Der Pfarrherr und Wilfrid betrachteten das Mädchen mit stummer, fast furchtsamer Verwunderung. »Glauben«, nahm Seraphita wieder das Wort, diesmal aber mit ihrer Frauenstimme, denn bis jetzt hatte der Mann gesprochen, »glauben ist eine Gabe des Himmels! Glauben heißt empfinden. Um an Gott zu glauben, muß man Gott fühlen. Dieses Gefühl ist eine nur nach und nach vom Gemüte ebenso erworbene Eigenschaft, wie diejenige Erstaunen erregende Kraft, die ihr an großen Männern, Kriegshelden, Künstlern und Gelehrten bewundert. Der Gedanke, als eine Masse von Verhältnissen, die euch unter den Dingen auffallen, ist eine intellektuelle Sprache, die gelernt werden kann, nicht wahr? Der Glaube, als eine Masse himmlischer Wahrheiten, ist gleichermaßen eine Sprache, aber eine ebenso hoch über dem Gedanken stehende Sprache, wie der Gedanke erhaben steht über dem Instinkte. Auch diese Sprache kann erlernt werden. Der Gläubige antwortet durch einen einzigen Laut, durch eine einzige Gebärde; der Glaube reicht ihm ein feuriges Schwert, mit dem er alles durchhaut oder erleuchtet. Der Sehende steigt nicht vom Himmel wieder herunter, er betrachtet ihn und schweigt. Es gibt ein gläubiges und sehendes, ein wissendes und könnendes, ein liebendes und betendes, ein still wartendes Geschöpf. Mit ruhiger Ergebung nach dem Reiche des Lichtes strebend, besitzt es weder das stolze Herabsehen des Glaubenden, noch das Schweigen des Sehenden; es hört und antwortet; der Zweifel der finstern Jahrhunderte gibt ihm keine Mordwaffe in die Hand, sondern einen leitenden Faden. Unter allen Formen nimmt es den Kampf auf und schmiegt seine Sprache allen andern an. Ein solches Wesen wird nicht heftig, es verdammt und tötet niemand, sondern rettet und tröstet viel lieber; es besitzt nicht das Herbe des Angreifenden, wohl aber die sanfte Geschmeidigkeit des alles durchdringenden, erwärmenden und erleuchtenden Lichtes: Zweifel ist in seinen Augen keine Gottlosigkeit, keine Gotteslästerung, kein Verbrechen, sondern ein bloßer Übergang, durch welchen der Mensch entweder in die Finsternis zurückkehrt, oder zum Lichte vorschreitet. Und nun, mein guter Pastor, wollen wir unsere fernern Untersuchungen beginnen.

»Sie glauben an keinen Gott! Warum? Ihren Ansichten nach ist Gott unbegreiflich, unerklärbar. Zugegeben! und nicht einmal will ich Ihnen sagen, daß Gott ganz begreifen ebenso viel wäre, als Gott selbst sein, auch will ich Sie keineswegs beleidigen, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß Sie dasjenige leugnen, was Ihnen unerklärlich scheint, denn dadurch geben Sie mir ein Recht, dasjenige auch für wahr zu halten, was mir glaublich vorkommt. Für Sie gibt es eine sonnenklare Tatsache, die sich in Ihnen selbst vorfindet. In Ihnen geht die Materie in die Intelligenz über. Und Sie wollen glauben, die menschliche Intelligenz mache den Übergang zu Finsternis, Zweifel, Vernichtung? Erscheint Ihnen Gott auch gleich unbegreiflich und unerklärbar, so gestehen Sie wenigstens, daß Sie in jedem rein physischen Dinge einen sehr folgerechten und großen Meister erkennen. Warum sollte seine Kunst beim Menschen, seiner vollkommensten Schöpfung, ein Ende machen? Wenn diese Frage nicht überzeugend ist, so verlangt sie doch einiges Nachdenken. Sie leugnen Gott und, sehr erfreut, Ihre Zweifel darlegen zu können, führen Sie Tatsachen an, die aber mit ihrer doppelten Schneide ebenso gut Ihre gesamten Schlußfolgerungen vernichten, wie eben diese Gott vernichten. Auch haben wir zugegeben, daß Materie und Geist zwei Schöpfungen seien, die einander nicht begriffen, daß die spirituelle Welt aus unendlich vielen Korrespondenzen bestände, die sich auf die endliche materielle Welt bezögen, daß, wenn nichts auf Erden sich durch die Kraft seines Geistes mit dem Ganzen der irdischen Schöpfung identifizieren konnte, nichts auch sich noch weit weniger zur Kenntnis der Korrespondenzen zu erheben vermochte, die der Geist unter diesen Schöpfungen bemerkt. Wir sind folglich imstande, alles mit einem Male zu endigen, wenn wir euch die Fähigkeit, Gott verstehen zu können, ebenso ableugnen, wie ihr den Kieseln des Fjords die Fähigkeit, sich zählen oder sehen zu können, ableugnet. Wißt ihr denn, ob sie, die Steine, den Menschen nicht selbst leugnen, wenngleich der Mensch sie nimmt und sein Haus mit ihnen baut? Eines gibt es, was euch niederschmettert, das Unendliche! Fühlt ihr es in euch, warum gebt ihr dann nicht auch die daraus entspringenden Folgerungen zu? Kann das Endliche eine vollkommene Kenntnis vom Unendlichen besitzen? Wenn es euch nicht möglich ist, die eurem eigenen Geständnisse nach unendlichen Korrespondenzen zu umfassen, wie wollt ihr dann das entfernte Ende, in welchem alle zusammenlaufen, umfassen? Wenn die Ordnung, deren Offenbarung ihr fordert, unendlich ist, wie will euer beschränkter Verstand sie bezweifeln? Und fragt nicht, warum der Mensch das nicht begreife, was er doch aufzufassen imstande ist! Wenn ich euch beweise, daß euer Geist ganz und gar nichts von dem verstehe, was in seinem Bereiche liegt, werdet ihr mir dann wohl zugeben, daß er unmöglich das begreifen kann, was darüber hinausgeht? Werde ich alsdann nicht mit Recht euch sagen können: Von den zwei Urteilssprüchen, die Gott vor dem Richterstuhle eurer Vernunft vernichten, mag der eine wahr sein, der andere aber ist falsch. Wenn die Schöpfung wirklich vorhanden ist, so fühlt ihr auch die Notwendigkeit eines Endes, und dieses Ende muß schön sein; wenn also die Materie sich im Menschen mit der Intelligenz endigt, warum begnügt ihr euch denn nicht mit dem Wissen, daß das Ende der menschlichen Intelligenz der Anfang des Lichts der höhern Sphären ist, denen das Anschauen Gottes, das euch ein unauflösliches Problem scheint, vorbehalten ist? Bevor der Mensch seine Kraft anwendet, Gottes Größe zu messen, sollte er dafür nicht lieber sich selbst besser kennen lernen? Ehe er die ihm leuchtenden Gestirne bedroht, ehe er erhabene Wahrheiten bekämpft, sollte er lieber die ihn betreffenden Wahrheiten festzustellen suchen.

