Honoré de Balzac
Seraphita
Honoré de Balzac

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Der Stromfjord

Wer nur irgend einen Blick auf eine Karte von Norwegens Seegrenzen geworfen hat, der muß in tiefe Bewunderung versinken über die phantastischen Gestaltungen dieser langen, gleich der feinsten Brüsseler Spitze ausgezackten Granitküste, in deren Klüften unaufhörlich des Nordmeers Wogen brüllen. Wer hat sich dann nicht den erhabenen Anblick vorgestellt, den diese Küsten ohne Gestade, diese Unzahl von Baien, Buchten und von andern kleinen Einschnitten, jedoch in unendlicher Verschiedenheit darbieten, und die sämtlich pfadlose Schlünde sind? Kommt man nicht in Versuchung, die Behauptung aufzustellen, die Natur habe selbst in seltsamem Spiele mit unauslöschlichen Hieroglyphen das Symbol nordischen Lebens hier niedergelegt, indem sie in der Gestalt dieser Küsten das Bild eines unermeßlichen Fischskeletts zeichnete? Denn der Fischfang liefert den Haupthandel und fast die gesamte Nahrung der wenigen gleich einer einsamen Steinflechte an den starren Klippen klebenden Einwohner. – Kaum kommen auf eine Strecke von vierzehn Graden der Breite siebenmalhunderttausend Seelen!

Den ganz ruhmlosen Gefahren, dem ewigen Schnee, der dem kühnen Reisenden von des Nordlands Gipfeln, deren Namen schon Frost erregt, entgegen starrt, haben wir es zu verdanken, daß bis jetzt diese erhabenen Schönheiten in stiller Jungfräulichkeit unberührt und im schönen Einklang blieben mit Erscheinungen in der menschlichen Natur, die, wenigstens für die Dichtung, ebenso jungfräulich sich dort zutrugen, und deren Geschichte hier folgt.

Hat eine dieser Buchten eine solche Ausdehnung, daß das Meer nicht gänzlich in dem Felsenkerker gefriert, so wird dieser kleine Meerbusen von den Einwohnern ein Fjord genannt, ein Wort, welches die Geographen fast aller Länder angenommen haben. Ungeachtet der allgemeinen unter diesen tiefen Einschnitten herrschenden Ähnlichkeit, gewährt doch jeder wieder für sich ein eigentümliches Bild; überall zeigt das Meer seine gewaltigen Einbrüche, immer aber hat es die Felsen auf verschiedene Art zerrissen, und für ihre seltsamen Gestaltungen finden sich keine Ausdrücke in der ganzen Geometrie. Hier sind die Klippen gleich einer Säge ausgezackt, dort vermag auf der senkrecht aufsteigenden Masse weder Schnee liegen zu bleiben, noch der jüngste Anflug der nordischen Tanne Wurzel zu fassen; hin und wieder sind einige zierliche Krümmungen abgerundet worden, und bilden nun ein von dunkeln Nadelhölzern überhöhtes Tal. Man könnte dieses Land eine Meer-Schweiz nennen.

Zwischen Drontheim und Christiania liegt ein solcher Meerbusen, genannt der Stromfjord. Gesteht man dem Stromfjord auch nicht den ersten Rang zu unter diesen herrlichen Landschaftsbildern, so gebührt ihm doch wenigstens das Verdienst, daß er alle irdische Pracht des Nordlandes umfaßt, und daß er zum Schauplatze einer ganz ätherischen Begebenheit diente.

Beim ersten Anblick scheint der Stromfjord das Bild eines vom Meer in das Land hineingebrochenen Trichters darzubieten. Der Durchbruch der Wellen läßt auf den furchtbaren Kampf schließen, der zwischen den beiden gleich kräftigen Mächten, dem wilden Ozean und dem starren Granit, einst stattfand. So scheinen zum Beispiel abenteuerlich geformte Klippen den Schiffen den Eingang zu versagen. Kühn springt der Nordländer hier von einem Felsen zum andern, ohne vor dem hundert Klafter tiefen und sechs Fuß breiten Abgrund zu erbeben. Ein dünnes, halbzerbröckeltes Stück Gneis verbindet dort zwei Felshörner, während hier Jäger oder Fischer vermittelst einer hinübergeworfenen Tanne zwei himmelan starrende Klippen vereinigen, an deren Fuß ewig die Wogen sich heulend brechen.

In schlangenförmiger Biegung wendet sich die Einfahrt rechts und stößt dann auf einen vom Gestade des Meers achtzehnhundert Fuß gerade aufsteigenden Berg, dessen Fuß eine fast senkrechte Masse Granit von beinahe einer Stunde Länge bildet, die erst in einer Höhe von dreißig Klaftern über dem Wasser Risse und Sprünge zu bekommen anfängt.

