Honoré de Balzac
Die Bauern
Honoré de Balzac

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VI

Eine Diebesgeschichte

Als Mademoiselle Laguerre gegen 1791 ihre Besitzung besuchte, nahm sie den Sohn des Examtmanns von Soulanges namens Gaubertin als Verwalter an. Die kleine Stadt Soulanges, heute ein einfacher Bezirkshauptort, war zur Zeit, wo das Haus Burgund gegen das Haus Frankreich Krieg führte, die Hauptstadt einer ansehnlichen Grafschaft. Ville-aux-Fayes, heute der Sitz der Unterpräfektur, ein einfaches kleines Lehen, hing damals wie Les Aigues, Ronquerolles, Cerneux, Conches und fünfzehn andere Kirchdörfer von Soulanges ab. Die Soulanges sind Grafen geblieben, während die Ronquerolles heute durch das Spiel jener Macht, welche sich der Hof nennt und aus dem Sohne des Hauptmanns du Plessis unter Hintansetzung der ersten Familien der Eroberungszeit einen Herzog machte, Marquis sind. Das beweist, daß Städte wie die Familien ein sehr wechselvolles Schicksal haben.

Der Sohn des Amtmanns, ein völlig vermögensloser Bursche, folgte einem Verwalter, der durch eine dreißigjährige Geschäftsführung reich geworden war und der Verwaltung von Les Aigues die Beteiligung zu einem Drittel bei der berühmten Kompagnie Minoret vorzog. In seinem eigenen Interesse hatte der künftige Proviantbeamte den François Gaubertin, der damals großjährig geworden, seit fünf Jahren sein Rechnungsbeamter und damit beauftragt war, sein Sichzurückziehen zu begünstigen, als Verwalter vorgeschlagen. Aus Dankbarkeit für die Belehrungen, die er von seinem Vorgesetzten empfangen, versprach ihm dieser eine Generalquittung bei Mademoiselle Laguerre durchzusetzen, als er sie sehr erschreckt über die Revolution sah. Der alte Amtmann, der öffentlicher Ankläger im Bezirk geworden war, wurde der Beschützer der furchtsamen Sängerin. Dieser Fouquier-Finville der Provinz zettelte gegen die Theaterprinzessin, die auf Grund ihrer Liebschaften mit der Aristokratie augenscheinlich verdächtig war, einen Scheinaufruhr an, um seinem Sohne das Verdienst einer angeblichen Rettung zu verschaffen, mit deren Hilfe man die Generalquittung für den Vorgänger erhielt. Die Bürgerin Laguerre machte François Gaubertin dann ebensosehr aus Klugheit wie aus Dankbarkeit zu ihrem Premierminister. Der künftige Lebensmittelversorger der Republik hatte Mademoiselle nicht verwöhnt: er ließ ihr aus Paris dreißigtausend Livres jährlich zukommen, obwohl Les Aigues zu dieser Zeit vierzigtausend einbringen mußte. Das unwissende Opernmädchen war daher entzückt, als Gaubertin ihr sechsunddreißigtausend versprach.

Um das gegenwärtige Vermögen des Verwalters von Les Aigues vor dem Tribunal der Wahrscheinlichkeiten zu rechtfertigen, muß man notgedrungen seine Anfänge auseinandersetzen. Von seinem Vater beschützt, ließ der junge Gaubertin sich zum Maire von Blangy ernennen. Er konnte also trotz der Gesetze, indem er die Schuldner, die nach seinem Belieben von den erdrückenden Requisitionen der Republik heimgesucht werden konnten oder nicht, terrorisierte, um ein Wort jener Zeit zu gebrauchen, mit Silber zahlen lassen. Der Verwalter gab seiner Bürgerin, solange dies Papiergeld im Umlauf war, Assignaten, die, wenn sie auch kein Staatsvermögen, so doch wenigstens viele Privatvermögen schufen. Von 1792 bis 1795 zog der junge Gaubertin hundertfünfzigtausend Livres aus Les Aigues, mit welchen er an der Pariser Börse spekulierte. Mit Assignaten abgespeist, sah Mademoiselle Laguerre sich genötigt, ihre Diamanten, deren sie fortan ja nicht mehr bedurfte, zu Geld zu machen. Sie händigte sie Gaubertin ein, der sie verkaufte und ihr den Preis getreulich in Hartgeld brachte. Dieser Rechtschaffenheitsbeweis rührte Mademoiselle sehr. Sie glaubte seit dem Augenblicke an Gaubertin wie an Piccini.

Im Jahre 1796, der Zeit seiner Heirat mit der Bürgerin Isaure Mouchon, der Tochter eines alten Konventsfreundes seines Vaters, besaß Gaubertin dreihundertfünfzigtausend Franken in Silber, und da seines Ermessens das Direktoire von Dauer sein würde, wünschte er, bevor er sich verheiratete, seine fünf Verwaltungsjahre von Mademoiselle lobend anerkannt zu wissen, indem er eine neue Aera vorschützte.

