Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Österreich

Kaum hat man sich von der Überraschung erholt, daß Österreich, so oft totgesagt, noch lebt, und lebendiger als je, so wird man nun erst recht an ihm irre, denn wenn es jetzt beweist, wie sehr es lebt, warum betrug es sich dann die längste Zeit so tot? Es hat in diesem Krieg eine Kraft gezeigt, die niemand ihm zugetraut hätte, wo war sie sonst, warum macht es von ihr keinen Gebrauch im Frieden? Wenn sich Österreich in der Not auf sich besinnt, hat es Kraft, aber, kaum gerettet, hat es immer die Schwäche, daß es gleich wieder um keinen Preis Österreich sein will.

Im Dezember 1862 sagte Bismarck dem Grafen Karolyi: »Ihr tätet gut, euren Schwerpunkt nach Ofen zu verlegen.« Österreich war empört über die Frechheit. Wahrheiten, zur Unzeit ausgesprochen, wirken als schlechte Witze (siehe Bernard Shaw). Bismarck hätte sich aber auf den Turnvater Jahn berufen können, der schon 1810 Österreich riet, der Donau zu folgen, weil es »nur der westliche Teil eines großen Ostreichs« sei, dessen Hauptstadt »nur Belgrad oder Semlin sein kann«. Bismarck verstand Österreich besser, als es sich damals selbst verstand, wie Friedrich der Große Österreich besser verstand als Kaiser Joseph. Als Friedrich der Große den Kaiser Joseph verhinderte, Bayern österreichisch zu machen, hatte Friedrich recht, nicht Joseph, recht im höchsten Sinne, recht nicht etwa bloß für Preußen, sondern auch für Österreich, das entstanden ist mit dem Gesicht nach Südosten und das, um nach Nordwesten zu blicken, sich selber erst den Rücken kehren muß. Bismarck hat es wieder in die richtige Stellung gebracht, aus der Verrenkung seines vermeintlichen deutschen Berufes. Bismarck hat 1866 Österreich richtiggestellt, aber freilich nicht, damit es stehen bleibe, sondern damit es wieder richtig gehe, nach Südosten. Die »Herbstzeitlosen« aber, wie er unsre verzagt kleinösterreichischen Liberalen unmutig schalt, ließen es einfach stehen. Und es ist sehr merkwürdig, daß Österreich ja keine Konservativen hat. Konservativ ist, wer eines Reiches ersten Trieb erkennt, den Dämon, der es gezeugt hat, den Stern, der zu seiner Geburt stand. Wodurch ein Reich geworden ist, nur das erhält es auch. »So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,« das gilt, wie den einzelnen, auch Reichen. Das »Gesetz, wonach du angetreten«, beherrscht auch sie; es war nämlich doch ein Irrtum unsrer Liberalen, daß ein Reich in Pension gehen kann. Nach Südosten ist Österreich angetreten, und sein Gesetz bleibt diese Bewegung. »So muß es sein«, in seiner Bewegung ist Österreich. Denn Österreich ist der deutsche Drang ins Morgenland. Ein Österreich, das zu drängen aufhört, ist kein Österreich mehr. So wenig als eines, das stromaufwärts strömte. Zu drängen, deutsch zu drängen, aber seinem Strom nach, das ist Österreichs Gesetz. Österreich hat es immer nur auf dem Wege nach seinem zweiten Meer gegeben. » Wir müezen varn nidere,« wir müssen abwärts, Österreich bleibt eine Nibelungenfahrt.

Mit Bismarck starb der letzte Deutsche, der Österreich kannte. Seitdem sind wir für die Brüder allenfalls ein Vergnügungsetablissement. Auch bezieht man Komödianten, Schneider und Weiber von uns; darin gelten wir ja für begabt. Ob ein Reich davon leben kann, Komödianten, Schneider und Weiber zu liefern und, wenn wider Erwarten doch noch einmal ein deutscher Krieg kommen sollte, auch Soldaten, darum hat Deutschland nie gefragt. Es hat ja auch um Italien nie gefragt. Wenn wir nur der österreichischen Waffen sicher sind, hieß es, die innern Verhältnisse kümmern uns nichts. Ein Irrtum, den freilich auch Österreich selbst an sich beging. Auch Österreich selbst hat sich um seine innern Verhältnisse nicht gekümmert, sobald es nur wieder seiner Waffen sicher war. Erst dieser Krieg hat uns belehrt, daß auch die Waffen nur eine Äußerung der innern Verhältnisse sind: ein Heer ist so stark, als sein Land gesund ist. Wir müssen also doch gesünder sein, als man in Europa von uns dachte, ja als wir selber wußten. So sind wir nun erst recht ein Problem geworden. Und mancher brave Deutsche nimmt sich deshalb jetzt vor, doch nächstens einmal nach Wien zu fahren. Denn das ist eine beliebte Verwechslung, Österreich sei Wien.

Wer Wien kennt, weiß damit von Österreich noch gar nichts. Von Wien aus kann Österreich nicht verstanden werden. Wer Österreich von Wien aus erblickt, sieht es falsch. Paris oder London mögen das Wesen Frankreichs oder Englands verstehen lehren, denn diese beiden Städte epitomieren ihr Land, das freilich in solcher Verkürzung, Verschneidung, Verrenkung auch oft wunderlich genug aussieht. Aber Wien ist kein Auszug, kein Abriß Österreichs, will und soll gar keiner sein, war es nie und ist, seit es sich auf sich selbst besann, bewußt das Gegenteil geworden: kein Auszug oder Abriß Österreichs, auch kein Portal oder doch ein blindes, ohne Eingang, sondern die repräsentative Schauwand Österreichs.

