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Randgespräch

Jedes ausgesprochene Wort, heißt's in Ottiliens Tagebuch, erregt den Gegensinn. Das ist so wahr, daß es sogar auf unser eigenes zutrifft. Selbst unser eigener Gedanke mutet uns, ausgesprochen, so seltsam fremd an, daß wir ihn kaum wiedererkennen und nicht übel Lust haben, ihn zu verleugnen. Sobald er nämlich zum Worte wird, verliert er den Zusammenhang, der ihn trägt, er tritt aus den Bedingungen heraus, unter welchen er gilt, aus der Umgebung, deren Licht und Schatten ihm erst seine Farbe geben, und indem er sich im Worte sozusagen selbständig macht und auf eigene Faust zu leben versucht, zeigt sich, daß das über seine Kraft geht. Wenn wir uns aussprechen, widersprechen wir uns eigentlich schon. Das ist im lebendigen Gespräch noch allenfalls erträglich, wo der Ton, der Blick, mit dem wir das Wort begleiten, es steigert oder schwächt, ausfüllt oder halb wieder zurücknimmt, jedenfalls aber auf uns einschränkt und ihm so das Anmaßende nimmt, wodurch das geschriebene und gar das gedruckte Wort so herausfordernd wird. Was man sich ruhig sagen läßt, läßt man sich deshalb noch lange nicht schreiben. Wer weiß nicht aus eigener Erfahrung, wie leicht ein Brief mißverstanden wird? Ich bin als Redner oft freundlich angehört worden, und erst, wenn die freundlichen Hörer es dann am nächsten Tage schwarz auf weiß in der Zeitung lasen, ärgerten sie sich auf einmal. Mich wundert's nicht, weil's ja mir selbst nicht besser geht, auch mit meinen eigenen Reden nicht. Gerade jetzt, als ich die Korrekturen dieser Aufsätze las, widerfuhr mir das wieder. Sie sind im Reden entstanden, aus Vorträgen, die ich zur Kriegszeit in Deutschland hielt, die Gelegenheit benutzend, um für mein lange verkanntes Vaterland zu werben. So wurden sie von einer deutschen Stadt zur andern ausgeprobt, und was in der einen heute für mein Gefühl noch nicht ganz gewirkt hatte, gab ich mir Mühe, morgen in der nächsten entweder ausführlicher oder einfacher zu sagen, ließ weg, was vielleicht überhaupt nur ein geborener Österreicher verstehen kann, oder umschrieb behutsam, was, wenn man es beim Namen nennt, dem deutschen Vorurteil (welches Volk hätte kein Vorurteil? Gerade seine beste Kraft steckt oft im Vorurteil!) zu viel zugemutet hätte, nahm auch mit der Zeit sozusagen die geistige Mundart meiner Hörer an, und erst als schließlich in meinen Reden nichts mehr undeutlich, nichts mehr mißverständlich, nirgends mehr ein toter Punkt schien, entschloß ich mich getrost, sie nun auch dem Setzer anzuvertrauen. Nun aber, selbst mein erster Leser, muß ich erleben, daß sich jener üble »Gegensinn« in mir selber gegen mich regt: ich falle mir bei jedem dritten Satz selbst ins Wort, das mir bald zu laut, bald zu blaß, einmal unbescheiden, dann wieder nicht dreist genug, hier übergreifend, dort unausreichend scheint, bis ich, indem ich es verbessern will, zuletzt erkennen muß, daß dadurch nichts besser wird, weil die Schuld gar nicht an meinen Worten liegt, sondern an der Vermessenheit des Unterfangens, Österreich, mein unaussprechliches Vaterland, das ewige Geheimnis, in endliche Worte zu fassen! Was sich von Österreich kund tun, ja was sich davon überhaupt nur gewahren läßt, ist nur der geringste, der armseligste Teil seines tief verborgen strömenden Wesens, das bloß, wer aus ihm lebt, in bangen Ahnungen erfühlen kann. Doch was hilft's, daß ich mir das tausendmal sage? Österreich auszusprechen, welche Torheit! Musik erzählen wollen, wie kindisch! Das Heilige mit Namen nennen! Aber der »Eigensinn des Genius« läßt nicht ab, mir's immer wieder aufzutragen. Und ich schreibe ja schließlich gar nicht über Österreich, ich mache mir nur in Liebesbriefen an Österreich Luft! Was liegt da viel an den Worten? Und nur aus Rechtschaffenheit, um mein Gewissen zu beschwichtigen, sei noch hier oder dort vor Mißverständnissen gewarnt.

So gleich anfangs, Seite 9, wenn ich sage, daß Österreich an die Seite Deutschlands gehöre, daß sein Platz bei Deutschland sei. Da meldet sich mein Widerspruch: Nein, wir sind kein Seitenland, das einem andern beigefügt wird! Muß ich erst beteuern, dies auch nicht zu meinen? Aber wie will man es anders ausdrücken, wenn Gott zwei Geschöpfe nebeneinander gestellt und ihnen in demselben Raum ihre Plätze zugewiesen hat? Deutschlands Platz ist bei Österreich, Deutschland gehört an die Seite Österreichs und Österreichs Platz ist bei Deutschland, Österreich gehört an die Seite Deutschlands, das ist gar nicht eine Forderung, das ist kein Wunsch, das ist kein Programm, geschweige denn eine Rangordnung, eine Klassifikation, es ist ein Ausspruch der Wirklichkeit selbst, der geschichtlichen, der geographischen, der geistigen Wirklichkeit. Ob wir wollen oder nicht, werden wir gar nicht gefragt, und es wird auch nicht gefragt, ob wir sollen oder nicht, denn wir können gar nicht anders, es hilft uns nichts, wir müssen. Und wer Österreich von Deutschland entfernen will, aber auch wer Österreich in Deutschland einziehen will, will wider Geschichte, Geist und Natur.

Ferner, Seite 28. Auch hier wehrt sich etwas in mir dagegen, andern Völkern zuzumuten, sie sollten »deutschen Willens« sein. Doch ist damit ja keineswegs gemeint, sie hätten ihren Willen aufzugeben, um den Deutschlands anzunehmen. Es ist vor allem überhaupt nicht politisch gemeint, sondern geistig. Und wieder ist auch hier keine Forderung gestellt, nicht wird diesen Völkern geraten oder empfohlen, deutschem Sinne zu vertrauen, sondern auch hier wird wieder nur ausgesprochen, was mir ein unvermeidliches Ergebnis ihrer ganzen Entwicklung scheint: wie sie nun einmal geworden sind, als die Begegnungen von Orient und Okzident zu der weltgeschichtlichen Spannung, die das Wesen Österreichs ausmacht, können sie gar nicht anders, sie müssen, um sich selber ganz zu erreichen, deutsch gesinnt und deutsch gewillt sein, ihr Wille kann sich nicht gegen den deutschen kehren, aus ihrem ureigenen Sinn heraus muß er sich auf den deutschen richten.

Zu Seite 101. Diese Betrachtung Böhmens gab unserm Engelbert Pernerstorfer Anlaß zur folgenden Antwort:

 

Lieber Hermann Bahr,

vor reichlich mehr als dreißig Jahren kamst Du, um die Universität zu besuchen, nach Wien. In Deinem Gepäck war ein dickes Manuskript, das Du mir, dem erheblich Älteren, brachtest. Es blieb damals und bis heute ungedruckt. Seit dieser Zeit habe ich Deine Laufbahn aufmerksam verfolgt. Du warst ein Losgeher, politisch sehr interessiert, glaubtest nicht an Österreich, benahmst Dich, wie die ganze damalige deutsche Universitätsjugend, irredentistisch, und die Universitätsbehörden hatten ihre liebe Not mit Dir. Du wurdest in Wien relegiert, weil Du beim Richard-Wagner-Kommers eine prächtige Rede gehalten hattest, die oben sehr mißfiel, suchtest die Grazer Universität auf, wo man Dir schließlich bedeutete, man sähe Dich doch lieber woanders, und beschlossest zuletzt, Czernowitz zu beglücken, in der sicheren Hoffnung, im fernen Orient Dich leichter austoben zu können. Doch auch hier ereilte Dich Dein Verhängnis. Da schütteltest Du den österreichischen Staub von Deinen Füßen und gingst nach Berlin. Damals schien es fast, als wolltest Du Dich der Politik in die Arme werfen.

Damals schriebst Du als Antwort auf Schäffles »Aussichtslosigkeit des Sozialismus« das glänzende Pamphlet »Die Einsichtslosigkeit Schäffles«, eine Schrift, die zu wenig bekannt ist. Nach einem Jahre Paris machtest Du in Wien Dein Einjährigenjahr und entdecktest den Österreicher in Dir, der Du dann bis heute geblieben bist. Eigentlich wurdest Du Österreicher, wie ich glaube, von der ästhetischen Seite her. Du entdecktest Dich in der österreichischen Art oder die österreichische Art in Dir. Der aktiven Politik hattest Du abgesagt. Du gingst ganz und gar in der Literatur auf und arbeitetest mit unermüdlichem Fleiße. In Wien wurdest Du für einen bestimmten Kreis der Mittelpunkt und entdecktest an allen Ecken und Enden Talente. Aber nicht nur ein Entdecker warst Du, Du gehörtest auch zu den größten Überwindern. Alles wolltest Du kennenlernen und ausüben, um es zuletzt zu überwinden, und wenn es wahr ist, was man von Deinem neuesten Katholizismus hört, so darf uns wohl nichts mehr an Dir überraschen. Und doch bringst Du es fertig, in dem Artikel »Böhmen« im Januarheft der »Neuen Rundschau« Ansichten vorzubringen, die genug Überraschendes enthalten und die nicht ohne Widerspruch bleiben dürfen. Die deutsche Öffentlichkeit hat sich um das österreichische Problem seit je zu wenig gekümmert. Hoffentlich wird das jetzt anders. Aber dann soll wenigstens dafür gesorgt werden, daß das deutsche Lesepublikum nicht einseitig berichtet werde. In Deinem Artikel scheinen mir aber Wahrheiten mit Halbwahrheiten und Unvollständigkeiten so vermengt zu sein, daß er nach Richtigstellung schreit.