»Ich werde Familienvater sein,« sagte er, »Sie wissen, in welchem Rufe die Verwalter stehen; mein Schwiegervater ist ein Republikaner von römischer Rechtschaffenheit, ein einflußreicher Mann überdies, ich will ihm beweisen, daß ich seiner würdig bin.«

Mademoiselle schloß Gaubertins Rechnungen mit den schmeichelhaftesten Wendungen ab.

Um Madame des Aigues Vertrauen einzuflößen, versuchte der Verwalter in den ersten Zeiten den Bauern Einhalt zu tun, da er mit Recht fürchtete, daß die Einkünfte unter ihren Verwüstungen leiden und die nächsten Bestechungsgelder des Holzhändlers schmaler ausfallen könnten. Doch fühlte das souveräne Volk damals sich überall zu Hause; Madame hatte Angst vor ihren Königen, als sie sie aus nächster Nähe sah, und sagte zu ihrem Richelieu, daß sie vor allem in Ruhe sterben möchte. Die Einkünfte der alten ersten Untertanin der Gesangskunst überstiegen ihre Ausgaben so sehr, daß sie die unheilvollsten Präzedenzfälle einreißen ließ. Um nicht zu prozessieren, duldete sie die Terraindiebstähle ihrer Nachbarn. Da sie ihren Park von unübersteiglichen Mauern umgeben sah, fürchtete sie nicht, in ihren unmittelbaren Genüssen gestört zu werden, und wünschte als eine wahre Philosophin, die sie war, nichts anderes als den Frieden. Was waren einige tausend Livres Rente mehr oder weniger! Was Preisnachlässe, die von dem Holzhändler der von den Bauern verübten Schäden wegen auf den Pachtpreis verlangt wurden, in den Augen eines alten Opernmädchens, das verschwenderisch und sorglos war, das hunderttausend Livres Einkünfte nur mit Vergnügen bezahlt und das, ohne sich zu beklagen, eben die Verringerung derselben auf zwei Drittel: auf sechzigtausend Franken Rente erlitten hatte?

»Ach,« sagte sie mit dem Leichtsinn der Zuchtlosen des alten Regimes, »alle Welt, selbst die Republik muß leben!«

Die schreckliche Mademoiselle Cochet, ihre Kammerfrau und ihr weiblicher Vezir, hatte sie aufzuklären versucht, als sie sah, welche Herrschaft Gaubertin über sie erlangte, der sie trotz der revolutionären Gesetze über die Gleichheit von Anfang an »Madame« nannte. Gaubertin klärte aber seinerseits Mademoiselle Cochet auf, indem er ihr eine sogenannte von seinem Vater, dem öffentlichen Ankläger, geschickte Denunziation zeigte, in der sie auf das Härteste angeklagt wurde, mit Pitt und mit Koburg zu korrespondieren. Von da ab teilten die beiden Mächte, aber à la Montgomery. Die Cochet strich Gaubertin bei Mademoiselle Laguerre heraus, wie Gaubertin ihr gegenüber die Cochet lobte. Die Kammerfrau hatte übrigens ihr Schäfchen schon im trocknen, sie hatte sich mit sechzigtausend Franken in Madames Testament hinein praktiziert. Madame konnte nicht ohne die Cochet auskommen, so sehr war sie an sie gewöhnt. Das Mädchen kannte alle Toilettengeheimnisse der lieben Herrin; besaß das Talent, ihre liebe Herrin abends mit tausend Histörchen einzuschläfern und morgens mit den schmeichelhaftesten Worten aufzuwecken. Kurz, sie fand die liebe Herrin bis zu ihrem Todestage nicht verändert, und als die liebe Herrin im Sarge lag, fand sie sie zweifelsohne noch sehr viel schöner als sie sie je im Leben gesehen.

Gaubertins und Mademoiselle Cochets jährliche Gewinste, ihre Gehälter und Vorteile wurden so beträchtlich, daß zärtlichste Verwandte nicht mehr an diesem ausgezeichneten Geschöpfe gehangen haben würden als sie. Man weiß noch nicht, wie sehr ein Schuft den, welchen er betrügt, hätschelt. Eine Mutter ist einer angebeteten Tochter gegenüber weder so schmeichlerisch noch so fürsorglich, als es jeder Anfänger in der Scheinheiligkeit seiner Milchkuh gegenüber ist. Welchen Erfolg haben doch die bei verschlossenen Türen gespielten Tartuffe-Aufführungen! Das wiegt die Freundschaft auf. Molière ist zu früh gestorben, er würde uns Orgons Verzweiflung gezeigt haben, der, von seiner Familie gelangweilt, von seinen Kindern schnöde behandelt und Tartuffes Schmeicheleien entbehrend, ausrufen würde: »Das war die gute Zeit!«