Österreich war zunächst ein weitläufiges Anwesen von eroberten, erheirateten oder erhandelten Grundstücken, die demselben Herrn zu steuern, sonst aber nichts gemein hatten. Österreich wuchs wild auf, Stück um Stück, lauter Einzelbauten, ohne Plan. Es entstand, wie Burgen entstehen. Burgen entstehen unmittelbar aus dem Bedürfnis, Stück um Stück, jedes durch ein andres Bedürfnis. Jedes Stück hat seinen eigenen Zweck, dem dient es, den erfüllt es, weiter soll es nichts, weiter will es nichts, weiter denkt es nichts. Ein Haus für die Herrschaft und für das Gesinde, später auch für Gastlichkeit und Festlichkeit, daneben ein Stall, daneben ein Speicher, Türme zum Ausblick, Mauern zur Abwehr, lauter Einzelbauten, einer neben dem andern, jeder, wie man ihn gerade braucht, jeder für sich allein, das Haus nichts als Haus, der Stall nichts als Stall, der Turm nichts als Turm, keines kümmert sich um das andre, das sich schon um sich selber kümmern wird, und nichts haben sie gemein als den Herrn, so lange, bis zuweilen der Burg auf einmal einfällt, barock zu werden, bis die Burg zum Palast wird. Wir haben bei uns die schönsten Beispiele davon. Wann wird eine Burg zum Palast? Wenn ihr Herr ihr den Herrn zeigen will. Was nötigt ihn dazu? Ein hoher Wille, seiner Kraft bewußt, der es nun nicht mehr genügt zu wirken, sondern die sich auch sehen lassen will, auch erscheinen will. Ist sie stark genug, so reißt sie das Alte Stück um Stück alles ein und baut es Stück für Stück neu wieder auf; der Sinn des Herrn fährt jetzt in jedes Stück, das jetzt nicht mehr bloß dem Herrn zu dienen, sondern auch noch den Herrn zu verkündigen hat, es soll nicht mehr bloß Haus oder Stall oder Turm, es soll jetzt dazu noch auch und vor allem ein Zeichen seines Herrn sein. Dazu reicht freilich die Kraft nicht immer. Selten wird die Burg niedergemacht, meistens wird sie bloß umgebaut und das Schloß läßt im Innern heute noch alle die Stück um Stück allmählich aus den Bedürfnissen aufgewachsenen alten Einzelbauten erkennen, vor die nur der Stolz des Herrn dann eine glänzende Fassade gelegt hat. Diese Fassade des Barocks hat sein bester Kenner, Alois Riegl, die »repräsentative Schauwand« genannt; das Wort trifft ihr schillerndes, vieldeutiges, entgleitendes Wesen. Eine Wand: sie verbirgt also. Doch eine Schauwand: also fürs Auge, wie Schauspiel ein Spiel nicht um das Spiel und nicht für den Spieler, sondern nach außen, auf Wirkung, zum Schein. Und repräsentativ, was nun gar ein tückisches Wort ist, denn heißt etwas, zugleich aber auch sein Gegenteil. Ich repräsentiere gut, das kann heißen, daß ich, was ich bin, nicht bloß bin, sondern auch zu zeigen weiß; es kann aber auch heißen, daß ich, was ich gar nicht bin, zu scheinen weiß. Und wie man es immer übersetzen mag, es behält diesen tückischen Zug. Wenn ich sage, daß jemand die deutsche Dichtung unsrer Zeit »vertritt«, so bleibt ungewiß, ob ich meine, daß er der Dichter ist, der alle deutschen Dichter ersetzen kann, oder aber meine, daß er sich nur an ihre Stelle setzt, ohne selbst ein Dichter zu sein. Und wenn ich dafür »darstellen« sage, wird's nicht besser. Er weiß sich darzustellen, kann heißen, daß er nicht bloß einen Inhalt hat, sondern auch die Form dazu, doch ebenso, daß er bloß eine Form hat und keinen Inhalt oder doch nicht den, dessen Form er hat. Und das ist aber nicht eine Schwäche dieser Worte, sondern es ist ihre Kraft, so zu gleißen, denn sie drücken etwas aus, zu dessen Wesen es gehört, uns über sein Wesen im unklaren zu lassen. Und gerade so will die barocke Schauwand, daß wir etwas sehen sollen und dabei doch im unklaren bleiben, ob, was wir sehen, selbst vorhanden ist, oder aber vielleicht bloß in unsern eigenen Augen. Es ist ihr Sinn, daß sie nichts sein, sondern bloß etwas bedeuten, zugleich aber doch auch noch auf mehr deuten soll, und wenn sie täuschend wirkt, beruht auch diese Täuschung wieder immerhin auf einer Art von Wahrheit, da ja, wer sich den Schein von etwas gibt, eben dadurch, daß er das vermag, sich dem, was er scheint, schon nähert, wie Schauspielern Leidenschaften, deren Gebärden sie lange genug nachahmen, mit der Zeit zur zweiten Natur werden. Was uns aber zur zweiten Natur werden kann, muß uns das irgendwie nicht schon auch in unsrer ersten Natur gegeben sein? Woher könnten wir es sonst nehmen?

Was wir scheinen können, müssen wir irgendwie schon sein, wenn auch nur im Keime, wenn auch nur potentiell, und so sagt, was wir scheinen, oft vielleicht mehr über uns aus, als was wir bloß sind, und die Schauwand sagt vielleicht wahr, gerade wo sie täuscht. Sie sagt uns nämlich, wie der Bau gesehen werden will, und dieser Wille, so gesehen zu werden, gehört ja schließlich auch zu seinem Wesen. Ein Mensch besteht nicht bloß aus seiner Kraft, sondern auch aus seiner Ohnmacht. Wer nur will, was er kann, belügt uns, er unterschlägt uns vielleicht das Beste von sich: den Teil, der nicht zur Tat wird, das, was in ihm unerlöst bleibt. Was einer scheinen will, gehört auch zu seiner Wahrheit, einer tiefern oft, als die er sein kann. Gerade wo wir empfinden, daß das Barock lügt, ist es vielleicht am aufrichtigsten.

Österreich entstand, wie Burgen entstehen: Stück um Stück, hier ein Bau, dort einer, lauter Einzelbauten, jeder für sich, sein eigner Zweck, seine Form. Dann aber wird Österreich barock, es wird aus der Burg ein Palast. Das Alte niederzumachen und neu vom Grund aus aufzubauen, wie Napoleon Frankreich, mißlingt in Österreich, weil es keinen Napoleon hat, sondern zwei: Ferdinand und Wallenstein, wenn man sie sich in einem Manne vereint denkt, wären fähig gewesen, Österreich aus seiner Idee rein aufzurichten. Das mißlingt, und so wird Wien nicht der Ausdruck Österreichs, sondern seine repräsentative Schauwand. Es sagt nicht Österreich aus, sondern wie Österreich gesehen sein will. Wer Österreich kennt, lernt es dann von Wien aus erst recht verstehen. Wien ist freilich eine optische Täuschung Österreichs, aber eine notwendige: Österreich braucht diesen Schein, bis es einst selbst erscheinen wird.

Österreich ist noch nicht erschienen, es lebt verborgen. Dieser Satz enthält zwei Fragen. Wenn Österreich verborgen lebt, wovon lebt es, und worin verborgen? Es lebt von seinen Gemeinden. Und dieses Leben verbirgt der Staat.