Vorerst sei festgestellt, daß der deutschnationale Irredentismus, der die deutsche Universitätsjugend Österreichs in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beherrschte, entschwunden ist. Wenn man von Böhmen spricht, ist es notwendig, diese Tatsache hervorzuheben. Denn die Tschechen haben die ganzen Jahre hindurch immer diesen deutschen Irredentismus in den Vordergrund geschoben, um ihren österreichischen Patriotismus in ein helleres Licht zu setzen. In Wirklichkeit war die »Preußenseuchelei« immer nur in jedem Sinne des Wortes eine »akademische« Bewegung. In weiteren Kreisen der Bevölkerung hat sie nie in irgend erheblicher Weise Fuß gefaßt. Dazu sind die Deutschen nicht genügend national-chauvinistisch. Selbst die siebzehnjährige deutschgegnerische Regierung des Grafen Taaffe hat es nicht zustande gebracht, den kaisertreuen Patriotismus der deutschen Bevölkerung zu erschüttern. Die deutsche Studentenschaft freilich, besonders die farbentragende, die überall die Führung hatte, machte viel Radau und veranlaßte die Regierung sogar im Jahre 1886 dem Wiener Parlamente ein Ausnahmsgesetz für studentische Vereine vorzulegen, das nach der ersten Lesung an einen Ausschuß gewiesen wurde, aus dem er nie wieder ans Tageslicht kam.

Aus den jungen Stürmern wurden besonnene Männer und die Entwicklung der Dinge in Deutschland und Österreich zeigte deutlich, daß das nationale Interesse des gesamten deutschen Volkes gebieterisch fordere, daß die Deutschen Österreichs ihre Stellung behaupten. Die neue Generation der deutschen Österreicher weiß genau, daß das Deutschtum in Österreich große staatliche und nationale Aufgaben zu erfüllen hat. Sie hat das schon vor dem Kriege gewußt, der Krieg hat es noch deutlicher gemacht.

Nun stehen wir in Österreich sorgenvoll vor den großen Problemen, die unser nach dem Kriege, sobald und sofern er siegreich beendet sein wird, harren. Es sind Fragen von größter Wichtigkeit. Es handelt sich um tiefgreifende Neuordnungen und Neugestaltungen. Auch Deutschland hat diese Sorgen. Aber sie sind bei uns unvergleichlich komplizierter, und es stehen ihnen bei uns sehr viel mehr Schwierigkeiten gegenüber als draußen im Reiche. In einer solchen Lage ist jedermann, der glaubt, etwas Förderliches sagen zu können, verpflichtet, seine Stimme zu erheben. Und Du bist nicht der erste beste. Deine gute österreichische Gesinnung, Deine mannigfache Beschäftigung mit Dingen des öffentlichen Lebens, Dein eindringlicher Verstand legitimieren Deine Stimme schon von vornherein. Da nun aber ein Wort von Dir gewichtiger ist, als eine beliebige andre, so erfordert es um so sorgfältigere Prüfung.

Du beginnst gleich mit einem Worte, das bestechend wirkt, aber wie alle geistreichen Worte ebenso richtig wie schief ist.

Wenn Fox sagt, man müsse Irland irisch behandeln, so hat er recht. Wenn man dieses Wort sinngemäß auf Böhmen anwenden will, so ist es falsch. Irland wurde, als England es eroberte, ausschließlich von Iren bewohnt. Es hatte also das Recht zu fordern, daß es nach dem Interesse seiner Nationalität regiert werde. Das hat bekanntlich England nicht getan. Es hat vielmehr alles versucht, um die irische Nation auszulöschen, was ihm wenigstens so weit gelungen ist, daß die irische Sprache bis auf wenige Reste heute ausgetilgt ist. England hat bis auf den heutigen Tag das irische Problem nicht gelöst, sondern vielmehr durch die englische Besiedlung Ulsters beträchtlich kompliziert. Böhmen war schon in alten Zeiten kein national einheitliches tschechisches Gebiet, und obwohl die deutschen Einwanderer von bodenständigen tschechischen Herrschern ins Land gerufen wurden, entstand sofort der nationale Gegensatz, der bald in bitterste Feindschaft ausartete. Sie erklomm einen Gipfel in den Zeiten des Hus und der Hussitenkriege und kam nie zum Stillstande.

Das Wort: man solle Böhmen böhmisch regieren, sagt uns also gar nichts. Böhmen war und ist eine geschichtliche und dynastische Einheit, keine nationale. Böhmen böhmisch regieren heißt also in Böhmen das nationale Problem lösen. So wie Österreich österreichisch regieren nichts andres heißt, als jene staatliche Form finden, die es den österreichischen Nationen ermöglicht, miteinander auszukommen. Bisher ist das nicht gelungen. Wenn trotzdem die Hoffnung unsrer Feinde auf den Zerfall Österreichs zunichte geworden ist, so ist dies wesentlich dem starken dynastischen Gefühl der österreichischen Völker zuzuschreiben. Österreich wird zusammengehalten durch die Geltung des »Hauses Österreich«. Aber eine organische Einheit ist dadurch Österreich nicht geworden. Nach dem Kriege werden die nationalen Reibungen sofort wieder einsetzen. In Österreich und in Ungarn. Dabei wird die deutsch-tschechische Frage wieder im Vordergründe stehen. Sie wird uns noch viel Sorge machen.

Du suchst die Entstehung Österreichs sozusagen geschichtspsychologisch zu erklären. Es ist viel Geistreiches in dem, was Du sagst. Aber wenig, was zu unsrer nüchternen Erkenntnis beiträgt. Die Dynastie Habsburg wollte Länder erwerben. Um das zu verstehen braucht man in die Herrscher und in die Völker nicht viel hineinzugeheimnissen. Jene hatten den »Drang nach Ausdehnung und Verbindung« des Erworbenen. Diese waren wohl mehr Werkzeuge als selbstbewußte Faktoren. Die konstitutiven Nationen Österreichs, die Deutschen, Tschechen und Magyaren hatten weder bewußt noch auch nur unterbewußt das Bedürfnis, sich aneinander zu reihen, weil sie dadurch ihr eigenes Wesen auswirken wollten. Sie wollten einfach einander beherrschen. Wenn die tschechischen und magyarischen Herrscher Fremde ins Land riefen, so hatte das durchaus wirtschaftspolitische Gründe. Sie brauchten für ihre dünnbevölkerten Gebiete Menschen, und zwar solche Menschen, die ihren eigenen »Untertanen« in der Zivilisation und Kultur überlegen waren. Da kamen nur die Deutschen in Betracht.

Bleiben wir nun bei Böhmen, von dem Du ja ausgehst.

