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Was es bedeutet, Vorkämpfer zu sein, kann schon die zweite Generation einer siegenden Bewegung nicht mehr ermessen. Denn sie kennt die widerstrebenden Mächte – mögen sie immer noch gewaltig sein – schon im Zustande des Nachgebens und Zurückweichens, sie sieht die neuen Gedanken schon im Vorwärtsschreiten und Eindringen. Sie weiß nicht, was es heißt, den Fuß auf neues Land setzen, einen Ruf ins Leere tun auf die Gefahr hin, daß kein Echo antwortet. Sie, schon in jener wunderbaren Entwicklung mittendrin stehend, durch die eine neue Wahrheit – wenn es eine Wahrheit ist – in den Geist der Zeit hineinwächst wie ein lebendiges Wesen, kannte die Welt nicht ohne diese Wahrheit und vermag daher nicht die schöpferische Kraft zu wägen, die dazu gehörte, das Voraussetzungslose zu schauen und zum Ziel zu erwählen. Vielleicht auch ist gerade in der Frauenbewegung die Tat des Vorkämpfers besonders schwer ganz zu erfassen. Der Schöpfer eines neuen Gedankensystems, der Vertreter einer politischen oder sozialen Forderung, der Entdecker einer wissenschaftliche Theorie kämpft für eine sachliche Wahrheit, eine Möglichkeit äußerer Organisation. Objektive Faktoren verhelfen ihm zum Sieg oder bedingen seine Niederlage. Die Frauenbewegung kämpft für eine Wahrheit von Fleisch und Blut, eine Wahrheit des persönlichen Seins. Sie wurzelt in einem Glauben an das Wesen und die Kräfte der Frau, den sie der Sitte, der Geschichte, den sozialen Tatsachen, den herrschenden Anschauungen entgegenstellte. Sie entstand aus diesem Glauben und lebte von ihm, für ihr Recht gab es keine objektiven Beweise, sondern nur den einen des Geistes und der Kraft. So schöpften ihre Führerinnen aus einer rein persönlichen Gewißheit, die in ihnen lebendig war im Gegensatz zu einer anders überzeugten und eingerichteten Welt. Sie legten Zeugnis ab für ihr Vertrauen, daß die Frau Höheres und Geistigeres werden und leisten könne, als die Geschichte ihr bisher zu sein und zu arbeiten gestattete. Sie standen für diese innere Überzeugung auf, die nirgend war als in ihrer Seele, gegen die Riesenmacht alles Anerkannten, Festgewordenen, aller Gültigkeiten in Recht, Macht und Lebensordnungen. Abhängig, wie sie waren, fester, weil innerlicher gebunden an die Sitte als der Mann, ohne ein Forum, auf dem man sie hören wollte, ohne einen Weg zu Einfluß und Geltung, wagten sie es doch. Vor jeder von ihnen lagen bequemere Lebenswege, die im Schutz der allgemeinen Billigung zu den Erfolgen des hervorragenden Menschen hätten führen können. Sie haben diese Wege verschmäht, um der selbstgewählten Bestimmung zu dienen.
Es gibt Vorkämpfer leichterer Natur. Menschen, die nichts zu verlieren haben oder nirgend wurzeln und denen das Neue die Möglichkeit bietet, sich ohne Verantwortung wichtig zu fühlen. Phantasten und Abenteurer, denen die Überwindung der Wirklichkeit leicht wird, weil sie ihr Gewicht nicht fühlen, keine geschichtliche Bildung haben, oder weil es ihnen an Gewissenhaftigkeit und Ehrfurcht fehlt. Jede Massenbewegung führt solche Geister mit sich, hebt sie vielleicht sogar zu einer flüchtigen Bedeutung empor. Von jedem Kulturprogramm gibt es so etwas wie eine wohlfeile Ausgabe in leichterem Format; schwer errungene Ideale bestehen noch einmal als rasch geprägte Schlagworte, Ergebnisse harter Gewissenskämpfe als frühreife Früchte gedankenloser Schwelgerei. Es ist unter gewissen Voraussetzungen sehr billig, der Geschichte vorauszueilen.
