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Die Länder

I. Böhmen

Fox riet schon 1797, Irland irisch zu behandeln, nicht englisch. Und Justin Mac Carthy, selbst Ire, der eine kluge klare Geschichte unsrer Zeiten schrieb, gibt zu, daß es England mit den Iren gut meint, aber auf englisch, und davon hätten sie nichts, solang es ihnen nicht auch auf irisch gut geht. Ebenso verlangt Böhmen, böhmisch regiert zu werden, seiner geschichtlichen Persönlichkeit gemäß. Dabei stimmt der beliebte Vergleich Böhmens mit Irland nicht einmal ganz. Denn Irland ist von England erobert und unterworfen worden, viermal sogar, das erstemal von Heinrich II., das zweitemal von Heinrich VII., das drittemal von der Elisabeth, das viertemal von Oliver Cromwell. Böhmen ist niemals erobert worden, Böhmen hat sich frei für Habsburg entschieden. Es ist kein erobertes Land, es ist auch nicht durch Erbschaft oder Heirat an Österreich gekommen, es ist überhaupt niemals an Österreich gekommen, sondern dadurch, daß es zugleich mit Ungarn aus freier Wahl an Habsburg kam, entstand erst, was fortan Österreich hieß. Böhmen hat Österreich miterschaffen. Bevor Böhmen sich entschloß, in Gemeinschaft mit den Habsburger Landen und Ungarn zu leben, gab es kein Österreich. Den Namen gab es allerdings schon, aber in einer andern Bedeutung. Was durch jenen Entschluß Böhmens erst entstand und fortan Österreich hieß, war seit Jahrhunderten im Zuge. Es hätte schon unter Ottokar oder auch unter Georg von Podiebrad entstehen können, auch unter Matthias Korvinus. Wenn es unter Ottokar oder Georg von Podiebrad entstanden wäre, mehr als zweihundert Jahre früher, so hätte man es vielleicht nach dem böhmischen Teil benannt, und dann würde heute, wenn gelegentlich Tirol oder Salzburg auf sein geschichtliches Recht pocht, den Tirolern oder Salzburgern der Vorwurf nicht erspart bleiben, sie seien unböhmisch.

Das Wort Österreich hat viele Bedeutungen, und man weiß heute nie recht, in welcher es gerade gebraucht wird. Es erscheint zuerst im zehnten Jahrhundert, als nach dem Sieg über die Magyaren der Sachsenkaiser Otto I. 955 die karolingische Ostmark wiederherstellt, die 796 nach dem Sieg über die Avaren im Gebiet zwischen Enns und Raab errichtet worden war. Österreich heißt damals das Land, mit dem 976 der Babenberger Leopold I. von Kaiser Otto II. belehnt wird. Allmählich geht der Name dann vom Land auf den Gebieter über. Das Haus Österreich, sagt man im fünfzehnten Jahrhundert, und in den letzten Tagen des Kaisers Max wird das allgemeiner Brauch: was den Habsburgern gehört, heißt nun Österreich. Max hat einen Sohn, Philipp den Schönen, der vor dem Vater stirbt. Das Erbe wird zwischen den Enkeln Maximilians geteilt, und da springt der Name jetzt auf den einen Teil über: mit Karl V. beginnt die spanische, mit Ferdinand I. die österreichische Linie des Hauses Habsburg. Und als Ferdinand I., der Gemahl Annas von Ungarn, 1526 durch Wahl am 24. Oktober die böhmische Krone, durch Wahl am 16. Dezember die ungarische Krone empfängt und also sein vom Großvater ererbtes Land mit Böhmen und Ungarn vereint, wachsen für sein Gefühl einfach dem alten Besitz der österreichischen Linie zwei neue Länder zu, und es ist nur natürlich, daß die ganze, jetzt erst entstehende Gemeinschaft den Namen des alten Teiles annimmt. So gewinnt der Name hier ebensoviel wieder, als er, bei der Teilung der Erbschaft zwischen den Brüdern, dort verloren hat. Österreich heißt seitdem alles von den Habsburgern der österreichischen Linie beherrschte Gebiet, das dann der deutsche Kaiser Franz II. 1804 zum erblichen Kaisertum erklärt, sich fortan Franz I., Kaiser von Österreich, nennend. Dieses Kaisertum Österreich erlischt am 21. Dezember 1867, aber der Kaiser von Österreich bleibt übrig. Von 1867 bis 1915 ist Österreich nur noch in einer Zusammensetzung und im Titel des Oberhauptes vorhanden. Der neue Staat heißt Österreich-Ungarn, sein Oberhaupt Kaiser von Österreich und König von Ungarn. Freilich wird das Wort zuweilen immer noch in dem alten seit 1526 üblichen Sinn gebraucht, für alles Land, das der österreichischen Linie des Hauses Habsburg gehört, aber die Ungarn widersprechen diesem Brauch und haben dabei das Gesetz für sich: Ungarn ist seit 1867 von Rechts wegen nicht mehr österreichisch. Doch auch noch in einem andern Sinn wird das Wort Österreich seit 1867 zuweilen gebraucht, nämlich für den gesamten nicht ungarischen Teil des habsburgischen Reiches, in einem ganz neuen Sinn also. Es bedeutet jetzt weniger als von 1526 bis 1867, denn in dieser Zeit schloß Österreich auch Ungarn ein, das sich 1867 von ihm ausgeschlossen hat. Es bedeutet auch weniger als vor 1526 unter Kaiser Max, denn es bedeutet nicht mehr das ganze Land Habsburgs. Es bedeutet aber wieder mehr als zur Babenberger Zeit, denn es umfängt auch Böhmen mit Mähren und Schlesien, Kärnten und Krain, Tirol und Vorarlberg, Görz, die Bukowina, Galizien, Triest, Istrien und Dalmatien. Es bedeutet, was von Rechts wegen seit 1867 »die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder« hieß. Und diese neue, seit 1867 erst allmählich aufkommende, bisher unrechtmäßige Bedeutung ist jetzt am 12. Oktober 1915 öffentlich beglaubigt worden, Österreich wird aus dem gemeinen Sprachgebrauch, in den es sich geflüchtet hatte, behutsam wieder hervorgeholt, wenn auch mit zugeschnittenem Sinn, es ist seit dem 12. Oktober 1915 der amtliche Name der bisher anonymen, im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder, für die man auch das schöne Wort Zisleithanien erfunden hatte. Der Teil des habsburgischen Reichs also, der den Reichsrat beschickt, heißt fortan Österreich, der zweite Teil heißt Ungarn. Und was mit dem dritten Teil, mit Bosnien und der Herzegowina, geschehen soll, wohin er gehören wird, welchen Platz er im Reich hat, bleibt noch ungewiß. Wenn von Österreich gesprochen wird, muß man also immer erst fragen, von welchem Österreich. Mancher schlägt an seine Brust und beteuert, Gott sei Dank noch ein guter Österreicher zu sein, aber für ihn heißt das, daß er den Dualismus nicht anerkennt: wenn er Österreich sagt, meint er das Österreich des Doktor Alexander Bach. Ein andrer wieder, der sich auch für einen guten Österreicher hält, wird 1867 anerkennen, aber daraus schließen, es müsse, was den Ungarn recht, auch für die andern billig sein: er hofft auf ein 1867 auch für Böhmen, und nicht bloß für Böhmen, sondern für alle geschichtlichen Persönlichkeiten Österreichs, womit denn das föderalistische Österreich des Oktoberdiploms von 1860 auf eine höhere Art erfüllt würde. Weiß man nun schon nie recht, welches Österreich einer meint und was er für österreichisch hält, so wird es noch schwerer, sich eine rechte Vorstellung zu machen, wenn ein Volk oder eine Partei in den Verdacht kommt, unösterreichisch zu sein. Dieser Verdacht geht immer von den Zentralismen aus, einer Partei, die zehn Jahre lang geherrscht hat, unfähig war, ihr Österreich, ein ungeschichtliches bürokratisches, nur auf dem Papier vorhandenes Österreich, eine schlechte Kopie des napoleonischen Frankreichs, auszuführen, aber noch immer in den Kanzleien spukt. Ihr gilt alle Wirklichkeit für unösterreichisch, und sie glaubt noch heute, Geschichte lasse sich durch einen Federstrich beseitigen, das Leben der Völker auswischen, ein Staat erfinden.