In Böhmen, sagst Du, »verfitzt sich die allgemeine österreichische Frage noch mit einer besonderen nationalen«. Nebenbei bemerkt ist das fast in allen Kronländern, den »historisch-politischen Individualitäten« Hohenwarts, für die Du so schwärmst, gleichermaßen der Fall. Nur Ober- und Niederösterreich, Salzburg und Vorarlberg sind ungemischt deutsch. Lauter kleine Länder. Aber das Besondere an Böhmen ist, daß hier der nationale Gegensatz seit Jahrhunderten da ist und bestimmend einwirkt. Er wäre wahrscheinlich längst zuungunsten der Deutschen entschieden, wenn nicht die Gegenreformation aus Böhmen für zwei Jahrhunderte einen Friedhof gemacht hätte. Denn der Tscheche ist seit je im Nationalismus stärker als der Deutsche. Man muß ja gewiß mit völkerpsychologischen Behauptungen sehr vorsichtig sein, aber die Tatsache, daß die Deutschen sich leicht von andern Nationen aufsaugen ließen, ist doch geschichtlich so gut bezeugt, daß man sie wohl als unwiderleglich hinstellen kann. Im Dreißigjährigen Kriege wurde der tschechische Adel fast ausgerottet. Welche Rolle der Adel in jener Zeit in jedem Volke spielte, ist bekannt. Bis auf ein paar Familien verschwand der nationale tschechische Adel vollständig. Seine Güter wurden adligen Söldnern aus dem Auslande entweder geschenkt oder gegen »langes Geld« verkauft. Der heutige tschechische Adel trägt meistens deutsche oder fremdsprachige Namen. Jüngere Söhne aus vornehmen Geschlechtern Frankreichs, Englands, Irlands, Spaniens, Italiens eilten unter die kaiserlichen Fahnen, zeichneten sich aus und erhielten zur Belohnung Landbesitz. Ich nenne nur beispielmäßig drei Namen: Taaffe, Buquoi, Sylva-Tarouca. Viele der ältesten deutschen Adelsgeschlechter, wie die Schwarzenberge, gingen völlig zum Tschechentum über. In den achtziger Jahren gab es als Vertreter des feudalen Adels, das heißt des tschechischen Adels, einen Kleist und einen Lützow, die fleißig mit den Tschechen gegen die Deutschen stimmten. Man würde aber irren, nähme man etwa an, daß die Gegenreformationen das deutsche Element in Böhmen gestärkt habe. Beide Völker lebten in gleicher Knechtschaft und Erniedrigung. Die Jesuiten unterrichteten lateinisch und erst später auch deutsch, die Sprache der Behörden und des Hofes war deutsch. Daraus ergab sich ein gewisses Übergewicht des Deutschen. Die besten tschechischen Schriften gehörten dem Kreise der mährischen Brüdergemeinden an, waren also schon deswegen strengstens verpönt, und obwohl in gewissen adligen Kreisen aus einer gewissen politischen Koketterie noch ab und zu tschechisch gesprochen wurde, sank die Sprache immer mehr zu einem Bauernidiom herab. Die Zentralisationsbestrebungen Maria Theresias, von Josef II. allzu heftig betrieben, verstärkten die Geltung der deutschen Sprache, aber auch die nationalen Gegenbewegungen. Dabei ist es bemerkenswert, daß die literarische Wiedergeburt der tschechischen Sprache und Dichtung, trotz den schon bestehenden nationalen Gegensätzen, aus deutschem Geiste hervorging. Doch davon später noch ein Wort. Genug: seit einem Jahrhundert hat das tschechische Volk sich national wieder vollständig erholt und steht heute in gesammelter Volkskraft da. Aber der Gegensatz zwischen Tschechen und Deutschen ist je länger, je heftiger geworden. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte man vielleicht noch meinen, es werde alsbald zu einer Art Verständigung zwischen den beiden Völkern in Böhmen kommen. Die deutschen Dichter Böhmens (Moritz Hartmann usw.) behandelten tschechisch-nationale Stoffe mit Liebe und herzlicher Sympathie. Noch 1848 gab es Bande herüber und hinüber. Aber sie wurden von Jahr zu Jahr lockerer und lösten sich schließlich vollständig. Heute gibt es zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen keinerlei gemeinsames Geistesleben. Die beiden Völker haben sich in den zwei letzten Geschlechterfolgen nicht genähert, sondern voneinander entfernt. Du sagst: »Im Herzen beider Nationen steckt das alte böhmische Volk.« Was soll das heißen? Das ist eine völlig unbewiesene und unbeweisbare Behauptung. Es gibt nicht und gab nie ein »böhmisches Volk«. Die böhmische Bevölkerung lebte immer im nationalen Gegensatz. Wenn Du aber den Fürsten Thun als den Mann bezeichnest, der auf dem besten Wege war, Böhmen »böhmisch« zu regieren und die Völker zu versöhnen, dann gehst Du gewaltig in die Irre. Diese Meinung kann Dir nur Thun selber beigebracht haben. Oder einer seiner tschechischen Freunde, unter deren Einfluß er vollständig gestanden. Wer aber Thun irgendwie selber an der politischen Arbeit gesehen hat, ist von seiner totalen Unfähigkeit völlig überzeugt. Wohl seine tschechischen Freunde selber, deren williges Werkzeug er war. Als Ministerpräsident Stürgkh vor nicht langer Zeit wieder einmal den hundertmal schon mißlungenen Versuch machte, die Deutschen und die Tschechen zu neuerlichen Ausgleichsverhandlungen zu bewegen, scheiterte er von Anfang an daran, daß die Deutschen erklärten, zu gemeinsamen Besprechungen nur dann bereit zu sein, wenn der Statthalter Thun ihnen fern bleibe. Thun hatte nicht einmal den Takt, seinen Statthalterposten der Regierung zur Verfügung zu stellen. Er mußte doch einsehen, daß er ein Hindernis der Verständigung sei. Sein Hochmut und seine Eitelkeit ist aber stärker als sein patriotisches Gewissen. Wäre er damals zurückgetreten, hätte er etwas geleistet. Nun ist er doch, und zwar nicht sehr rühmlich, gegangen. Du fällst über die Politiker her: sie seien an allem schuld. Sehr richtig: die Politiker sind an der Politik schuld. Und da in Österreich bisher schlechte Politik gemacht wurde, so ist die Folgerung weder tiefsinnig noch überraschend, daß die Politiker Österreichs nichts taugen. Wenigstens die nicht, die, wie wir sagen: an der Spritze stehen. Diese Wahrheit soll man natürlich so laut als möglich und so oft als möglich hinausschreien. Vielleicht wird sie doch einmal eingesehen. Von unten her. Denn die Politiker kommen aus dem Volke, das sie erwählt, und jedes Volk hat eben die Politiker, die es verdient. Auch Du willst ja das Volk anrufen. Das Elend der Völker kommt nicht vom Elend der Politiker, sondern das Elend der Politiker kommt vom Elend der Völker. Was nebenbei in Deinem Munde das Wort »Westler« als Scheltwort bedeuten soll, kann ich nicht recht begreifen. Ich sehe in dem Treiben der führenden Politik so gar nichts Westlerisches. Ich bin noch immer der Meinung Kürnbergers, der die Fehler Österreichs in seinem Asiatentum sah. Was Du im »Politiker« grundsätzlich Verwerfliches siehst, das kann ich mir schon vorstellen. Aber das ist nicht zu ändern, solange »der Menschheit große Gegenstände« Macht und Herrschaft sind. Deine zweite Wut gilt dem österreichischen »Hofrat«. Ich fühle nicht den Beruf in mir, ihn zu verteidigen. Schon als Vertreter des starren Bürokratismus ist er eine unsympathische Figur. Aber bisher hat dieser Bürokratismus den Staat Österreich noch notdürftig zusammengehalten. Wir brauchen neue Formen, und mit ihnen wird der alte österreichische Hofrat verschwinden. In der geschichtlichen Betrachtung wird er aber wesentlich anders ausschauen, als Du ihn darstellst. In allen Deinen Wandlungen bist Du immer Impressionist geblieben. Den Eindrücken des Tages bist Du hemmungslos unterworfen. Du siehst den Krieg und in ihm die militärische Stärke Österreichs, und heute meinst Du, der österreichische Hofrat, die österreichische Schlamperei und alle österreichischen Laster seien verschwunden. Auch der ganze Nationalismus in seinen vielfachen Formen. Gemach, lieber Freund, über all diese Dinge wollen wir nach dem Kriege wieder reden. Der Krieg hat die Völker Österreichs in der Verteidigung geeinigt. Aber es ist doch etwas überschwenglich, wenn Du gleich sagst: »Österreich atmet auf.« Vor allem: wir glauben, daß wir im freien Atmen gerade jetzt nicht ganz ungehindert seien. Geradezu grotesk aber ist es, wenn Du von Österreich meinst: »Seine schlimmste Gefahr, der Nationalstaat, ist vorbei.« Österreich ein Nationalstaat? Das war es doch nie, und eigentlich ist die Zeit, wenn sie einmal da war, längst vorüber, wo man davon träumen mochte, Österreich zu einem Nationalstaat zu machen. Ungarn will ein Nationalstaat sein. Es wird sich auf die Dauer als das erweisen, als was Österreich schon seit langem erkannt ist: als Nationalitätenstaat. Aber wer kann glauben, daß in einem Nationalitätenstaat der Nationalismus plötzlich verschwindet, da er doch vielmehr auf ihm aufgebaut ist. Du bist in beneidenswerter Weise hellseherisch: »Schon ringt sich aus den blutigen Dämpfen dieses Krieges eine neue Gestalt empor.« Wie Du Dir das vorstellst, ist wohl ein Luftgebäude. Wir andern. nüchterneren, hoffen, daß sich eine Neugestaltung bilden werde, aber wir wissen mit völliger Bestimmtheit, daß diese neue Gestalt nur unter schweren Wehen wird geboren werden.

Du hast es Dich nicht verdrießen lassen, um das böhmische Problem zu studieren, nach Prag zu reisen. Du hast allerlei Unerfreuliches gehört und dabei doch den Eindruck erhalten, daß die Tschechen bei Österreich bleiben wollen. Das war im November 1915. Ich denke, dieser Wille wird heute noch viel stärker sein. Er ist auch sehr vernünftig. Nur fürchten sich die Tschechen vor Germanisierung. Dabei wäre es wichtig zu erfahren, was sie unter Germanisierung verstehen. Da können sehr verschiedene und merkwürdige Deutungen zum Vorschein kommen.

Die meisten Tschechen sehen schon in der Forderung der deutschen Verständigungssprache für gewisse allgemeinstaatliche Belange ein Streben nach Germanisierung. Um sich über das böhmische Problem zu unterrichten, genügt es nicht, Mattusch und Fiedler zu besuchen, wie Du es getan hast. Das sind gewiß alte, ehrwürdige Männer, jener ein Alttscheche, dieser ein Jungtscheche. Ich habe beide als aktive Politiker im Parlamente kennengelernt und schätze sie doch weniger sentimental ein als Du. Mattusch ist gewiß einer der gemäßigteren Tschechen, aber er geht letzten Endes genau so wie Fiedler nicht so sehr auf eine tschechischnationale Autonomie, als vielmehr auf die Wiederherstellung der Wenzelskrone (Böhmen, Mähren und Schlesien) aus; und Fiedler hat als Handelsminister in der Postverwaltung gegen die bestehenden gesetzlichen Vorschriften die Ausdehnung des Rechtes der tschechischen Sprache via facti angeordnet. Alle tschechischen Politiker gehen auf die Errichtung des böhmischen Staates aus. Sie berufen sich dabei auf Ungarn. Es ist mehr als zu vermuten, es ist vorauszusetzen, daß sie, wären sie einmal Herrn auf ihrem Gebiete, das Beispiel der Magyaren nachahmen würden. Sie würden zwar den fast drei Millionen Deutschen dieses Staates auf dem Papiere nationale Autonomie zusichern, aber durch kluge Politik dafür sorgen, daß von Generation zu Generation das deutsche Element abbröckeln würde. Das Deakische Nationalitätengesetz in Ungarn schützt die kleineren Völker national, nur wird es nicht durchgeführt. Die Magyarisierung macht von Jahr zu Jahr Fortschritte. Das nationale Bewußtsein der Deutschen ist ein schwaches Flämmchen, das Nationalgefühl der Magyaren und Tschechen ein lodernder Brand. Sie wollen sich nicht mit nationaler Autonomie bescheiden, sie wollen nationale Herrschaft. Ich bin objektiv genug, dieses Selbständigkeitsbestreben zu verstehen.

