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Durch diesen Krieg sind wir aus bloßen Zuschauern Europas, womit wir uns über ein Menschenalter begnügt hatten, endlich wieder Teilnehmer geworden: wir tun jetzt wieder mit. Auch wenn der Friede gekommen sein wird? Das hängt bloß davon ab, welche Figur wir dann in der Weltwirtschaft machen werden. An ihr wird ja dann jeder der Sieger nach seiner Brauchbarkeit beteiligt sein. Und das macht uns nun doch um unsre Zukunft eher bang, weil wir ja nämlich aus Erfahrung wissen, daß unsre Brauchbarkeit nicht ganz unsrer Begabung entspricht. Am eigenen Leibe hat das fast jeder von uns einmal erlebt, daß andre mehr ausrichten und mehr erreichen als er, die weniger können als er. Wir stehen an Kraft und Eignung hinter unsern Nachbarn nicht zurück, dennoch aber an Erfolg. Ja zuweilen übertreffen wir sie sogar an Fähigkeit, ohne doch ihre Wirkung einzuholen. Das ist merkwürdig, es scheint fast unnatürlich. Irgendwie muß offenbar irgend etwas an uns nicht ganz in Ordnung, unsre Fähigkeit muß nicht richtig eingestellt sein. Vielleicht liegt's an unsrer ganzen Erziehung.
Wenn eine österreichische Hausfrau eine Köchin aufnimmt, läßt sie sie kommen, sieht sie sich an und sagt dann: »Sie hat auf mich einen guten Eindruck gemacht.« Oder aber sie sagt: »Nein, sie hat ja vortreffliche Zeugnisse, die Person ist mir aber nicht sympathisch!« Ich habe das an unseren Hausfrauen nie verstehen können, weil meine Sympathien oder Antipathien für oder gegen Köchinnen erst beginnen, wenn ich von ihnen gegessen habe. Sie machen mir genau den Eindruck ihrer Zwetschgenknödel. Aber unsre Hausfrauen folgen dabei nur einer allgemeinen, alles österreichische Leben beherrschenden Maxime. Vor grauen Jahren, als ich noch das blutige Handwerk der Theaterkritik betrieb, wurde mir oft, wenn ich einen Mimen niederträchtig fand, eingewendet: Sie haben unrecht, den müssen Sie nur erst kennenlernen, er ist ein reizender Kerl! Und wenn ich antwortete: Das mag er sein, aber sein Hamlet war miserabel! sah mich der Wiener mit weit aufgerissenen Augen an und begriff mich gar nicht. Denn er fragt ja nie, wie der Schauspieler schauspielt, wie sein Hamlet ist, sondern immer nur, ob ihm der Mensch gefällt, der in dem Hamlet steckt. Wir haben Maler, die berühmt geworden sind, weil sie lebende Bilder stellen, Couplets singen oder gut Anekdoten erzählen. Es kommt immer bloß darauf an, sympathisch zu sein. Wer es ist, dem wird sogar Begabung verziehen, aber sie muß durch ein gefälliges Betragen wieder gutgemacht werden. Und man glaube ja nicht, dies sei bloß wienerisch. Auch in der Provinz ist es nicht anders, wenn man sich auch in der Provinz freilich anders beliebt macht als in Wien. Hier gilt's ein reizender Kerl, ein glänzender Gesellschafter, ein scharmanter Tischnachbar zu sein, dort gilt nur, wer »stramm« ist. Aber ob nach dem Strammen oder nach dem Scharmanten, hier wie dort wird niemals nach der Leistung, niemals, was einer kann, gefragt, sondern immer nur, welchen Eindruck er macht, immer nur, ob er gefällt.
Wenn man sich in Berlin nach irgendeinem erkundigt, hört man, was er bisher geleistet hat, wessen er fähig ist und was man sich noch von ihm erwartet. Und es kommt vor, daß einem jemand in den höchsten Tönen angepriesen wird, von dem derselbe, der ihn eben noch mit vollen Backen angepriesen hat, dann schließlich nebenbei bemerkt: Menschlich übrigens ein Scheusal – nicht in die Nähe, noch nicht zimmerrein, ein gräßlicher Kerl, aber, wie gesagt, was die Leistung betrifft, I a!