Die drei Länder, durch deren Verbindung 1526 Österreich entsteht, der alte Besitz der österreichischen Linie Habsburgs, Ungarn und Böhmen, sind alle drei zu jener Zeit, wenn auch nicht ausgereifte, doch schon aufgeblühte Persönlichkeiten. Es fehlt ihnen zur vollen Entfaltung und Befruchtung nur noch eine wärmere Sonne. Diesen Sonnenblick erhoffen sie von Österreich. Es soll jedes bewahren und erst vollenden. Jedem Volke soll, was es mitgebracht hat, unversehrt bleiben, aber dann noch etwas zugebracht werden, das es selbst aus eigner Kraft nicht vermag und wodurch es noch über sich hinaus, aber auch erst im höchsten Sinne vollends zu sich selbst kommt. Daß nach furchtbaren Störungen alle seine Völker noch immer diesen Glauben an Österreich haben, macht es unbezwinglich. Daß dieser Glaube noch immer nicht bewußt erfüllt worden ist, macht es immer wieder an sich selber irre. Unsre Not ist: der Österreicher hat ein Vaterland, aber keinen Staat. Dieser Verein vieler Völker ist kein Staat geworden, sondern ein Staatenbund geblieben, den der unerlöste Drang quält, ein Bundesstaat zu werden. Unter Kaiser Franz sprach man von den K. und K. Staaten: der Ausdruck, der jetzt amtlich nicht mehr gebraucht wird, gilt noch heute. Der Österreicher fühlt sich unmittelbar nicht als Österreicher, er ist es immer erst im zweiten Grade. Fragt man ihn, was er sei, so wird er zunächst antworten: Tiroler oder Salzburger oder Steirer. Indem er Tiroler, Salzburger oder Steirer ist, ist er ja natürlich auch Österreicher, das glaubt er gar nicht erst sagen zu müssen. In jeder Gefahr Österreichs steht er für Österreich ein, denn damit steht er ja für sein Tirol, sein Salzburg, seine Steiermark ein. Und er will Österreich stark, so stark als nur möglich, weil, je stärker Österreich ist, desto stärker auch Tirol, Salzburg, Steiermark wird. Ja man muß das auch noch so sagen: er will Österreich stark, so stark als möglich, denn, je stärker Österreich ist, desto stärker auch Tirol, Salzburg, Steiermark wird. Der Tiroler, der Salzburger, der Steirer will Österreich stark, zum Vorteil Tirols, Salzburgs, Steiermarks, jeder zum Vorteil seines Landes. Wenn man ihn aber fragt, ob er es allenfalls auch stark auf Kosten seines Landes wollte, da wird er schwanken, mit der Antwort zögern und eigentlich im Grunde die Frage gar nicht verstehen. Jedes unsrer Länder hat zuweilen Augenblicke dieses ratlosen Schwankens, dieses ungewissen Zögerns, dieses tiefen Unverstehens, und sie sind schuld, daß der Staatenbund Österreich noch immer kein Bundesstaat ist. Er ist es, sobald jedes der Länder sich sicher weiß, an seiner eigenen Persönlichkeit unversehrt zu bleiben, zu jedem andern Opfer ist es dann bereit. Ungarn weiß sich jetzt sicher. Kann man es den andern verdenken, wenn auch sie dieselbe Sicherheit fordern? Ungarn mißversteht die andern: sie wollen nichts gegen Ungarn, sie wollen nur auch für sich dasselbe, auch sie bestehen auf ihrer ererbten Persönlichkeit. Auch der Zentralismus hat sie mißverstanden. Solange noch ein einziger Tiroler, ein einziger Salzburger lebt, wird es niemals gelingen, die gefürstete Grafschaft Tirol oder das Herzogtum Salzburg in ein wesenloses Departement abzusetzen. Und wenn alle Tiroler, alle Salzburger erschlagen wären und es gelänge, dann wären zwei Departements da, aber Österreich nicht mehr, kein wirkliches Österreich mehr, das Österreich nicht mehr, das die Baumkrone seiner Länder ist.