Am Ende der Biegung ist der Fjord endlich von einem gewaltigen mit Waldungen gekrönten Gneisfelsen geschlossen, von dem ein Fluß in vielfältigen Abstürzen herabschäumt, der zur Zeit des Schneeschmelzens zum Strom angeschwollen, einen unermeßlichen Wasserfall bildet, mit Wut aus dem Gebirge herausbricht und uralte Tannen und Lärchen, trotz ihrer Größe aber in dem furchtbaren Toben kaum bemerkt, herunterstürzt.

Das Gebirge, welches an seinem Fuße die ganze Wut des Meeres und auf seinem Gipfel alle Stürme des eisigen Nordpols aushalten muß, wird der Falberg genannt, und dieser Gipfel, der steilste im ganzen Norwegen, ist stets mit Eis und Schnee umhüllt, denn in dieser Nähe des Poles bringt schon eine Höhe von achtzehnhundert Fuß eine Kälte hervor, die sonst nur auf den höchsten Piks der Erde angetroffen wird. Steil gegen das Meer abfallend senkt sich diese Felskuppe allmählich nach Osten zu und verbindet sich dort mit den Fällen der Sieg durch stufenweis absteigende Täler, in denen aber die Kälte doch nur kurzes Gebüsch und verkrüppelte Bäume aufkommen läßt. Der Fluß, der im Hintergrund des Fjords herabstürzt, heißt die Sieg und gibt der Gegend den Namen Siegdahlen, was ungefähr soviel heißt als Wasserfall der Sieg.

Von den Massen des Falbergs durch den Fjord getrennt, zieht sich das Tal von Jarvis hin, eine anmutige Landschaft, beherrscht von Hügeln, mit Tannen, Lärchen, Birken, einzelnen Fichten und Buchen bewachsen, das lieblichste Bild, welches die nordische Natur in diesen rauhen Felsen hervorzuzaubern vermag. Leicht fällt es dem Auge hier, die Linie zu verfolgen, wo das von den Strahlen der Sonne erwärmte Land anfängt, für einige Kultur empfänglich zu werden, und die sparsame Vegetation der nordischen Flora emporkeimt. Hier ist der Golf breit genug, um dem vom Falberg zurückgeworfenen Meere zu gestatten, in kleinen Wellen an den sanft aufsteigenden Uferhügeln anzuspülen, deren Saum aus feinem Sande, vermengt mit Glimmer, Kieseln, Porphyr, vielerlei vom Flusse mitgeschwemmtem schwedischem Marmor, Muscheln und Algen besteht, welche Polar- und Südsturm hertrieben.

Am Fuße der Berge von Jarvis liegt das aus zweihundert hölzernen Häusern bestehende Dorf, in dem eine einsame, von der Welt abgesonderte Einwohnerschaft wohnt, die, gleich den Bienenschwärmen in einem Walde, ohne Zu- und Abnahme glücklich vegetiert, und im Schoße einer wilden Natur ihre Nahrung sammelt. Das unbekannte Bestehen dieses Dorfs erklärt sich leicht. Nur wenige Menschen waren mutig genug, sich durch das Klippengewirr zu wagen, um die eigentlichen Küsten des Meeres zu erreichen und da dem Fischfange obzuliegen, den die Norweger an weniger gefährlichen Gestaden im Großen treiben. Die vielen Fische des Fjords liefern einen Teil der Nahrung seiner Umwohner, die Weiden in den Tälern geben Milch und Butter, und einige Grundstücke in vorzüglicher Lage erlauben Roggen, Hanf, Gemüse zu bauen, die sie ebenso gut gegen die Strenge der Kälte, wie gegen die kurze aber oft furchtbare Hitze ihrer Sonne, mit aller Geschicklichkeit, die der Nordländer in diesem zweifachen Kampfe entwickelt, zu schützen wissen. Der Mangel an Straßen, sowohl zu Lande, wo sie garnicht zu finden sind, als wie zu Wasser, wo ihre schwachen Fahrzeuge kaum unbeladen die schwierigen Durchfahrten passieren können, verhindern sie, den Reichtum ihrer Wälder zu benutzen. Gleich unerschwingliche Summen würden erforderlich sein, um das Fahrwasser zu ihrem Fjord zugänglich zu machen, oder einen Weg in das Binnenland zu brechen. Die Straße von Christiania nach Drontheim umgeht den Stromfjord, und führt auf einer mehrere Stunden weit vom Wasserfalle entfernten Brücke über die Sieg. Zwischen dem Jarviser Tal und Drontheim ist die Küste mit unzugänglichen Wäldern bewachsen, und ebenso ist der Falberg von Christiania durch grausenhafte Abgründe getrennt. Vielleicht wäre es möglich gewesen, vermittelst der Sieg eine Verbindung mit dem inneren Norwegen und mit Schweden herzustellen, allein, um zugänglich und zivilisiert zu werden, hätte der Stromfjord eines Genies bedurft, und wirklich erschien auch dieses Genie, allein es trat in der Gestalt eines Dichters, eines gottesfürchtigen Schweden auf, der das Leben verließ unter Bewunderung der Schönheiten dieses Landes, und der diese Schönheiten verehrte gleich dem herrlichsten Werke des Schöpfers.