In den letzten acht Jahren ihres Lebens bekam Mademoiselle Laguerre nicht mehr als dreißigtausend Franken von den fünfzigtausend zu sehen, die Les Aigues in Wirklichkeit einbrachten. Wie man sieht, war Gaubertin beim selben Verwaltungsresultat wie sein Vorgänger angelangt, obwohl die Pachtgelder und die Bodenerzeugnisse, Mademoiselle Laguerres ständige Erwerbungen ungerechnet, von 1791 bis 1815 sich stark vermehrt hatten. Doch der von Gaubertin gefaßte Plan, Les Aigues bei Madames demnächstigen Tode zu erben, nötigte ihn, den herrlichen Besitz, was die aufweisbaren Einkünfte anlangte, in einem Zustande augenscheinlicher Wertherabsetzung zu erhalten. Die in diese Kombination eingeweihte Cochet sollte den Nutzen teilen. Da in der Neige ihrer Tage die Exkönigin des Theaters, die an zwanzigtausend Livres Renten in den Konsols – zu welchen Späßen sich die politische Sprache doch hergibt! – genannten Fonds besaß, besagte zwanzigtausend Livres kaum verausgabte, war sie erstaunt über die Erwerbungen, die ihr Verwalter machte, um die disponiblen Fonds zu verwerten, wo sie doch ehemals stets Vorschuß auf ihre Revenüen hatte nehmen müssen! Die Wirkung der Bedürfnislosigkeit ihres Greisenalters schien ihr das Resultat von Gaubertins und Mademoiselle Cochets Rechtschaffenheit zu sein.

»Zwei Perlen!« sagte sie zu den Leuten, die zu ihr zu Besuch kamen.

Gaubertin wahrte außerdem in seinen Rechnungen den Anschein der Rechtschaffenheit. Er trug die Pachtgelder richtig als Einnahmen ein. Alles, was der bescheidenen Intelligenz der Sängerin in Punkto Arithmetik ins Auge springen mußte, war deutlich, sauber und genau. Der Verwalter forderte seinen Gewinn von den Ausgaben, den Betriebskosten, den abzuschließenden Käufen, den Arbeiten, den Prozessen, die er erdichtete, und den Reparaturen, Einzelheiten, die Madame niemals nachprüfte, und die es ihm manchmal gelang, doppelt aufzuführen in Uebereinstimmung mit den Unternehmern, deren Schweigen er sich durch einen vorteilhaften Preis erkaufte. Solche Gefälligkeit verschaffte Gaubertin die öffentliche Wertschätzung, und Madames Lob ging von Mund zu Munde, denn außer den Nachbezahlungen von Arbeiten gab sie sehr viele Geldalmosen.

»Gott möge sie erhalten, die liebe Dame,« war jedermanns Wort.

Jeder erlangte in der Tat als pures Geschenk oder indirekt etwas von ihr.

Als Repressalie für ihre Jugendaufführung wurde die alte Künstlerin buchstäblich geplündert, und so bedachtsam geplündert, daß jeder über ein gewisses Maß nicht hinausging, damit die Dinge nicht so ausarteten, daß ihr die Augen aufgingen, sie Les Aigues verkaufte und nach Paris zurückkehrte.

Dieses Interesse am Profitmachen war, ach! der Grund der Ermordung Paul-Louis Couriers, der den Fehler beging, den Verkauf seiner Besitzung und seine Absicht, seine Frau, von der mehrere Tourainer Tonsards lebten, mitzunehmen, bekanntzumachen. In dieser Besorgnis schnitten die Plünderer von Les Aigues einen jungen Baum nur im äußersten Notfalle ab, wenn sie keine Zweige mehr in der Höhe der an eine Stange gebundenen Sichel sahen. Im Interesse des Diebstahls selber tat man so wenig wie möglich unrecht. Nichtsdestoweniger war in Mademoiselle Laguerres letzten Lebensjahren das übliche Holzsammeln zum unverschämten Mißbrauch ausgeartet. In bestimmten klaren Nächten raffte man nicht weniger als zweihundert Bündel zusammen. Was das Stoppeln und die Weinnachlese anlangte, so verlor Les Aigues dadurch, wie Sibilet dargelegt hat, den vierten Teil der Produktion.

Mademoiselle Laguerre hatte der Cochet verboten, sich zu verheiraten, und zwar aus einem Gebieterinnenegoismus einer Kammerfrau gegenüber, von dem man viele Beispiele in allen Ländern finden kann, und der nicht absurder ist als die Manie, für das materielle Glück vollkommen nutzlose Güter bis zum letzten Seufzer auf die Gefahr hin aufzuheben, sich von ungeduldigen Erben vergiften zu lassen. So heiratete denn Mademoiselle Cochet zwanzig Tage nach Mademoiselle Laguerres Begräbnis den Unteroffizier der Gendarmerie von Soulanges namens Soudry, einen sehr schönen zweiundvierzigjährigen Mann, der seit 1800, dem Zeitpunkte der Einrichtung der Gendarmerie, sie beinahe alle Tage in Les Aigues besuchte und wöchentlich mindestens viermal mit ihr und den Gaubertin zu Mittag aß.