Kurz: wir fragen nach dem ganzen Menschen, unsre Nachbarn nach seiner Verwendbarkeit; uns kommt's darauf an, was einer ist, den Nachbarn, was man, der Staat, die Nation, das Vaterland, an ihm und von ihm hat. Wer hat recht, wir oder sie? Wenn es sich um einen Nekrolog handelt, sicher wir. Am jüngsten Tag wird nur gelten, was einer menschlich war, und wenn er ein Scheusal war, wird ihm, fürcht ich, wenig helfen, was er geleistet hat. Aber bis zum jüngsten Tage wird dort, wo der Mensch bloß im ganzen geschätzt wird, nicht aber, was er leistet, dort wird eben nichts geleistet werden. Hier auf Erden wird aber nun einmal nur die Leistung belohnt, erst über dem Grabe gilt der wesentliche Mensch. In der ganzen Welt ist der Berliner unbeliebt, aber beneidet. Wir haben jetzt die Wahl, ob wir nach dem Kriege uns wieder ins Privatleben zurückziehen oder an der deutschen Weltwirtschaft beteiligen wollen. Entscheiden wir uns, in der Welt mitzutun, dann werden wir leider nicht umhin können, aus persönlichen Menschen sachliche Menschen zu werden, wir werden nicht immer nur zu gefallen trachten dürfen, wir werden etwas leisten lernen müssen. Das wird uns kaum gelingen, wenn wir uns nicht von Grund aus ändern, und von klein auf. Denn schon in der Schule fängt es ja bei uns an, schon das Kind merkt, daß es bei uns immer nur darauf ankommt, angenehm zu sein, niemals darauf, brauchbar zu sein. Schon Eltern und Lehrer ziehen das artige, das brave, das freundliche Kind dem tüchtigen, dem starken, dem begabten, das zutunliche dem eigenwilligen, das Hascherl und das Tschaperl dem ungeselligen, mühsamen, widerspenstigen Talent vor. Wer unangenehm auffällt durch Eigenart, Eigensinn und Eigenmacht, hat's am schwersten: wer durch keinerlei Begabung lästig fällt, ist willkommen. Ein Kind merkt das bald, auch wenn's ihm nicht alle Tanten in einemfort sagten. Und so werden diese reizenden, scharmanten, aber unbrauchbaren Menschen großgezogen. Brave Leute, schlechte Musikanten, sagt das Sprichwort. Die deutsche Weltwirtschaft aber wird gute Musikanten brauchen und wären's Teufel!
Ist es denn übrigens ausgemacht, daß das Sprichwort recht hat? Ich traue seiner Wahrheit gar nicht. Muß der reizende Mensch immer untüchtig, muß der brauchbare Mensch ein Ekel sein? Ich glaube das gar nicht. Ist es undenkbar, daß einmal einer beides wäre, wohlgefällig und dennoch verwendbar, ein in sich vollendeter und dennoch den andern nützender Mensch, zugleich sein eigener Zweck und doch auch noch ein dem Ganzen dienendes Mittel? Ich kann mir solche Menschen schon denken, ich kenne solche Menschen und nur sie verdienen nur Menschen zu heißen. Und ich habe sie nirgends schöner gefunden als in Österreich. Nämlich im österreichischen Barock! Unser Barock ist der weltgeschichtliche Versuch, schon entrückte Menschen vom Himmel dann wieder in Erdenlust und Erdenleid zu bringen, wo sie nun, was sie dort erblickt, hier bewähren sollen. Im Barock wird der Mensch erst ganz von jedem irdischen Zweck erlöst, um gerade dann aber wieder in den irdischen Dienst gestellt zu werden, den er nun freilich jetzt nicht mehr als seufzender Knecht, sondern mit dem Lächeln der Freiheit tut. Im Menschen, den das Barock uns offenbart, wird eine Verbindung des persönlichen mit dem sachlichen, des herrschenden mit dem dienenden, des schönen, guten, wahren, des gottgefälligen mit dem nützlichen, brauchbaren, fähigen, dem weltgerechten Menschen angekündigt, es ist die Ahnung einer ungeheuren Synthese, in der der Mensch, den Blick zum offenen Himmel, auf Erden freudig hilfreich wirken wird. Alle Kunst ist Ansage. Wozu hat euch denn unsre alte österreichische Kunst diese Zeichen einer neuen Menschheit aufgestellt, wenn ihr nicht trachtet, sie zu werden? Und jetzt ist der Augenblick da!