Jedem der österreichischen Länder ist sein eignes Gesetz eingeboren, das aber keines aus seiner Kraft erfüllen kann, jedes braucht dazu die Gemeinschaft mit den andern. Aber auch diese Gemeinschaft aller hat nun wieder ihr eignes Leben, ihr eignes Amt, ihr eignes Gesetz. Jedes Land wirkt auf das Reich, seine Bewegung teilt sich sogleich dem Ganzen mit, und das Reich wirkt wieder auf jedes Land zurück, seine Bewegung läuft in allen Gliedern durch. Jede Veränderung, hier oder dort, muß sogleich das Reich wie jedes Land verändern, jedes Land wird von Österreich regiert und Österreich wird von jedem seiner Länder regiert. Österreich muß sozusagen jeden Tag alle seine Länder wieder aufs neue verdauen und jedes seiner Länder muß jeden Tag Österreich erst wieder verdauen. Diese Verdauung geschieht nicht ohne Beschwerden. Sie sind geringer in den Ländern, die sich ihr ungestört widmen können, in den Ländern von geschlossener Persönlichkeit. Ärger sind sie, wo die Persönlichkeit des Landes selbst noch uneins ist. Auch wenn es ganz deutsch oder rein tschechisch wäre, hätte Böhmen seine Beschwerden mit Österreich, Anfälle jenes Schwankens, jenes Zögerns, jener ratlosen Angst um sich selbst. Solche Anfälle hat jeder der K. und K. Staaten immer wieder, gar in Augenblicken raschen innern Wachstums, in den größten Augenblicken Österreichs gerade, und jeder wird dann dem Hofrat, der ja niemals wächst, zuweilen wieder verdächtig, unösterreichisch zu sein, die besten Männer aller unsrer Länder werden stets bei Gelegenheit einmal zu Hochverrätern ernannt. Aber Böhmen ist weder rein deutsch noch rein tschechisch, und die böhmischen Deutschen sind nicht stark genug, die Tschechen zu vertilgen, noch die böhmischen Tschechen stark genug, die Deutschen zu vertilgen. So verfitzt sich in Böhmen die allgemeine österreichische Frage noch mit einer besondern nationalen. Während Tirol, was immer Österreich von ihm fordert, nur das eine fragt, ob es nicht etwa Tirol schaden könnte, fragen in Böhmen Deutsche wie Tschechen zunächst, nicht ob es Böhmen schadet, nicht, was das Land, sondern was jede der beiden Nationen im Lande davon hat und ob es irgendwie für die Macht der eignen Nation über Böhmen benützt werden kann. Der Kampf um die Herrschaft im Lande wird ins Reich getragen, wird im Reich ausgetragen. Beide sind unböhmisch: den Deutschen wie den Tschechen gilt die eigne Nation mehr als das gemeinsame Land. Und so sind beide unösterreichisch: denn Österreich steht ja seinen Ländern nicht gegenüber; es ersteht erst aus ihnen, es ist bloß in ihnen, durch sie, an ihnen erst da.

Ja noch mehr. Da jede der beiden böhmischen Nationen zu stark ist, um sich von der andern unterdrücken zu lassen, und keine so stark, die andre unterdrücken zu können, sehen sie sich um Hilfe um und blicken erst ins Reich, bald aber auch über die Grenzen. Der innere Streit, schon aus dem Land ins Reich gebracht, geht noch ins Ausland, der böhmische Deutsche erinnert sich der starken Brüder über den Bergen, es beginnt die Los-von-Rom-Bewegung, und der Tscheche wird Panslawist, die großslawische Romantik ergreift ihn, aus dem böhmischen Wortwechsel scheint eine europäische Gefahr zu werden.

Es scheint bloß. Der Krieg hat gezeigt, daß es bloß so schien. Der Krieg hat auch hier die Wahrheit erbracht. Die Wahrheit ist, daß es tief im Innern jeder der beiden böhmischen Nationen, der deutschen wie der tschechischen, noch ein Gebiet gibt, das keiner Nation gehört. Im Herzen beider Nationen, der deutschen wie der tschechischen, steckt das alte böhmische Volk. Das Herz Böhmens schlägt gut böhmisch, und wer Böhmen gut böhmisch regiert, hätte die Deutschen und die Tschechen alle für sich. Der verleumdete Franz Thun war schon fast so weit, als er von den »Politikern« niedergemacht wurde. Das Unglück, aber auch wieder das Glück der böhmischen Politik, sind die »Politiker«. Schon Taaffe hat sich über die »gelernten Deutschböhmen« erbost, und es gibt auch gelernte »Tschechischböhmen«, sie sind einander wert. Es ist hier und dort immer derselbe Schlag von entwurzelten, geistig verlaufenen, der Klasse, der ihre Geburt sie zumeist, entsprungenen, aber in keiner andern zugelassenen, schließlich nirgends mehr heimischen, zu rasch gebildeten und in der Bildung noch nicht akklimatisierten, ratlosen, bei aller äußeren Anmaßung innerlich ganz unsicheren, Lärm schlagenden, um sich Mut zu machen, und weil sie doch keinen haben, ihre Furcht im Alkohol unverstandener und unempfundener Tiraden betäubenden, im Gefühl ihres eigenen Unwertes, damit sie, wenn es morgen mit ihnen aus sein wird, doch nicht betteln gehen müssen, aufs Geschäft losstürzenden, nach Profit gierigen, selbst verratenen und alles verratenden, ganz an den Augenblick, den unmittelbaren Erfolg, den nächsten Gewinn verkauften und sich vor der hereinbrechenden Sintflut geschwind noch die Taschen stopfenden trostlosen »Westlern«, ein Schlag, der übrigens überall in Österreich spukt, auch in Triest, Görz und Trient, auch in Ungarn, aber in Böhmen die Herrschaft über die Tagespolitik beider Nationen an sich gerissen hat. Das Unglück ist, daß das Volk beider Nationen dazu schweigt, so daß bisweilen ganz Böhmen, das deutsche wie das tschechische, nur noch aus diesen Westlern zu bestehen scheint. Das Glück ist, daß man nur die Courage haben muß, ihnen das Maul zu stopfen und das Volk, das deutsche und das tschechische Volk anzurufen, und Böhmen ist erlöst. Ihr ganzer Spuk zerstiebt, wenn Böhmen wieder böhmisch regiert wird. Aber das will der Hofrat nicht. Der Hofrat hält's überall mit den Westlern beider Nationen. Er hat die Westler großgefüttert. Die Westler sind in Böhmen aufs Staatskosten gezüchtet worden, bei den Deutschen wie bei den Tschechen. Der Alldeutsche wie der Russenfreund war seit Jahren der Hintertreppengast des Hofrats. Weil der Hofrat ja kein starkes Böhmen will. Weil der Hofrat Böhmen schwächen will. Weil dem Hofrat kein Preis zu hoch ist, wenn nur Böhmen verhindert wird. Weil der Hofrat gehofft hat, Böhmen durch den nationalen Kampf zu zersetzen. Weil der Hofrat ein aufgeriebenes Böhmen braucht. Denn erst wenn aus dem geschichtlichen vielgestalten Österreich ein einziger formloser dicker Brei geworden ist, kann das hofrätliche Österreich der Departements entstehen, in dem jedes Land nur noch eine Nummer wäre, das Ideal des Bürokraten.

