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Das österreichische Wunder

Von allen Überraschungen, die uns dieser Krieg gebracht hat, ist die größte, daß Österreich, so oft totgesagt, noch lebt, und lebendiger als je. Von allen Redensarten vor dem Krieg war nämlich die dümmste die von Österreichs Zerfall. Es galt ja für ausgemacht, daß die Nationen Österreichs auseinander wollen und eigentlich nur noch von außen zusammengehalten werden, nur durch die Furcht der Nachbarn, sich über die Teilung Österreichs dann nicht einigen zu können. So las man's in dicken Büchern, es gab Landkarten, auf denen Österreich schon aufgeteilt war, und einer sprach's gedankenlos dem andern so lange nach, bis es am Ende fast auch die Österreicher schon selber glaubten. Und jetzt? Welch ein andres Bild! Ganz Österreich eins, desselben Willens, derselben Bereitschaft, desselben Opfermuts, Deutsche, Slawen und Ungarn Brüder, kein Zwist mehr, Eintracht überall, Österreich ist wieder da! Ein Wunder scheint's. Wer hätte das gedacht? Aber wenn man Österreich kennte, dieses unbekannte Land, diesen unentdeckten Erdteil, für den sich noch kein Sven Hedin gefunden hat, hätte man das vorauswissen müssen. Denn wenn es ein Wunder ist, ist es ja nur das Wunder, das sich noch immer wieder ereignet hat, so oft Österreich in Gefahr und Not war, es ist nichts als das uralte österreichische Wunder.

Als ich ein Knabe war, sah man in österreichischen Häusern oft einen alten Stich: eine hohe stattliche Frau, schwarz gekleidet, tiefen Ernst in den edlen Zügen, rings aber um sie wildbärtige Männer, in bunter Tracht, das Schwert gezückt, um die geliebte Königin zu schirmen – Maria Theresia zu Preßburg, 1741; und darunter stand der Schwur der Magnaten zu lesen: Vitam et sanguinem pro Majestate vestra, moriamur pro rege nostro!

Als ich ein Knabe war, fiel mir daran nichts auf: das Vaterland ist bedroht, der König ruft, das Volk gehorcht – es schien mir die allernatürlichste Begebenheit der Welt. Als ich aber später dann mit unsrer Geschichte, mit unsern Nationen, gar mit den Ungarn besser bekannt wurde, fing ich mich immer mehr zu wundern an, und schließlich schien es mir die allerunnatürlichste Begebenheit. Denn bedenken Sie nur den Augenblick: der letzte Habsburger tot, das Haus im Mannesstamm erloschen; eine junge Frau regiert, wie sie selbst so rührend erzählt hat: ohne Geld, ohne Truppen und ohne Rat; und das nützen die andern, Frankreich, Spanien, Bayern, Sachsen, Preußen aus, Friedrich der Große steht schon in Schlesien, Karl Albert ist zum König von Böhmen ausgerufen, Oberösterreich erobert, der Weg nach Wien frei, der Hof flieht. Und wohin? Der Hof flieht zu den Ungarn, es klingt unglaublich: eben den unbotmäßigen, immer aufrührerischen, ewig aufständischen, nie ganz unterworfenen, ihr Recht auf Insurrektion behauptenden, wider Österreich und Habsburg gesinnten Ungarn, die eben noch, es ist kaum ein Menschenalter her, zu Onod, auf Rakoczys Antrag, ihres geliebten, heute noch im Liede fortlebenden Helden, dem Hause Österreich für immer den Gehorsam gekündigt und Habsburg des ungarischen Thrones verlustig erklärt haben. Zu diesen Ungarn geht die junge Königin aus diesem verhaßten Hause Österreich in ihrer letzten Not, und diese Ungarn, deren ganze Geschichte nur ein einziges Los von Österreich ist (so heißts doch immer!), verleugnen diese Geschichte, ziehen das Schwert für Habsburg, retten Österreich. Die Szene mag später aufgeputzt und ausgeschmückt worden sein, aber wieviel man von ihr auch kritisch abziehen mag, das eine