Wo aber der innere Zwang zu neuen Zielen herauswächst gerade aus dem Ernst und der Gewissenhaftigkeit der Lebenserfassung, gerade aus einer tiefen geschichtlichen Bildung, wo er fußt auf dem Grunde einer durchaus positiv gerichteten, arbeitsamen Natur, wo seine Gebote aus einem strengen Pflichtbegriff hervorgehen – da erst gewinnt der umgestaltende Wille geschichtliche Kraft. Und das ist hier das Kennzeichen: Ein Mensch, den die überschauende Klarheit des Geistes und die tiefgefühlte Verpflichtung des Gewissens verantwortungsbewußt bis in jedes Wort und jeden Gedanken hinein macht, dessen elementar gesunde Natur nur aufbauende Kräfte umfaßt und nur in aufbauender Arbeit Befriedigung finden kann, prägt das neue Lebensideal der Frau. So wurde es kein verschwommenes Phantasiegebilde, sondern ein klares, kräftiges, einfaches Vorbild.
Was an urwüchsiger Kraft, an elementarem Gehalt in einem Menschen ist, pflegt eng verbunden zu bleiben mit seiner Stammesart. Helene Lange ist Oldenburgerin und hat ihren niederdeutschen Typus durch Jahrzehnte berlinisch-großstädtischen Lebens vollkommen unverwischt bewahrt. Diese Unangreifbarkeit bodenständigen Wesens, die ganz unbewußte und ungewollte Widerstandskraft des Rassigen gegen eine Umwelt, die im übrigen ganz zur geistigen Heimat wird, ist das Zeugnis einer Natur, die auch in jeder anderen Beziehung das eigene Wesen kraftvoll und unbeirrt festhält. Dies Stück unbekümmerter, selbstverständlicher Sicherheit ist eine Grundvoraussetzung für ihr Werk. Die eingewachsene, ererbte Unabhängigkeit eines Bauernvolks, das sich rühmt, seinen Adel einmal totgeschlagen zu haben, verbündet sich mit persönlichen Energien zu einer goldenen Rüstung, die der Rost nicht frißt. Sie bildet den Grund einer naiven Selbstachtung, die schon das kleine Mädchen bei der Besprechung von Schillers Glocke (»Arbeit ist des Bürgers Zierde«) fragen ließ: »Und die Bürger in?« Helene Lange hat sich nie einer Autorität gebeugt, außer der selbstgewählten, weder der öffentlichen Meinung und ihren Göttern und Götzen noch irgendwelchen Machthabern. Sie ist ganz und gar unempfindlich gegen die Heiligkeit des grünen Tisches, und wenn ein Minister daran sitzt, und hat nie etwas getan oder unterlassen, um »höheren Ortes« gebilligt zu werden. Sie ist mutig, nicht aus Selbstüberwindung und moralischer Anstrengung mit heimlich klopfendem Herzen, sondern aus einer vollkommen furchtlosen Natur heraus. Niemandem, als dem eigenen Gesetz zu gehorchen, war ihr von Jugend auf selbstverständlich, Lebensmitgift.