Nun hat aber dieser Krieg gleich im Anfang dem Hofrat ein Ende gemacht. Das erste war, daß das Österreich, das es nur auf dem Papier gibt, das Österreich der Liberalen, der Bürokraten, der Zentralisten, dieses verdünnte, zur Ader gelassene, außer Kraft gesetzte Österreich verschwand. Und es stand ein Österreich, das nicht auf dem Papier steht, auf, das wahre, zur Verblüffung, zum Entsetzen der Feinde. Der Zerfall Österreichs auf den ersten Anhauch schien doch ein ganz sicherer Posten in ihrer Rechnung gegen Deutschland. Man glaubte Österreich doch zu kennen! Aber was man kannte, war das Österreich des Hofrats, diese Falschmeldung, nicht das wirkliche. Und der Hofrat machte sich schon in der Mobilisierung aus dem Staube. Das wahre Österreich erschien, das in seinen Gemeinden wurzelnde, in seinen Ländern wirkende, das immer erscheint, wenn der Kaiser ruft. Und alle Wahrsager hatten falsch gesagt und alle Schwarzseher trüb gesehen, alle Furcht wurde zuschanden, und es ging auf einmal alles, seit der Hofrat gegangen war, dem Soldaten weichend, denn mit dem Hofrat war auf einmal auch die Schlamperei weg, und die Unzuverlässigkeit, die Unpünktlichkeit, die Unaufrichtigkeit, der Schlendrian, der Unmut, Kleinmut, Mißmut, das Nörgeln und das ewige Raunzen und die Verzagtheit, Verbohrtheit und Verdrossenheit, lauter Eigenschaften des hämorrhoiden Kanzlisten, die sich von ihm mit der Zeit auf das ganze, von ihm beherrschte Österreich übertragen hatten. Er verschwand, als der Kaiser rief, und Österreich erschien auf des Kaisers Ruf. In seinen Heeren ist Österreich.

Mit dem Hofrat verschwand aber auch sein Freund: der Nationalist. Dieser Krieg ist vom Nationalismus angezettelt, und überall ist aber in diesem Krieg der Nationalismus ausgetilgt worden, selbst in den Nationalstaaten ist der Staat überall der Nation über den Kopf gewachsen, ja noch mehr: es reicht auch der alte Staatsgedanke nicht mehr, der Staatsgedanke dehnt sich unwillkürlich zum Bundesgedanken aus: die Staaten verwachsen zu (wie Kralik es neulich wunderschön formuliert hat) »unkündbaren ehelichen Bünden«. Wir werden alle hergebrachten politischen Begriffe strecken müssen. Österreich kann das leicht, es muß dazu gar nicht erst umlernen, es hat sich bloß auf sich selbst zu besinnen. Seit der Krieg dieses einödige Schema des Nationalstaates gesprengt hat und den Völkern eine lebendigere, reichere, vielfältigere Form notwendig geworden ist, eine Form der Fülle, Form der Bewegung, Form der Vieleinigkeit, atmet Österreich auf. Denn damit hat die große Stunde für Österreich geschlagen. Der Nationalstaat wird vergessen, die Nationalisten werden verschwunden sein, und dann wird der Kaiser rufen und Böhmen wird wieder erscheinen in aller Zauberpracht und Zaubermacht seiner großen unvergänglichen Geschichte.

 

Diesen allgemeinen Betrachtungen mag ein Bericht folgen, den ich über meinen letzten Prager Aufenthalt an einen österreichischen Staatsmann erstattet habe:

 

Euer Exzellenz!