Darf ich einmal Berlinern mein österreichisches Herz ausschütten? Da wir jetzt mehr als je aufeinander angewiesen sind, haben wir mehr als je gegeneinander aufrichtig zu sein. Ihr laßt es daran auch nicht fehlen, wir aber sehr.
Ihr kennt ja den Österreicher wenig, und so wißt ihr nicht, daß er höchst empfindlich ist, jedoch die Eitelkeit hat, es sich um keinen Preis merken zu lassen, aber wenn ihm das gelingt, es einem übelnimmt. Wehleidig und immer gleich gekränkt, macht er gute Miene dazu, doch wurmt es ihn, wenn man sich von ihr täuschen läßt, er findet, man müßte »feinfühliger« sein, das beleidigt ihn wieder, und der Schluß ist, daß diese fortgesetzten, stets verheimlichten, doch sorgsam angesammelten und aufbewahrten Empfindlichkeiten einmal unerwartet explodieren und dieser so »gemütliche« Mensch, der den Eindruck macht, sich alles gefallen zu lassen, dann in eine Wut gerät, die, wer jenen merkwürdigen inneren Mechanismus des Österreichers nicht kennt, gar nicht begreifen kann. Der Österreicher hat weder eine so dicke Haut, wie der Berliner anzunehmen scheint, noch liegt es in seiner Art, sich nicht zu wehren. Er läßt sich nicht alles gefallen, sondern gar nichts; er wehrt sich auch stets, aber so spät, daß der, gegen den er sich wehrt, inzwischen schon längst vergessen hat, wogegen er sich wehrt. Wer das nicht weiß und darauf nicht gefaßt ist, kann mit uns Überraschungen erleben, die zuweilen nicht angenehm sind, und verspielt unsre Freundschaft leicht. Die wollt ihr doch aber, wie wir eure, da wir einander ja brauchen, nicht? Seid also gewarnt!
Anlaß gibt mir der Ton einer gutgemeinten Berliner Kritik an einer Ausstellung österreichischer Maler in Berlin. Nicht als ob der Berliner diese Bilder tadelte! Das wäre sein gutes Recht, sie müssen ihm ja nicht gefallen. Auch sind ihre Maler keineswegs verwöhnt, man hat sie daheim oft noch weit schimpflicher behandelt. Der Berliner läßt sich vielmehr eigentlich gar nicht mit ihnen ein, jedenfalls auf den einzelnen nicht, sondern die ganze Richtung paßt ihm nicht, und so stellt er nur im allgemeinen fest, daß er durchaus nichts den Absichten der künstlerischen Entwicklung in Deutschland Förderliches an ihnen zu finden weiß. Andre Absichten als die deutschen aber, andre Möglichkeiten als die der deutschen Entwicklung scheint er nicht zu kennen; daß im Hause der Kunst viele Wohnungen sind, will er nicht bemerken. Er ist ein angesehener Schriftsteller, ein guter Sprecher der preußischen bildenden Kunst, bedeutend durch seinen starken, festen, großen Kunstwillen, dem nur dazu die schaffende Kraft, das Können fehlt, so daß ihm also nichts übrigbleibt, als sich in Programmen auszuleben, Kunstanweisungen, Kunsterlässe zu diktieren und den Schaffenden gewissermaßen als Generalstäbler zu dienen, der die Schlachten um die Zukunft der Kunst entwirft. Ich weiß das zu schätzen, wenn ich mir auch Kritik freilich im Grunde doch anders denke. Als ich selbst noch Kunstkritik trieb, war ich darauf aus, den Malern ihren Kunstwillen abzusehen, nicht meinen ihnen aufzuzwingen. Ich war ihr Dolmetsch, er will ihr Oberhaupt sein. Aber ich verkenne nicht, daß es die Kunst zuzeiten fördern mag, wenn ein mächtiger Wille (oder wo der fehlt, mehrere kleine, die die Selbstentsagung haben, in einen gemeinsamen einzumünden) die Künstler zu gleichem Schritt und Tritt drillt, und so wert mir unsre österreichische Freiheit der Kunst ist, wo keiner nach dem andern fragt, keiner auch nur vom andern weiß und jeder stolz im Felsenneste seiner eigenen Herrlichkeit schwelgt, ich habe doch zuweilen Stunden banger Sehnsucht nach einem gemeinsamen Oberbefehl. Ein bißchen Schreckensherrschaft könnte uns vielleicht nicht schaden, freilich aber nur eine aus unsrer Mitte. Ein Wilhelm Bode, ein Karl Scheffler täten uns eine Zeitlang ganz gut. Noch besser vielleicht, wenn von den Künstlern selbst einer die Diktatur nähme, also ein Liebermann, aber ein österreichischer (wenn es möglich wäre, sich diese beiden Begriffe, Liebermann und Österreich, zusammen zu denken!), denn der gemeinsame Kunstwille, der uns helfen soll, muß im Grunde doch unser eigener sein.