In seinen Gemeinden ist Österreich. Der Fremde, der eine österreichische Gemeinde kennenlernt, staunt, denn in österreichischen Gemeinden fühlt man sich gar nicht in Österreich! Was man sich angewöhnt hat, Österreich zu nennen, was in Europa für österreichisch gilt, die Schlamperei, die Unzuverlässigkeit, die Tyrannei der Unordnung, das alles ist in keiner österreichischen Gemeinde da, nirgends findet es der Gast in den Gemeinden. Dafür findet er in jeder den besten Bürgermeister. Jede österreichische Gemeinde glaubt den besten Bürgermeister zu haben, und wirklich ist es fast überall der beste Mann, über den die Gemeinde zurzeit verfügt. So staunt der Gast wieder, weil ihm auch das ja wieder ganz unösterreichisch scheint, da hier doch immer geklagt wird, daß in Österreich niemand an seinem Platze steht, daß gar der Fähige niemals zu seinem Rechte kommt, daß sich die Begabung überall von der Mittelmäßigkeit verdrängt sieht. Wie stimmt das? Er bemerkt, daß hier nichts stimmt. Schließlich hat er den Eindruck, daß in jeder Gemeinde alles in Ordnung ist, alle diese Ordnungen zusammen aber eine Unordnung geben. Und sein Eindruck ist richtig. Nun will er das aber erklärt haben! Dies ist nicht so leicht, weil der Gast aus Deutschland, der in unsern Gemeinden dieselben Namen hört wie bei sich daheim, meint, sie müßten auch dasselbe bedeuten, und so den wesentlichen Unterschied zwischen der österreichischen Gemeinde und der deutschen verkennt. Wenn wir uns unsrer »autonomen« Gemeinde rühmen, so sagt dem Deutschen das nicht viel, schon weil er unfähig ist, sich vorzustellen, daß etwas gewissermaßen in einem Raume sein kann, zugleich aber auch draußen, was, so sinnlos es klingt, der Sinn der österreichischen Gemeinde ist. Der beste Kenner unsrer Staatsgeheimnisse, Josef Redlich, hat in seiner meisterhaften kleinen Schrift über »Das Wesen der österreichischen Kommunalverfassung« dargestellt, was die Kraft unsrer Gemeinden ausmacht, nämlich daß sie »der Eigenmacht des Staates entrückt«, daß sie »staatsfrei« sind. Die österreichische Gemeinde steht im österreichischen Staatsgebiet, das ist aber auch ihre einzige Beziehung zum Staat. Freilich, die Menschen, die in ihr leben, haben noch andre Beziehungen zum Staate, wie ja diese Menschen auch Beziehungen zur Kirche haben, das aber sind ihre persönlichen Beziehungen, es sind Beziehungen, in die die Gemeinde selbst nicht einbezogen ist. Die österreichische Gemeinde steht auf österreichischem Boden, aber ganz für sich, ihr eignes Leben lebend, sich selbst bestimmend, durch ihren eignen Willen allein gelenkt, souverän. Wenn man sie einen Staat im Staate nennt, ist das schon zuviel für diesen gesagt. Sie ist ein Freistaat im Gebiet eines andern Staates, und dieser hat gar keine Macht über sie, und auch kein Recht, als daß sie anerkennen muß, auf seinem Gebiete zu sein, ohne daß er ihr aber deshalb auch nur das mindeste zu gebieten hätte. An Lueger, der von Berlinern, die damals nach Wien kamen, angestaunt wurde, als wenn er der Doge von Venedig wäre, ist nur einmal weithin sichtbar geworden, was ein richtiger österreichischer Bürgermeister ist. Jeder österreichische Bürgermeister ist ein solcher Doge, jede österreichische Gemeinde ist eigentlich eine kaiserlich königliche Republik. Unsre Gemeindeverfassung stammt vom Grafen Stadion, der mit einer prachtvollen Intuition Österreichs geboren war, die nur freilich dann durch amtliches Denken abgeschwächt wurde. Stadions »Alleruntertänigster Vertrag des treu gehorsamsten Ministerrates, betreffend die Erlassung eines provisorischen Gemeindegesetzes«, der, von allen Ministern gezeichnet, am 20. März 1849 in der amtlichen »Wiener Zeitung« erschien, beweist, daß Stadion in der »Staatsfreiheit« unsrer Gemeinde die lebendige Kraft Österreichs erkannt hat. Es heißt darin: »Das Ministerium war vor allem von der Überzeugung geleitet, daß der Gemeindeverband ein naturwüchsiger ist und sein muß, daß derselbe überall, wo er durch natürliche oder positive Verhältnisse, gemeinsame Interessen, gemeinsames Leben und Wirken sich entwickelt, gesetzlich anerkannt und in seiner Existenz gewährleistet werden müsse. Die Gemeinde, die Ortsgemeinde, wie sie faktisch besteht, hat eben durch ihren Bestand ein begründetes gutes Recht, ihre individuelle Existenz anzusprechen; sie ist eine moralische Person, welche die Anerkennung und Gewährleistung ihres Fortbestandes zu fordern berechtigt ist; es wäre eine Verletzung des obersten Rechtsprinzips, wie des obersten Grundsatzes der Freiheit, sie zu zwingen, sich dieser ihrer individuellen Existenz zu entäußern … Allerdings besteht noch ein Gemeindeverband höherer Ordnung, der Verband der durch historische Grenzen gesonderten Länder; auch diesem, wie dem jeder andern Gemeinde muß die volle Anerkennung werden; doch ist dies nicht mehr Gegenstand des Gemeindegesetzes, sondern einer der wichtigsten Teile des Verfassungswerkes.« Aus diesen Sätzen versteht man erst, was der Kollege Stadions, Alexander Bach, gemeint hat, als er einmal von einem Österreich sprach, dessen Grund die Gemeinde sein würde, die Spitze aber der Kaiser »als der oberste Bürgermeister aller Bürgermeister«. Nur ist dieses Verfassungswerk, das den »naturwüchsigen« Gemeindeverband »naturwüchsig« an die Länder binden sollte, bis über diesen wieder, immer höher, noch ein drittes Wesen derselben Art, ebenso »naturwüchsig« und von derselben Freiheit, aber höchster Ordnung: der Staat entstanden wäre, nur ist dieses »Verfassungswerk« eines organischen Österreichs bis auf den heutigen Tag unverfaßt geblieben. Jene provisorische Gemeindeordnung ist längst nicht mehr provisorisch, sie war eine Zeit eingestellt, ist aber 1862 erneut worden, im Wesen unverändert, nur fehlt ihr die notwendige Fortsetzung nach oben, es fehlt ihr der natürliche Schluß, es fehlt ihr das Ziel, der Staat nämlich, auf den die Gemeinde zielt, selbst von ihm frei. Stadion hat in seiner Gemeinde den Grund zu einem wirklichen Österreich gelegt, aber auf diesem Grund ist nichts gebaut worden. Der Grund für Österreich ist da, doch steht nichts darauf. Österreich ist daneben erbaut worden, nicht auf diesem Grund, sondern auf keinem.