Die Tschechen sind eine kleine Nation, die durch Abwanderung nach Wien und Deutschland stetig an Volkszahl verlieren. Daher auch ihr Verlangen nach tschechischen Volksschulen in Wien. Jede wirkliche Großstadt assimiliert erbarmungslos. Nun ist der größte Teil der Zuwanderung nach Wien seit einem halben Jahrhundert tschechisch. Schon die zweite Generation dieser Auswanderer ist verwienert. Die Umwelt ist zu mächtig. Der beste Beleg für die Geringfügigkeit tschechischen Nationalbewußtseins in Wien wurde bei den letzten Reichsratswahlen geliefert. Alle tschechischen Parteien hatten sich in allen Bezirken auf einen und denselben Zählkandidaten geeinigt. Er erhielt in allen einundzwanzig Bezirken zusammen nicht über 15+000 Stimmen. Das entspräche im günstigsten Falle einer Bevölkerungszahl von 75+000 bei einer Gesamtbevölkerung von zwei Millionen. Daß die von Wien aufgesaugten Tschechen gleich richtige Deutsche werden, möchte ich durchaus nicht behaupten. Sie werden Wiener, und die Wiener sind für sich eine besondere »Rasse«, wie Du am besten weißt. Das ist für die Tschechen natürlich kein Trost. Für das tschechische Volkstum gehen diese verwienerten Tschechen eben verloren. Ebenso hat Prag die noch vorhandenen unteren Schichten deutschen Volkstums fast restlos aufgesaugt. In Böhmen selbst haben sich die nationalen Grenzen, wie Professor Rauchberg nachgewiesen hat, seit einem Jahrhundert nur unwesentlich verschoben. Nur die Kohlengebiete (Nürschau und Brüx) sind tschechisch infiltriert worden, die angeblich deutschen Städte hatten ja nur eine deutsche Oberschicht, die auf die Dauer ihre Herrschaft nicht halten konnte. In früheren Zeiten, da das Deutsche noch als das vornehmere galt, nahmen die aufstrebenden tschechischen Schichten die deutsche Sprache an. Das änderte sich mit dem immer stärker erwachenden tschechischen Nationalbewußtsein. Prag schien eine deutsche Stadt zu sein, so wie Brüssel heute eine französische Stadt zu sein scheint. Gesetzt, die Flamen kämen zu politischer Selbständigkeit, bald würde die französische Tünche Brüssels abfallen und das flämische Element das Übergewicht bekommen.

Die Tschechen in Prag müssen Dir sonderbare Dinge vorgeredet haben, wenn Du zu so exzentrischen Anschauungen über deutsch-tschechischen Nationalismus kommst, wie Du sie auf Seite 45 und 46 äußerst und wenn Du zu den jugendlich-waghalsigsten Wetten bereit bist. Doch will ich auf diesen Punkt aus leichtbegreiflichen Gründen jetzt nicht näher eingehen.

Aber ein Wort muß gesagt werden über Deine merkwürdige Auffassung des Panslawismus. Das tschechische Volk, meinst Du, ist stark, aber klein. Es sucht daher nach Anlehnung und findet sie bei den andern Slawen. Du setzest in Parallele dazu die österreichischen Deutschen, die, wie Du sagst, innerlich auch nicht allein mit Österreich auskommen, und »so nehmen sie sich noch Kant und die deutsche Philosophie, Goethe und Schiller, Bach und Wagner dazu«. Das ist stark. Wir Deutsche in Österreich suchen bei den Deutschen im Reiche keine Anlehnung, wir sind geistesgeschichtlich mit ihnen eine Einheit. Geistesgeschichtlich und sprachlich.

Schiller gehört dem ganzen deutschen Volke, und auch Grillparzer gehört dem ganzen deutschen Volke. Wir Deutsche in Österreich sind kulturbegrifflich so gut eins mit dem gesamten deutschen Volke wie die deutschen Schweizer und die deutschen Balten. Nicht einmal von einer deutsch-österreichischen Literatur als einer untergeordneten Einheit kann man reden, wie etwa von einer schwäbischen, ostpreußischen usw. Denn das südliche Bajuwarentum Österreichs scheidet sich schon literarisch von dem nördlichen Sachsentum und Schlesiertum. Wobei ich gar nicht an die mundartliche Dichtung denke. Du gehörst nicht allein in eine deutsch-österreichische Literaturgeschichte, wenn man schon eine solche schreibt, sondern auch in die gesamtdeutsche Literaturgeschichte. Man muß gegen Deine merkwürdige Auffassung schon den lautesten Widerspruch erheben. Bei den Tschechen ist es nun ganz ebenso. Weder sprachlich noch geistesgeschichtlich bilden sie mit den übrigen slawischen Völkern eine Einheit. Ihre Sprache ist von allen andern slawischen Sprachen so verschieden, daß sie diese ohne besondere Studien nicht verstehen. Und geistesgeschichtlich sind sie seit je mit dem germanischen und romanischen Westen verbunden. Der Panslawismus trat als literarische »Wechselseitigkeit« auf, war aber im Wesen von Anfang an und auch heute, wo er unter dem Namen »Neoslawismus« geht, nationalpolitischer Natur. Es geht auf eine slawische politische Einheit. Geistig existiert diese Einheit nicht. Die Großrussen haben eine Geistigkeit, die sie von andern slawischen Völkern, gewiß aber von den Polen und Tschechen, aufs schärfste scheidet. Zwischen Rom und Byzanz steht eine hohe Mauer. Römisches und byzantinisches Christentum sind fast wesensverschiedene Dinge. Wie stark ihre Trennungskraft ist, zeigt das Volk der Serbokraten, in Abstammung und Sprache eine Einheit, durch das Religionsbekenntnis in zwei Teile gespalten. Bei dem Worte Panslawismus denken die einen Slawen geradezu an eine altrussische Herrschaft, die andern an eine Föderation der slawischen Nationen unter dem Schutze Rußlands. Wenn wir mit einem Schlage zu einem Verständnis kommen wollen, so setzen wir einmal dem Panslawismus den Pangermanismus gegenüber oder den Panlatinismus. In diesen beiden letzteren Fällen kann es sich nur um geistige Einheiten handeln. Solche Einheiten stellen diese beiden Begriffe wirklich dar. Ich will nicht in Abrede stellen, daß es gewisse slawische Gemeinsamkeiten gibt, aber eine geistige Einheit des Slawentums gibt es nicht. Du selbst gibst ja zu, daß die Tschechen durchaus abendländisch eingestellt sind, daß also der Panslawismus für sie keinen Sinn hat. Wenn er trotzdem bei ihnen gepredigt wurde, so ist das nur zu erklären durch den tschechischen Hypernationalismus und seine nervöse Angst vor dem Deutschtum. Daß diese verschwinde, muß die Sorge der deutschen Politiker sein. Es denkt doch niemand in Österreich daran, das tschechische Volk und seine Sprache auszurotten. Schon vernünftigerweise deshalb nicht, weil es unmöglich ist. Dann aber müssen die Tschechen den Traum des böhmischen Staatsrechtes endgültig aufgeben. Es ist hart für ein Volk, das auf eine ruhmreiche Suveränität in der Vergangenheit zurückblicken kann, auf eine solche in der Zukunft zu verzichten. Aber Tatsachen und Notwendigkeiten entscheiden. Die Tschechen mögen doch bedenken, daß die an Zahl ihnen überlegenen Deutschen in Österreich, von ihrem Mutterland getrennt sind und ihr Schicksal ruhig tragen.

Du schließt Deine Ausführungen mit einem Satze, dem ich vollständig beistimme: »Es gibt keine österreichische Politik als die des unerschütterlichen Vertrauens auf Österreich, der strengen Gerechtigkeit gegen alle seine Völker und des entschlossenen Willens, daß Österreich ihrer aller Vaterland werden muß, Vaterland an Leib und Seele.«

Ich möchte nun nicht, daß meine Polemik mit Dir bloß im Negativen stecken bleibe. Ich halte mich also an Deinen Schlußsatz und will versuchen, gestützt auf geschichtliche, politische und persönliche Erfahrungen und Darlegungen, zu gewissermaßen positiven Ergebnissen zu kommen, wobei ich hoffe, daß meine Ausführungen auch hier und da noch Lichter auf meine früheren kritischen Bemerkungen werfen und wir uns auf einem gemeinsamen Boden finden werden. Uns liegt die Lösung des österreichischen Problems am Herzen. Es in seinem ganzen Umfange zu erörtern geht hier nicht an. Wer aber Lösungen des böhmischen Problems anzubahnen sucht, hat auch für die größere Frage Gesamt-Österreichs schon viel geleistet.