Während ihres ganzen Lebens ließ Madame einen Tisch für sich allein oder für ihre Gesellschaft decken. Trotz ihrer Familiarität wurden niemals, weder die Cochet noch die Gaubertin, zur Tafel der ersten Schülerin der königlichen Musik- und Tanzakademie zugelassen, die bis zur letzten Stunde ihre Etikette, ihre Toilettengewohnheiten, ihr Rot und ihre Pantoffeln, ihren Wagen, ihre Leute und ihre Göttinnenmajestät beibehielt. Göttin im Theater, Göttin in der Stadt, blieb sie Göttin bis in die Tiefe des Landes hinein, wo ihr Gedächtnis noch angebetet wird und dem Hofe Ludwigs XVI. im Geiste der »ersten Gesellschaft« von Soulanges ganz sicherlich die Wage hält.

Dieser Soudry, der seit seiner Ankunft im Lande der Cochet den Hof machte, besaß das schönste Haus in Soulanges, etwa sechstausend Franken, und die Hoffnung auf vierhundert Franken Gnadengehalt vom Tage an, wo er den Dienst verlassen würde. Als die Cochet Madame Soudry geworden war, erlangte sie hohes Ansehen in Soulanges. Obwohl sie striktestes Geheimnis über die Höhe ihrer Ersparnisse wahrte, die, wie Gaubertins Fonds, in Paris bei dem Beauftragten der Weinhändler des Bezirks angelegt waren, einem gewissen Leclercq, einem Sohne des Landes, in dessen Geschäft der Verwalter Geld stecken hatte, machte die öffentliche Meinung aus der ehemaligen Kammerfrau eine der wohlhabendsten Frauen dieser kleinen Stadt von etwa zwölfhundert Seelen.

Zum größten Erstaunen des Landes erkannten Monsieur und Madame Soudry in ihrem Heiratsvertrage einen natürlichen Sohn des Gendarms, dem Madame Soudrys Vermögen demzufolge zufallen mußte, als legitim an. Am Tage, wo dieser Sohn offiziell eine Mutter erhielt, hatte er grade sein Rechtsstudium in Paris beendigt und nahm sich vor, dort seinen Aufenthalt zu nehmen, um den Richterberuf zu ergreifen.

Es erübrigt sich beinahe zu bemerken, daß das zwanzigjährige wechselseitige Einvernehmen die dauerhafteste Freundschaft zwischen den Gaubertin und Soudry mit sich brachte. Die einen wie die anderen mußten sich bis zum Ende ihrer Tage gegenseitig für die »honnetesten Leute« urbi et orbi ausgeben. Dies Interesse, das auf einer gegenseitigen Kenntnis der geheimen Flecken basierte, die das weiße Kleid ihres Gewissens trug, ist eine der Fesseln, welche sich hienieden am wenigsten leicht lösen lassen. Ihr, die ihr dieses soziale Drama lest, seid dessen ja so gewiß, daß ihr, um den ununterbrochenen Bestand gewisser Ergebenheiten zweier Personen, der euren Egoismus erröten läßt, zu erklären, sagt: »Sicherlich haben sie ein Verbrechen gemeinsam begangen.«

Nach fünfundzwanzigjähriger Verwaltung sah sich der Verwalter im Besitz von sechshunderttausend Franken in Silber und die Cochet hatte etwa zweimalhundertfünfzigtausend Franken. Der behende und fortwährende Umsatz dieser Fonds, die dem Hause Leclercq und Kompagnie am Quai de Béthune bei der Ile Saint-Louis, einem Widersacher des berühmten Hauses Grandet, anvertraut worden waren, trug viel zu dieses Weinkommissionärs und Gaubertins Vermögen bei. Bei Mademoiselle Laguerres Tode wurde Jenny, des Verwalters älteste Tochter, von Leclercq, dem Chef des Hauses am Quai de Béthune, geheiratet. Damals schmeichelte sich Gaubertin mit der Hoffnung, durch ein im Bureau Herrn Lupins, eines Notars, der sich vor zwölf Jahren in Soulanges niedergelassen hatte, angezetteltes Complott Besitzer von Les Aigues zu werden.

Lupin, ein Sohn des letzten Verwalters des Hauses Soulanges, hatte sich zu faulen Sachverständigengutachten, zu einer Schätzung des Preises auf fünfzig Prozent unter dem Werte, zu in Wirklichkeit nicht ausgeführten Plakatierungen und zu allen Manövern herbeigelassen, die leider Gottes in den Provinzen so üblich sind, um, wie man zu sagen pflegt, unter dem Deckmantel »wichtige Immobilien« den Zuschlag zu erteilen. Letzhin ist, wie es heißt, in Paris eine Gesellschaft gegründet worden, deren Ziel es ist, gegen die Urheber solcher Anschläge Erpressungen anzuwenden, indem man sie zu überbieten droht. Doch im Jahre 1816 war Frankreich nicht wie heute durch eine leuchtende Oeffentlichkeit erhellt; die Komplizen konnten also auf eine heimlich zwischen der Cochet, dem Notar und Gaubertin abgemachte Teilung rechnen, welch letzterer sich in petto vorbehielt, ihnen eine Summe anzubieten, um sie für ihre Anteile schadlos zu halten, wenn die Besitzung einmal auf seinen Namen überschrieben worden sei. Der Sachwalter, der durch Lupin beauftragt war, die Versteigerung vor Gericht zu betreiben, hatte sein Amt auf Wort an Gaubertin für seinen Sohn verkauft, so daß er diese Plünderung begünstigte, wofern die elf pikardischen Landleute, denen die Erbschaft so unerwartet zufiel, sich für geplündert hielten.