Der Entwurf Stadions ist das Muster eines Gesetzes: er bringt eine Wirklichkeit in Form. Wäre dies von unten bis oben geschehen, so hätten wir ein natürliches Österreich und könnten leben. Aber dieser Mut zur Anerkennung der Wirklichkeit wagt sich nicht über die Gemeinde hinaus. Er macht nur noch einen schüchternen Versuch mit den Ländern, und kein Mensch kann eigentlich sagen, ob dieser Versuch gelungen oder mißlungen ist, denn kein Mensch in Österreich weiß, wie es sich von Rechts wegen mit den »Ländern« verhält. Gibt es noch ein Königreich Böhmen, ein Erzherzogtum ob der Enns, eine gefürstete Grafschaft Tirol, oder heißen sie bloß so? Wenn es ein Königreich Böhmen gibt, muß es, sollte man denken, einen böhmischen König geben. Gibt es einen? Natürlich gibt es einen: den Kaiser. Der Kaiser ist König von Böhmen, wie er König von Ungarn ist. Wirklich? Genau so? Nein, so nicht. Er ist anders König von Böhmen, als er König von Ungarn ist, sonst hätten wir keinen Dualismus mehr, sondern schon einen Trialismus, und das würden sich die Ungarn verbitten. Der Ungar spricht von seinem König, in Böhmen spricht man vom Kaiser, und niemand spricht in Oberösterreich von seinem Erzherzog, kein Tiroler von seinem gefürsteten Grafen, man würde gar nicht verstehen, was er meint. Ist also Böhmen ein Königreich ohne König? Nein, es hat doch einen König, den Kaiser, der nur aber eigentlich keinen Gebrauch davon macht. Oder soll man sagen, daß es keinen Gebrauch von ihm macht, jedenfalls nicht den, den Ungarn von seinem König macht? Oder muß man richtiger sagen, daß er es nicht diesen Gebrauch von sich machen läßt? Und man kommt immer tiefer ins Fragen. Ist der Statthalter in Prag an Kaisers Statt oder des Königs? Er wird wohl eher der Statthalter des Kaisers sein, doch ist auch das nicht ganz gewiß. Wo findet sich also der König von Böhmen? Unter den Titeln des Kaisers von Österreich. Und Böhmen wäre so nur noch dem Titel nach ein Königreich? Es hieße nur noch ein Königreich? Nein, es ist eines, und von höchster Gegenwart, das Königreich Böhmen lebt, es lebt nicht bloß in jedem Böhmen, es lebt in jedem Österreicher noch, jedes Herz, das österreichisch schlägt, fühlt, daß Böhmen mehr als irgendeine Provinz Österreichs, mehr als ein bloßes Departement Österreichs, mehr als ein geographischer oder verwaltungstechnischer Behelf, daß es das lebendige Königreich Böhmen ist. Und wenn ihm der Titel längst aberkannt wäre, es bliebe doch ein Königreich, solange noch ein böhmischer Pflug über einen böhmischen Acker geht. Das Königreich Böhmen ist eine Wirklichkeit, und ein jedes unsrer »Länder« ist eine Wirklichkeit. Sie sind da, noch immer, aber daß sie da sind, wird ihnen so verdacht, daß sie schon selbst allmählich nur noch mit schlechtem Gewissen da sind; denn es soll unkenntlich gemacht werden. Wer verdenkt es ihnen? Wer ist es, der ihre Wirklichkeit unkenntlich machen will? Der Staat. Hier taucht nämlich auf einmal der Staat auf. In der Gemeinde läßt er sich nirgends blicken, erst den »Ländern« erscheint er. Woher auf einmal? Und was soll er da? Das weiß man nicht recht. Denn mit dem, was heute bei uns Staat heißt, ist Österreich ja ganz im geheimen niedergekommen. Den großen Zeiten Österreichs war es unbekannt. Das Wort wurde damals nur im Plural gebraucht. Die k. k. Staaten sagte man unter Kaiser Franz, und das war nur ein feierlicher Name für die »Länder«. Der Singular entstand in den Kanzleien, man riecht es ihm noch an. Und er traute sich selbst so wenig zu, daß er sich vor allem zunächst um ein Hilfswort umsah; er wagte sich nur in einer Zusammensetzung hervor, nämlich als »Staatsgedanke«. In England oder in Frankreich ist niemals vom englischen oder französischen »Staatsgedanken«, nur in Österreich ist fortwährend vom »Staatsgedanken« die Rede, weil, was hier Staat heißt, in der Tat weder eine Wirklichkeit ist, noch eine Idee, sondern ein bloßer Gedanke, von Beamten erdacht. Aber der Beamte glaubt ja, daß der Buchstabe lebendig macht. Geschriebenes nennt er einen Akt, von agere, tun, handeln. Wenn er schreibt, meint der Beamte zu handeln. Geschriebenes ist ihm eine Tat, und so schien ihm Österreich erschaffen, sobald es auf dem Papier im reinen war. »Was schaffen Sie?« sagt der Österreicher, wenn er fragen will: »Was befehlen Sie, was wünschen Sie?« Der Befehl genügt und es ist geschehen, der bloße Wunsch schon »schafft«. Ein Dekret, ein Erlaß, und der Beamte zweifelte nicht, daß der Staat da war. Daß der Beamte sich irrte, daß aus der Kanzlei kein Österreich entstand, wie keines aus den Gemeinden entstand, daß alle beide stecken blieben, das ist unser Problem. Wäre der ungewachsene, ungeschichtliche, unwirkliche, erfundene, von Amts wegen erlassene »Staat« jemals durchgesetzt worden, so hätten wir ein unnatürliches Österreich und könnten sterben. Unser Problem aber ist, daß wir beides haben, sowohl ein natürliches Österreich, wenn auch nicht gern gesehen, doch schließlich halb geduldet, in den Gemeinden, ja sogar noch in den Königreichen und Ländern, wie ein unnatürliches Österreich an diesem freilich wesenlosen, aber dennoch wirkenden Staat, und zwar nicht etwa das eine neben dem andern, sondern eins im andern, eins durchs andre, so daß wir im Grunde keins haben und also weder leben noch sterben können. Eine höchst lebendige Wirklichkeit wurde mit einem logischen Absud amalgamiert, ein Gewächs mit einem Gedanken verkocht. Was daraus entstand, ist sonderbar. Noch sonderbarer aber, daß überhaupt etwas daraus entstand. Begreift man schon kaum, daß eine Wirklichkeit von einer Ohnmacht überwältigt werden kann, so begreift man gar nicht mehr, daß die Wirklichkeit von der Schwäche schwanger wird. Daß eine Fiktion wie dieser liberale »Gesamtstaat« einem Geschöpfe Gottes angetan werden konnte und dieser Kanzleibehelf aber dann wie durch irgendeine geheimnisvolle Transfusion auch noch das rote Blut seines Opfers aufsog, das hat etwas von einer grauenhaft phantastisch unzüchtigen Vision: Brünhilde mit einem Homunkulus als Siegfried!

Der Vater des Gesamtstaates ist der Hofrat. Der Hofrat entstand daraus, daß wir keine Junker haben. Weil der Gutsherr unfähig war, Herr auf seinem Gut zu sein, übernahm das ein Diener für ihn. Der österreichische Hofrat dient zunächst der Herrschaft und bedient sich dieses Dienstes dann, um schließlich auch sie selbst sich untertan zu machen. Gliedmaßen der Herrschaft sind die Kollegien, die Gremien anfangs: Hände, die hantieren, Füße, die laufen sollen, auf Befehl des Kopfes, aber auf einmal werden sie selbst zum Kopf, auf einmal ist es das Gremium, das befiehlt, die Verwaltung wird »kollegial«, das heißt: die Hofräte, die Schreiber verfügen jetzt, während der adlige Herr, der Präsident, nur noch unterschreibt, was die Schreiber verfügen, die Hand ist zum Kopf, der Kopf zur Hand geworden, was freilich nicht möglich gewesen wäre, hätte die Hand nicht von Anfang an mehr Kopf gehabt als der Kopf.

Der Gutsherr hat einen Kutscher, die Gutsherrin hat eine Köchin, der Kutscher und die Köchin heiraten, ihr Bub soll beileibe kein Bauer werden, sie schämen sich ja des Volkes, sie verleugnen es, also wird so lange gebettelt, bis der Bub studieren darf: so kommt, historisch, der Hofrat zustande. Schon die Eltern sind Unwesen: das Volk, aus dem sie stammen, verleugnen sie, die Herrschaft, der sie dienen, verachten sie und dünken sich besser als beide. Das ist ihre Hauptbeschäftigung: sie dünken sich. Denn sie sind ja nichts: was sie waren, wollen sie nicht mehr sein, und was sie gern wären, werden sie nie, so sind sie nichts. Sie sind nichts und sie haben nichts, das geben sie dem Buben mit. Er wird Jurist: in ein leeres Gefäß kommt das römische Recht. Er wird ein Behälter von Begriffen. Aus Begriffen besteht er, von Begriffen lebt er, darunter aber grollt noch das alte Bauernblut mit dem angestammten dumpfen Haß gegen die Herren, aber ein träg und feig gewordenes, ein schleichendes Blut; schon in den Eltern war der Bauernzorn zur Bedientenlist geronnen, an der nun gar der Bub in den Entbehrungen eines Bettelstudenten würgt. Hat er sich durchgehungert, so tritt er bei einem Amt in Dienst, wie sein Vater einst beim Grafen in Dienst trat. Und er steht zu seinem Amt innerlich genau so, wie sein Vater zum Grafen stand, wie der Bediente zum Herrn steht. Diener und Bedienter ist nicht dasselbe. Friedrich der Große nannte sich den ersten Diener des Staates, er hätte sich nicht den ersten Bedienten des Staates genannt. Das ist der Unterschied zwischen Friedrich dem Großen und dem österreichischen Hofrat. Der Hofrat bedient einen unfähigen Herrn, den zu beherrschen, ohne sich das merken zu lassen, er für sein Amt ansieht. Und wie der einzelne Hofrat zu seinem adligen Herrn steht, dem Hofkanzler oder Hofkammerpräsidenten, so stehen alle Hofräte zusammen zur Wirklichkeit, und wenn dieses Verhältnis nun Gelegenheit hat, produktiv zu werden, wenn in einem Augenblick der Verwirrung die Wirklichkeit den Hofräten ausgeliefert wird, wenn der Hofrat an ihr seinen verhaltenen Bedienteningrimm endlich löschen kann, so entsteht, was auf österreichisch Zentralismus heißt: ein Racheakt eines wütenden Rationalisten an der unlogischen Wirklichkeit, ein Duell einer Fiktion mit dem Leben, der Triumph einer Formel über das Wesen.