Jener Berliner Kritiker tritt nun vor diese österreichischen Bilder hin, legt an sie das Maß seines preußischen Kunstwillens an und da stimmt dann natürlich nichts. Er meint es ihnen gut, das will ich nicht verkennen. Nur daß sie mit seiner Meinung nichts anfangen können, beim besten Willen nicht, das müßte er doch verstehen! Er sagt nichts Unrichtiges über sie, beileibe nicht. Er zieht nur ihre Grenzen ganz genau: was innerhalb liegt, interessiert ihn nicht, aber was außerhalb liegt und darum wieder sie nichts angehen kann, das vermißt er an ihnen. Diese Art von Kritik ist vielleicht überhaupt nicht sehr fruchtbar, obwohl sie stets überzeugend wirkt. Wenn mir jemand versichert: Dante habe keinen Humor, Dostojewski keine Grazie, Uhland nichts Dämonisches, Homer keinen Esprit und Nestroy keine Tragik, so kann ich ihm nicht widersprechen, er hat ja recht, nur darf er nicht meinen, daß sie damit erledigt sind. Jener Berliner aber will diese Österreicher erledigen, indem er ihre Grenzen zeigt, und nicht etwa bloß die Grenzen, die jedem einzelnen seine besondere Natur zieht, sondern die Grenzen, die allen ihre Heimat setzt. Daß keiner von ihnen Österreich verleugnet, daß keiner aus seiner österreichischen Haut kann, daß keiner unter ihnen ist, der irgend etwas könnte, was nicht zu können eben einmal zum österreichischen Wesen gehört und was ein Österreicher nur kann, wenn er keiner mehr ist, das verdenkt ihnen der Berliner Kritiker, ihren größten Vorzug, ihre schönste Tugend. Was er an ihnen vermißt, ist Ausländerei, eben die Ausländerei, vor der er sonst so strenge warnt. Gesetzt, ein Jüngling käme zu mir, um mir vorzusprechen und mein Urteil zu hören, und ich erwiderte damit, daß ich ihm schildere, wie Salvini, wie Mounet Sully sprach, und daß ich ihm italienische und französische Klangwirkungen zeige, deren kein deutscher Sprecher fähig ist, was hätte der gute Junge davon? Was soll er tun? Auswandern? Das Instrument, das ihm Gott gegeben hat, zerbrechen? Oder versuchen, ob es sich nicht doch vielleicht vergewaltigen läßt? Und wenn nun unsre so hart vermahnten österreichischen Maler sich bekehrten und gingen hin und tauchten ihre Pinsel in preußischen Geist, was hätte die deutsche Kunst davon? Ich dächte, die deutsche Kunst braucht sie nicht, sie langt mit den deutschen Künstlern reichlich aus. Wir hätten Verlust, ihr keinen Gewinn!