Im Augenblick, wo alle Interessierten ihr Vermögen verdoppelt wähnten, kam am Abend vor dem endgültigen Zuschlag ein Sachwalter aus Paris, um einen der Sachwalter von Ville-aux-Fayes, der zufällig einer seiner Schreiber gewesen war, zu beauftragen, Les Aigues zu erwerben, und bekam es für elfhunderttausendundfünfzig Franken zugeschlagen. Bei elfhunderttausend Franken wagte keiner der Verschwörer mehr zu bieten. Gaubertin glaubte an einen Verrat Soudrys, wie Lupin und Soudry sich von Gaubertin genasführt wähnten; doch die Bekanntmachung des Auftraggebers söhnte sie aus. Obwohl der Provinzsachwalter einen von Gaubertin, Lupin und Soudry inszenierten Plan argwöhnte, hütete er sich wohl, seinen alten Vorgesetzten aufzuklären. Und zwar aus folgendem Grunde: im Falle einer Indiskretion der neuen Besitzer würde der Beamte, um länger im Lande bleiben zu können, sich zu viele Leute zu Feinden gemacht haben. Dies einem Provinzmenschen eigentümliche Schweigen wird übrigens durch die Ereignisse dieser Studie vollkommen gerechtfertigt werden. Wenn der Mann aus der Provinz Duckmäuser ist, so ist er's gezwungenerweise; seine Rechtfertigung liegt in seiner Gefahr und findet einen wunderbaren Ausdruck in dem Sprichwort im Sinne des Allerweltsfreundes Philinthias: »Mit den Wölfen muß man heulen.«

Als der General de Montcornet Besitz von Les Aigues nahm, fand Gaubertin sich nicht mehr reich genug, seine Stellung aufzugeben. Um seine älteste Tochter mit dem reichen Bankier des Marktortes zu verheiraten, war er gezwungen, ihr eine Mitgift von zweimalhunderttausend Franken zu geben; dreißigtausend Franken mußte er für das für seinen Sohn gekaufte Amt bezahlen, es blieben ihm also nur noch dreihundertsiebzigtausend Franken, von denen er früher oder später die Mitgift für seine letzte Tochter Elisa nehmen mußte, der er sich schmeichelte, eine mindestens ebensogute Heirat wie der älteren ermöglichen zu können. Der Verwalter wollte den Grafen de Montcornet studieren, um zu wissen, ob er ihm Les Aigues verleiden könnte, indem er damals damit rechnete, den gescheiterten Plan für sich allein zu verwirklichen.

Mit dem Scharfsinn, der den Leuten eigentümlich ist, die ihr Glück durch List machen, glaubte er an die übrigens wahrscheinliche Charakterähnlichkeit eines alten Militärs und einer alten Sängerin.

Waren nicht ein Opernmädchen und ein alter napoleonischer General an dieselbe Verschwendung und dieselbe Unbekümmertheit gewöhnt? Verdankten das Mädchen wie der Soldat ihr Vermögen nicht der Laune des Zufalls und der Begeisterung? Ist es nicht Ausnahme, wenn man listigen, verschlagenen und politischen Militärs begegnet? Zehn gegen eins, ein Soldat, vor allem ein Haudegen par excellence wie Montcornet, muß simpel, vertrauensselig, unerfahren in Geschäften und wenig geeignet für die tausend Verwaltungseinzelheiten eines Landbesitzes sein. Gaubertin schmeichelte sich, den General in die Reuse, in welcher Mademoiselle Laguerre ihr Leben beschlossen hatte, jagen und dort festhalten zu können. Nun hatte der Kaiser aber Montcornet einst mit Bedacht erlaubt, in Pommern das zu sein, was Gaubertin in Les Aigues war; der General kannte sich also in Intendanzfischzügen aus.

Als er kam, um, gemäß dem Ausdrucke des ersten Herzogs von Biron, seinen Kohl zu bauen, wünschte der alte Kürassier sich mit seinen Geschäften abzugeben, um sich seinen Sturz aus dem Kopfe zu schlagen. Obwohl er sein Armeekorps den Bourbonen ausgeliefert hatte, konnte der Dienst, den mehrere Generäle geleistet hatten und den man die Entlassung der Loirearmee nannte, das Verbrechen nicht wettmachen, daß man dem Manne der hundert Tage auf sein letztes Schlachtfeld gefolgt war. In Anwesenheit der Fremden war es dem Pair von 1815 unmöglich, sich bei den Armeekadres zu behaupten, und noch viel weniger im Luxembourg zu bleiben. Montcornet ging also gemäß dem Rate eines in Ungnade gefallenen Marschalls, um seine Rüben in natura zu kultivieren. Dem General fehlte es nicht an jener alten Leitwölfen eigentümlichen List, und von den ersten Tagen an, die er der Prüfung seiner Besitzungen widmete, sah er in Gaubertin einen echten Verwalter der alten Regierung, einen Schelm, wie die Marschälle und Herzöge Napoleons, diese aus dem Volksboden hervorgewachsenen Pilze, sie fast überall angetroffen hatten.