»Den Negationen des Zweifels muß ich jetzt auch Negationen entgegenstellen. Ich frage Sie demnach, ob hienieden irgend ein Ding an und für sich selbst so sonnenklar ist, daß ich ihm Glauben schenken kann. Sogleich will ich Ihnen beweisen, daß Sie fest an Dinge glauben, die tätig wirken und doch keine Wesen, die Gedanken gebären und doch keine Geister, die gar nicht vorhanden sind und doch von Ihnen überall gefunden werden, die keinen möglichen Namen besitzen und doch von Ihnen benannt worden sind, die endlich ähnlich dem von Ihnen angenommenen Gotte unter dem Unerklärlichen, Unbegreiflichen und Albernen elendlich umkommen. Und nun frage ich Sie, wie es möglich ist, daß Sie, solche Dinge annehmend, für Gott auch noch Zweifel übrig behalten können?

»Sie glauben an die Zahl? Die Grundlage der von euch so genannten exakten Wissenschaften; denn ohne Zahl gäbe es keine Mathematik. Welches mysteriöse, mit ewigem Leben begabte Wesen wäre nun wohl imstande, und zwar in welcher Sprache, schnell genug die Zahl auszusprechen, welche die unendlichen Zahlenreihen umfaßt, von deren Dasein euer Verstand vollkommen überzeugt ist? Verlangt sie von dem größten menschlichen Genie zu erfahren, und wenn er hundert Jahre, den Kopf in beiden Händen, an seinem Studiertische sitzt, was wird er euch antworten? Ihr wißt weder, wo die Zahl beginnt, noch wann sie endigen wird; einmal belegt ihr sie mit dem Namen Zeit, ein andermal nennt ihr sie Raum. Nichts existiert, als nur durch die Zahl, ohne sie gäbe es nur eine und dieselbe Substanz, sie allein macht Unterscheidungen und Gattungen möglich. Die Zahl verhält sich zu eurem Geiste, wie dieser zur Materie. Wollen Sie einen Gott daraus machen? Ist sie ein Wesen? Ist sie ein von Gott ausgegangener Hauch, um die Materie zu ordnen, in welcher nichts eine Gestalt erhält außer vermöge der Teilbarkeit, die ein Ausfluß der Zahl ist? Die kleinsten wie die unermeßlichsten Schöpfungen unterscheiden sich nur durch Qualität, Quantität, Dimensionen und Kräfte, lauter von der Zahl erzeugte Eigenschaften. Die Unendlichkeit der Zahlen ist ein von eurem Geiste bewiesenes Faktum, von dem aber die Materie sich selbst keinen Beweis liefern kann. Der Mathematiker wird Ihnen sagen, daß die Zahl existiert, aber nicht bewiesen werden kann. Gott, wird der Glaubende behaupten, ist eine mit Bewegung begabte Zahl, die empfunden aber nicht bewiesen zu werden braucht. Als Einheit beginnt sie die Zahlenreihe, mit der sie nichts gemein hat, denn die Existenz der Zahl hängt von der Einheit ab, die, ohne selbst eine Zahl zu sein, doch alle erzeugt. Gott, bester Pastor, ist eine herrliche Einheit, die nichts mit seinen Schöpfungen gemein hat, sie aber dessen ungeachtet hervorbringt. Ihr auf Erden allein begreift die Zahl, diese erste zum Tempel Gottes führende Stufe, und doch strauchelt euer Verstand schon bei diesem ersten Versuche. Wie? Ihr vermögt diese erste euch von Gott überlassene geringe Aufgabe weder zu begreifen noch zu lösen, und doch wagt ihr euren Maßstab an irgend ein mögliches Ende Gottes zu legen? Was würde geschehen, wenn ich euch nun in die Tiefen der Bewegung blicken ließe, in jene Kluft, welche die Zahl ordnet? Wollte ich Ihnen nun sagen: das ganze Weltall ist nichts als Zahl und Bewegung, so würden Sie einsehen, daß wir schon eine ganz verschiedene Sprache redeten. Ich verstehe beide, dies ist aber nicht bei Ihnen der Fall. Wie wäre es, wenn ich noch die Behauptung hinzufügte: Bewegung und Zahl sind geboren durch das Wort! Und ihr Menschen verspottet diesen Ausdruck, der den Sehern und Propheten, die einst diesen Hauch Gottes vernahmen, vor dem der Apostel Paulus niedersank, als höchstes Bild des Geistes Gottes galt, ihr, deren sämtliche sichtbare Werke, Gesellschaften, Denkmäler, Handlungen, Leidenschaften doch nur von eurem schwachen Worte ausgehen, und die ihr ohne Sprache dem Geschwisterkinde des Negers, dem Orangutan, dem Waldmenschen gleichen würdet! Sie glauben also fest an Zahl und Bewegung als an eine unerklärbare Kraft und unbegreifliches Resultat, auf deren Dasein ich das Dilemma anwenden könnte, durch welches ich Sie noch vor kurzem von dem Glauben an Gott befreite. Wollen Sie, als ein so