Um so leidenschaftlicher hat sie dieses eigene Gesetz gesucht. Denn das junge Mädchen, das in dem friedlichen Interessenkreis der niederdeutschen Mittelstadt aufwuchs, war erfüllt von dem unstillbaren Drang nach Erkenntnis. Nicht daß die anderen Seiten jugendlicher Lebenslust darüber zurückgetreten wären. Sie wurden mit der Frische kerngesunden Wachstums genossen: Landleben mit weiten Ritten in die Heide, Kameradschaften, Nachbarlichkeit. Aber hinter dem allen steht die geistige Welt, auf die es ankommt, in der sie ihre lebendigsten Kräfte aufstehen und wachsen fühlt. In dem, was sie fesselt und begeistert, spricht sich wieder die kraftvolle, reine Gesundheit ihrer Natur aus. Über dem Bett der Vierzehnjährigen hängen, mit schwarz-rot-goldenen Bändern verbunden, Theodor Körner, Garibaldi und der Augustenburger; der erste Wegweiser zur Formung eines geistigen Weltbildes wird Schiller; ein starker naturwissenschaftlicher Erkenntnisdrang verfällt gleichwohl nicht den materialistischen Göttern der Zeit: Büchner und Vogt, weil ihrer ehrfürchtigen Seele der Idealismus sich selbst beweist auch gegen den bloßen Verstand. Führerlos und ganz auf sich gestellt, und in ernsthaften, mit allem geistigen Besitz und allen Kräften geführten Kämpfen, ist sie sich doch des »rechten Weges bewußt« – weil ihre Natur unbewußt geleitet wird durch die Überzeugung, die sie später oft mit den Worten eines dänischen Philosophen ausgesprochen hat, »daß der Sinn der Welt dem nicht fremd sein kann, was sich in den menschlichen Idealen emporgearbeitet hat«.
Besaß Helene Lange auch diese innere Welt immer ganz für sich allein, so hatte doch der Charakter ihrer Vaterstadt Anteil an ihrem geistigen Typus: gesundes, arbeitsames Bürgerleben ohne schroffe Klassenbildung und überwuchernde Konventionen gab eine Grundlage einfacher Lebenskenntnis. Kulturgüter erschienen nicht im Rahmen einer gesellschaftlichen obligaten »allgemeinen Bildung«, sondern als die selbständig wachsenden und gepflegten Interessen von diesem und jenem. Die Residenz bot über den üblichen mittelstädtischen Rahmen hinaus in Kunst und Musik Ausweitung des Alltags, und Helene Lange, aus einer künstlerisch begabten Familie stammend, deren väterliche Seite tüchtige Musiker, deren mütterliche einen begabten Maler zählte, hat trotz des überragenden Erkenntnisstrebens doch auch in dieser Welt lebendige Wurzeln.
Die Unnatur der Abgeschlossenheit einer »höheren Tochter« ist ihrer Jugend erspart geblieben, die vielmehr helläugig und mit unverbogenem Wirklichkeitssinn das einfache Leben um sich herum mit seinen realen Grundlagen, seiner Arbeit und seinen Menschlichkeiten in sich aufnahm, in nachbarlichem Verkehr mit hoch und niedrig, Männern und Frauen, Jungen und Mädchen gleichermaßen zu tun bekam und an Freud und Leid, Humor und Schicksal um sich herum ihren unverkürzten Anteil hatte. Alles das in der Luft niedersächsischer Art, deren Plattdeutsch Helene Lange vollkommen beherrscht (obgleich die höheren Töchter ihrer eigenen Generation und Kameradschaft zum Teil schon zu zimperlich dazu waren) und nie vergessen hat. Eine kräftige, frische, zugreifende Art, mit Menschen umzugehen, eine selbstverständliche Vertrautheit mit dem, was im Durchschnittsleben entscheidend zu sein pflegt, ein humorvoller Realismus wuchsen aus diesen Jugendeindrücken.
Dieser Humor – der niederdeutsche Humor, der aus einem gelassenen Kraftgefühl quillt, aus Wirklichkeitsfreude und dem realistischen Bewußtsein von der Macht der Erde und der Menschlichkeit über uns alle, ist ihr immer ein Wesenszug geblieben. Auch hier hat die ursprüngliche Färbung späteren Einflüssen standgehalten.