Jenen reich begabten Gemütern, denen ein inneres Anschauungsvermögen verliehen ist, wird es nun leicht werden, sich selbst vor ihren geistigen Augen ein Bild des ganzen Stromfjords zu entrollen, mit seiner Flut die ewigen Felstafeln zu bespülen, deren weiße Pyramiden im Nebel eines fast immer perlgrauen Himmels verschwimmen; die schöngeschweifte Fläche des Golfes zu bewundern; dem Gefäll der Sieg zu lauschen, wie sie in langen Streifen tanzt und stürzt über die Wirrnis schöner Baumtrümmer, die ragen und versinken zwischen den Gneisstücken; dann auszuruhen in dem lachenden Bild der nordisch reich bewaldeten Hügel, der mädchenhaft schlanken, sich mädchenhaft neigenden Birken, der Buchenhallen aus hundertjährigen bemoosten Stämmen; in all dem Wechselspiel von vielem Grün, Wolkenweiß, Tannenschwarz und Heiderot, all den Farben, all den Düften dieser wunderbaren Flora. Erweitert die Masse dieses Amphitheaters, verliert euch in Wolkenhöhen und Felsentiefen, wo die Seehunde lagern –, nie wird euer Sinn die reiche Poesie dieser Nordlandschaft erreichen, und wäre er tief wie der Ozean und phantastisch wie die Umrisse dieser Wälder und Wolken im Wechsel von Licht und Schatten.

Über die zwei- oder dreihundert der mit Birkenrinde bedeckten engen und niedrigen Hütten des Dorfes, die am Fuße der Hügel hingebreitet liegen, ragt ein Kirchlein hervor, das durch seine einfache Bauart in vollem Einklang mit dem ärmlichen Dorfe steht. Ein Kirchhof stößt an die Altarseite der Kirche und hinter diesem befindet sich das Pfarrhaus. Noch etwas höher, auf einem Vorsprunge des Gebirges, liegt ein Hof, der einzige von Stein erbaute in der ganzen Gegend, der eben deswegen auch von den Eingebornen das Schwedenschloß genannt wird; in der Tat kam ungefähr dreißig Jahre vor Beginn dieser Geschichte ein reicher Mann aus Schweden und ließ sich in Jarvis nieder, dessen Wohlstand er unermüdlich zu verbessern suchte. Dieser kleine, in der Absicht erbaute Hof, den Einwohnern als Muster zu dienen und sie zur Nachahmung aufzumuntern, zeichnete sich nicht nur durch seine Festigkeit, sondern auch durch die ihn umgebende Mauer aus; eine in Norwegen seltene Erscheinung, wo man sich, ungeachtet des Überflusses an Steinen, doch stets des Holzes zu allen Arten von Einfriedigungen, selbst der Felder, bedient. Durch diese Mauer gut gegen den Schnee geschützt, stand das Haus mitten in einem sehr großen Hofe auf einer kleinen Erhöhung. Seine Fenster waren durch sehr weit hervorspringende Wetterdächer geschützt, die von gewaltigen, viereckig behauenen Tannenstämmen getragen wurden und dadurch, wie viele nordländische Bauten, ein gewisses patriarchalisches Ansehen bekamen. Unter diesen Schutzwehren hervor konnte man gewöhnlich die wilden nackten Felsmassen des Falbergs betrachten, die geringe Wassermenge im wildschäumenden Fjord mit dem unendlichen fern herüberblickenden Ozean vergleichen, den donnernden Sturz der Sieg vernehmen, deren Fall von weitem ganz unbeweglich erschien, und den auf drei Stunden im Umkreise die Gletscher des Nordens umgaben; ein Blick vermochte mit einem Worte die ganze Landschaft zu umfassen, in der sich die übernatürlichen und doch einfachen Begebnisse dieser Geschichte zutragen werden.

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