mächtiger Forscher, mich nun nicht auch der Mühe entheben, Ihnen die Gleichheit und Einheit des Unendlichen auf überzeugende Weise auseinander zu setzen? Gott allein ist unendlich, folglich kann es wahrlich keine zweite Unendlichkeit geben. Wenn nun, um menschliche Ausdrücke zu brauchen, Ihnen ein hienieden gewiß bewiesenes Ding unendlich erscheint, so dürfen Sie sicher in ihm einen Teil von Gottes Antlitz erblickt zu haben glauben. Wollen wir weiter fortfahren? Sie haben sich ein Stückchen von diesem Unendlichen zugeeignet, Ihrer Größe anpassend zugerichtet, und daraus die Zahlenlehre geschaffen, vorausgesetzt, daß Sie irgend etwas zu schaffen imstande sind, die Basis, auf der alles, sogar Ihre gesellschaftlichen Vereine und Verhältnisse beruhen. Wie nun die Zahl, das einzige Ding, an welches eure sogenannten Atheisten geglaubt haben, die physischen Schöpfungen ordnet, ebenso ordnet die Zahlenlehre, die Anwendung der Zahl, die moralische Welt. Dieses Zählen sollte nun eigentlich gleich allem, was in sich selbst wahr ist, absolut sein, allein es ist rein relativ, es existiert auf keine unbeschränkte Art, denn Sie vermögen keinen Beweis seiner Wirklichkeit zu liefern. Wenn nun auch diese Numeration zum Beziffern der organisierten Substanzen ganz anwendbar ist, so wird sie doch hinsichtlich auf organisierende Kräfte als vollkommen unkräftig erfunden, denn die ersten sind endlich, die andern unendlich. Der Mensch erfaßt wohl im Geiste das Unendliche, aber in seiner Gesamtheit kann er es nicht handhaben; sonst wäre er Gott. Euer Zählen, auf die endlichen Dinge, nicht auf das Unendliche, angewandt, ist richtig, in den Einzelheiten, die ihr wahrnehmet, aber falsch in bezug auf das Gesamte, das ihr nicht wahrzunehmen vermögt. Wenn ferner die Natur in ihren organisierenden Kräften oder in ihren Prinzipien sich selbst gleicht, so ist dies doch niemals der Fall in Beziehung auf ihre Wirkungen, daher stoßen Sie nirgends in der Natur auf zwei ganz gleiche Objekte. In der natürlichen Ordnung können folglich zwei mal zwei niemals vier ausmachen, denn um dieses zu bewerkstelligen, müßte man notwendigerweise ganz gleiche Einheiten auftreiben, Sie selbst aber wissen, daß es ebenso unmöglich ist, an einem Baume zwei gleiche Blätter, als unter einer Gattung zwei gleiche Bäume zu finden. Dieses Axiom eures Zählens, unrichtig in der sichtbaren Natur, ist gleichermaßen falsch in der unsichtbaren Welt eurer Abstraktionen, wo gleiche Verschiedenheit in euren Ideen stattfindet, und schärfer als sonst irgendwo sind hier die Unterschiede getrennt, denn weil hier alles bezüglich ist auf das Temperament, auf die Kraft, auf die Sitten und Gewohnheiten der Individuen, so stellen auch die geringsten Gegenstände verschiedene Empfindungen vor. Wenn der Mensch Einheiten zu schaffen vermochte, so ist dies gerade so viel, als wenn er Stücken Goldes gleiches Gewicht und Benennung gegeben hätte. Werft den Dukaten des Armen zum Dukaten des Reichen, und der öffentliche Schatz wird keinen Unterschied unter ihnen finden, in den Augen des Denkenden aber ist der eine moralisch betrachtet gewiß von viel bedeutenderm Werte als der andere, denn einer repräsentiert einen langen Monat voll Glück, während der andere nur eine augenblickliche Laune vorstellt. Zwei mal zwei macht folglich nur selten und ausnahmsweise vier. Ebenso wenig existiert ein Bruchteil in der Natur. Sehr häufig geschieht es, und Proben bestätigen es, daß der hundertste Teil einer Substanz weit stärker erfunden wird als dasjenige, was ihr das Ganze nennt. Gibt es aber keinen Bruch in der physischen Ordnung der Dinge, so ist er noch weit weniger in der moralischen vorhanden, in welcher Gedanken und Gefühle ebenso verschieden wie die Gattungen im Pflanzenreiche sind, stets aber ganz und vollkommen. Die Theorie der Brüche ist folglich eine ausgezeichnete Gefälligkeit eures Geistes, und die Zahl ist demnach eine Kraft, von der ihr nur, ohne ihr ganzes Gewicht zu kennen, einen sehr geringen Teil zu handhaben versteht. Ihr habt euch in dem unendlichen Reiche der Zahlen nur eine elende Hütte erbaut, ihr habt sie sehr gelehrt mit Hieroglyphen herausgeputzt und voller Vergnügen gerufen: Hier ist alles!