An diesem Beispiele wurde mir erst einmal ganz klar, wie seltsam sich der Deutsche zum Österreicher verhält, in Kunstdingen zunächst, aber auch überhaupt. Norwegen, Schweden, Dänen, Portugiesen und Türken nimmt er hin, wie sie sind, begreift, daß ihr Ausdruck nicht ihn ausdrücken kann, und freut sich ihrer Verschiedenheit, ihrer besonderen Eigenart so sehr, daß er leicht in die Gefahr kommt, seine daran zu verlieren. Je norwegischer ein Norweger ist, desto williger schätzt ihn der Deutsche, ja gleich ahmt er ihn nach. Nur der Österreicher gilt in Deutschland desto mehr, je weniger er vom Österreicher behält. Ihm wird zugemutet, sich aufzugeben; man schätzt ihn in Deutschland bloß nach dem Grade seiner (gespielten oder wirklichen) Assimilation ans Deutsche. Nicht bloß den Lebenden ergeht es so. Die großen Österreicher sind in Deutschland immer unbekannt geblieben. Wer unter euch hat denn – Hand aufs Herz! – ein inneres Verhältnis zu Herrn Walther von der Vogelweide? Wer zu Fischer von Erlach, wer zu Zauner? (Wehe uns, wenn wir von Rauch so wenig wüßten wie ihr von Zauner, den jetzt Hermann Burg in einer vortrefflichen Schrift geschildert hat, Wien 1915, Kunstverlag Anton Schroll, aber wer von euch liest sie?) Und selbst von Abraham a Santa Clara, der doch ein geborener Schwabe war, aber so unvorsichtig, ein Österreicher zu werden, was wißt ihr von ihm mehr, als daß er Modell zum Kapuziner im »Wallenstein« stand? Stifters Nachsommer, das reinste Gefäß österreichischer Weisheit, eben das für uns, was euch »Wilhelm Meisters Wanderjahre« sind, bleibt hochachtungsvoll ungelesen. Grillparzer ist euch bloß von Kainz aufgedrungen worden (o, Max Reinhardt, dringe ihnen den »Bruderzwist«, dringe »Libussa«, sein reichstes Werk, ihnen auf! Aber freilich, die sind österreichisch!), und der größte Dichter, den wir im neunzehnten Jahrhundert hatten, ist euch kaum dem Namen nach, kaum auch nur vom Hörensagen bekannt: Stelzhamer, ein Epiker von homerischer Unschuld, Bildnerkraft und Sprachgewalt, dessen »Ahnl« an Anschaulichkeit, Ruhe des mächtigen Flusses und Einfalt der Empfindung Hermann und Dorothea erreicht, in der ungetrübten Beherrschung des Hexameters übertrifft. Ihr wißt von den besten Österreichern nichts, oder wenn ihr etwas wißt, ist es immer nur gerade das, was an ihnen unösterreichisch ist. Denn nur das wollt ihr! Ihr laßt nur das von uns bei euch ein, was an uns sich von euch geistig annektieren läßt. Und wenn ihr mir erwidert, dies sei Notwehr und jedes Volk nehme sich von andern Völkern nur, was es für sich selber brauchen kann, so frag ich, wo denn die Notwehr gegen Schweden, Dänen usw. bleibt. Dostojewski ist so stockrussisch wie Stelzhamer stockösterreichisch, und Cezanne kaum deutscher als Klimt. Aber jene dürfen, wir nicht. Jene dürfen sie selbst sein, uns laßt ihr erst gelten, wenn wir euch ähneln, insofern wir uns anpassen, wenn wir auf uns selbst verzichten. Und nicht als gekränkter Österreicher, sondern von euch selbst aus, in eurem eigenen Sinne frag ich da nochmals: Was hättet ihr davon, wenn es euch gelingt und aus dem Österreicher am Ende wirklich geistig (oder gar politisch) ein bloßes Duplikat des Deutschen wird? Wir wären ärmer, ihr darum nicht reicher, eine Schönheit ginge der Welt verloren. Aber mein Trost ist, es wird euch nie gelingen, nie.