Indem er die tiefe Erfahrung Gaubertins in ländlichen Verwaltungsangelegenheiten erkannte, fühlte der tückische Kürassier, wie vorteilhaft es sei, ihn sich zu erhalten, um über diese verbessernde Agrikultur auf dem laufenden zu bleiben. So gab er sich denn die Miene, Mademoiselle Laguerre nachzuahmen: eine falsche Sorglosigkeit, die den Verwalter täuschte. Die scheinbare Unerfahrenheit währte die ganze Zeit über, die der General benötigte, um die Stärken und Schwächen von Les Aigues, die Einzelheiten der Einkünfte, die Art und Weise, sie einzunehmen, wie und wo man sie stahl, wo man Verbesserungen und Ersparnisse machen könnte, zu ergründen. Dann eines schönen Tages, als er Gaubertin mit der Hand im Sacke, wie die stehende Redensart lautet, ertappt hatte, geriet der General in eine der Zornesaufwallungen, die jenen Länderbezwingern eigentümlich sind. Er beging da einen jener Hauptfehler, die geeignet sind, das ganze Leben eines Mannes zu erschüttern, der kein großes Vermögen oder eine gesicherte Existenz hinter sich hat. Daraus ergaben sich all die großen und kleinen Unglücksfälle, von denen es in dieser Geschichte wimmelt. In der kaiserlichen Schule erzogen, gewohnt, alles niederzusäbeln, voll Verachtung den Zivilisten gegenüber, glaubte Montcornet, nicht mit Handschuhen zufassen zu müssen, um einen Schuft von Verwalter an die Luft zu setzen. Das Zivilleben und seine tausend Behutsamkeiten waren dem General, der bereits durch seine Ungnade verärgert war, unbekannt. Er demütigte also Gaubertin, der sich diese herrenmäßige Behandlung übrigens durch eine Antwort zuzog, deren Zynismus Montcornet zur Wut reizte, aufs tiefste.

»Sie leben von meiner Besitzung,« hatte der Graf mit spöttischer Strenge zu ihm gesagt.

»Glauben Sie denn, daß ich von der Luft habe leben können?« erwiderte Gaubertin lachend.

»Hinaus, Kanaille, ich jage Sie fort!« schrie der General, indem er ihn mit der Reitpeitsche bearbeitete, was Gaubertin stets abgeleugnet hat, da es hinter geschlossenen Türen geschah.

»Ohne meine Generalquittung werd' ich nicht gehen,« sagte Gaubertin eisig, nachdem er sich von dem gewalttätigen Kürassier entfernt hatte.

»Wir werden sehen, was das Strafpolizeigericht dazu sagt,« antwortete achselzuckend Montcornet. Als er sich mit einem Strafprozeß bedroht sah, blickte Gaubertin den Grafen lachend an. Dieses Lächeln besaß die Kraft, des Generals Arm sinken zu machen, wie wenn seine Nerven durchgeschnitten worden wären. Erklären wir dies Lächeln.

Vor zwei Jahren war Gaubertins Schwager, ein gewisser Gendrin, der seit langem Richter am Gerichtshof erster Instanz in Ville-aux-Fayes war, durch Protektion des Grafen de Soulanges zu seinem Präsidenten ernannt worden. 1814 zum Pair von Frankreich erhoben und den Bourbonen während der hundert Tage treugeblieben, hatte Monsieur de Soulanges diese Ernennung beim Großsiegelbewahrer erbeten. Diese Verwandtschaft verlieh Gaubertin eine gewisse Wichtigkeit im Lande. Im übrigen ist ein Gerichtspräsident in einer kleinen Stadt eine relativ angesehenere Persönlichkeit als der erste Präsident eines königlichen Gerichts, welcher in der Bezirkshauptmannschaft im General, im Bischof, im Präfekten und Generaleinnehmer seinesgleichen sieht, während ein einfacher Gerichtspräsident für sich steht, da Staatsanwalt und Unterpräfekt auf Widerruf angestellt sind und abgesetzt werden können.

Der junge Soudry, der in Paris wie in Les Aigues des jungen Gaubertins Kamerad gewesen, war gerade zum stellvertretenden Staatsanwalt in der Bezirkshauptstadt ernannt worden. Ehe er Gendarmerieunteroffizier wurde, war Soudrys Vater, Quartiermacher bei der Artillerie, in einem Gefechte bei der Verteidigung Monsieur de Soulanges', der damals Generaladjutant war, verwundet worden. Als die Gendarmerie ins Leben gerufen wurde, hatte der Graf de Soulanges, der Oberst geworden war, für seinen Retter die Gendarmerieabteilung von Soulanges erbeten; und später verschaffte er dem jungen Soudry auch den Posten, mit welchem er debütierte. Da endlich Mademoiselle Gaubertins Heirat am Quai de Béthune beschlossene Sache war, fühlte sich der ungetreue Rechnungsführer stärker im Lande als ein zur Disposition gestellter Generalleutnant.