bleibt, daß in einem Augenblick, wo Ungarn Habsburg verderben konnte, Ungarn für Habsburg einstand. Warum? Aus einer Aufwallung von Ritterlichkeit? Die Ungarn sind ritterlich, aber niemals auf ihre Kosten. Es sieht ihnen gleich, sich an der eigenen schönen Geste zu berauschen, es sieht ihnen gar nicht gleich, ihren Vorteil je zu vergessen. Und selbst wenn man sich den Preßburger Schwur aus einem Anfall von Edelmut erklärt, der einer so raschen, entzündlichen, gern in malerischen Gefühlen schwelgenden Nation immerhin zuzutrauen wäre, wie will man es aber erklären, daß schon einmal, neunundzwanzig Jahre früher, auch in einem Augenblick der Gefahr für Österreich, wo die Ungarn nur zuzugreifen hatten, um Österreich los zu sein, daß auch damals die Ungarn, statt das Band zu zerreißen, es nur desto fester zogen, und damals nicht in irgendeiner aufflackernden Begeisterung, ohne große Szene, ganz untheatralisch, in ruhiger Beratung, nach reiflicher Überlegung, durch wohlerwogenen Beschluß und freien Willens? Ohne männlichen Nachkommen, mußte Karl VI. daran denken, das Reich unter den Töchtern aufzuteilen, zugleich aber auch einer jeden ihren Teil zu sichern; die Länder sollten also der Teilung zustimmen. Der Agramer Landtag, zunächst befragt, entschied sich für den »Herrscher, der in Wien residiert«, bereit, auch ferner dem ungarischen König zu gehorchen, aber nur, »solange er ein Österreicher ist und sein wird«. Zu dieser Agramer Entscheidung sollten nun die Ungarn sich vernehmen lassen, er wurde der Palatinalkonferenz vorgelegt. Und siehe, die Ungarn empfahlen dem Kaiser, das Reich nicht zu teilen, sondern unter den Töchtern eine zur Erbin auszuwählen. Ja, sie rieten das dem Kaiser nicht bloß an, sie bedangen es sich aus, daß die Erblande sich durch Vertrag verpflichten sollten, beisammen zu bleiben, von dieser einen Erbin regiert. Unter dieser Bedingung seien sie bereit, auf die Königswahl zu verzichten, unter dieser Bedingung werde der ungarische Landtag die weibliche Erbschaft anerkennen und den Gemahl der Thronerbin zum König krönen. Also: die Ungarn, statt die Gelegenheit zu benützen, um von Österreich loszukommen, willigen ein, sich an Österreich anzuschließen, ja noch mehr, sie sind es, die verlangen, daß Österreich nicht geteilt, nein, daß, was bisher bloß äußerlich, bloß durch die Person des Regenten verbunden war, fortan durch förmlichen Vertrag, durch ein Bündnis zwischen den Erblanden auch innerlich, auch real eins, daß aus einem Aggregat von eroberten, erworbenen und erheirateten Grundstücken ein Reich, die Monarchie wird. Die Ungarn sind's, die die Pragmatische Sanktion nicht bloß ermöglicht, die die Pragmatische Sanktion gefordert und dadurch, was vorher vielleicht im stillen ein frommer Wunsch des Kaisers war, den auszuführen er aber niemals hoffen konnte, erst verwirklicht haben, die Ungarn, die sie hätten verhindern können und, wenn sie ihrem alten Haß nicht untreu wurden, verhindern hätten müssen! So paradox es klingt: das heutige Österreich, das ja durch die Pragmatische Sanktion erst entstand, haben die Ungarn geschaffen, noch bei Lebzeiten ihres geliebten, bis auf den heutigen Tag besungenen Rakoczy. Es scheint unbegreiflich: durch Jahrhunderte drängt ein Volk mit Leidenschaft unter Opfern an Gut und Blut auf ein einziges Ziel hin, um an diesem Ziele kehrtzumachen: in einem Augenblick, wo alles erreicht, der schönste Traum erfüllt scheint, verleugnet, vernichtet ein Volk aus freiem Willen, bei ruhiger Überlegung, den Geist von Jahrhunderten. Es scheint unbegreiflich, unerklärlich.