Ein Aufsatz, der eine Berliner Ausstellung österreichischer Maler damit abtat, daß sie die deutschen Bemühungen des Augenblicks in nichts zu fördern scheine, gab mir Anlaß, meine Berliner Freunde zu bedeuten, daß wir, so sehr wir ihre Eigenart bewundern, doch keinen Grund haben, sie für unsere einzutauschen, und gar keine Lust, österreichische Kunst von ihnen als ein bloßes Anhängsel der deutschen behandeln zu lassen. Dies war in aller Freundschaft gemeint und in aller Freundschaft ist es, soweit ich sehen kann, auch draußen aufgenommen worden; ich hatte das Gefühl, daß man mir dort im stillen recht gab, wenn man es auch für unnötig hielt, das laut zu bekennen. Die heftige, ja fast erbitterte Zustimmung aber, die der Aufsatz in Österreich fand, erschreckte mich. Der Österreicher, die sich durch die deutsche Freundschaft beengt, ja gedrückt fühlen, scheinen mehr zu sein, als ich gedacht hätte, und die Gereiztheit dieser Stimmung könnte mit der Zeit aufhören, ungefährlich zu sein, gar bei unsrer leidigen Gewohnheit, Gefühlspolitik zu treiben.
Nichts wird uns so schwer, als uns ruhig zu behaupten. Entweder geben wir uns hin und werfen uns weg oder wir rollen uns ein und sperren uns ab. Daß es darauf ankommt, uns weder zu vergeuden noch zu verstecken, wollen wir nicht lernen. Ich hatte gesagt: Unsre Kunst ist österreichisch, sie muß österreichisch gemessen werden, nicht deutsch, wir haben nicht vor, unsern Geist für euren aufzugeben, unser Wesen in eures umzuwechseln, uns in euch einzuschmelzen. Aber gleich wurde das mißverstanden, als hätt ich zur Fehde geblasen, die Freundschaft gekündigt und womöglich der deutschen Kultur aufgesagt! Muß ich erst beteuern, daß es so nicht gemeint war? Für Schöppenstädt und Schilda zu schwärmen und was der gute alte Jahn, der Turnvater, den »Unsinn der Völkleinerei« nennt, liegt doch eigentlich meinem Wesen fern. Ein geschlossener Geistesstaat scheint mir sowenig für Österreich erwünscht, als es mir ein geschlossener Handelsstaat wäre. Darüber sind wir hinaus. In ihrer Kindheit machen alle Völker Entwicklungen durch, die nicht gestört werden dürfen, da haben sie sich selbst noch nicht gefunden, und schon der bloße Anblick fremden Wesens lockt sie leicht vom eigenen ab. Aber reife Völker können ihn ertragen, ja sie brauchen ihn, um eben daran sich selbst erst ganz erkennen zu lernen. Ganz zu sich selbst kommt ein Volk immer an andern erst, ja man darf sagen, so verwegen das klingt: erst wenn ein Volk noch über sich hinaus will, hat es sich ganz, wofern es freilich dabei nur auch stark genug bleibt, diese höchste Spannung auszuhalten und dennoch nicht von sich zu kommen. So brauchen die Deutschen jetzt uns, so brauchen wir sie, es ist ein geistiges Verhältnis der höchsten Art: zwei Völker wenden einander die Augen des Geistes zu, und indem jedes am andern erst sich ganz erlebt, gelangt jedes am andern zu seiner eigenen Vollkommenheit.
Unsre Baumkronen sollen sich berühren, aber nicht unsre Wurzeln. In der Höhe wollen wir uns begegnen, aber jedes seine Tiefe behalten. Wie der einzelne Mensch, ist auch jede Nation in geistigen Stockwerken aufgebaut. Aus der Scholle wächst der Mensch, ein Stück Erde, das lebendig und eigenen Sinnes, eigenen Willens und zur Persönlichkeit wird, aber nicht für sich selbst, sondern um dieses eigene Selbst dann darzubringen, zunächst dem Kreise, dem es eingeboren ist, wie dieser sich wieder dem Lande, das Land dem Reiche sich darzubringen hat. Das Stück Erde wird ein guter Sohn, der Sohn selber wieder zum Vater von Haus und Kind, das Haus steht im Gau, der Gau fügt sich ins Land ein, das Stück Erde lernt sich als Tiroler, Steirer oder Böhme fühlen, aber Tirol liegt nicht im Monde, sondern in Österreich, und von der uralten, tief geheimnisvollen österreichischen Geschichte fällt ein belebender, befruchtender, beglückender Strahl verwandelnd auf alle nachwachsenden Abkommen zurück. Aber auch mit dem Reiche schließt die Reihe noch nicht. Denn auch das Reich ist nicht um seiner selbst willen da; nichts ist in die Welt für sich selbst gesetzt, alles dient. Auch die mächtigsten Reiche der Welt sind dem ewigen, unsern armen Verstand überschreitenden, verborgenen Plan des Weltgeschehens untertan.