Wenn diese Geschichte keine andere Lehre erteilen sollte, als die sich aus dem Zwiste des Generals mit seinem Verwalter ergebende, dürfte sie schon vielen Leuten für ihre Lebensführung nützlich sein. Wer Machiavell mit Nutzen zu lesen versteht, weiß, daß die menschliche Klugheit darin besteht, niemals zu drohen, zu handeln ohne zu reden, den Rückzug seines Feindes zu begünstigen, indem man dem Sprichworte gemäß nicht auf den Schwanz der Schlange tritt, und sich wie vor einem Morde zu hüten, die Eigenliebe eines jeden Menschen, wie klein er auch sein möge, zu verletzen.

Die Tat, wie nachteilig sie auch immer für die Beteiligten sein möge, wird im Laufe der Zeit verziehen; sie kann auf tausend Arten erklärt werden; die Eigenliebe aber, die immer aus der Wunde, die sie erhalten hat, blutet, verzeiht dem Gedanken niemals. Die moralische Persönlichkeit ist gewissermaßen empfindlicher und lebhafter als die physische Persönlichkeit. Herz und Blut sind weniger eindrucksfähig als die Nerven. Kurz, unser inneres Wesen beherrscht uns, was wir auch immer tun mögen.

Man söhnt zwei Familien, die einander, wie in der Bretagne oder in der Vendée während der Bürgerkriege, getötet haben, aus; doch die Geplünderten und die Plünderer wird man ebensowenig wie die Verleumdeten und die Verleumder wieder versöhnen. Man darf sich nur in Heldengedichten beleidigen, ehe man sich den Tod gibt. Der Wilde, der Bauer, der dem Wilden sehr ähnelt, sprechen nimmer, sondern legen ihren Gegnern Schlingen. Seit 1789 versucht man in Frankreich gegen jede Augenscheinlichkeit die Menschen glauben zu machen, daß sie alle gleich wären; nun, einem Menschen sagen: »Sie sind ein Schuft«, ist ein Scherz ohne Konsequenz; es ihm aber beweisen, indem man ihn auf der Tat ertappt und mit der Reitpeitsche behandelt, ihn mit einem Strafprozeß bedrohen, ohne ihn ins Werk zu setzen, das heißt ihn auf die Ungleichheit der Stände zurückzuführen. Wenn die Masse keine Ueberlegenheit verzeiht, wie soll ein Schuft einem anständigen Menschen verzeihen?

Wenn Montcornet seinen Verwalter unter dem Vorwande, alte Verpflichtungen einzulösen, fortgeschickt haben würde, indem er irgendeinen alten Militär an seine Stelle setzte, hätten wahrlich weder Gaubertin noch der General einander getäuscht. Einer hätte den anderen verstanden; aber der eine hätte, indem er des ersteren Eigenliebe geschont, ihm eine Tür geöffnet, damit er sich zurückziehen könne. Dann würde Gaubertin den Großgrundbesitzer in Ruhe gelassen, seine Niederlage im Versteigerungssaal vergessen und sich vielleicht eine Beschäftigung in Paris mit seinem Gelde gesucht haben. Schimpflich fortgejagt, bewahrte der Verwalter gegen seinen Herrn eines jener Rachegefühle, die ein Daseinselement in der Provinz bilden, und deren Dauer, Hartnäckigkeit und Anschläge die Diplomaten, die gewöhnt sind, sich über nichts zu wundern, in Erstaunen setzen würden.

Ein glühender Rachewunsch riet ihm, sich nach Ville-aux-Fayes zurückzuziehen, sich dort eine Stellung zu schaffen, in welcher er Montcornet schaden könne, und ihm genügend Feinde zu erwecken, um ihn zu zwingen, Les Aigues wieder zu verkaufen.

Alles täuschte den General; denn Gaubertins Außenleben war nicht danach angetan, ihn zu warnen oder zu erschrecken. Der Tradition gemäß stellte sich der Verwalter zwar nicht, als ob er arm, aber doch in bescheidenen Verhältnissen sei. Diese Verhaltungsmaßregel hatte er von seinem Vorgänger übernommen. Auch führte er bei jeder Gelegenheit seine drei Kinder, seine Frau und die ungeheuren Kosten im Munde, die ihm von seiner zahlreichen Familie verursacht würden. Mademoiselle Laguerre hatte, da Gaubertin sich ihr gegenüber als zu arm erklärte, um die Erziehung seines Sohnes in Paris bezahlen zu können, alle Kosten dafür bestritten; jährlich gab sie ihrem lieben Patenkinde – denn sie war Claude Gaubertins Patin – hundert Louis.