Aber aus solchen Unbegreiflichkeiten, Unerklärlichkeiten besteht Österreichs Geschichte. Denn bei allen Völkern Österreichs kehrt dieser Augenblick einer tiefsten Selbstverleugnung, die doch aber im Grunde nur eine tiefste Selbstbesinnung ist, immer wieder, der Augenblick, in dem das Volk alles, wofür allein es bisher zu leben schien, freudig zum Opfer bringt für Österreich, eben das Österreich, dem es immer mißtraut, gegen das es sich immer gewehrt hat. In solchen Augenblicken haben die Völker Österreichs gleichsam das zweite Gesicht: sie sehen ins Verborgene, erblicken ihr Geheimnis und erkennen, daß ihnen dieses Österreich, das sie so oft national zu bedrohen scheint, unentbehrlich, ja daß es die Bedingung ihrer nationalen Existenz ist. Aber ist der Augenblick der Gefahr um, dann vergessen sie das wieder.

Es gab eine Zeit, wo auch die Deutschen Österreichs es vergessen hatten. Meine Generation, wir, die jetzt um die Fünfzig sind, wir wuchsen in Vergessenheit Österreichs auf. Denn unsern Vätern war Österreich abhanden gekommen. Sie hatten an Österreichs deutschen Beruf geglaubt. Nun war Österreich aus Deutschland geworfen. Deutschland, ihr Jugendtraum, ging in Erfüllung, aber ohne sie, ja gegen sie. Was sollten sie da noch auf der Welt? Aus Großdeutschen waren sie über Nacht Kleinösterreicher geworden. Es war nirgends mehr ein Platz für sie. Ihr Leben hatte keinen Sinn mehr, sie konnten an nichts mehr glauben. Und täglich hörten wir von ihnen: Österreich hat vertan! Wir aber waren jung und fühlten Kraft. Und unsre junge Kraft suchte. In Österreich fand sie nichts, aber sie fand Deutschland. Dort war der alte Kaiser und Bismarck und Moltke. Und dort war die deutsche Musik. Daheim hatten wir nichts, wovon wir hätten leben können, aber von Bismarck, Moltke, Wagner konnten wir leben. So kam es, daß wir auf einmal Irredentisten waren.

Als 1883 Richard Wagner starb, hielt die Wiener Studentenschaft einen Trauerkommers; ich, noch nicht zwanzig Jahre alt, war der Redner. Ich weiß von meiner Rede nur noch, daß sie wirksam war. Sie wirkte so stark, daß ich schon vierzehn Tage später relegiert war. Ich ging nach Berlin. Dort aber fing der Irredentist allmählich bald nachzulassen an, zunächst ganz im stillen. Es regte sich anders in mir. Je mehr ich Deutschland lieb gewann, desto herzlicher besann ich mich jetzt auf Österreich, und auf einmal vertrugen sich die beiden sehr gut in mir. Doch behielt ich das Vokabular des Irredentisten noch einige Zeit bei, wie man ja gern noch lange dieselben lieb gewordenen Worte für Gedanken, die sich unterdessen längst erneut haben, aus alter Gewohnheit zu gebrauchen noch einige Zeit fortfährt. Dann kam der siebzigste Geburtstag Bismarcks. Da wurde mir eine Adresse geschickt, die ich ihm im Namen der deutschen Studentenschaft Österreichs überreichen sollte. Sie war kräftig abgefaßt, unsre Hoffnungen, Wünsche und Weltverbesserungen keineswegs verhehlend. Ich freute mich sehr und malte mir schon den großen Augenblick aus, wo der Fürst von mir die Deutschen Österreichs in Empfang nehmen sollte. Es zeigte sich aber, daß das doch schwieriger war, als ich dachte. Ich wurde nämlich gar nicht vorgelassen, sondern man nahm mir die Adresse höflich ab, und es blieb mir nichts übrig, als mich wieder fortzutrollen, nicht ohne standhaft darauf gedrungen zu haben, daß ich sobald als möglich verständigt sein wollte, wann der Kanzler Zeit hätte, mich anzuhören. Und ich wurde richtig nach einigen Tagen ins Palais beschieden, und der Fürst dankte mir, wenn auch nicht in Person, so doch durch seinen Rat von Rottenburg, der mich aber recht enttäuschte. Bismarck freue sich, hörte ich von ihm, uns so gut deutsch gesinnt zu wissen, was wir aber nun nicht besser beweisen könnten, als wenn wir unsre ganze Kraft einsetzten, Österreich stark zu machen. Deutschland rechne auf uns, es brauche uns, aber in Österreich. Ein mächtiges Österreich sei Deutschland unentbehrlich. Ich war mit blanken Worten wohl bewaffnet gekommen, nun saß ich still und stumm. Der Rat mochte Mitleid mit mir haben, als ich endlich kleinlaut erwiderte, daß uns damit doch ein großes Opfer zugemutet würde. Er sah mich lächelnd an und fragte: »Ob Sie nicht aber alle noch ein viel größeres Opfer bringen müßten, um in das Deutsche Reich aufgenommen zu werden?