Draußen schwelgt man jetzt in den »Ideen von 1914«. Die Weltanschauung des Deutschen seit seiner klassischen Zeit scheint einzusinken, eine neue bricht an. Aber vielleicht ist sie gar nicht so neu. Auch die klassische Zeit hat die still waltende Macht des ewigen Lenkers fromm verehrt. Der Unterschied ist im Grunde nur in der Verknüpfung. Das achtzehnte Jahrhundert hat den einzelnen unmittelbar an die Welt geknüpft. An ihr hängt er ja schließlich auch, aber nicht unmittelbar, wie der Stolz jener Weltbürger wähnte. Wir Heutigen aber hinwieder sehen jetzt nur den Faden davon, der uns hält. Pathetisch warf sich das Individuum des achtzehnten Jahrhunderts immer gleich dem All an die Brust. Später wurde doch allmählich bemerkt, daß da ja noch einiges dazwischen ist. In den »Briefen über ästhetische Erziehung« spricht der Mensch entweder »in eigener Hütte still mit sich selbst« oder aber, sobald er aus der Hütte heraustritt, gleich »mit dem ganzen Geschlecht«. Selbsteinsamkeit also, völlig in sich gezogen, oder immer gleich auf einen Sprung das ganze Menschengeschlecht, die Menschheit selbst, denn wenn Schiller an den Menschen denkt, ist es der »idealische«, den er meint. Uns aber, einer im Überspringen weniger verwegenen Generation, ist für die Fragen des irdischen Lebens, und gar des politischen, der wirkliche wichtiger als der idealische geworden, uns ist der wirkliche näher, zwischen den und die Menschheit sich ja noch eine lange Reihe von Formen stellt, Familie, Stamm, Volk, Staat und Kirche, bis uns ganz am Rande dann erst die Menschheit selbst erscheint.
Wenn sich das philosophische Zeitalter des achtzehnten Jahrhunderts nach der Vernunft, das praktische des neunzehnten Jahrhunderts nach der Geschichte orientiert und jenes so zur humanistischen, dieses zur nationalen Gesinnung kommt, wird das zwanzigste Jahrhundert, an den Erfahrungen dieses Krieges sich besinnend, die große Synthese von beiden suchen müssen. Wie das Individuum sein Recht hat, aber nur um der Nation willen, nur weil es ihr unentbehrlich ist, die ja doch bloß an Individuen erscheint, so hat auch jede Nation ein Recht auf sich selbst, aber nur um der Menschheit willen, die sich ja bloß an Nationen verleibt. Und wie das individuelle Recht auf die Nation verpflichtet ist, ist es alles nationale Recht auf die Menschheit. Für jeden einzelnen wie für alle Völker gilt das Apostelwort: »Dienet einander, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als gute Verwalter der mannigfaltigen Gnaden Gottes!«
Wir täten gut, es auf unser Verhältnis zu Deutschland anzuwenden. Nicht besser können Österreich und Deutschland einander dienen als jedes mit den ihm eigenen Gaben: also je deutscher der Deutsche, je österreichischer der Österreicher ist und schafft. Uns in Österreich aber täte vor allem not, das weise Wort auch untereinander auf uns selbst anzuwenden. Wir enthalten viele Stämme, mannigfaltig sind unter ihnen die Gnaden Gottes ausgeteilt, freue sich jeder der seinen, hege sie, hüte sie, doch nicht um auf sie zu pochen, sondern um mit ihr zu dienen. Keiner habe, was er hat, für sich, sondern daß er damit dem andern diene! Keiner sei, was er ist, für sich, sondern dem Ganzen! Keiner frage nur immer nach dem Recht, das er von den andern zu fordern, er frage nach dem Dienst, den er den andern zu leisten hat! Und will er der erste sein und vor allen, so sei er's in der Liebe für alle! Und will er sie übertreffen, so sei's an Unterordnung!
Es gibt kein besseres Reichsgrundgesetz für Österreich als dieses: »Dienet einander, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat!« Halten wir es, so brauchen wir kein andres. Und solange wir es nicht wahr machen, hilft uns kein andres.