Der Zentralismus hat seinen großen Augenblick in Alexander Bach gehabt, einem der österreichischesten Menschen, der zum Hofrat geboren war, Advokat wurde und sich 1848 Minister sah, aufgetrieben von der Revolution, ausgebrütet von der Reaktion. Er fand eine formlose Wirklichkeit vor. Sie war der alten, der theresianischen, unter Josef zerschossenen, unter Franz wieder zugeheilten Form entwachsen, die Form wuchs nicht mehr mit, erstarrte, riß, und 1848 brach das neue Leben an, das aber nun gleich einen Selbstmord begeht, indem es dogmatisch wird, Doktrinen zu formen versucht, statt sich selbst, und so der alten formlosen Wirklichkeit erliegt, die noch immer stärker als diese unwirkliche Form ist. Nun liegt das Land gleichsam in seinem Rohzustande da. Es hätte so liegenbleiben können, es wäre, sich selbst überlassen, mit der Zeit schon wieder zu sich gekommen. Jenes Gemeindegesetz des Grafen Stadion war so ein Versuch, der guten Natur Österreichs zu vertrauen, die sich, zur Ruhe gebracht und entfiebert, schon selber helfen würde. Stadion hatte, was an unsern Staatsmännern so selten ist, einen Instinkt für Österreich, der sich nur freilich durch Ungeduld verleiten ließ, dort, wo er nicht weiter konnte, mit Reflexion weiter zu wollen, während es das Geheimnis aller wahren Politik ist, wenn sie merkt, daß der Instinkt nicht weiter kann, auch nicht weiter zu wollen, sondern das als eine Warnung zu nehmen, daß sie nicht weiter soll. Stadion ließ sich nicht warnen, sondern übergab sich der Reflexion, er übergab sich Bach. Mit Bach beginnt in Österreich der Aufmarsch von Politikern, die für alles eine Formel finden. Die Macht Metternichs bestand darin, daß er eine Idee von Österreich hatte. Gerade diese, bei uns gebräuchliche Wendung, eine Idee von etwas haben, was also heißt, daß man nicht die Sache selbst hat, aber auch nicht ihre Idee, die sie zeugende Idee, sondern nur eine Idee davon, allenfalls eine sie bezeugende Idee, gerade diese Wendung trifft auf Metternich zu, bestimmt genau seine Kraft und zieht ihre Grenzen. Er hatte eine Idee von Österreich, er hatte nicht Österreich, nicht die Idee Österreichs, aber etwas davon, ein Spiegelbild, und ein sehr glänzendes, ein höchst lebendiges, so lebendig, als nur ein Spiegelbild überhaupt sein kann. Dieses Spiegelbild wollte Metternich fixieren, und daß es, fixiert, schon nicht mehr Österreich glich und mit der Zeit immer weniger dem sich ja bewegenden Österreich glich, merkte Metternich nicht, was um so seltsamer ist, da sich Österreich, das wirkliche, doch um ihn bewegte, gerade durch Männer seines Vertrauens, durch die Männer der österreichischen Romantik. Die österreichische Romantik war ein Erwachen der Idee Österreichs. Ihr ganzer Kreis wird von dem Geheimnis Österreichs erfüllt. Gar in ihrer höchsten Gestalt, dem Redemptoristen Klemens Maria Hofbauer (den Zacharias Werner mit Napoleon und Goethe verglichen hat) ist wirklich ganz Österreich zusammengefaßt. Es waren Männer, die die Gegenwart nicht bloß sahen, sondern sie schauten; ja sie durchschauten sie, bis ins Herz, bis in das Gesetz alles österreichischen Lebens hinein. Dies ließ sie zugleich die Vergangenheit Österreichs gewahr, wie der Zukunft Österreichs gewiß werden; denn alle Gegenwart enthält im Grunde beides, die Vergangenheit bleibt noch, die Zukunft wird schon in ihr. Aus der einen in die andere schaltet der Augenblick um und darum merkt gerade der Augenblick von beiden nichts. Aber noch unter Metternich drängen sich Männer des Augenblicks vor, und als er fällt, beginnt ein Österreich, dessen Hauptwort »provisorisch« wird. Wer im Augenblick den besten Einfall hat, dem gehört es. Diese Begabung, immer einen rettenden Einfall zu haben, von dem uns morgen schon wieder ein andrer retten wird, die Begabung, durchzukommen, sich nur durchzubringen um jeden Preis, eine Begabung der Gleichgültigkeit für alles, was war, und für alles, was daraus wird, der Gedächtnislosigkeit und der Gewissenlosigkeit, die Begabung, immer recht zu haben, unter dem Verzicht, jemals recht zu behalten, die Begabung des »Fortwurstelns« ist in Bach fast bis zur Genialität gesteigert gewesen. In jedem Augenblick der Revolution und in jedem Augenblick der Reaktion blieb er der Mann des Augenblicks. Es ist eine staunenswerte Leistung, daß er, aus einem Revolutionär zum Reaktionär geworden, auch das alte Österreich, das auferstanden schien, wieder unterschlug, durch einen Einfall, durch den ihn rettenden Einfall, es, wenn er es schon nicht an die Luft setzen konnte, in die Luft zu setzen, in die Luft eines bloßen Gedankens, jener »Staatseinheit«, die nichts als ein bürokratisches Bedürfnis ist. Bachs Österreich war eine Antwort auf die Frage nach dem Staat, der am bequemsten zu regieren wäre; diesen hat er erfunden. Vom Adel ebenso gehaßt wie vom Bürgertum, war er dennoch ihr Mann, er war nämlich der Mann ihrer Furcht vor der Wirklichkeit: der Adel hatte Furcht vor der drohenden neuen Wirklichkeit, das Bürgertum vor der wiederkehrenden alten, und Bachs Erfindung war, alle Wirklichkeit, alle, durch eine Fiktion zu bannen. Er hat sein »System« (und mit welcher Ehrfurcht sprach der Österreicher dies Wort aus!) dem Herzog Ernst von Koburg damit begründet, daß »noch kein fertiger Staat vorliegt«. Und er meinte wirklich, seinen Staat »fertig vorlegen« zu können, was doch nur ein Jakobiner meinen kann. Und daß es ihm aber auch gelang, daß seine Fiktion von einer Kraft war, welcher sich die Wirklichkeit noch bis zum heutigen Tage nicht ganz erwehrt hat, das ist das Rätsel, wie dieser ganze Mensch ein Rätsel ist, der auf den ersten Blick so klar und einfach und durchsichtig scheint, aber je näher man ihm kommt, desto dichter und fragwürdiger und vielfältiger wird. (Man merkt, daß ich verliebt in ihn bin, aber voll Haß). Ein Advokat, ein Rationalist, und von der gefährlichen Art: mit der Neigung zur Diktatur, ein fanatischer Logiker, dies alles war er, aber er war noch mehr. Der richtige Rationalist, reinstes achtzehntes Jahrhundert, ja, aber mit verborgenen Falltüren, mit unterirdischen Gängen, mit einem mystischen Abgrund. Nämlich: ein geborener Advokat, aber dem noch der Bauer im Nacken sitzt. Er stammte von Bauern, und solche zur Stadt gebrachte Bauern werden in der zweiten Generation meistens Menschen in zwei Etagen. Ihr bäurisches Mißtrauen bewahrt sie davor, die Stadt in sich einzulassen. Sie nehmen die Stadt nicht auf, sondern legen für sie gleichsam über sich noch einen zweiten Stock an. Unten bleiben sie Natur, oben bringen sie die »Bildung« unter. Der Verkehr mit der Welt geschieht oben, unten leben sie. Jedes Stockwerk hat seinen eignen Zugang. Mit solchen Menschen kann man jahrelang bekannt sein, ohne sie zu kennen, bis eine Tat, deren man sie niemals für fähig gehalten hätte, verrät, was sie sind. Man tut ihnen unrecht, wenn man sie Heuchler nennt; sie heucheln nicht, nur kennen wir sie bloß von oben, sie handeln aber von unten. Und den untern Stock können wir schon deswegen nicht kennen, weil er sprachlos ist; das Wort hat immer nur der zweite Stock. Bach war ein Meister des Wortes, das nur aber stets verschwieg, was er tat. Er muß in sich irgendwo gewissermaßen ein taubstummes Gebiet gehabt haben, das nicht hören konnte, was er dachte, noch aussprechen konnte, was es wollte. Und aus diesem Gebiete hat er gehandelt, mit der Sicherheit eines Nachtwandlers. Ein Rationalist, reinstes achtzehntes Jahrhundert, ja, aber mit Mondsucht. Der Fall ist in Österreich gar nicht so selten. Und aus diesem mondsüchtigen Logiker versteht man auch die Kraft des von ihm erfundenen Staates erst. Wie nämlich solche Menschen im Grunde Natur bleiben und nur darauf dann einfach ein Stockwerk von »Bildung« aufsetzen, so war Österreich, das wirkliche, das tiefe, feste, taubstumme Bauernösterreich, stark genug, Bachs Gedankenwisch von einem Staat zu tragen, der ja stets bloß ein bürokratisches Regulativ blieb, freilich mit einem Säbel.