« Ich verstand gar nicht gleich, was er meinen könnte. Er versicherte mir, wir seien in Deutschland wohlgelitten, und fuhr fort, uns an Begabung und Gesinnung laut zu rühmen. Wir seien Deutsche von einer ganz prächtigen Eigenart, die wir aber doch, um uns in das Deutsche Reich, wie es nun einmal geworden, ohne Störung einzufügen, erheblich abändern müßten. Ob ich mir das eigentlich schon einmal überlegt hätte? Ob wir das überhaupt könnten? Und ob, wenn wir es könnten, nicht doch schade darum wäre? Welchen Vorteil das deutsche Wesen denn hätte, wenn unsre Spielart daraus verschwände? Wie denn der Verlust unsrer österreichischen Eigenheit, die sich an uns im Leben mit den andern Völkern entwickelt hätte und nur durch das Leben mit diesen erhalten werden könnte, dem Deutschtum ersetzt werden sollte? Und indem er mir empfahl, dies einmal mit meinen Freunden zu bedenken und zu beherzigen, entließ er den betretenen Jüngling. Es ging mir lange nach, und allerlei, was ich mir bisher niemals hatte eingestehen wollen, trat jetzt auf einmal ungestüm in mir hervor. Ich war ja zunächst vehement auf Berlin losgestürzt, fest entschlossen, alles zu bewundern, und hätte mir eher die Zunge abgebissen, bevor ich zugab, wie fremd, blutsfremd und seelenfremd es mir doch eigentlich immer noch blieb: ich wurde mit dem Verstande sein, im Herzen behielt ich meine Mundart. Doch erst jetzt, im Gewühl der streitenden Empfindungen nach jenem unverhofften Gespräch, schoß es, lange verhalten, plötzlich erbrochen, heiß aus mir empor, daß ich ja durchaus ein andrer war als alle hier, so gut deutsch wie sie, doch anders deutsch, und daß mir gerade das an mir, wodurch ich mich als einen andern, ganz andern empfand, über alles teuer war, nicht bloß um meiner selbst, sondern um des Deutschtums willen, und daß, wenn der Österreicher mit seiner, südlich gebräunten, slawisch erregten Sonderart verloren ginge, das deutsche Wesen dadurch verarmte! Und ich weiß noch, wie mir in meiner schmerzlichen und doch so seligen Verworrenheit damals plötzlich die Stadt einfiel, in der ich aufgewachsen bin, das urdeutsche Salzburg, eine ganz italienische Stadt, in der Gotisches mit Barockem sich so verwachsen, so durchdrungen, so rein eingeschmolzen hat, daß sie durchaus beides auf einmal ist und von keinem mehr lassen könnte, ohne sich selbst und beides (nicht bloß das, wovon sie lassen wollte, sondern damit auch das andere) zu zerreißen, recht ein Symbol Österreichs. In jener Stunde ist in mir aus meinem deutschesten Gefühl durch reinste Selbstbesinnung der Österreicher geboren worden, zum siebzigsten Geburtstag Bismarcks.

Ich weiß nicht, ob sich je ein tschechischer Student einem russischen Bismarck angeboten hat, aber der müßte ihm dasselbe sagen. Auch die Slawen Österreichs sind, wie seine Deutschen, österreichisch getauft, auch aus ihrer Seele kann das österreichische Mal nicht mehr abgelöscht, aus ihrem Blut die geschichtliche Gemeinschaft mit uns nicht mehr vertilgt werden. Und wie das Deutschtum verarmte, ohne die Farbe der österreichischen Deutschen, so kann auch das Slawentum in seinem Antlitz den österreichischen Zug nicht entbehren. Sie sind es ihrer Nation schuldig, wie wir der unsern, Österreicher zu sein. Auf diesem tiefen Grunde ruht das unerkannte Geheimnis Österreichs: alle seine Nationen brauchen es, damit das Wesen einer jeden erst ganz in Erfüllung gehe.