Salzburg, 27. November 1915

Ich bin sehr froh, daß ich in Prag war, ich atme jetzt erst wieder auf, denn ich weiß jetzt, daß das alles nicht wahr ist, was man sich seit Wochen, seit Monaten ängstlich aufgeregt bei uns über Böhmen in die Ohren raunt. Es ist nicht wahr, daß Böhmen innerlich für Österreich verloren ist. Der Augenschein hat mir dargetan, daß es nicht wahr ist. Ich habe manches bittere Wort gegen Wien, Klagen über ungerechte oder maßlose Urteile der Gerichte, über den kein Verdienst verschonenden Argwohn der Behörden, Wutausbrüche gegen die deutschen Verdächtigungen und Verleumdungen der Tschechen anhören müssen, es ist mir nicht verhehlt worden, daß das tschechische Volk an diesem Kriege gegen seine slawischen Brüder nur notgedrungen aus österreichischem Pflichtgefühl teilnimmt, ich bin dem tiefsten Mißtrauen vor der Zukunft begegnet, einer flackernden Nervosität, einer namenlosen Angst, der Augenblick könnte von den Deutschen mißbraucht werden, das tschechische Volk um seine mühsam errungenen Rechte, ja das Land Böhmen völlig um seine Selbständigkeit bringen, aber dies alles läßt den Glauben an Österreich nicht wanken, in Österreich will das tschechische Volk seine nationalen Bedürfnisse erfüllen, auf Österreich hofft es und bleibt für Österreich bereit, wofern ihm nur kein Opfer seines eigenen Wesens, seiner geliebten Sprache, seiner wirtschaftlichen Entwicklung zugemutet wird. Was es fürchtet, jetzt mehr als je, ist, daß es germanisiert, aus dem Lande seiner Väter ein seelenloses Departement gemacht, seine ganze Geschichte zerstört werden soll. Diese Furcht fand ich überall, selbst bei einem so weisen, ehrwürdigen, schon fast verklärten Manne wie dem rührenden alten Mattusch, der noch an der Seite Palackys und Riegers stand, selbst bei einem so klugen, vereinsamten Gelehrten wie Exzellenz Fiedler, dem österreichischen Minister. Aber Zeichen einer russischen Gesinnung fand ich nirgends. Auch unter den Anhängern, Schülern und Freunden Masaryks nicht, die ja vielmehr durchaus, um mit Dostojewski zu sprechen, »Westler« sind, also Europäer und, wie sie selbst ganz gut wissen, in Rußland unmögliche, für Rußland unerträgliche Menschen, eher gelegentlich mit französischen oder englischen Anwandlungen, meistens aber geradezu nach dem deutschen Geiste hin orientiert. Einer von ihnen, den ich fragte, für wen, wenn bei einer Teilung Österreichs Böhmen keine andre Wahl als entweder reichsdeutsch oder aber russisch zu werden hätte, das tschechische Volk sich entscheiden würde, für das Deutsche Reich oder für Rußland, gab mir, ohne zu zögern, zur Antwort: Dann natürlich immer noch lieber für Deutschland! Und ich möchte wetten, daß auf meine Frage kein Tscheche anders antworten wird. So sehr sich jeder Slawe, so stark er den geistigen oder eigentlich: den Gemütszusammenhang aller Slawen fühlt, gegen die Gefahr einer politischen Neigung zum heutigen Rußland sind die Tschechen immun. Ich könnte mir, wie paradox das auch klingen mag, eher vorstellen, daß sie, wenn sie sich von Wien in ihrem Volkstum bedroht, ihre geschichtlichen Rechte gefährdet glauben, vielleicht einmal der Gefahr einer politischen Neigung zu Deutschland erliegen. Es wäre nicht unmöglich, daß uns unsre zentralistischen Staatskünstler unter Umständen auch noch diese ja höchst österreichische Unwahrscheinlichkeit eines reichsdeutschen Irredentismus der Tschechen bescheren, dem es ja dabei schließlich an allerhand geschichtlichen Berufungen, etwa auf die Zeit Karls IV., nicht fehlen würde. Für die Autonomie Böhmens ist dem Tschechen kein Preis zu hoch. Wenn Wien sie bedroht und Berlin sie verbürgt, so wird er nicht zögern. Das klingt wie ein schlechter Witz, aber mir fiel auf, wie sehr gerade tschechische Nationalisten das Deutsche Reich, die Ordnung, die Verwaltung, die Arbeitsmethoden, die Steuerkraft, das Bankwesen und den weltwirtschaftlichen Sinn der Deutschen bewundern. Die russischen Schwärmereien tschechischer Phantasten sind ungefährliche Romantik, das Interesse des tschechischen Geldes, der tschechischen Arbeit für die Weltwirtschaft des Deutschen Reiches könnte bei Gelegenheit gefährlich praktisch werden.

Ein so starkes, ehrgeiziges, unaufhaltsames, aber kleines, einsames und ganz auf sich selbst angewiesenes, in sich selbst eingeschränktes Volk wie das tschechische wird sich unwillkürlich einen großen geistigen Hintergrund suchen, es wird sich irgendwie nach außen projizieren, irgendwie draußen anknüpfen müssen. Österreich hätte dieser geistige Hintergrund allen seinen Völkern zu sein, der Anker ihrer Seelen, es hat aber von der Gelegenheit, dieses Bedürfnis für sich auszunützen, noch wenig Gebrauch gemacht und kann also seinen Völkern nicht verdenken, wenn sie sich nach einem Surrogat umsehen. Ich bin jetzt mehr als je der Überzeugung, daß der sogenannte Panslawismus der Tschechen wie unsrer Südslawen nichts als ein solches Surrogat ist, um jenes Bedürfnis nach einem Horizont, nach geistiger Weite, nach innerer Berührung mit der großen äußeren Welt irgendwie zu stillen oder doch abzufinden. Ein so starkes und dabei doch so kleines Volk erträgt das Gefühl nicht, isoliert zu sein. Auch die Deutschen Österreichs kommen ja mit Österreich allein innerlich nicht aus, ihr Vaterland muß größer sein, so nehmen sie sich noch Kant und die deutsche Philosophie, Goethe und Schiller, Bach und Wagner dazu. Was wir uns selbst erlauben, werden wir den andern Völkern Österreichs nicht wehren können. Dazu kommt noch, daß ja die Tschechen auf dem Balkan wie in Rußland an der Arbeit sind, industriell und finanziell; sie haben damit ein gut österreichisches Werk getan, das uns noch Frucht tragen wird. Jenes geistige Bedürfnis nach einem idealen Raum sozusagen und diese wirtschaftliche Verbindung mit dem Osten und dem Süden mußten zusammen eine slawische Stimmung zeitigen, die aber nur grober Unverstand oder böser Wille russophil nennen kann und die wohl auch immer nur unter den Intellektuellen bleibt, aber das Volk selbst noch kaum erreicht hat. Das Volk wird nur von seinem Gefühl für Autonomie beherrscht, von diesem aber freilich mit einer Leidenschaft, die fast etwas Heroisches hat, für sie zu jedem Opfer bereit, mit tierischer Wut ergrimmend, wenn es sie bedroht glaubt, ein lenksames Kind, wenn es sie gesichert weiß.