»Wollen wir nun von der reinen einfachen Zahl zu der dargestellten übergehen?

»Eure Größenlehre stellt fest, daß die gerade Linie der kürzeste Weg von einem Punkt zum andern sei, eure Sternenkunde beweist hingegen augenscheinlich, daß Gott nur Kurven angewendet hat. Hier habt ihr also in einer und derselben Wissenschaft zwei gleich erwiesene Wahrheiten, die eine vermöge des Zeugnisses der durch das Fernrohr vergrößerten Sinne, die andere durch das Zeugnis eurer Vernunft, die sich aber beide widersprechen; der dem Irrtume unterworfene Mensch bestätigt die eine, und der noch nie über einem Fehler betroffene Werkmeister der Welt leugnet sie ab. Wer wird nun Recht sprechen zwischen der Theorie der graden Linie und der Kurve? Wenn der rätselhafte Baumeister, der wunderbar schnell seine Zwecke erreicht, in seinem Werke keine gerade Linie anwendet, so darf der Mensch auch nie darauf rechnen. Die Kugel, die der Mensch in gerader Linie fortzuschleudern gedenkt, beschreibt eine krumme Linie, und wenn ihr sicher einen entfernten Punkt im Raume erreichen wollt, so laßt ihr die Bombe ihre furchtbare Parabel beschreiben. Keiner eurer Gelehrten hat den einfachen Schluß gezogen: die Kurve ist das Gesetz der materiellen Welten, die gerade Linie regiert in den spiritualen, erstere ist die Theorie des Endlichen, die zweite die Theorie des Unendlichen. Weil der Mensch hienieden allein Kenntnis vom Unendlichen besitzt, so kennt er auch allein nur die gerade Linie, er allein besitzt das Gefühl der in einem speziellen Organ befindlichen Vertikalität. Wäre die Vorliebe gewisser Menschen für die Schöpfungen der krummen Linie nicht gewissermaßen das Anzeichen einer Unreinheit ihrer noch mit materiellen, uns erzeugenden Substanzen geschwängerten Natur, und würde die besondere Zuneigung großer Geister für die gerade Linie nicht auf eine ihnen innewohnende Ahnung des Himmels deuten? Zwischen diesen beiden Linien liegt ein Abgrund, wie zwischen Endlichem und Unendlichem, Materie und Geist, Mensch und Idee, Bewegung und dem bewegten Objekte, Geschöpf und Gott. Bittet die göttliche Liebe um ihre Schwingen, und ihr werdet den Schlund übersteigen! Jenseits beginnt die Offenbarung des Worts.

»Die von euch materiell genannten Dinge sind keineswegs ohne große Bedeutung. Linien sind Begrenzungen des Stabilen, die eine von euren Lehrsätzen unterdrückte Macht des Handelns zulassen, wodurch sie in Hinsicht auf die im Ganzen betrachteten Körper unrichtig werden; daher die fortwährende Vernichtung aller menschlichen Monumente, die ihr ohne euer Wissen mit handelnden Eigenschaften bewaffnet. Die Natur hat nur Körper, eure Wissenschaft kombiniert nur deren Erscheinung; daher straft auch die Natur fast auf jedem Schritte alle eure Gesetze Lügen. Sucht mir ein einziges auf, das nicht durch irgend eine Tatsache umgestoßen würde. Eure Gesetze der Statik werden durch manche sehr unbedeutende physische Verhältnisse über den Haufen geworfen, denn eine geringe in Dampf verwandelte Flüssigkeit stürzt die mächtigsten Gebirgsmassen um und liefert euch den Beweis, daß die schwersten Substanzen von der leichtesten, unwägbaren emporgehoben werden können. Eure Gesetze über Schall und Licht sind durch die von euch in euch selbst während des Schlafes vernommenen Worte und durch die Lichtströme des euch oft erschlagenden elektrischen Feuers für nichtig erklärt. Ihr wißt ebenso wenig, wie sich das Licht mit euch in Einverständnis setzt, als ihr den einfachen und natürlichen Prozeß versteht, der dasselbe an dem Halse eines tropischen Vogels wie Rubinen, Smaragden, Saphire und Opale schimmern läßt, während es an demselben, unter Europas Himmel lebenden Vogel grau und braun bleibt und weiß sogar im Schoße der Polarnatur. Ihr vermögt nicht zu entscheiden, ob die Farbe eine in dem Körper selbst vorhandene Eigenschaft, oder ob sie eine Wirkung des ausströmenden Lichtes ist. Ihr nehmt an, das Meerwasser sei salzigbitter, ohne daß untersucht worden wäre, ob es sich bis auf den tiefsten Seegrund hinab ebenso verhält. Dir glaubt an Vorhandensein mehrerer Substanzen in dem von euch sogenannten leeren Raume, Substanzen, die unter keiner der von der Materie gebildeten Formen darstellbar sind, und die sich aller Hindernisse ungeachtet doch mit ihr in Harmonie setzen. Unter dieser Voraussetzung glaubt ihr ferner an die von der Chemie erhaltenen Resultate, die aber doch noch kein Mittel gefunden hat, die durch das Ab- und Zuströmen dieser Substanzen hervorgebrachten Veränderungen zu schätzen, welche diese Substanzen, durch Wärme oder Licht auf unbekannten Wegen geleitet, in euren Kristallen und Maschinen erzeugen. Ihr erhaltet nur tote Substanzen, aus denen ihr diejenige unbekannte Kraft verjagt habt, welche eine allgemeine Zersetzung der Dinge auf Erden verhindert, und die sich als Anziehungskraft, Schwingung, Kohäsion und Polarität zu erkennen gibt. Das Leben ist der Gedanke der Körper, sie sind nur ein Mittel, ihn in seiner Bahn festzuhalten. Wären die Körper an und für sich selbst lebende Wesen, so würden sie eine wirkende Ursache, folglich unsterblich sein. Wenn ein Mensch die Resultate der allgemeinen Bewegung, welche sich allen Schöpfungen vermöge ihres Absorptionsvermögens mitteilt, dartut, so preist ihr ihn als einen Gelehrten höchsten Ranges, als ob das Genie nicht vielmehr darin bestände, einen Blick weit jenseits der Wirkungen zu werfen, als dasjenige erst zu beweisen, was ist!