Jede der österreichischen Nationen gerät an die andern, diese drängen auf sie, und sie, in ihrer natürlichen Stoßkraft aufgehalten, drängt wieder, eine fühlt sich von der andern gehemmt, ja fast erdrückt, und je mehr jede dadurch auf sich selbst zurückgewiesen, in sich selbst zurückgeworfen und ihrer selbst um so bewußter wird, desto mehr sieht sie zur selben Zeit ihr Liebstes, der Väter Bräuche, das angestammte Recht, ja die Muttersprache selbst, alles, was ihr das Leben wert macht, von den andern gefährdet, hört es von ihnen verspottet, weiß es in Not, und wer kann ihr verdenken, daß sie sich wehrt? Zur Abwehr Österreichs wird jede Nation Österreichs immer wieder einmal genötigt und vergißt darüber ganz, wieviel von ihrer Eigenart, die sie fortwährend gegen die andern zu verteidigen hat, doch eben im Leben mit diesen andern, im wirtschaftlichen, sittlichen und geistigen Verkehr mit den andern, ja auch im unablässigen Kriege mit den andern überhaupt erst entstanden ist. Gerade die Wachsamkeit, zu der jede der österreichischen Nationen von den andern gezwungen wird, das Mißtrauen gegen die andern, die Furcht vor den andern, Neid, Haß, Ehrgeiz und Eifersucht holen aus jeder der österreichischen Nationen eine Willenskraft hervor und treiben sie zu Begabungen empor, deren sie, gesichert und unbedroht, für sich allein niemals fähig geworden wäre. Es ergeht ja Völkern nicht anders als einzelnen. Auch den einzelnen macht es ungeduldig, sich durch andre beschränkt zu sehen; er glaubt sich am mächtigsten allein. Aber ist er erst gezwungen worden, sich in Grenzen fügen und den andern anschließen zu lernen, so gewahrt er mit Staunen, welchen Gewinn ihm dieser Verzicht bringt. Es ist das Geheimnis aller Organisation, daß sie, was sie dem einzelnen nimmt, ihm tausendfach zurückgibt. Organisation summiert nicht bloß, durch Organisation werden nicht bloß die einzelnen zusammenaddiert, Organisation ergibt mehr. Und nicht bloß für alle zusammen, sondern auch für jeden in ihr. Jeder ist, organisiert, auch selber mehr, als er allein ist: es wächst ihm selbst an eigener Kraft etwas zu. So wächst in der Organisation von Völkern, die Österreich ist, jedem dieser Völker etwas zu, an Kraft, an Mut, an Seele, so viel, daß es ihm jedes Opfer aufwiegt. Wenn das bedroht wird, dieser innere Zuwachs, dadurch, daß Österreich bedroht ist, in Not und Gefahr erkennt jede der österreichischen Nationen, daß Österreich ihr Leben ist.

Jedes der Völker Österreichs ist an den andern erstarkt, es kann von ihnen nicht mehr lassen, weil es, ihnen entrissen, an sich selber Schaden litte. Ja noch mehr: die österreichischen Völker, deren Grundstock in andern Ländern ist, würden, von Österreich abgelöst, nicht bloß selbst, sondern auch jener Grundstock würde leiden. Denkt man sich den österreichischen Deutschen aus dem Deutschtum weg, so wäre das Deutschtum dadurch ärmer; wer möchte im deutschen Wesen die österreichische Farbe missen? Denkt man sich den Tschechen aus dem Slawentum weg, so verstummt im großen slawischen Chor eine Stimme. Aber was der österreichische Deutsche, was der Tscheche ist, das sind sie doch nur in Österreich, nur durch Österreich geworden, einer am andern. Was sie selber an sich lieben, worauf sie so stolz sind, was ihnen ihr eigenes Wesen erst recht wert macht, gerade das haben sie von Österreich. Österreich ist ein Bedürfnis nicht bloß Europas, das diesen Pufferstaat braucht, es ist ein nationales Bedürfnis jeder seiner Nationen, und nicht bloß für den in Österreich lebenden Teil von ihnen, sondern auch für ihre nationale Hauptmacht selbst. Wenn Österreich in Gefahr ist, wird das auch immer allen seinen Nationen bewußt, und in Gefahr ersteht Österreich immer wieder auf. Aber freilich, sobald sie vorüber ist, vergessen sie das dann allmählich wieder.