Den Deutschen Österreichs ist der Vorwurf nicht zu ersparen, daß sie sich um das Wesen des tschechischen Volkes zu wenig bekümmert haben. Noch vor einem Menschenalter hat man vielfach seine Sprache noch als eine Dienstbotensprache betrachtet. Man hat die Rolle, die das tschechische Volk in der deutschen und österreichischen Geschichte gespielt hat, viel zu wenig gewürdigt. Ich erachte es für mich heute noch als ein gütiges Geschick, daß ich als Gymnasiast in den Jahren 1865–67 aus freiem Antrieb einen tschechischen Kursus besuchte. Leider habe ich die gewonnenen Kenntnisse nicht weiter gepflegt. Aber ich lernte doch in diesen Jahren die grammatische Grundlage der tschechischen Sprache kennen und erkannte ihren Formenreichtum und in ihrem Bau viele der deutschen Sprache mangelnden Vorzüge. Das bewahrte mich in meiner deutschnationalen Studentenzeit vor der allgemein üblichen Geringschätzung der tschechischen Sprache. Oft habe ich damals meinen deutsch-böhmischen Gesinnungsgenossen auf der Universität es zum Vorwurfe gemacht, daß sie nicht Tschechisch lernten. Manche von ihnen sind später in die Politik gekommen und haben ihre Unkenntnis bitter empfunden. Ich denke an einen unter ihnen, der Dein Farbenbruder war und der später in der deutsch-böhmischen Politik eine Rolle gespielt hat. Heute hat sich das ja einigermaßen geändert. Je mehr die Tschechen aufhörten Deutsch zu lernen, desto mehr fingen die Deutschen an Tschechisch zu lernen. Die ältere Generation der Tschechen sprach vorzüglich deutsch, die jüngere vertrotzte sich gegen das Deutsche. Ich habe das von 1885 bis heute im österreichischen Parlamente verfolgen können. Heute wird sich das wohl wieder bessern. Auch wurde viel zu wenig beachtet, mit welcher Kraft die tschechische Nation in hundert Jahren sich aus tiefster nationaler Erniedrigung heraufgearbeitet hat. Sie gab dadurch ein schönes Beispiel dafür, daß keine Nation an ihrer Zukunft zu verzweifeln braucht, wenn sie einen festen nationalen Lebenswillen hat. Ihr literarischer Aufschwung knüpfte unmittelbar an das deutsche Geistesleben an. Herder, der große Humanist, wohl der universalste Kopf Europas im achtzehnten Jahrhundert, war ja gewissermaßen der Entdecker des Volksgeistes. Seine »Stimmen der Völker « zeigten zum ersten Male das Dasein und die Eigenart des Volksgeistes auf. Der universalistisch gerichtete Geist unsrer klassischen Literatur spähte nach allen Fernen und in alle Winkel, um die Menschheit in ihren mannigfaltigen Formen zu suchen und zu finden. Derselbe deutsche Geist, der sich soeben aus den drückenden Fesseln des französischen Geistes befreit hatte und selbständig geworden war. Im Jahre 1897 erschien ein Buch »Deutsche Einflüsse auf die Anfänge der böhmischen Romantik«, geschrieben von dem Slowenen Matthias Murko, das in streng wissenschaftlicher Weise die Abhängigkeit der tschechischen Literaturentwicklung von der deutschen Literatur erzählt. Es wäre interessant zu wissen, wie viele Deutsche in Österreich, von Fachleuten abgesehen, und wie viele deutsche Politiker dieses Buch gelesen haben. Natürlich Literatur, Romantik – was hat das mit Politik zu tun! Ich weiß. Du denkst nicht so, weil Du von der Wahrheit tief durchdrungen bist, daß alles Leben eines Volkes eine Einheit ist. Wir hatten kein Interesse für die geistige Entwicklung des tschechischen Volkes. Natürlich suchte die tschechische Literatur ihre Abhängigkeit von der deutschen abzuschütteln. Das haben wir Deutsche auch getan, aber da setzt der große Unterschied ein. Wir befreiten uns von der französischen Herrschaft, brachen aber die Verbindung mit französischer Kultur und Literatur nicht ab. Wir fühlten uns alsbald als den Franzosen gleichwertig. Bei den Tschechen war es anders. Bevor sie eine eigene literarische Selbständigkeit errangen, fühlten sie sich aus politisch-nationalen Gründen von der deutschen Abhängigkeit bedrückt und wandten sich je langer je mehr von allem Deutschen ab. Sie suchten sich an andre Kulturen anzulehnen, insbesondere an die romanische und späterhin an die russische (Vrchlicky). Wir haben ihre Literatur viel zu wenig aufmerksam verfolgt. Was übersetzt wurde, war nicht gerade immer das Beste und Charakteristischeste. Der politische Gegensatz trennte uns auch kulturell. Das war unserm Zusammenleben wenig förderlich. So standen wir einander unmittelbar feindselig oder doch fremd gegenüber.

Als die Verfassung kam, wollten die Tschechen sie nicht anerkennen. Sie übten Abstinenz. Sie verließen endlich die Politik und begannen die sogenannte Etappenpolitik. Was nicht, auf einmal zu erreichen war, das sollte schrittweise erobert werden. Eine solche Politik erfordert Zurückhaltung, Klugheit, Langsamkeit. Das tschechische Volk ist aber sehr impulsiv und bis in tiefe Schichten hinein politisiert. Es wurde durch die vorsichtige Politik der Alttschechen ermüdet. Die Jungtschechen gewannen immer mehr an Anhang. Und so geschah es, daß in den Neuwahlen des Jahres 1891 die Alttschechen fast vollständig aufgerieben wurden. Es kamen lauter neue Männer.

Unter den Gewählten waren auch drei, die besondere Aufmerksamkeit erregten. Das waren drei sehr europäisch gebildete Männer, die alle drei an deutschen Universitäten studiert und sich auch schon literarisch betätigt halten: Kaizl, Kramac und Masaryk. Sie bildeten im Parlamente eine eigene Gruppe und nannten sich Realisten. Man setzte große Hoffnungen auf sie. In der Tat vertraten sie im Parlament alle freiheitlichen und sozialen Forderungen, aber in nationaler Beziehung zeigte es sich bald, daß auch sie auf dem alten Standpunkt des böhmischen Staatsrechts standen. Sie hielten viele kluge Reden im Parlamente, aber national waren auch sie unerbittlich. Der Jungtscheche Julius Gregr hatte einmal gesagt: Das böhmische Staatsrecht sei ihm keine Pfeife Tabak wert. Das war nun längst vergessen, und die Jungtschechen forderten stürmisch das staatliche Selbständigkeitsrecht. Masaryk, Professor der Philosophie an der tschechischen Universität, galt als der besonnenste, am meisten europäische Politiker der Tschechen. Man lese seine Rede, gehalten am 20. März 1893, nach. Sie ist von Anfang bis zum Ende eine Verteidigung des böhmischen Staatsrechts. Es heißt da zum Beispiel: »Unsre staatsrechtlichen Forderungen, will ich kurz sagen, gipfeln in dem natürlichen Bestreben nach politischer Unabhängigkeit. Ein selbstbewußtes, größeres Volk, ein Volk, welches gebildet ist, ein Volk, das eine große Geschichte hat, verträgt es auf die Länge der Zeit nicht, nicht Herr über seine politischen Geschicke zu sein, und gerade Sie, die Sie sich beständig als Staatspartei gerieren, die Sie beständig in der staatlichen und politischen Betätigung das summum in politicis erblicken, müßten am ehesten begreifen, daß das böhmische Volk nicht ruhen wird und nicht ruhen kann, solange es sich nicht als politische Nation betätigen kann.« An einer andern Stelle: »Die Verselbständigung unsres Staates werden Sie nicht hindern können.« Und schließlich: »Sie können versichert sein, daß wir Ihnen Mähren und Schlesien entreißen werden; wir werden alle möglichen Mittel aufbieten, damit die slawische Majorität in diesen beiden Ländern ihre natürlichen und historischen Rechte erlange.« Mit einer gewissen Absichtlichkeit sind die Ausdrücke »böhmisches Staatsrecht« und »Wenzelskrone« vermieden, aber der Sinn der Ausführungen Masaryks geht auf eine solche politische Selbständigkeit der »slawischen Länder«, wie sie Ungarn hat.

Nichts haben die Tschechen mehr bekämpft als die Vorschläge auf eine Teilung des Landes nach nationaler Abgrenzung. Praktisch wäre das nicht allzu schwer. Aber wohin käme es dann mit der »Zauberpracht und Zaubermacht der großen unvergänglichen Geschichte« Böhmens? Ich bin nicht unzugänglich dem rührenden Scheine alter ruhmvoller Überlieferungen. Aber schließlich leben wir der Gegenwart und Zukunft. Was hat das deutsche Volk an ehrwürdigen Überlieferungen alles aufgeben müssen!

Endlich kam ein starker Mann, den Du offenbar auch jetzt herbeisehnst, und suchte in wichtigen Dingen die tschechischen Wünsche zum Teil wenigstens zu befriedigen. Er erließ die berüchtigten Sprachenverordnungen. Was aber hernach kam, war nicht sehr erhebend. Zehn Jahre parlamentarischer Obstruktion! In jener Zeit, lieber Bahr, war der österreichische Hofrat wirklich eine nicht unbedeutende Nummer. Er war nämlich der einzige Österreicher. Es ist wahr, er konnte nichts tun, er saß in seinem Amte und weinte. Aber er war Österreicher. Sonst gab es in ganz Österreich nur mehr Deutsche, Tschechen, Polen usw. Daran hat auch das allgemeine Wahlrecht nicht viel geändert. Erst der Krieg hat Österreich wieder als eine Einheit gezeigt.