»Alle eure Gelehrten würden lachen, sprächet ihr zu ihnen: Es gibt so gewisse Verbindungen zwischen zwei Wesen, von denen das eine hier, das andere zum Beispiel in Java ist, daß beide zu einer und derselben Zeit dasselbe Gefühl empfinden, sich dessen bewußt sind und beide einander Fragen vorlegen und Antworten empfangen können! Und doch gibt es wirklich mineralische Substanzen, die gleiche weit entfernte Sympathien äußern. Sie glauben an die Kraft der dem Magnet innewohnenden Elektrizität, und doch verwerfen sie die die Seele entfesselnde! Ihren Ansichten nach übt der Mond, dessen Einfluß auf Ebbe und Flut von ihnen anerkannt wird, keinen Einfluß auf die Winde, den Pflanzenwuchs oder die Menschen; er setzt das Meer in Bewegung, er oxydiert Glas, allein auf Kranke soll er nicht einwirken; mit der Hälfte des Menschengeschlechts steht er in bestimmter Verbindung, die andere aber wird nicht von ihm berührt. Das sind einige Ihrer so großen Gewißheiten! Gehen wir weiter. Sie glauben an die Physik? Aber Ihre Physik beginnt, wie die katholische Religion, mit einem Glaubensakt. Sie erkennt doch eine von außen wirkende Kraft an, unterschieden von den Körpern, welchen sie die Bewegung mitteilt. Sie sehen die Wirkungen dieser Kraft. Aber was ist sie selbst? Wo ist sie? Was ist ihre Essenz, ihr Leben? Ist sie begrenzt? Und dann leugnen Sie Gott! . . .

»Die meisten Ihrer wissenschaftlichen Axiome, wahr in bezug auf den Menschen, sind folglich falsch in Rücksicht auf das Ganze. Alle Wissenschaft ist einfach, ihr aber habt sie geteilt. Wenn man den wahren Sinn der die Erscheinungen begründenden Gesetze erforschen will, muß man auch die wechselseitigen Beziehungen kennen, die zwischen den Erscheinungen und dem allgemeinen Gesetze bestehen: Jedes Ding hat immer den gewissen äußern Schein, der euern Sinnen auffällt, unter diesem äußern Schein bewegt sich eine Seele. Wo wird von euch das Studium der Verhältnisse gelehrt, welche die Dinge untereinander verbinden? Sie besitzen also nichts Absolutes. Ihre gewissesten Lehrsätze beruhen auf der Analyse materieller Formen, deren Geist Sie aber vernachlässigen.