In diesem heimatlichen Kreise, wo Mädchen und Jungen arglos miteinander verkehrten, soweit es ihnen Spaß machte und sich absonderten, wo es sie mehr freute, allein zu sein, wo Mann und Frau ihre Arbeit nebeneinander hatten und ein beiderseitig kräftig entwickeltes Persönlichkeitsgefühl maßgebender war als ein konventioneller Familienpatriarchalismus, sind auch die ersten Gefühls- und Wertmaßstäbe entstanden für die Stellung von Mann und Frau zueinander. Von den blonden, selbstbewußten Mädchen ihres Stammes hat wohl im normalen Lauf des Lebens zunächst keine »das Frauenschicksal« »beklagenswert« zu finden brauchen. Verlief ihr Schicksal im gegebenen Rahmen, so halfen sie sich schon zu ihrem Recht. Ein Bildungsjahr in einem württembergischen Pfarrhaus, in dem der Sitte gemäß die studierten Herren oben am Tisch saßen und Gebratenes verzehrten und die Frauen unten bei saurer Milch und Kartoffeln, hat dem norddeutschen Mädchen überraschende Eindrücke gebracht und wohl auch sonst etwas von dem Wissen um Glück und Gebundenheit des Frauenlebens. Der Pfarrerin in ihrer reinen, selbstlosen Hingabe hat sie an einer Stelle ihrer Abhandlungen über Schillers philosophische Gedichte ein Denkmal inniger Dankbarkeit gesetzt, aber gerade aus dieser Verehrung heraus die Selbstverständlichkeit, mit der das unbegrenzte Opfer eines Frauenlebens als ein Stück Familiensitte einfach hingenommen wurde, mit innerer Auflehnung begleitet.
Ihr selbst erwuchs aus dem Zusammentreffen von Begabung und Schicksal der persönliche Emanzipationskampf. Früh verwaist – die Mutter verlor sie als kleines Kind schon, der Vater starb, als sie 15 Jahre alt war –, lag es nahe, daß sie ihr Leben auf eigene Füße stellte. Die Erlaubnis, sich zur Lehrerin auszubilden, bekam sie nicht. So verschaffte sie sich, achtzehnjährig, im damals noch französischen Elsaß eine au pair-Stelle in einem Pensionat, um noch etwas lernen zu können, und ging dann später, ohne Examen, als Erzieherin aufs Land.
Wessen Weg durch Universitätsstudium und eine organisierte Berufsbildung hindurchgeführt hat, der hat es gewiß leichter gehabt als der Autodidakt, aber der Wissenserwerb des Autodidakten ist bezeichnet durch Glücksgefühle und innere Belohnungen, die der vom äußeren Zweck beherrschte Erkenntnisweg des Berufsstudiums nicht in gleicher Frische zu bieten vermag. Und der errungene Besitz des Autodidakten trägt den Stempel des Erlebnisses, den Duft beglückter Stunden, die Note des festen Verwachsenseins wie das im Studium aufgenommene Massengut nicht so leicht. War doch alles gewählt und erworben, nur weil es schön und wissenswert und aufbauend war, nicht rasch aufgesammelt und verarbeitet als Notwendigkeit zu irgendeinem Zweck. Der junge Mensch, der ohne solche Zwecke einfach hineingriff in die Kammer geistiger Schätze, lebte mit Schiller, Goethe, Lessing und Kant – sie waren viel mehr als Fachstudium, sie waren eine Welt, in der man sich heimisch machte, nur um in ihr zu wachsen. Wer Menschen kennt, die in dieser Weise als »Liebhaber« unseren großen Geistern genaht sind, kann nur bedauern, daß sie heute mehr für Philologen und Philosophiestudenten da zu sein scheinen als für Menschen, die an ihnen groß und stark werden wollen. Das geistige Verhältnis Helene Langes zu allem, was für ihre Bildung einflußreich wurde, ist durchs dies Wesen autodidaktischen Wissenserwerbs gekennzeichnet. Sie beherrscht, was sie durchgearbeitet hat, bis zu vollkommener Vertrautheit und steter lebendiger Lebensgemeinschaft. Sie nahte all diesen Bildungsgütern nicht im Zeichen einer Wissenschaftlichkeit, der Kleines und Großes gleich wichtig erscheint, sondern angezogen von ihrem Wert; von dieser Berührung aus erschlossen sie sich ihr unverlierbar. Dichtung und Gedankenschöpfung ist ihr nicht allein oder hauptsächlich kulturgeschichtlich interessant, sondern als zeitlos wertvolle Offenbarung des Geistes ehrwürdig und vertraut.