Freilich droht eine Gefahr, der schwer zu begegnen sein wird. Du schilderst eine gewisse Art von Politikern, die es immer und überall gibt, die aber in sehr ausgeprägtem Charakter unter den Deutschbürgerlichen in Böhmen zu finden ist. Das ist eine Gruppe von Leuten, die ohne jedes Verantwortlichkeitsgefühl und nur von nationalem Chauvinismus beseelt ist. Diese glauben, daß jetzt vielleicht eine Zeit gekommen sei, die dem Versuche günstig wäre, das tschechische Volk zu ducken. Gewisse Vorkommnisse während des Krieges, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, lassen in ihnen die Hoffnung erstehen, man werde nach dem Kriege den Tschechen von oben her sehr abgünstig gesinnt sein, und das könne man vielleicht benützen, um wieder eine Art deutscher Vorherrschaft in Böhmen aufzurichten oder wenigstens auch den berechtigten nationalen Forderungen der Tschechen kräftig entgegenstreben. Diese Leute benehmen sich so, als hätten sie alle deutschen Siege erfochten, und sind voll des unfruchtbarsten Hochmuts. Es ist weit entfernt davon, daß alle Vertreter der deutschbürgerlichen Politik in Böhmen so dächten. Aber der nationale Chauvinismus in Böhmen ist immer Trumpf gewesen und hat bisher alle Verständigungsversuche im Lande gestört. Es gibt auch unter den Deutschbürgerlichen viele besonnene Elemente, die die politischen Notwendigkeiten erkennen und ihnen entsprechend handeln wollen. Die auch genau wissen, daß jeder Versuch, das tschechische Volk zu demütigen, erfolglos bleiben muß. Es ist zu selbstbewußt, zu kraftvoll, zu zahlreich auch, um sich nullifizieren zu lassen. Außerdem hat es einen großen Vorzug vor den Deutschen dadurch, daß es durchaus demokratisch gesinnt ist. Auch im Bürgertum. Auf deutscher Seite sind die demokratischen Überzeugungen wesentlich schwächer und eigentlich nur durch die Sozialdemokratie vertreten. Der böhmische Landtag, der übrigens jetzt aufgelöst ist, hat eine wenig volkstümliche Wahlordnung. Er setzt sich aus der Vertretung von städtischen und ländlichen Wahlkreisen, in denen ein Zensuswahlrecht besteht, und aus Vertretern des Großgrundbesitzes zusammen. In dem Vordergrund der bisherigen Verständigungsverhandlungen stand immer auch die Frage der Landtagswahlordnung. Ihrer demokratischen Gestaltung würden sich die tschechischbürgerlichen Parteien nicht widersetzen. Wären auch die deutschbürgerlichen Parteien derselben Meinung, so würde dem vereinigten Willen dieser beiden Gruppen gegenüber der Widerstand des Großgrundbesitzes und der Regierung auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten sein. Natürlich würde eine demokratische Wahlreform das zahlenmäßige Übergewicht der Tschechen noch deutlicher als heute machen. Gefährlich könnte sie national den Deutschen wohl nicht werden, da eine Wahlreform allein ohne bestimmte organische Schutzgesetze nie in Kraft treten würde. Daß die Deutschbürgerlichen an eine demokratische Lösung des Landesproblems nicht denken, beweist die Tatsache, daß im Januar von ihrer Seite eine Zusammentretung von »Notabeln«, wenn man will, stattgefunden hat, die nur die bisher wahlberechtigten Schichten vertraten. Es wurden nämlich zu den Beratungen eingeladen die gewesenen Landtagsabgeordneten, also Leute ohne den Schatten eines Mandates. Siegt unter den Deutschbürgerlichen die nationalchauvinistische Richtung, so ist der so notwendige Verständigungsgedanke wieder auf Jahre vergiftet und das politische Leben Böhmens neuerlich zur Unfruchtbarkeit auf lange hinaus verurteilt. Immerhin ist es nicht unmöglich, daß den nationalextremen Politikern insofern durch den Krieg die Rechnung verdorben wird, als auf die aus dem Kriege Zurückkehrenden die Gemeinsamkeit des Schützengrabens versöhnlich wirkt. Denn was man auch sonst sagen möge, deutsche und tschechische Soldaten haben oft zusammen dem Feinde die Stirne geboten. Der Krieg hat Österreich erst wieder als Einheit gezeigt.

Aber nun entsteht die große Frage: werden wir diese Einheit nach dem Kriege in Staat und Verwaltung herstellen können? Unmöglich so, daß alles beim alten bleibt. Es ist etwas gar zuviel Mannigfaltigkeit da. Abgesehen davon, was möglicherweise bei einem endgültigen Siege noch zur österreichisch-ungarischen Monarchie kommt, haben wir heute schon eine etwas reichliche Vielgestaltigkeit. Die Monarchie besteht aus drei Teilen: aus Österreich, Ungarn und den Reichslanden (Bosnien-Herzogewina). Ungarn besteht aus zwei Königreichen (Ungarn und Kroatien), Österreich aus siebzehn Kronländern. Ich spreche nur von Österreich. Wir haben acht Nationen. Ich will nur von den Deutschen und Tschechen sprechen. Wie wollen sie sich national einteilen? Soll an den Kronländern wirklich nicht gerüttelt werden? Dann schleppen wieder alle Nationen eine Kette am Fuß. Das heißt, da es wahrscheinlich so kommen wird, die Arbeit wird furchtbar ermüdend werden.

Am Brünner Parteitag der sozialdemokratischen Parteien Österreichs wurde zum ersten Male das Schlagwort der nationalen Autonomie ausgesprochen. Dr. K. Renner hatte sie formuliert. Sie war eigentlich gar nicht etwas so Revolutionäres. Palacky hatte schon im Jahre 1848 die Einteilung Österreichs in nationale Gebiete vorgeschlagen. Die Konstituierung der Nationen als Rechtskörper gäbe die Möglichkeit der von Masaryk geforderten politischen Betätigung der Nation. Sie könnte schließlich, wenn die Heiligkeit des Fortbestandes der Kronländer nun einmal feststeht, selbst unter ihrer Schonung durchgeführt werden. Aber die Tschechen müssen wollen. Wenn sie hartnäckig Widerstand leisten, ist es kaum zu machen. Man wird dann wieder die von Dir so geschmähten Politiker brauchen. Die Formen der modernen Demokratie sind nun einmal nicht zu umgehen. Die Sachen etwa einfach dekretieren wird den Machthabern selbst nicht leicht angängig erscheinen. Vielleicht hat der Krieg eine bessere Stimmung für die Verträglichkeit erzeugt. Wer kann da prophezeien? Aber das eine ist sicher: man mag sich drehen und wenden, wie man will, fast alles hängt von den Tschechen ab. Wollen sie sich mit der absoluten Sicherung ihres Volkstums begnügen, den staatsrechtlichen Traum fahren lassen, so gebietet die Klugheit und die Gerechtigkeit, ihnen aufs äußerste entgegenzukommen. Im andern Falle werden wir mühsam weiterwursteln.

Zeigt sich aber irgendwie die Möglichkeit einer Verständigung, so muß an die Stelle der heutigen Feindschaft nicht nur Verträglichkeit treten, sondern herzliches Bestreben, einander zu verstehen. Wenn die Tschechen dann sehen, daß wir sie als ein tüchtiges und begabtes Volk achten, ihre Anhänglichkeit an ihre Nation als ein Zeichen der Treue einschätzen und ihrer nationalen Geistesentwicklung nichts in den Weg legen wollen, wird sich nicht plötzlich und unvermittelt, aber nach und nach und stetig das Zusammenleben unter einem gemeinsamen Dache nicht nur erträglich, sondern förderlich für beide Teile gestalten.

Ich fürchte, daß diese schöne Zeit nicht einmal Du als der Jüngere von uns beiden erleben wirst. Wir müssen uns damit begnügen, unablässig nach ihr zu rufen. Mögen unsre Stimmen auch jetzt verhallen, wir leben der festen Überzeugung, daß kein gutes und ehrlich gemeintes Wort ganz verlorengeht. Ich finde mich mit Dir, dem ich in vielem widersprechen mußte, doch einig in dem Gefühle der Mitverantwortlichkeit für das Gemeinwesen, in dem wir nun einmal leben. Dabei verschlägt es nichts, daß die Grundstimmung, die in uns lebt, nicht ganz dieselbe ist. Du bist ein fanatischer Österreicher mit Leib und Seele. Ich bin ein Österreicher mit dem Kopfe, im Herzen bin und bleibe ich ein Deutscher.«

 

Pernerstorfer hat mich nicht bekehrt: Er versucht ja doch auch gar nicht, meine Meinung zu widerlegen, er teilt nur seine mit, der nun ich wieder bloß mit der meinen antworten könnte, noch einmal, dann er wieder, und in Ewigkeit so fort, ohne daß jemals einer von uns beiden klüger wurde, geschweige der Leser. Nach einem Disput von solcher Art (auch über Böhmen, aber über einen friedlicheren Punkt Böhmens, nämlich über den Kammerberg) hat Goethe, verwundert, den Widersacher seiner Meinung nicht überzeugen, noch sich ihm unterordnen zu können, die Vermutung ausgesprochen, »daß es mehr Impuls als Nötigung sei, die uns bestimmt, auf eine oder die andre Seite hinzutreten«. Und nach diesem Geständnis fährt er fort: »Hierdurch mußte bei mir eine milde, gewissermaßen versatile Stimmung entstehen, welche das angenehme Gefühl gibt, uns zwischen zwei entgegengesetzten Stimmungen hin und her zu wiegen und vielleicht bei keiner zu verharren. Dadurch verdoppeln wir unsre Persönlichkeit.« Wer das könnte, hätte vielleicht noch am ehesten Aussicht, in politischen Fragen zu einer Art Wahrheit zu gelangen. Ich bin noch nicht so weit, bin es so wenig, daß ich, aus Eifersucht, Pernerstorfer könnte doch, mehr als mir recht wäre, Eindruck auf den Leser gemacht haben, mich nicht enthalten kann, noch einen kleinen Aufsatz über Böhmen einzuschalten:

»In dieser Zeit zieht jedes Volk die Summe seiner Bedeutung und legt Rechenschaft über sich ab. Auch wir Österreicher. Ja, wir haben dazu noch mehr Anlaß als die andern. Denn dieser Krieg hat uns gezeigt, wie wenig man uns kennt, selbst unter unsern Nachbarn. Vielleicht nicht ohne unsre eigene Schuld, weil wir ein sozusagen sprachloses Volk sind, das kein Bedürfnis hat, sich zu formulieren. Die Sicherheit, aus der wir handeln und fast wie nachtwandelnd unsern Weg finden, genügt uns, und so glauben wir, sie müßte auch den andern genügen. Was wir in unsrer Ecke zu tun hatten, ist stets lautlos und wie von selbst geschehen; Prometheus und Epimetheus sind uns beide gleich unbekannt, wir handeln, doch wir reflektieren dabei nicht über uns, weder vorher noch nachher. Versucht dies doch einmal einer, so gehört er stets der dünnen, über unserm Volke schwebenden, ganz losen Oberschicht von Intellektuellen an, die wieder nicht aus unsern Instinkten reflektiert, sondern ihre Gedanken, ja selbst ihre Stimmungen und auch den Ausdruck, die Mundart aus der Fremde borgt. Und so haben wir nebeneinander den echten Österreicher, der sich nicht ausspricht, und den sprechenden Österreicher, der niemals ganz echt ist; kein Wunder, daß Österreich ungehört bleibt. Unser Glück ist, daß der Intellektuelle niemals Macht über Österreich gewann; es handelt noch immer mit ungeschwächter Sicherheit aus seinen untrüglichen Instinkten. Der Krieg aber hat uns gelehrt, daß es an der Zeit wäre, uns dieser Instinkte doch endlich auch bewußt zu werden, und schon sind Zeichen da, daß jetzt ein neues Geschlecht andrer Intellektueller, wahrhaft österreichischer Intellektueller, in allen unsern Nationen entsteht, die kein ärmlicher Absud wesenloser Entlehnungen mehr sind, sondern Geist unsrer Eigenart. Auch wir besinnen uns jetzt auf uns selbst.

Dieser Selbstbesinnung verdanken wir Hofmannsthals »Österreichische Bibliothek«, ein herzhaftes, großgesinntes Unternehmen, dem man zu seiner Zuversicht, seinem Takte, seiner Klugheit nur noch einen Schuß von unmittelbarer lebendiger Kraft wünschen möchte, mehr fortwirkenden Bezug auf den Augenblick, um es vor dem Alexandrinischen zu bewahren. Diese Gefahr droht dem jungen Robert Müller keineswegs, der sich eher hüten muß, nicht vom Augenblick verzehrt zu werden; aber er ist ein prachtvolles Beispiel unsrer neuen Rasse, an der nicht ganz unschuldig zu sein ich mir schmeichle: der Rasse von hochmütigen Österreichern, die darauf pochen, Österreicher zu sein. Die Ungarn sind uns ja mit gutem Beispiel vorangegangen, und sie vergessen auch jetzt nicht, daß es nicht genügt, was ein Volk ist, was ein Volk will, was ein Volk kann, wenn es nicht dafür zu sorgen weiß, daß man das auch überall erfahre, wenn es sich nicht zu plakatieren versteht. Am längsten haben unsre Slawen gebraucht, dies zu lernen. Der Dolmetsch ihres eigenen Wesens bei Europa zu sein haben sie lange versäumt. Vielleicht aus einem sehr edlen Stolze, in dem schönen Gefühl, ihr Werk selber müsse für sie sprechen, und sie hätten's nicht nötig, sich öffentlich auszurufen; was sehr österreichisch gedacht, aber sehr unpraktisch ist, im Zeitalter der Annonce. Auch meinten sie vielleicht, an uns deutschen Österreichern sei's, die Kultur der Westslawen und der Südslawen Europa zu vermitteln, wobei sie sich freilich auf unsre Väter berufen konnten und nur vergaßen, daß wir ja nicht einmal unsers eigenen Wesens Mittler waren. So blieben sie versteckt, und der Deutsche wußte von Irland oder Portugal mehr als von seinem stummen Nachbarn in Dalmatien oder Böhmen.

Die Böhmen haben ihr Versäumnis jetzt auf einen Schlag nachgeholt: das eben in Prag erschienene Werk »Das böhmische Volk«, ein stattlicher Band in Folio, 247 Seiten stark, von Dr. Tobolka herausgegeben, deutsch geschrieben, mit der ausgesprochenen Absicht, das Heimatland in der Fremde zu »repräsentieren«, ist wirklich das Plakat Böhmens, das dem Lande bisher gefehlt hat. Wenn wir auch ferner noch von den Böhmen nichts wissen werden, ist es nun nicht mehr ihre Schuld. Denn was sie sind und was sie vermögen, wirtschaftlich, künstlerisch und wissenschaftlich, ihr ganzes schaffendes oder bildendes und betrachtendes Leben, das äußere und innere Dasein und aus welcher Vergangenheit es sich entwickelt hat, auf welche Zukunft es zu deuten scheint, wird hier mit Entschiedenheit, voll Zuversicht, ohne Ruhmredigkeit im ruhigen Tone sachlicher Beschreibung kundgetan. Einem statistischen Aufsatze folgt eine Schilderung der »physischen Beschaffenheit und Kriegstüchtigkeit des böhmischen Volkes«, dann werden seine Geistesväter beschworen, der flammende Hus, der stille Comenius, der ordnende Palacky. Der literarischen Renaissance mit ihrem Gewühl bald atemlos stürmender, bald bedächtig zögernder, zurückblickender oder vorbereitender, in der Volksart eingewurzelter oder durch die Welt schweifender, bald durch höchste Beschränkung, bald durch weiten Sinn wirkender und, wie sich in der Enge diese Fülle von Begabung auch drängt, doch immer einträchtig zielender Gestalten wird gedacht: die bildende Kunst erscheint, anfangs der Gotik folgend, dann dem Barock, doch erst in Joseph Manes sich zum erstenmal ganz auf den eigenen Geist besinnend. (Warum hat man den Berlinern diesen Künstler nie gezeigt, der in der Form Klassizist, aber eine romantische Natur, künstlerisch von der höchsten Mäßigung, im Leben ganz unbeherrscht war, durch und durch im besten Sinne problematisch, zuletzt von der Nacht des Wahnsinns verschlungen, gleichsam ein malender Nietzsche?).

Das Kapitel über »Die Böhmen in der Weltmusik« beginnt mit Mozart, dessen Don Juan auf böhmischer Erde zum erstenmal erklang, es schließt mit Richard Strauß, der seit der Elektra so stark auf die jungen böhmischen Musiker einwirkt, und zwischen diesen beiden halten sich Smetana, Dvorak und Fibich, aber auch Kovacevic, Förster, Novak und Suk ganz gut. Auch der Anteil Böhmens an der Entwicklung der Mathematik, der Chemie. und der Rechtswissenschaft, wie sein Schulwesen, seine Landwirtschaft und Industrie, sein Handel und sein Geldwesen werden gezeigt, und selbst dem heiklen Thema der böhmischen Selbstverwaltung fehlt es an einer übersichtlichen Darstellung nicht.

Auch wer Böhmen zu kennen glaubt, erstaunt bei diesem Anblick seiner Kultur. Sie hat eine bewundernswerte Kraft, die fast unbegreiflich erscheint, denn man vergesse ja nur nicht, daß dies alles das Werk von kaum hundert Jahren ist! Als das Kaisertum Österreichs begann, gab es keine böhmische Kultur mehr, es gab kein böhmisches Volk mehr. Böhmen hat aus tiefem Schutt erst wieder ausgegraben werden müssen. Das ist eine weltgeschichtliche Leistung ohnegleichen, deren der Deutsche sich um so reiner freuen darf, als ihr Anfang unter deutschem Segen steht: Goethe hat sein großes Auge freundlich darauf ruhen lassen. Die Wiedergeburt Böhmens begann mit der Gründung des Böhmischen Museums im Jahre 1822, und in eben diesem Jahre hat sein Gründer und erster Präsident, der Graf Kaspar Sternberg, den ihm bisher nur brieflich verbundenen Goethe von Angesicht kennengelernt. Sternberg, aus uraltem böhmischen Geschlecht, eines Kämmerers Sohn, in Prag aufgewachsen, zum geistlichen Stande bestimmt, Domherr von Regensburg bis zur Beschießung der Stadt, dann heimgekehrt, um, schon fast fünfzig, nur noch seinen gelehrten Neigungen und besonders dem botanischen Studium zu leben, bald aber von einem Vetter für die Geschichte der Heimat interessiert, an ihrer Erweckung teilzunehmen aufgefordert und in den vaterländisch gesinnten Kreis der Lobkowitz und Clam-Martinitz eingeführt, ein richtiger Edelmann alten Schlages, dessen angeborener großer Sinn noch auf Reisen und durch Verkehr mit den bedeutenden Männern der Zeit erweitert und bereichert worden, traf damals in Marienbad mit Goethe zusammen, und unter dem »Tausendfältigen«, was in diesen zwei Wochen, wie Goethe selbst berichtet, »zur Sprache kam«, wird auch des Grafen neues vaterländisches Unternehmen gewesen sein, und der hohe Sinn, in dem es geplant war.