 

Solche Menschen, deren Wesen stumm bleibt, deren Wort also nichts zu sagen hat, müssen einer Zeit unwahrscheinlich vorkommen, die das Wort so sehr überschätzt, daß ihr, was nicht ausgesprochen wird, nichts gilt. Unsre Zeit geht darin so weit, daß sie, was nicht zu Worte kommt, gar nicht bemerkt. Daher auch ihr Unverhältnis zum Mittelalter, dessen Wesen ja niemals das Wort nimmt. Es redet nicht, es bildet. Auch der Dichter des Mittelalters redet nicht, Dante gebraucht das Wort als Stein, während im achtzehnten Jahrhundert, das schon ein redendes Zeitalter wird, sogar der Maler (noch nicht der des Rokoko, aber der klassische, nicht Watteau, aber David) auch die Farben zum Reden gebraucht. Was das Mittelalter kundmachen will, vertraut es dem Baumeister und dem Steinmetzen an. Das deutsche Bürgertum des achtzehnten Jahrhunderts steht im »Wilhelm Meister«, der Adel des Mittelalters im Naumburger Dom. Beide hatten dasselbe Bedürfnis, sich auszudrücken; nur die Mittel sind verschieden. Darum kann sich auch die Renaissance mit dem Mittelalter nicht mehr verständigen: sie fragt mit Worten, es antwortet in Steinen. Die deutsche klassische Literatur scheint ein tiefes Schweigen zu brechen, ihre Zeit hat ja nur noch Ohren für das Wort und ist taub für die Verkündigungen Schlüters, Pöppelmanns, Bährs. Damit beginnt ein bald nur noch redendes Zeitalter, in dem nichts mehr zum Vorschein kommt als in Worten, bis zuletzt sogar die Musik reden muß, wenn sie gehört sein will, ja, bis auch die Tat nicht mehr genügt, wenn ihr das Wort fehlt. (Ein Beispiel ist Bismarck, der, in all seiner unmittelbaren Naturgewalt und so weithin sichtbar ihn auch das Schicksal stellt, dennoch unerkannt bleibt, selbst nachdem seine Tat schon getan, sein Werk schon vollbracht ist, so lange bis ihn die Nation schwarz auf weiß bekommt: aus den Frankfurter Schriften, seinen Briefen, seinen Gesprächen wird er ihr erst lebendig. Ein andres Beispiel ist Wagner, der seinem Werke, dieser ungeheuren Wirklichkeit, überhaupt die Möglichkeit erst hat erreden müssen. Wie denn dieses Zeitalter immer mehr vom Künstler verlangt, noch dazu gleich auch selbst der Advokat seiner Kunst zu sein, und selbst den Maler nicht mehr um sein Bild fragt, sondern um das Programm. Denn eine Zeit, in der alles auf den Markt muß, beherrscht der Marktschreier.)

Ein Zeitalter ist ein bildendes oder ein redendes, je nachdem es sich mit den Erscheinungen abzufinden sucht: der Bildner metaphorisch, der Redner buchstäblich. Beide wissen, daß es dem Menschen unmöglich ist, auf den Grund der Erscheinungen zu kommen, aber jeder will sich nun anders helfen. Das Erscheinende selbst bleibt uns unbekannt, das die Erscheinung Bewirkende das Agens. Aber das Unbekannte, das in einer Erscheinung steckt, ihr Kern oder Korn, ihr Agens ist ja nicht bloß dieser einen Erscheinung fähig, sondern einer ganzen Reihe von Erscheinungen. Der Bildner sieht jeder Erscheinung die Reihe, zu der sie gehört, den ganzen Stammbaum an, und indem er die Erscheinung mit einer andern derselben Reihe vertauscht, durch ein Gleichnis aus ihrer Verwandtschaft ersetzt und uns so fühlen läßt, daß die ganze Reihe auf ein Gemeinsames deutet und dasselbe Geheimnis meint, bleibt uns dieses zwar genau so unbekannt wie zuvor, aber die Erscheinung verliert das Drohende, sie bekommt Gesellschaft, und ein Zusammenhang, eine Ordnung, ein Gesetz ist da, wenn auch verborgen. Die Ur-Sachen bleiben uns unzugänglich, aber es freut uns doch, es ist eine Art Trost, Zeugen zu haben, daß Ur-Sachen sind. Der Redner hilft sich gegen den Drang der Erscheinungen anders als der Bildner. Der Redner hilft sich, indem er das Phänomen beseitigt, nämlich durch ein Zeichen: er »merkt« es, wie man einen Strumpf »merkt«, er benennt es, und wenn es uns durch den Namen auch freilich um nichts bekannter wird, so wird es uns dadurch doch geläufig, es wird uns vertraut und wir können damit hantieren. Wenn man einen Strumpf »merkt«, hat man es nicht mehr nötig, sich ihn zu merken; man erkennt ihn wieder, auch ohne ihn zu kennen, und ungefähr auf dasselbe läuft alle Erkenntnis durch Worte hinaus: sie befreit uns von der Welt, indem sie uns dafür ein Vokabular gibt. Die Vokabel sagt mir freilich über das Ding nicht mehr, als daß es dasselbe Ding ist, das mir schon einmal unbekannt geblieben ist; sie lehrt mich das Unbekannte nicht kennen, aber von den andern Unbekannten unterscheiden und die sämtlichen Unbekannten sortieren, worauf es mir ja hauptsächlich ankommt, weil dies mir das Gefühl nimmt, unter Unbekannten zu sein; es ist wie in der Mathematik: zwar weiß ich schließlich noch immer nichts, aber ich kann damit rechnen. Auch wer in Metaphern denkt, erkennt dadurch nichts, doch bleibt ihm, dem Bildner, doch immer noch bewußt, daß jede Erscheinung ein Geheimnis ist. Aber wer in Worten denkt, wird das Geheimnis der Erscheinungen los. Und der Markt, auf den in unsrer Zeit alles muß, kann kein Geheimnis brauchen. Unsre ganze »Bildung« ist ein gelungener Versuch, alles Geheimnis loszuwerden. Und die Sprache macht sich dann noch den Spaß, »Bildung« zu nennen, was im Grunde nichts als ein völliges »Entbilden« der Schöpfung ist.