Aber je nach der Bildung, nach der politischen Denkart und nach dem Temperament des einzelnen nimmt dieser allen gemeinsame, die ganze Nation in ihren Höhen und Tiefen beherrschende Gedanke der Autonomie nun freilich die mannigfaltigsten Formen an. Die meisten haben nur den Wunsch, den Kaiser zum König von Böhmen gekrönt zu sehen; dann trauen sie sich schon die Kraft zu, selbst Ordnung im Lande zu halten. Andre, durch das ungarische Beispiel zugleich beschämt und gereizt, wollen mehr: alles, was den Ungarn an Unabhängigkeit und Selbständigkeit zugestanden worden ist, glauben auch sie für sich ansprechen zu dürfen. Und endlich gibt es unter ihnen Schwärmer, die sich Österreich völlig als einen Staatenstaat denken oder als einen Völkerbundesstaat, worin jeder einzelne Teil sich seiner Geschichte, seinen Bedürfnissen, seiner Eigenart gemäß selbst bestimmt, um seine gesammelte Kraft dann dem Ganzen darzubringen. Ich weiß weder, ob der Gedanke eines solchen föderativen Österreichs, von dem manche tschechischen Schwärmer träumen, ausführbar ist, noch weiß ich, ob unsre Völker schon reif für ihn sind. Aber ich kann an ihm nichts finden, was unösterreichisch wäre. Im Gegenteil: dieser Gedanke denkt doch eigentlich bloß das Österreich von 1526 folgerichtig aus, übersetzt es nur in unsre Zeit und paßt es unsern veränderten politischen und wirtschaftlichen Bedürfnissen an. Und schließlich gilt doch auch für Staaten und Völker dasselbe Gesetz, dem jeder einzelne gehorchen muß, das Gesetz der inneren Unveränderlichkeit aller menschlichen Wesen, das Gesetz einer angeborenen, unsrer Willkür entrückten, sich an uns unaufhaltsam, mit uns oder gegen uns, erfüllenden Bestimmung, das in jenem orphischen Urwort Goethes verkündigt wird:

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen,
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Und so hat es ja nicht viel Sinn, wenn wir uns auf dem Papier ein Österreich erfinden wollen, das einfacher, bequemer für den Beamten und handlicher wäre, denn dieses Österreich der Zentralisten ist doch immer bloß auf dem Papier geblieben, es wird immer Papier bleiben, es kann niemals das geschichtliche Österreich überwinden, wir werden immer fort und fort gedeihen nach dem Gesetz, wonach wir angetreten, nach dem Gesetz von 1526, so müssen wir sein, wir können uns nicht entfliehen, das Österreich Ferdinands I. wird immer stärker sein als das Österreich des Doktor Alexander Bach, das noch in unsern Hofräten spukt. Das Österreich des Doktor Alexander Bach war eine Übersetzung aus dem Französischen, es war der Versuch, ein napoleonisches Österreich zu machen, es war ganz unösterreichisch. Jene tschechischen Autonomisten aber, und selbst die Schwärmer unter ihnen, die Träumer von einem freien Bund ganz selbständiger, sich nach ihrer Eigenart selbst verwaltender und von allen Seiten her ihre entfalteten Kräfte dann um Habsburgs Thron versammelnder Völker, was wollen sie denn im Grunde als unser altes Österreich, so wie es unter Ferdinand I. entstanden und von Karl VI. besiegelt und vom Kaiser Franz zum eigenen Kaisertum erhoben worden ist, nur in den reicheren, beweglicheren, unserm Willen, an der Weltwirtschaft teilzunehmen, angepaßten Formen dieser neuen Zeit? Und wen der »Staatenstaat« erschreckt, der erinnere sich doch, daß es unter Kaiser Franz Sitte war, amtlich von den »k. und k. Staaten« zu sprechen. Selbst jene Schwärmer unter den Autonomisten sind also keine verwegenen Neuerer, Österreich ist schon 1526 ein Staatenstaat gewesen und ist es in allen seinen großen Zeiten immer geblieben.

Wenn man darüber aber mit deutschen Böhmen spricht, die wenden nun freilich immer ein: Autonomie nennen es die Tschechen, und Rußland meinen sie damit! Ich muß gestehen: ich bin unfähig, mir vorzustellen, daß ein ganzes Volk geschlossen lüge, Mann für Mann und seit so vielen Jahren! Nehmen wir dies aber selbst an, so bleibt noch immer die Frage, ob Böhmen denn, selbst wenn es will, russisch werden kann. Räumt man dies ein, und also auch, daß Autonomie durch Mißbrauch ein Werkzeug dazu werden könnte, so wäre dieser Einwand gegen sie in der Tat stärker als alle Gründe für sie. Doch scheint es mir von vornherein unmöglich, daß Böhmen überhaupt jemals russisch wird, angenommen selbst, daß es russisch werden wollte. Nicht bloß seine Lage, nicht bloß seine ganze Geschichte verbietet es, sondern auch noch ebenso der wirtschaftliche wie der geistige Zustand des tschechischen Volkes Seine Bourgeoisie, kaum fünfzig Jahre alt, aber rasch aufgeschossen und jetzt eben daran, in die Weltwirtschaft einzutreten, für die sie sich mit einer bewundernswerten Energie gerüstet hat, weiß, daß ihr Platz nur an der Seite Deutschlands sein kann: ihr Weg zur Weltwirtschaft ist der deutsche, sie hat keinen andern und wenn sie ihn verläßt, zerstört sie sich. Der Geist des tschechischen Volkes aber, sein Glaube ist abendländisch. Die Tschechen sind Katholiken, wenn auch nicht alle von derselben Art: der eine Teil ist rein katholisch, im andern lebt unter der katholischen Form heute noch insgeheim der Hussit fort. Beide sind russisch unmöglich. Ich weiß gar nicht, welcher von beiden es mehr ist, der reine Katholik oder der versteckte Hussit. Die beiden Feinde, die damals in der Schlacht am Weißen Berge gegeneinanderstanden, wären gegen Rußland vereint. Solang es noch in Böhmen wirkliche Katholiken und wirkliche Hussiten gibt, kann Böhmen niemals russisch werden: das Herz Böhmens schlägt gegen Rußland. Erst müßte Böhmen ganz unkatholisch und unhussitisch, ein gottloser Haufen geworden oder Rußland müßte nicht mehr orthodox sein. Zwischen dem Rußland Dostojewskis und dem Böhmen des Hus und des heiligen Johannes von Nepomuk ist ein höllentiefer Abgrund. Nur entseelt könnten die beiden sich finden. Solange Böhmen aus Katholiken und Hussiten besteht, gibt es hier, und wäre das ganze Land mit Russen besetzt, kein Rußland. Es müßte erst jeder einzelne Katholik, jeder einzelne Hussit niedergemacht und ausgerottet werden, Mann für Mann. Es gibt für Böhmen keine russische Gefahr, seine ganze Geschichte feit es gegen sie.