Es fand Goethe gut vorbereitet durch Woltmann, den Jenenser Historiker, Mitbegründer der »Horen«, Verfasser einer einsichtigen Kritik von »Wahrheit und Dichtung«, die Goethe sehr hoch hielt. Der nahm, in Kriegszeiten nach Prag verschlagen, die Gelegenheit wahr, nun auch an der Geschichte Böhmens seinen Tiefblick, sein Gehör für den inneren Trieb in äußeren Begebenheiten zu beweisen; er hat einen »Inbegriff der Geschichte Böhmens« verfaßt, der heute noch gelesen zu werden verdient, auch weil da das Problem Österreichs, »die Individualität der einzelnen Nationen abzuschleifen und abzurunden«, ohne doch »die individuelle Nationalität gänzlich zu brechen oder durchaus zu hemmen«, schon rein erblickt wird. Durch ihn ist Goethe, früher nur als Kurgast, geologisch und gesellschaftlich an Böhmen teilnehmend, erst auf die seltsamen Schicksale des böhmischen Volkes gelenkt, zugleich aber auch der tiefen Einsamkeit und Abgeschiedenheit, in der es lebt, gewahr geworden: »Dieses Land, als wahrhaft mittelländisch, von Bergen umgeben, in sich abgeschlossen, führt durchaus den Charakter der Unmitteilung in sich selbst und nach außen.« Wie muß ihm da der erste Versuch einer Mitteilung willkommen gewesen sein! Und das war ja jenes vaterländische Museum, dem Graf Sternberg Pate stand, und Goethe denn auch gleich der eifrigste Berater, Anwalt und Förderer wurde. Freudig nahm er das Erwachen des böhmischen Geistes wahr, wandte sich den Arbeiten des Abbé Dobrowsky zu, lauschte der Volksdichtung (aus der Königinhofer Handschrift, die damals noch für echt galt, hat er ein Lied, »Das Sträußchen«, frei nach einer wörtlichen Übersetzung umgedichtet) und ließ nicht ab, für die Monatsschrift des Museums zu wirken. Er entwarf eine Anzeige der Monatsschrift für Varnhagens Zeitung, darin heißt es: »Von dem Zusammenleben zweier Sprach- und Dichtungssphären gibt uns Böhmen jetzt ein merkwürdiges Bild, worin bei größter Trennung, wie schon der Gegensatz von Deutschem und Slawischem ausdrückt, doch zugleich die stärkste Verbindung erscheint. Denn wenn die böhmischen Dichter, indem sie selbst alten Mustern folgen, nicht umhin können, durch Sinnesart, Ausdrucksweise und Gedichtformen doch auch in heutiger Bildung Deutsche zu sein, so sind hinwieder die deutschen Dichter in Böhmen durch entschiedene Neigung und stetes Zurückgehen zum Altnationalen ihrerseits recht eigentlich böhmisch.«

Diese Sätze schrieb nicht Goethe, sie sind in dem Entwurf Goethes von Varnhagen eingefügt worden, aber mit Goethes Zustimmung. Denn ganz so sah auch Goethe das Verhältnis der beiden Stämme Böhmens. Es ist seitdem anders geworden. Warum aber dürften wir nicht denken, wünschen, hoffen, daß es wieder einmal anders werden wird? Dieses von Böhmen deutsch geschriebene, an Deutsche gerichtete Buch könnte ein Anfang dazu sein.«

 

Zu Seite 160. In seiner gedankenvollen Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins »Vom deutschen Volk zum deutschen Staat« (Aus »Natur und Geisteswelt«) fragt Paul Joachimsen, warum unsre mittelalterliche Geschichte mit einem geistlichen Zeitalter beginnt. Er glaubt den Grund in dem Bedürfnisse des Kaisertums nach Menschen mit »größeren Raumvorstellungen« zu finden; »solche Menschen lieferte damals nur die Kirche, sie aber lieferte sie in steigender Fülle.« Unsre Zeit steht wieder vor demselben Problem: die Wirklichkeit bewegt sich jetzt in Räumen von einer Weite, für die den Gewohnheiten des Nationalstaats noch das Augenmaß fehlt; aus seiner Enge gesehen, zeigt sie sich in Verkürzungen, in Überschneidungen, daß ihm vor Angst der Atem vergeht. Das nationalstaatliche Denken wird zu dieser neuen Wirklichkeit nie genug Distanz haben, um sie richtig zu sehen. Wie stark sie aber schon überall empfunden wird, beweist der Erfolg Naumanns. Sein Mitteleuropa sagt gerade dadurch so viel, daß es eigentlich immer nur ein und dasselbe sagt, nämlich wie schön es für uns alle in einem größeren Raum wäre. Durch das ganze Buch klingt eine tiefe Sehnsucht, das ist die ewige Sehnsucht des Deutschen über sich hinaus. Zu allen großen Zeiten hat's der richtige Deutsche niemals in seiner eigenen Nation ausgehalten, dem deutschen Volke wird immer erst wohl, wenn es aus sich in die Welt tritt. Vgl. C. Burdach »Deutsche Renaissance« Berlin 1916 und E. Troeltsch »Humanismus und Nationalismus« Berlin, Weidmann 1917. Es selbst ist für sein eigenes Gefühl nur ein Weg, das Ziel aber ist erst am Ende seiner selbst, ist draußen, drüben. Der entscheidende Schritt des Deutschen geht zu allen großen Zeiten über ihn hinaus: das ist der Schritt vom König Heinrich zum Kaiser Otto, von Barbarossa zu Friedrich II. Und immer ist's ein Schritt mit Gefahr des Lebens; daher das Grauen, das in seiner Verlockung steckt, daher die tiefe Dankbarkeit für Männer, die dieser Verlockung widerstehen: für Luther, für Bismarck, für Männer mit Kraft zur Einengung des schweifenden deutschen Geistes. Der Irrtum Naumanns ist, das deutsche Volk könne jenen Schritt wagen, ohne sich zu überschreiten. Und das war Naumanns Erfolg: denn das hätten ja die Deutschen jetzt am liebsten, sie möchten ins Weite, doch ohne die Enge zu verlassen. Daher ihr Arger über Fr. W. Foerster, der den Mut zur inneren Weite hat. Er hat nur die Wahl, vor der der deutsche Geist jetzt steht, mit Bismarck oder Konstantin Frantz benannt, was doch eher irre führt, weil die beiden Namen jedenfalls ja schon an Spannung zu verschieden sind. Joachimsen hat Namen bereit, die den Gegensatz ebenso treffen und sich doch das Gewicht halten: er weist auf den Geisteskampf Heinrich von Sybels mit Julius Ficker hin. Ficker, Westfale von Geburt, Österreicher durch Wahl, Katholik in seiner inneren Form, hatte vor dem praktischer gesinnten, dem Augenblick zugewendeten Sybel die »größeren Raumvorstellungen« voraus. Er behielt unrecht in einer Zeit, der, um die Geister zur unmittelbaren Tat zu versammeln, noch der engere Raum genügte. Vielleicht kommt jetzt eine, die noch nachträglich Ficker gegen Sybel recht geben wird. Vielleicht kommt jetzt wieder eine großdeutsche Zeit, die Zeit Österreichs. Vielleicht hat uns die Geschichte nur deshalb ein Menschenalter lang in die Ecke gestellt, um uns aufzusparen, bis Europa Not hätte nach Österreich. »Wen die Götter lieben, den führen sie zur Stelle, wo man sein bedarf,« heißt's im Elpenor. Jetzt sind wir zur Stelle, scheint's.

Die Nationalisten sind in allen Ländern eine seltsam gemischte Schar. Der gierige Händler, nach Macht verlangend, um sein Geschäft zu machen, der wüste Schreier, den Lärm lockt, der verworrene Phantast findet sich da mit dem edlen Schwärmer, dem Seher, der in der Zeit schon die Zeichen der Ewigkeit schaut, dem ahnungsvoll vorauseilenden Idealisten zusammen, der schon in einer noch ungeborenen Wirklichkeit lebt. Der schlechte Teil der deutschen Nationalisten wird (nicht ohne Grund) sich verraten glauben, wenn Österreich die Führung anspricht. Der Idealist, der das Ziel will, mit welchen Mitteln immer, wird Österreich zustimmen, wenn er nur erst erkennt, daß es der Weg zur deutschen Weltmacht ist: denn die Form, die der deutsche Geist zum Verkehr mit der Welt braucht, hat Österreich noch nicht, aber der Österreicher hat sie. Das Österreich, von dem in dieser Schrift immerfort gesprochen wird, ist ja zunächst noch nur in der Idee da, nämlich an dem großen starken reinen Bilde, das einzelne Österreicher davon tragen, in sich tragen und zur Schau tragen (die meisten noch dazu halb unbewußt); es ist das Österreich der Vergangenheit mit seinem Drang und seiner Macht zur Zukunft. Und es wird entscheidend sein, entscheidend für Deutschland und Österreich, für beide, doch entscheidend auch für die Welt, ob dieses Österreich jetzt endlich zur Gegenwart wird.

Unser Augenblick ist da, der Ruf ergeht an uns, in Bereitschaft sind wir. Man wird es uns auch glauben, sobald wir nur erst selbst an uns glauben lernen. Nur daran fehlt's uns noch. Uns fehlt der Stolz auf uns. Wir wissen noch nicht, daß man uns braucht; wir wagen es noch nicht zu wissen. Wer stellt denn aber Europa wieder her, wer denn, als wir? Wir sind die nächsten dazu. Nur deutsche Kraft mit katholischem Geiste kann es. Wir haben bloß wir selbst zu sein, so sind wir schon ein kleines Europa, das große setzt sich an. Wir müssen bloß endlich lernen, einmal beherzt Gebrauch von uns zu machen.

 


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