Mit dem Bürgertum tritt überall ein redendes Zeitalter ein. Das Bürgertum kann wirtschaftlich nur Waren brauchen, geistig nur Worte. Wie Deutschland bürgerlich wird, wird es literarisch. Wilhelm Pinder (in der Einleitung zu seinem »Deutschen Barock«) hat zuerst darauf hingewiesen, daß die klassische deutsche Dichtung nicht vom Himmel gefallen ist, sie spricht nur aus, was bisher bloß Bild war: sie übersetzt das deutsche Barock aus dem Stein ins Wort. Der Stein nimmt in ihr das Wort, mit einer hinreißenden Kraft, von der auch Österreich mitgerissen wird, das doch damals noch gar nicht so weit, das längst noch nicht für ein redendes Zeitalter reif ist: wir bekommen die Worte des Bürgertums, bevor wir noch genug Bürgertum dazu haben. Die Folge davon ist, daß, als später dann auch unsre Entwicklung so weit wäre, das Wort zu nehmen, sich auszusprechen, literarisch zu werden, sie gar nicht mehr dazu kommt, weil ihr ja das Wort schon weggenommen ist, die Aussprache schon geschehen ist, eine Literatur, die doch jetzt aus dem österreichischen Barock erst entstehen könnte, schon da ist, aber keine österreichische freilich, sondern importiert. Das dürftige Ding, das »Bildung« heißt, diese sauer gewordene Verdünnung der klassischen Dichtung, ein klägliches Surrogat für Religion und Kunst, aber dem Bürgertum, dem diese abhanden gekommen sind, unentbehrlich, hat in Deutschland doch immer noch einen Bodensatz von lebendiger Erinnerung, sie ist nichts, doch merkt man ihr immerhin noch an, was sie war, aber unsre war niemals unser. »Bildung« ist ja schon ihrem ganzen Wesen nach immer aus zweiter Hand, unsre gar aber gleich aus dritter. Unsre »Bildung« ist ausgeborgt, Österreich ist noch gar nicht aus seinem Barock übersetzt worden, es ist noch gar nicht zu seinem Wort gekommen, darum versagt es in diesem redenden Zeitalter, so oft es mitzureden versucht, es hat dann einen falschen Ton, denn es spricht eine fremde Sprache. Das ist unser Elend. Aber daß Österreich in einem redenden Zeitalter notgedrungen so viel von sich verschweigen mußte, nämlich alles, wofür die fremde Sprache seiner entlehnten »Bildung« keinen Ausdruck hat, gerade das also, was es zu sagen hätte, gerade das, was es mit keinem gemein hat, gerade das, was nur von ihm allein gesagt werden könnte, sein ureignes Wesen, daß es gerade davon immer schweigen mußte, gerade von sich selbst, daß es, seit anderthalb Jahrhunderten, sich niemals mehr ausgesprochen hat, wenigstens nicht mehr direkt, sondern nur noch in abhängiger Rede, das ist vielleicht aber auch wieder unser Glück. An diesem stumm gebliebenen, diesem aufgesparten, diesem unerlösten Österreich haben wir unsre Zukunft. Ihm verdanken wir jene Menschen in zwei Etagen.

Deutsche werden leicht ungerecht gegen Österreicher. Sie meinen, daß es uns an innerm Gewicht, an Ernst, an Tiefe fehle. Wir sind ihnen zu geschickt, es wird uns alles zu leicht, unsre geistige Behendigkeit ist ihnen verdächtig. Zeigen wir uns ihnen an Witz, Einfällen und Schlagfertigkeit überlegen, so behaupten sie, daß wir dennoch unfähig sind, ein Gespräch zu führen, sondern bloß Konversation machen. Sie haben recht, folgern aber daraus falsch. Der Deutsche führt ein Gespräch, er führt es aus sich heraus, holt es aus sich herauf, während wir die Sprache sprechen lassen, nicht uns selbst. Wir sprechen gewissermaßen in unsrer Abwesenheit, wir selbst sind in unsern Gesprächen nicht da. Daß wir aber deshalb überhaupt nicht da sind daraus zu schließen, ist doch voreilig von den Deutschen. In einer fremden Sprache spricht man, wie geläufig man sie sprechen mag, doch immer an sich vorbei; das ist auch gerade der Reiz fremder Sprachen, man ruht in ihnen so gut aus, weil man selbst daran unbeteiligt ist und sich auch nicht dafür verantwortlich fühlt. Das ist aber genau das Verhältnis des Österreichers zur »Bildung«. Unsre »Bildung« hat nichts von uns, wir haben nichts an ihr, das Volk mißtraut ihr, sein Instinkt warnt es vor ihr, aber auch der »Gebildete« hängt sie bloß um, er macht keinen eignen Gebrauch von ihr, sich kann er damit nicht ausdrücken. An der Kraft sich auszudrücken fehlt es Österreich nicht. Fischer von Erlach und Lukas von Hildebrandt und Jakob Prandauer haben es ausgedrückt wie Dittersdorf, die beiden Haydn und Mozart. Erst in der »Bildung« ist es unsichtbar und unhörbar geworden. Seitdem versteckt sich der Österreicher vor seiner eignen Natur. Grillparzer ist ein typisches Beispiel dafür, seine grauenhaften Tagebücher enthüllen den wirklichen Grillparzer, sie verraten, vor wem er in die Kunst floh: vor sich selbst. Auch Mozart schon ist auf der Flucht vor sich selbst, nur läßt ihn seine Natur nicht entkommen, sie ist stärker, sie holt ihn immer wieder ein, und dieser Mozart, der ihr nicht entrinnen kann, der tragische, der, von seiner Natur überwältigt, aufschreiende Mozart ist der echte. Grillparzer hat niemals den Aufschrei Mozarts. Mozart ist denn auch an sich gestorben, während Grillparzer sich noch jahrelang überlebt hat. Und noch Mahler wird immer der ganze Mahler erst, wenn plötzlich der böhmische Musikant in ihm aufschreit; da hat er sich wieder, das ist seine Mundart. In der »Bildung« ist der Österreicher so verstummt, daß er erst in der Mundart die Sprache wiederfindet. Wenn ein gebildeter Österreicher sich einmal aussprechen will, sich selbst, in einer wahren Not oder in einem tiefen Glück, kann er das immer nur in der Mundart. Es hat noch kein Österreicher gesagt: Ich liebe dich. Er sagt: Ich hab dich lieb. Sonst glaubte man es ihm auch nicht. An Kainz war nichts so seltsam, als wenn er, der oft tagelang das reinste Hochdeutsch sprach, einmal etwas auf dem Herzen hatte: gleich sprach er das ärgste Wienerisch. Und es ist kein Zufall, daß die beiden größten Dichter Österreichs seit dem Import der »Bildung«, Raimund und Stelzhamer, Dialektdichter waren, wie Schubert, Bruckner und Smetana Dialektmusiker sind. An der »Bildung« sind wir erkrankt, am Dialekt genesen wir wieder. Das gilt von jedem einzelnen Österreicher ebenso wie von Österreich selbst.