Ich fürchte für Böhmen eine andre Gefahr. Die Tschechen können, was sie sind, an Leib und Seele, nur in Österreich sein. Sie finden kein andres Vaterland, auch wenn sie noch so sehr suchen. Nur muß sich dieses österreichische Vaterland aber auch von ihnen finden lassen. Was ich fürchte, ist das Mißtrauen gegen die Tschechen, nicht so sehr das Mißtrauen der Deutschen, als das ewige Mißtrauen der Bürokratie. Die Deutschen liegen jetzt mit den Tschechen in demselben Schützengraben beisammen, das ist die beste Schule der Verständigung; beide kommen heim, zu demselben starken Österreich bereit. Die Bürokratie aber, die leider in keinem Schützengraben liegt, hat noch immer nichts gelernt und, was schlimmer ist, noch nichts verlernt. Mißtrauen ist ihre Erbsünde. Sie schwelgt jetzt in Pauschalverdächtigungen Böhmens. Aber ungerechter Verdacht vergiftet ein Volk an seiner Seele. Selbst wenn es wahr wäre, daß einzelne Tschechen, durch den Widerspruch zwischen ihrem Pflichtgefühl für den eigenen Staat und ihrem Mitgefühl mit dem feindlichen Blutsfreunde verwirrt, an Österreich irre wurden, sollen diese Schuld die Millionen stockösterreichischer Tschechen büßen, die, draußen im Felde wie daheim im Lande, treu für Österreich einstehen? Das wäre das größte Verbrechen, nicht bloß an Böhmen, sondern an Österreich selbst. Ja schon auch nur einen solchen Verdacht, als sollte jetzt die ganze Nation gewissermaßen disqualifiziert werden, in den Tschechen aufkommen zu lassen, wäre ein nicht mehr gut zu machendes Verbrechen an Österreich, voll Unheil für alle Zukunft. Jeder Tscheche, der bereit zu Österreich ist, muß Österreich offen finden, und wer von den Tschechen in einem Augenblick innerer Verwirrung des Gefühls etwa irre an Österreich geworden wäre, muß an Österreich wieder glauben lernen dürfen, kein österreichisches Volk ist ja vor solchen furchtbaren Augenblicken sicher, auch wir deutschen Österreicher nicht, keines darf sich vermessen, die andern zu richten. Es gibt keine österreichische Politik als die des unerschütterlichen Vertrauens auf Österreich, der strengen Gerechtigkeit gegen alle seine Völker und des entschlossenen Willens, daß Österreich ihrer aller Vaterland werden muß, Vaterland an Leib und Seele.

 

2. Salzburg

(Zum hundertsten Jahrestag seiner Vereinigung mit Österreich)