Am folgenden Morgen erschien Gaubertin in Begleitung eines Wächters namens Courte-Cuisse und verlangte vom General sehr stolz seine Generalquittung, indem er ihm die von der verstorbenen Mademoiselle in schmeichelhaften Ausdrücken ausgestellten Quittungen vorwies; und bat ihn sehr ironisch, zu suchen, wo sich seine – Gaubertins – Immobilien und Besitztümer befänden. Wenn er Gratifikationen von Holzhändlern und Pächtern bei Erneuerungen der Verträge annähme, so hätte Mademoiselle Laguerre, sagte er, sie stets gutgeheißen; nicht nur hätte sie daran verdient, wenn sie sie ihn hätte einstreichen lassen, sondern auch noch ihre Ruhe dabei gefunden. Für Mademoiselle würde man sich im Lande töten lassen, während der General, wenn er so fortführe, sich viele Schwierigkeiten bereite.

Gaubertin – und diesen letzten Zug trifft man häufig bei den meisten Berufen an, in denen man sich das Gut anderer durch Mittel aneignet, die im Gesetzbuch nicht vorgesehen sind – hielt sich für einen durchaus ehrenwerten Menschen. Erstens besaß er seit so langer Zeit ja das durch den Terror Mademoiselle Laguerres Pächtern abgepreßte Hartgeld, das er ihr in Assignaten eingehändigt hatte und für rechtlich erworben hielt. Das war eine Wechselangelegenheit. Mit der Zeit glaubte er sogar, Gefahr gelaufen zu sein, indem er Hartgeld angenommen hätte. Ferner durfte Mademoiselle gesetzlich nur Assignaten empfangen. »Gesetzlich« ist ein unerschütterliches Adverb, es verleiht vielen Vermögen Stütze! Endlich hat, seit es Großgrundbesitzer und Verwalter gibt, das heißt seit Anbeginn der Gesellschaft, der Verwalter für seinen Gebrauch einen Vernunftschluß zurechtgelegt, nach welchem heute die Köchinnen handeln, und der in seiner Einfachheit also lautet:

»Wenn meine Herrin, sagt sich jede Köchin, selber auf den Markt ginge, würde sie ihre Vorräte vielleicht teurer einkaufen, als ich sie ihr berechne; sie gewinnt dabei, und der Vorteil, den ich dabei finde, ist in meinen Taschen besser als in denen der Kaufleute untergebracht!«

Wenn Mademoiselle Les Aigues selber verwaltete, würde sie keine dreißigtausend Franken herausschlagen; die Bauern, Kaufleute und Arbeiter würden ihr die Differenz stehlen: es ist mehr als natürlich, daß ich sie behalte, und ich erspare ihr viele Sorgen, sagte sich Gaubertin.

Die katholische Religion besitzt allein die Macht, derartige Gewissenskapitulationen zu verhindern, doch seit 1789 hat die Religion über zwei Drittel der französischen Bevölkerung keine Gewalt mehr.

Auch waren die Bauern, die sehr aufgeweckt sind und die das Elend zur Nachahmung treibt, im Tale von Les Aigues bei einem erschreckenden Zustande der Demoralisation angelangt. Sie gingen Sonntags in die Messe, blieben aber außerhalb der Kirche, denn sie gaben sich dort stets gewohnheitsmäßig ihrer Käufe und Geschäfte wegen Stelldicheins.

Man kann jetzt alles Uebel ermessen, das durch die Sorglosigkeit und das Gehenlassen der einstigen ersten Schülerin der Akademie der Musik und des Gesangs hervorgerufen wurde. Durch Egoismus hatte Mademoiselle Laguerre die Sache der Besitzenden dem Hasse derer verraten, die da nichts besitzen. Seit 1792 sind alle Grundbesitzer Frankreichs sich gegenseitig verantwortlich geworden. Ach, wenn die Feudalfamilien, die minder zahlreich sind als die Bürgerfamilien, ihre Solidarität weder im Jahre 1400 unter Ludwig XI., noch 1600 unter Richelieu begriffen haben, kann man da annehmen, daß trotz der Fortschrittsansprüche des XIX. Jahrhunderts die Bourgeoisie besser zusammenhalten wird, als es der Adel tat? Eine Oligarchie von hunderttausend reichen Leuten besitzt alle Nachteile der Demokratie, ohne ihrer Vorteile zu genießen. Das »Jeder bei sich, jeder für sich«, der Familienegoismus wird den oligarchischen Egoismus, der für die moderne Gesellschaft so notwendig ist, und den England seit drei Jahrhunderten in so glücklicher Weise ausübt, töten. Was man auch tun möge, die Besitzenden werden die Notwendigkeit der Disziplin, für welche die Kirche ein so wunderbares Beispiel abgibt, bis zu dem Augenblicke nicht begreifen, wo sie sich bei sich bedroht sehen werden, und dann wird's zu spät sein. Der Mut, mit dem der Kommunismus, jene lebendige und wirksame Logik der Demokratie, die Gesellschaft in ihrer sittlichen Grundlage angreift, verkündet, daß von heute an der Volkssimson, klug geworden, die sozialen Säulen im Keller untergräbt, anstatt im Festsaale an ihnen zu rütteln.


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