Wie wird es nun nach dem Kriege sein? Es wäre ja nicht zum ersten Male, daß Österreich aus glorreichen Augenblicken des höchsten Heldenmutes und einer schier unüberwindlichen Eintracht wieder ins Seelenlose zurücksinkt. Ja fast scheint es Österreichs Schicksal, immer nur in extremis, in den letzten Zügen aufzuleben, kaum aber wieder bei Atem gleich dem alten Elend zu verfallen. Wenn Österreich je von der Kraft, durch die es in Kriegen selbst Feinden Bewunderung abringt, auch endlich einmal im Frieden Gebrauch machen lernte! Woran liegt es, daß diese Kraft, in jeder Gefahr stets wieder da, stets mit der Gefahr wieder verschwindet? Wie kommt es, daß Österreichs Nationen im Kriege jedes Opfer bringen, im Frieden keines? Weil Österreichs Nationen zu jedem Opfer bereit sind für Österreich, aber zu keinem für eine der andern Nationen, und weil, sobald der gemeinsame Feind nicht mehr droht, jede sich wieder von jeder bedroht glaubt und so jede wieder jede verdächtigt, Österreich für sich gegen die andern zu mißbrauchen: denn alles Unrecht, das eine Nation an der andern verübt, geschieht ja immer im Namen Österreichs. Im Kriege, ja, kann jede Nation Opfer bringen, weil da der äußere Feind die andern von ihr auf sich ablenkt, wie sie von den andern. Vom äußeren Feind bedroht, fühlen sich Österreichs Nationen voreinander sicher, und dieses ungewohnte Gefühl nationaler Sicherheit ist's, das sie Wunder tun läßt. Im Frieden aber, wo kein Volk Österreichs weiß, weder welche Rechte noch welche Pflichten es hat, weder was es darf noch was es muß, wo jedes bald durch ungemessene Versprechungen gereizt, bald in den billigsten Hoffnungen enttäuscht, jedem mit allem gewinkt, nichts gehalten wird, wo jedes seinen Anteil an der Macht, seine Stellung im Reich, ja jeden nationalen Atemzug sich täglich erst von neuem wieder erobern, erlisten, erhandeln muß, fühlt sich kein Volk in. Österreich seines Lebens sicher. Ein Mensch kann als Herr leben und er kann als Knecht leben, aber kein Mensch kann leben, der nie weiß, ob er Herr oder Knecht ist. Wenn wir auch diesen ungeheuren Augenblick, den größten, den uns seit den Türkenkriegen Gott geschenkt hat, wieder nicht benützen, um endlich alle Nationen Österreichs in ihren nationalen Grundrechten zu sichern, so daß keine mehr immer jeden Tag erst wieder um ihr nacktes Leben betteln muß, wir wären unwürdig, ihn erlebt zu haben! Alle Nationen Österreichs haben in diesem Krieg bewiesen, daß sie Österreich wollen, so kann jede nun fordern, daß auch Österreich sie will. Ihr Recht darf nicht mehr der Willkür der andern preisgegeben, es muß ihr gesetzlich verbürgt sein. Und dies von Österreich selbst, nicht durch irgendeinen Kuhhandel mit den andern; über ihr Recht auf das eigene Leben erst mit andern verhandeln zu müssen, von andern etwa gar darüber abstimmen zu lassen, die bloße Zumutung empfindet ja jede Nation schon als Schmach. Der Kaiser hat sie zum Krieg gerufen, der Kaiser muß ihnen den Frieden geben! Geschieht das, so wären wir auch gleich von dem bisherigen politischen Personal erlöst. Bisher hat man sich ja seinem Volke nicht besser empfehlen können als durch Haß der andern. Gerechtigkeit schien Schwäche, Verständnis für die andern schon Einverständnis mit ihnen, und wer auch nur mit den andern zu verhandeln riet, ein Verräter. Alle nationale Politik bestand in Haß, und es gab ja nur nationale Politik. Diese Politiker werden nicht so schnell umlernen, und selbst wenn sie das könnten, würde man es ihnen nicht glauben, das Mißtrauen ist zu tief. Sie haben vom Unrecht an den Nationen gelebt, und wenn erst keine