Als an jenem wunderschönen ersten Mai des Jahres 1816 die Hessen-Homburg-Husaren in grünen Dolmans mit roten Tschakos durchs Linzer Tor einzogen, hinter ihnen vier Geschütze, mit schwarz gestrichenen Lafetten, ein Bataillon Feldjäger und die Weißröcke des Infanterieregiments Froon, feierlich eingeholt von bayrischen Kürassieren, Jägern und dem Regiment Kronprinz, als dann in der ganzen Stadt die bayrischen Wachen von den Österreichern abgelöst wurden, an der Residenz das bayrische Wappen sank, der Doppeladler aufstieg, im Saale der bayrische Generalkommissär des Salzachkreises, Graf von Preising, den Verzicht Bayerns verlas und »Unsre bisher getreuen Lehensleute, Diener und Untertanen« von allen Lehens-, Dienstes- und Untertanspflichten feierlich und förmlich entband, darauf aber der Präsident des Erzherzogtums Österreich ob der Enns, Seine Exzellenz der Freiherr v. Hingenau, im Namen des Kaisers Franz I. vom Herzogtum Salzburg, mit Ausnahme der Pflegegerichte und Ämter Waging, Tittmoning, Teisendorf und Laufen, insoweit diese auf dem linken Ufer der Salzach und Saale gelegen sind, »auf ewige Zeiten« Besitz ergriff und nun vom Dom die Glocken klangen, vom Mönchsberg die Geschütze dröhnten und das Gott erhalte zum blauen Himmel schwoll, was mag in dieser Stunde, da, vor hundert Jahren, Salzburg wieder kaiserlich wurde, der Salzburger Bürger empfunden haben? Das ist so leicht nicht zu sagen, denn es wird ihm selber damals nicht gleich ganz klar gewesen sein. Er kam ja schon gar nicht mehr zur Besinnung, der Atem ging ihm aus, denn seit im Winter 1800 die Franzosen einmarschiert waren, flog ja sein armes Land immer wieder aus einer Hand in die andre! 1802 war es säkularisiert, durch den Pariser Vertrag dem Erzherzog Ferdinand als Entschädigung für Toskana zugesprochen, doch drei Jahre später an Österreich, 1809 im Wiener Frieden an Napoleon gewiesen, von diesem aber schon das Jahr darauf Bayern zugeteilt worden. Das ging so rasch, daß, wer darauf hielt, stets ein richtiger Patriot zu sein, kaum mehr damit Schritt hielt; er hatte sich eben erst an die neue Gesinnung gewöhnt, als sie stets schon wieder nicht mehr die richtige war und er sie wieder wechseln, wieder aus der alten Haut in eine neue fahren mußte. Und immer hieß es dabei »auf ewige Zeiten«, und immer war doch diese Ewigkeit wieder so kurz gewesen! Wie lange wird sie wohl diesmal wieder währen? So mochte mancher bang in seinem Herzen fragen und im stillen wehmütig der guten alten Zeit gedenken, als sein Salzburg noch bischöflich war, ein kleines, still für sich, aber auf eigene Faust lebendes, selbst sich bestimmendes, mit eigener Hand sein Schicksal selbst bereitendes, auf der eigenen Kraft ruhendes, freies Land. Und jetzt tritt es in ein fernes, so großes, altes, mächtiges, von so vielen ihm fremden Völkern starrendes Reich ein! Wie wird's ihm da ergehen? Wird es nicht darin verschwinden? Wird es sich behaupten können? Wird es nicht verschlungen werden? Was wird nach ein paar Jahren von seiner alten Eigenart, von seiner stolzen Geschichte, von der Väter treu gehegten Sitten, von aller liebgewordenen Gewohnheit, vom ganzen Erbe seiner ehrwürdigen Vergangenheit noch übriggeblieben sein? So mochte sich damals der Salzburger Bürger sinnend fragen, zugleich von den Verheißungen des neuen, unermeßlich weiten Vaterlands geheimnisvoll angelockt, aber auch wieder durch eine Stimme ratloser Angst argwöhnisch abgemahnt. Es wird ihm nicht leicht geworden sein, selbst sein eigenes Gefühl recht zu verstehen.

Der Salzburger hat damals an sich erlebt, was jedes der vielen österreichischen Völker einmal erlebt. Jedes der österreichischen Völker muß erst durch diesen Zweifel an Österreich durch, es muß einmal gewählt haben zwischen der Furcht vor Österreich und der Hoffnung auf Österreich, es muß sich frei zum Glauben an Österreich entschieden, es muß sich um seiner selbst willen zu Österreich entschlossen haben. Jener Augenblick des Zögerns, der bangen Furcht, vergewaltigt zu werden, des tiefen Argwohns, sich selbst zu verlieren, ist noch keinem der österreichischen Völker erspart geblieben. Und erst wenn es diesen Augenblick redlich bestanden, wenn es die leisen Abmahnungen beherzt überwunden, wenn es in sich, durch ein ahnendes, hellsehendes, der Gegenwart enteilendes Vorgefühl seiner wahren Bestimmung, seiner inneren Sendung, seiner geschichtlichen Berufung die Kraft gefunden hat, sich Österreich zum Opfer darzubringen, in einer plötzlichen, ihm selber kaum recht begreiflichen, aber berauschenden Erkenntnis der erlauchten Größe, Macht und Würde Österreichs, dann erst ist es sozusagen österreichisch getauft. Man mißbraucht dieses geweihte Wort nicht, wenn man es auf das tiefe Geheimnis anwendet, das diese vielen Völker an Österreich bindet. Denn ein Geheimnis, keinem Verstande jemals, sondern nur der lauschenden Empfindung erreichbar, ist es, daß Österreich die magische Kraft hat, allen Völkern, die sich ihm anvertrauen, ihre Eigenart zu lassen, die sie mitbringen, ihre Persönlichkeit zu schonen, die sie darbieten, ihre Geschichte aufzunehmen, die sie nicht abgeben wollen, ja mehr noch: daß es die Kraft hat, eben diese Eigenart, eben diese Persönlichkeit, eben diese Geschichte, die es von jedem seiner Völker empfängt, nicht bloß zu bewahren, sondern an sich erst zur vollen Entfaltung zu führen, zur Erfüllung, zur Vollendung, so daß schließlich jedes österreichische Volk, wenn es dann einmal von Österreich aus auf seine vorösterreichische Geschichte zurückblickt, aufatmend eingestehen muß, doch in Österreich, an Österreich, durch Österreich erst sich selber gefunden und seines eigenen Wesens tiefsten Sinn, letztes Ziel erkannt und erreicht zu haben, in Österreich, an Österreich, durch Österreich erst ganz zu sich gekommen zu sein, und noch über sich empor!

So hat auch der Salzburger am eigenen Leibe bald erfahren, daß Österreich Raum für alle seine Völker hat und jedes nach eigenem Sinn gedeihen läßt. Er ist der alten, aus großer Zeit überlieferten Stammesart in der neuen Lebensform treu geblieben, und je tiefer er in Österreich einwuchs, mit Österreich verwuchs, desto kräftiger ist er erst seiner selbst bewußt geworden. Auch heute noch fühlt sich der Salzburger, ganz wie der Tiroler, Oberösterreicher oder Steirer, als ein ureigenes, durch seine besondere Geschichte gezeichnetes, an seinen überlieferten Merkmalen auf den ersten Blick erkennbares Geschöpf, ja sozusagen als ein Unikum, das er bleiben will, das er bleiben soll, ganz wie der Tiroler, der Oberösterreicher, der Steirer und alle die andern Stämme Österreichs auch, jeder an dem ihm zugewiesenen Platz den ihm angewiesenen Dienst verrichtend mit seiner ihm verliehenen Kraft auf die ganz besondere Art, die ihm Gott gegeben hat, auf daß im wetteifernden Ehrgeiz aller dereinst unser gemeinsames Vaterland jene »Harmonie des Vielen in der Einheit« werde, die schon der heilige Augustinus verkündigt hat.


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