»Es gibt eine erhabene Wissenschaft, die von einigen Männern, ohne daß sie es gestehen, zu spät und zu flüchtig erkannt wird. Solche Männer haben die Notwendigkeit eingesehen, die Körper nicht bloß nach ihren mathematischen Eigenschaften, sondern in ihrem Gesamtwesen und mit ihren Wahlverwandtschaften zu betrachten. Der Größte unter euch hat am Ende seiner Tage erkannt, daß alles aus Ursache und Wirkung besteht, und daß die sichtbaren Welten gegenseitig einander gleich, den unsichtbaren Welten aber untergeordnet wären, und hat es schwer beseufzt, nur umstößliche Vorschriften gegeben zu haben! Er hat seine Welten gezählt wie im Äther zerstreute Körner und ihren Zusammenhang aus den Gesetzen der planetaren und molekularen Anziehung erklärt. Ihr habt diesen Mann verehrt. Ich aber sage euch, er starb in Verzweiflung! Vermutete er, daß die zentrifugalen und zentripetalen Kräfte, die er erfunden hatte, um sich Rechenschaft von der Welt zu geben, einander glichen, so mußte ihm die Welt stehen bleiben; und er ließ doch eine dritte Bewegung in unbestimmter Richtung zu; nahm er hingegen Ungleichheit dieser Kräfte an, alsbald mußte sich ihm die Welt verwirren. Seine Gesetze konnten also nicht absolut sein: es blieb ein höheres Problem als der Grundsatz, der seinen falschen Ruhm bewirkte. Glaubt ihr, daß die Verbindung der Gestirne unter sich selbst und die Zentripetalkraft ihrer innern Bewegung ihn gehindert habe, noch weiter zu sehen? Der Unglückliche! Je mehr er die Weite vergrößerte, um so schwerer wurde seine Last. Er hat euch erklärt, wie das Gleichgewicht unter den Teilen bestände; wohin geht aber das Ganze? Er betrachtet den weiten, den Augen der Menschen unendlich scheinenden Raum, angefüllt mit Gruppen von Welten, deren kleinster Teil nur vom Fernrohr umfaßt wird, deren Unermeßlichkeit aber die Schnelle des Lichts verrät. Diese erhabene Betrachtung gab ihm einen bestimmten Begriff von den Welten, die in diesem Raume gleich auf einer Wiese wachsenden Blumen geboren werden wie Rinder, wachsen wie Menschen, sterben wie Greise, daselbst leben, indem sie sich die zu ihrer Nahrung dienlichen Substanzen einverleiben, die einen Mittelpunkt und ein Lebensprinzip besitzen, die sich gegenseitig in einem Lager schützen, die ähnlich den Pflanzen einsaugen und eingesaugt werden, die endlich ein mit Leben begabtes Ganzes bilden, weil sie einem vorherbestimmten Schicksale entgegen eilen. Bei diesem Anblicke zitterte jener Mann! Er wußte, Leben sei das Ergebnis der Verbindung eines Dinges mit seinem Prinzipe; Tod, Trägheit, oder Schwere sei das Ergebnis eines Bruches zwischen einem Objekte und der ihm inwohnenden Bewegung, und nun ahnete er das Krachen der einstürzenden Welten, wenn Gott ihnen sein Wort entzöge. Er machte den Versuch, in der Apokalypse die Spuren dieses Wortes zu suchen! Ihr hieltet ihn für wahnsinnig, während er nur Vergebung für sein Genie suchte.