mehr für ihr Volkstum fürchten muß, hat damit die einzige Politik ein Ende, auf die sie sich verstehen, und eine österreichische Politik wird möglich. In dem ewigen Streit, wer Österreich regieren soll, ist ja schließlich in Österreich überhaupt nicht mehr regiert worden, in dem ewigen Streit, wer Österreich bestimmen soll, ist Österreich ganz unbestimmt geblieben, in dem ewigen Streit, wem Österreich gehören soll, hat es niemand mehr bestellt, weder gut noch schlecht, sondern gar nicht. Da stets dem Volke, das gerade zur Macht zu gelangen schien, sogleich die Macht von den andern wieder bestritten wurde, kam keines dazu, von der Macht je Gebrauch zu machen. Alle wollten sich der Macht bemächtigen; aber sich der Macht dann auch zu bedienen, Macht auch auszuüben, dazu waren sie ohnmächtig. Was man in andern Ländern Politik nennt, werden wir in Österreich erst haben können, wenn die Vorbedingung erfüllt ist, wenn alle österreichischen Völker national gesichert sind, keines sich mehr ein Vorrecht anmaßen darf, aber auch keines mehr ein Unrecht zu fürchten hat und wenn so endlich Österreich, von dem ja gar nicht mehr die Rede war, Österreich selbst erscheinen kann.

Aber dieses Österreich, ein wirkliches Österreich, könnte dann auch Deutschland viel mehr sein, als ihm das alte jemals war. Was hätte Deutschland von einem Österreich, das nur ein abgeschwächtes Duplikat Deutschlands wäre? Es braucht ein mächtiges, vom Vertrauen seiner Völker getragenes, Ungarn und Slawen bindendes Österreich, das deutschen Willens ist. Ob Österreich deutsch spricht, kann Deutschland gleichgültig sein, wenn es dafür nur gewiß ist, daß Österreich deutsch handelt. Bis zu diesem Kriege war ja das deutsch-österreichische Bündnis doch eigentlich immer nur ein Bündnis des Deutschen Reichs mit den österreichischen Deutschen, und also angewiesen auf die höchst fragwürdige Macht der österreichischen Deutschen in Österreich. Erst in diesem Kriege haben sich alle österreichischen Nationen für das deutsch-österreichische Bündnis auch innerlich entschieden, seit diesem Kriege ist es erst in Wahrheit ein Bündnis zwischen den beiden Reichen, aber freilich nur so lange, bis wieder der Verdacht entsteht, das Bündnis wolle den österreichischen Deutschen die andern österreichischen Nationen unterdrücken helfen, ein Verdacht, der niemals erlöschen wird, bevor nicht alle österreichischen Nationen national an Leib und Leben so gesichert sind, daß keine mehr von keiner unterdrückt werden kann. Weder die Ungarn noch unsre Slawen sind ja dem deutschen Wesen feind, sie sind es auch dem Deutschen Reiche nicht, sie wehren sich bloß gegen die österreichischen Deutschen, von denen sie sich bedroht glauben. Man kann es täglich in Prag erleben, wie willkommen den Tschechen Berliner sind, wie verhaßt Wiener. Berlinern antwortet der Schaffner in der Prager Elektrischen willig, auf Wiener Fragen kann er plötzlich nicht mehr Deutsch. Wie wohl hat sich Richard Strauß bei den Tschechen gefühlt! Wie gastlich wird Max Reinhardt jedes Jahr in Budapest begrüßt, wo man Wiener Schauspieler nicht ausstehen mag! Ist den österreichischen Nationen, dadurch daß ihre Grundrechte gesichert sind, nur erst einmal die Furcht ausgetrieben, von den österreichischen Deutschen unterdrückt zu werden, dann können sie sich erst selber eingestehen, wo ihr Platz in Europa ist: an der Seite Deutschlands. In diesem Kriege haben sie das doch alle durch die Tat bekannt. Es muß ihnen nur ermöglicht werden, auch im Frieden unbesorgt deutschen Willens sein zu können!


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