»Bildung« war jenes Österreich des Doktor Alexander Bach, ein über Nacht improvisierter Staat. Aber wie Bach selbst voll Geheimnis war, ein Rationalist, aber mit mystischen Verliesen, hat auch der von ihm ausgedachte Staat irgendeinen unterirdischen Gang zur Wirklichkeit. Österreich hat noch Dialekt, wenn auch im Staat versteckt. Die Gemeinde ist ganz Dialekt. Daher auch das österreichische Gefühl, daß Österreich »nichts geschehen kann«; es ruht auf sicherm Grunde, in der Not zieht es sich in seine Gemeinden zurück. Auch die »Länder« haben Dialekt, freilich schon einen verschämten. Sie sind noch Natur, aber bei getrübtem Bewußtsein. Die Gemeinde ist Natur, nichts als Natur, und bewußt gewordene Natur. Das »Kronland« ist auch Natur, aber die nicht mehr wagt, sich ihrer ganz bewußt zu sein: ein Dunst liegt darauf. Die Gemeinde spricht sich resolut aus, dem »Lande« wird, eben wenn es sich aussprechen will, plötzlich ein Fremdwort suffliert, das es zaghaft nachsagt: dem »Lande« redet plötzlich der Staat drein, in seiner landfremden Sprache. Die Wirklichkeit Österreichs verjüngt sich aus seinen breiten Gemeinden zu den Ländern empor, und wenn sie sich nun noch einmal wieder empor verjüngte, hätten wir einen natürlichen Staat, aber der fehlt, die Wirklichkeit Österreichs bricht auf einmal ab, und an der Spitze wird ihr eine Unwirklichkeit aufgesetzt.

Eine Unwirklichkeit, aber keine Unwahrheit. Der Staat versteckt Österreich bloß, aber er verleugnet es nicht. Auch er ist ja wieder Österreich, aber ein bloß gedachtes, im Gedanken steckengebliebenes Österreich. Und daß in dieses bloß gedachte, im Gedanken steckengebliebene Österreich die Wirklichkeit Österreichs gesteckt worden ist, daran ist ihr zum Ersticken. Österreich hat einmal plötzlich die Geduld mit sich verloren und gewaltsam fertig machen wollen, was nur werden kann, was wachsen muß, was man walten lassen muß (und was überhaupt nie »fertig« sein wird!), Österreich hat das Erscheinen seiner Einheit nicht erwarten können. Aber kein Gedanke, selbst der wahrste nicht, selbst ein der Wirklichkeit nur vorauseilender nicht, kann die Wirklichkeit kommandieren. Der Zentralismus Bachs war eine Übereilung Österreichs. Bachs Gedanke war, Österreichs Einheit erscheinen zu lassen, aber er verwechselte Form mit Uniform. Österreich ist eins, aber nicht einförmig. Es ist der Irrtum der Zentralisten, sich Österreich einförmig zu denken. Die Föderalisten wieder verlieren vor lauter Empfindung, wie vielgestaltig Österreich ist, sich zuletzt in ein ungestaltes Österreich. Nichts Lebendiges läßt sich statuieren, formulieren oder wie man immer den Versuch, Natur aufzuhalten, nennen mag, denn alles Lebendige fließt, gar aber Österreich, das nichts als Fluß war, ist und sein wird, der deutsche Fluß ins Morgenland.

Richard Kralik hat einmal von der »österreichischen Idee« gesagt, sie warte nur darauf, daß ihr jemand die »kleine Samtmaske« vom Gesicht nimmt. Auch jeder Österreicher, welcher Nation immer, trägt diese kleine Samtmaske. Jeder Österreicher ist eine Miniatur Österreichs. Wie die Wirklichkeit Österreichs, in der Gemeinde von solcher Urkraft, dann behutsam in das »Land« aufsteigt, dort aber, gerade wo sie zum vollen Bewußtsein will, in den Staat versteckt wird, so sieht sich auch der Österreicher selbst immer aus dem vollen Leben plötzlich ins Wesenlose gesetzt. Er ist ganz Natur. Kein andrer Menschenschlag hat einen geraderen Wuchs. Wohlgeboren, wohlgestaltet, wohllautend wächst der Österreicher wohlgemut auf und – wird irre. Irgend etwas macht ihn plötzlich irre. Er wird ungewiß, darum übertreibt er sich. Er gefällt sich nicht, darum sucht er zu gefallen. Er verliert die Zuversicht, das macht ihn so lärmend lustig. Wann wird er irre? Wodurch wird er an sich irre? In dem Augenblick, wo er sich entscheiden soll, wo er wählen, sein eignes Leben, das ihm gemäße, das ihm zugewiesene Leben wählen muß, wo er zu handeln hat. Davor erschrickt er, er fühlt sich unfähig dazu, denn er vermag nicht, sein Schicksal abzuheben. Er ist Natur, er hat Form, aber um nun das, was er ist und was nur er ist, das was er hat und was nur er hat, sich herauszunehmen als sein Eigentum, seinen Ruf, seine Tat, sein Recht und seine Pflicht, dazu fehlt ihm der Anblick einer Gemeinsamkeit, mit der er sich eins, aber an der auch wieder er sich als den einen, der nur er ist, fühlen könnte. Bilden, wahrhaft bilden, zu bewußtem Sein und zur bewußten eignen Tat bilden, kann der einzelne sich immer nur am Bilde der Gemeinschaft, der er angehört. An ihrem Gesichte nur erblickt er erst sein eignes Gesetz. Aber wie soll der Österreicher die Idee, die er ist, die er zu tun hat, sehen können, wenn er die Idee Österreichs niemals gesehen hat? Was er sieht, ist doch immer nur die kleine Samtmaske. Es muß einer schon ganz von Gott besessen sein, daß er den Mut findet, sie Österreich vom Gesicht zu nehmen! Die andern lassen sich täuschen, ihnen ist die Maske das Gesicht, und so bilden sie sich danach: sie nehmen sich auch eine vor. Und so wie sie selbst sich niemals sehen, bleiben sie stets ungesehen, und ihre eigne Tat bleibt ungetan, ihr eignes Leben ungelebt. Aber diese Tat steckt doch in ihnen, sie kann nur nicht heraus, sie sind von eignem stockenden Leben voll. Daher die Wehmut ihrer tollen Lebenslust, der Geigenklang österreichischer Menschen. Und weil sie sich selbst nicht erleben können, müssen sie sich verwandeln: daher ihre Schauspiellust. Und weil doch alle Verwandlung aber keinen Menschen je von sich selbst erlöst, was nur die befreiende, entladende Tat kann, deshalb ihre Flucht vor dem eignen Ernst, ihr holder Leichtsinn, der österreichische Leichtsinn, mit dem sich kein andrer auf der weiten Welt vergleichen kann an Anmut und Liebreiz und Seligkeit, weil es ein Leichtsinn voll seliger Sehnsucht ist, ein Leichtsinn aus verstummter Tiefe.


 << zurück weiter >>