»Sie, Wilfrid, sind zu mir gekommen, um mich um Auflösung von Gleichungen zu bitten, mich auf einer Regenwolke zu entführen, mich in den Fjord zu stürzen und als Schwan wieder erscheinen zu lassen. Wären solche Dinge der Menschheit Zweck, so hätte Moses Ihnen die Differentialrechnung als Vermächtnis hinterlassen, Jesus Christus Ihnen die Dunkelheiten Ihrer Wissenschaften erklärt, seine Apostel Ihnen gesagt, woher jene unermeßlichen Schweife von Gas oder flüchtig gewordenem Metall an Kometenkerne befestigt kommen, die umherkreisen, um sich im Äther eine passende Stelle zu ihrer Verdichtung zu suchen, und die hin und wieder gewaltsam sich in ein System drängend, mit irgend einem Gestirn in Berührung kommen und es entweder durch ihren Anprall oder durch Mitteilung ihrer tödlichen Dünste vernichten; anstatt Ihnen Anleitung zu einem gottseligen Leben zu geben, hätte Ihnen Sankt Paulus erklärt, wie Nahrung das geheime Band aller Schöpfungen und das öffentliche des tierischen Lebens sei. Heutigen Tages wäre die Auflösung des Problems der Quadratur des Zirkels das größte Wunder, dessen Auffindung Ihnen ganz unmöglich erscheint, welches aber ohne Zweifel in der Bahn der Welten schon längst durch einige mathematische Linien gelöst sein dürfte, deren Verwicklung dem Auge der zu höhern Sphären gelangten Geister offen da liegt. Glauben Sie, die Wunder sind in, nicht außer uns. Auf solchem Wege sind die Taten natürlich vollbracht worden, welche die Völker für übernatürlichen Ursprungs hielten. Würde nicht Gott sich einer Ungerechtigkeit schuldig gemacht haben, wenn er einigen Generationen solche Beweise seiner Macht verliehen, andern aber versagt hätte! Der erzene Zauberstab gehört allen. Moses, Jakob, Zoroaster, Paulus, Pythagoras, Swedenborg, weder die niedrigsten Gesendeten noch die erhabensten Propheten, standen auf einer höhern Stufe, als auch euch zu erlangen möglich ist. Der einzige Unterschied besteht darin, daß für Völker gewisse Perioden eintreten, in denen ihr Glaube stärker ist als sonst. Wäre materielle Wissenschaft der menschlichen Anstrengungen Zweck, würden dann die Nationen, diese großen Sammelplätze der Menschen, stets so sonderbar verteilt sein? Wäre Zivilisation der Zweck des Menschengeschlechtes, würde dann die Intelligenz je absterben, würde sie rein persönlich bleiben? Die Größe aller Völker, die je wirklich groß wurden, war auf Ausnahmen gegründet; mit Aufhören der Ausnahme war die Macht dahin. Würden Seher, Propheten und andere Gesendete nicht lieber Hand an die Wissenschaft gelegt als sie auf den Glauben gestützt, würden sie nicht lieber euren Verstand als euer Herz anzuregen gesucht haben? Alle traten auf, um die Völker zu Gott hin zu lenken, alle verkündeten den Weg des Heils mit einfachen Worten, die zu den himmlischen Reichen führen. Begeistert von Glauben und Liebe und von jenem Worte, welches über den Völkern schwebt, sie belebt und zum Aufschwunge antreibt, wendet kein einziger irdischen Interessen sich zu. Eure großen Genies, eure Dichter, Könige, Gelehrte, alle sind verschlungen samt ihren Städten, die Wüste hat sie mit ihrem Sandmantel bekleidet, während die Namen jener noch heute gesegneten guten Hirten allen Unfällen entgangen sind. Wir können uns in keinem Punkte verständigen; Abgründe trennen uns, Sie stehen auf der Seite der Finsternis, ich aber lebe im wahren Lichte. Ist es dieses Wort, das Sie zu hören begehrt haben? Mit Freuden spreche ich es aus, es kann eine Änderung in Ihnen bewirken. Vernehmen Sie es also: es gibt materielle und geistige Wissenschaften! Da, wo Sie nur Körper erblicken, erschaue ich Kräfte, die durch eine allgemeine Bewegung zu einander hinstreben. Für mich ist der Charakter der Körper nur das Anzeichen ihres Grundwesens und die Bezeichnung ihrer Eigenschaften. Dieses Grundwesen erzeugt Verwandtschaften, die Ihnen unbemerkbar bleiben, und die sich in gewissen Mittelpunkten vereinigen. Die verschiedenen mit Leben begabten Gattungen sind ebenso viel unaufhörlich fließende Quellen, die untereinander in Verbindung stehen. Jede besitzt ihr eigentümliches Erzeugnis. Der Mensch ist Ursache und Wirkung, er wird ernährt, er selbst ernährt aber auch. Wenn Sie Gott Schöpfer nennen, so setzen Sie ihn herab; er hat nach Ihren Begriffen weder Pflanzen, Tiere noch Gestirne geschaffen. Kann er durch verschiedene Mittel wirken? Hat er vielmehr nicht bloß durch die Einheit geschaffen? Daher hat er auch nur Urstoffe gegeben, die sich nach seinem allgemeinen Gesetze nach dem Willen der Mittelpunkte, zu denen sie gehören, entwickeln sollen. Folglich nur eine einzige Substanz und Bewegung, eine einzige Pflanze, ein einziges Tier, aber fortlaufende Annäherungen. Alle Verwandtschaften sind auch wirklich durch annähernde Ähnlichkeiten verknüpft, und das Leben der Welten strebt durch ein gieriges Verlangen gegen die Zentren hin, ebenso wie euch der Hunger zum Nahrungsmitteleinnehmen zwingt. Um Ihnen ein Beispiel von den an Ähnlichkeiten geknüpften Verwandtschaften zu geben, ein nur auf zweiter Stufe stehendes Gesetz, auf welches aber alle Schöpfungen eurer Gedanken gegründet sind, so betrachten wir die Musik, die himmlische Kunst, die ein Ergebnis dieses Prinzips ist. Hat nicht die Zahl einen großen Einfluß auf die Harmonie der Töne? Ist der Ton nicht eine Modifikation der zusammengepreßten, ausgedehnten, zurückprallenden Luft? Sie kennen die Bestandteile der Luft: Stickstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff. Wenn Sie nun im leeren Raume keinen Ton hervorzubringen imstande sind, so ist klar, daß Musik und Menschenstimme das Resultat chemisch organisierter Substanzen sind, die sich in Einklang setzen mit den gleichen durch euere Gedanken in euch zubereiteten mittelst des Lichts, des großen Ernährers eures Erdballs koordinierten Substanzen. Hattet ihr Gelegenheit, die Salpeterablagerungen des Schnees zu beobachten, die Spuren des Blitzes zu sehen, die Pflanzen, die ihren Metallgehalt aus der Luft einatmen? Und mußtet ihr nicht daraus schließen, daß die Sonne jene zarteste Essenz erzeugt und austeilt, die alles Irdische ernährt? Swedenborg sagt: Die Erde ist ein Mensch. Eure jetzigen Wissenschaften, die euch in euren eigenen Augen so groß machen, sind Armseligkeiten gegen die Strahlen, die den Sehenden so reichlich entgegen schimmern. Hören Sie auf, mich ferner zu befragen, unsere Sprachen sind zu verschieden. Ich habe mich einen Augenblick lang Ihrer Sprache bedient, um einen Glaubensblitz in Ihre Seele zu werfen, um Ihnen ein Stück meines Mantels zu reichen und Sie damit in die erhabenen Regionen des Gebets zu ziehen. Soll Gott sich zu euch herablassen? Paßt es nicht besser für euch, zu ihm empor zu streben? Wenn die menschliche Vernunft so bald die Stufenleiter ihrer Kräfte auch erschöpft hat, um sich auf überzeugende Weise, aber doch vergeblich, Gottes Existenz zu beweisen, dann muß sie notwendig, um ihn kennen zu lernen, einen andern Weg einschlagen, und dieser Weg findet sich in uns selbst. Da bemerken schärfere als die an Untersuchung irdischer Gegenstände gewöhnten Augen bald die anbrechende Morgenröte. Wißt ihr, was Wahrheit ist? Eure strengsten Wissenschaften, eure tiefsten Meditationen, eure hellsten Klarheiten schwinden zu Wolken zusammen, jenseits derselben liegt das Heiligtum, aus dem das wahre Licht ausstrahlt.«

Sie sank zurück und schwieg, ohne daß ihre ernst ruhigen Gesichtszüge die leiseste Bewegung angedeutet hätten, von der Redner auch bei den gelassensten Improvisationen ergriffen zu werden pflegen.

Zum Ohre des Pfarrherrn gebeugt, fragte Wilfrid leise: »Wer hat ihr das gesagt?«

»Ich weiß es nicht!« ward ihm zur Antwort.

»Sanfter war er auf dem Falberg!« sprach Minna für sich hin.

Seraphita fuhr mit der Hand über die Augen und sagte lächelnd: »Sie sind heute abend recht nachdenkend, meine Herren. Sie behandeln Minna und mich wie Männer, mit denen man von Handel und Politik spricht, während wir doch nur arme junge Mädchen sind, denen man beim Teetrinken Märchen erzählen sollte, wie dies bei unsern norwegischen Abendgesellschaften Ton ist. Kommen Sie, lieber Pastor, und erzählen Sie mir eine der alten Sagas, die ich noch nicht gehört habe! Die Frithjofs-Saga, die Sie mir schon längst versprochen haben! Erzählen Sie uns die Geschichte von dem Sohne des Landmanns, der ein redendes und mit einer Seele begabtes Schiff besitzt. Die Fregatte Ellida kommt mir im Traume vor! Auf einer solchen mit Segeln ausgerüsteten Fee sollen junge Mädchen zur See gehen.«

»Da wir nun wieder in Jarvis gelandet sind,« sprach Wilfrid, der Seraphita mit seinen Augen hütete wie ein Dieb die einen Schatz verbergende Stelle, »so sagen Sie mir doch, warum Sie sich nicht verheiraten?«

»Sie alle werden als Witwer oder Witwen geboren,« antwortete sie, »meine Ehe war aber seit meiner Geburt beschlossen, und ich bin verlobt . . .«

»Mit wem?« fragten alle drei hastig.

»Lassen Sie mir mein Geheimnis«, versetzte das seltsame Wesen. »Ich verspreche Ihnen, wenn unser Vater es erlaubt, Sie zu dieser geheimnisvollen Vermählung einzuladen.«

»Wird dies bald sein?«

»Ich warte darauf.«

Langes Schweigen folgte diesen Worten.

»Der Frühling bricht an!« fing Seraphita endlich an. »Das Tosen der Gewässer und das Krachen des Eises beginnt; wollen Sie nicht den ersten Frühling eines neuen Jahrhunderts begrüßen?«

In Wilfrids Begleitung erhob sie sich und trat mit ihm an ein von David geöffnetes Fenster. Nach dem langen Schweigen des Winters tobten die Wasser unter dem Eise und hallten gleich einer Musik vom Fjord herauf, denn es gibt Töne, welche die Entfernung reinigt und die gleich lichten und frischen Wellen das Ohr erreichen.

»Hören Sie auf, Wilfrid, hören Sie auf, solche böse Gedanken in die Welt zu setzen, deren Sieg Sie schwerlich ertragen würden. Wer würde Ihre Wünsche nicht in Ihren Augen lesen? Seien Sie gut, tun Sie einen Schritt zum Guten! Heißt es nicht die Liebe der Menschen übersteigen, wenn man sich gänzlich dem Glücke dessen aufopfern will, den man liebt? Folgen Sie mir, dann führe ich Sie einen Weg, auf welchem Sie alle die von Ihnen geträumten Größen erreichen sollen, und wo die Liebe wahrhaft unendlich sein wird.« Sie ließ Wilfrid nachdenkend zurück.

»Ist dieses sanfte Geschöpf wohl jene Prophetin, deren Augen soeben erst Blitze schleuderten, deren Wort über die Wellen hindonnerte, deren Hand gegen unsere Wissenschaften die Axt des Zweifels schwang? Wachen wir vielleicht erst seit einigen Augenblicken?« fragte er sich selbst.

»Minna,« sprach Seraphitus, zu der Tochter des Pfarrherrn tretend, »Geier fliegen dort, wo Leichname sind, Tauben aber an hellen Quellen, unter grünen, friedlichen Gebüschen. Der Adler steigt gen Himmel, die Taube steigt von dort herab. Höre auf, dich in eine Region zu wagen, in der du weder Quellen noch Schatten finden dürftest. Wenn du unlängst nicht in den Abgrund schauen konntest, ohne zusammenzusinken, so bewahre deine Kräfte für den, der dich einst lieben wird. Geh, armes Kind; du weißt, ich habe meine Braut.«

Minna erhob sich und trat mit Seraphitus zu Wilfrid ans Fenster. Alle drei vernahmen das Brüllen der durch die obern Tauwasser angeschwollenen Sieg, welche schon von den Eisschollen zertrümmerte Bäume herabwälzte. Der Fjord hatte seine Stimme wieder gefunden. Die Illusionen waren verschwunden, alle bewunderten die sich ihrer Fessel entledigende Natur, die durch einen erhabenen Akkord dem Geiste zu antworten schien, der sie soeben wieder ins Leben gerufen hatte.

Als die drei Gäste dies rätselhafte Wesen verließen, waren sie erfüllt von jenem unbestimmten Gefühle, das weder Schlaf, noch Betäubung, noch starre Verwunderung ist, das aber an alles dieses grenzt, und welches weder Dämmerung noch Morgenröte genannt werden kann, um so sehnsüchtiger aber das Licht erwarten läßt. Alle waren in Nachdenken versunken.

»Ich fange an zu glauben, daß sie ein in Menschengestalt verborgener Geist ist«, sprach auf dem Heimwege der Pfarrherr.

Wilfrid kam ruhig und überzeugt zu Hause an und wußte nicht, wie er gegen solche göttlich majestätischen Kräfte ankämpfen sollte.

Minna dachte: »Warum will er doch nicht, daß ich ihn liebe?«

*


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