So wird ihr zuerst Schiller zum Führer. Von zwei Seiten her: der künstlerischen und der gedanklichen. Die Schillersche Form, die der Schwung eines in den Gedanken gebetteten Pathos prägt, ist ihr verwandt. Diese architektonische Klarheit, diese große Bewegung, die den festen, brausenden Flügelschlägen eines Adlers gleicht, entspricht dem Rhythmus, zu dem sich ihr in Höhepunkten der Ergriffenheit der Strom des eigenen inneren Lebens ordnet. Ihr ist es selbst zuweilen Bedürfnis gewesen, Verse zu formen – sie sind vom gleichen Wesen. Gedankendichtung, durchs die der Strom geistiger Ergriffenheit in gleichmäßig starkem Wellengang rauscht. Philosophisch hat Schiller den eigenen Kampf um die Weltanschauung entscheidend beeinflußt. Der Idealismus als moralische Gewißheit, als unbesiegliche Forderung der Seele, die sich dem Verstand nicht ergibt, er barg auch für sie die Lösung des Konflikts zwischen Wissen und Glauben, den sie als heranwachsender Mensch mit dem Aufgebot der ganzen Persönlichkeit gekämpft hat.
Fast noch näher war ihr Lessing durch sein kämpferisches Temperament, seine schneidige Klinge. Seinen Waffengängen mit der gespreizten, behäbigen Unwissenheit, dem bornierten Pharisäertum, diesem blitzenden, lachenden Degenkreuzen geistiger Überlegenheit mit allen Sorten armer Wichte, ist sie mit innerstem Behagen gefolgt. Sie kann noch heute ganze Passagen gegen den Hauptpastor Götze oder den unglücklichen Pastor Lange auswendig. Und unschwer erkennt man aus ihrer Art der Polemik den Nachklang dieses Mitgenießens.
Goethe steht wohl an einem späteren Wegzeiger ihrer geistigen Arbeit: der Goethe, dem aus ahnender Schau die Umrisse eines gottdurchwalteten Kosmos erstanden, der Goethe des Ganymed, der »Grenzen der Menschheit« – der Urworte – des Faust. Aber auch der Morphologie. Denn das Bedürfnis, die Natur einbezogen zu sehen in das Bild der geisterfüllten Welt, führt die Zeitgenossin des Kampfes um den Darwinismus über die Inhalte des Schillerschen Idealismus hinaus. Ein wacher, wißbegieriger Tatsachensinn läßt sie zudem an allem, was die Naturerkenntnis erarbeitete, lebendigsten Anteil nehmen. Das Verlangen nach Klarheit macht ihr das Erfassen neuer Kausalreihen des Naturgeschehens zu einem tiefen und lebhaften Erkenntnisglück – ihre Weltanschauung erbaut sich keineswegs vom moralischen Ausgangspunkt allein, sondern von der Basis eines regen Sachinteresses, eines eigentlichen naturwissenschaftlichen Sinnes. Noch von einer anderen Seite her ist Goethesches ihrem Leben verwurzelt: die Frauen, die Goethes Liebe bestrahlt, und die anderen, die seine Kunst gestaltet, sind für viele Geschlechter deutscher Frauen bedeutsam geworden, ihnen eigenes Leben enthüllend, sie zu naturgegebener, vorgeformter Vollendung hinweisend. Und eben jene, die Neues in sich selbst fanden und für die anderen erkämpfen wollten, sahen in Iphigenie, Eleonore, Dorothea als in vollendeten Typen eigenes Erlebnis und eigenes Schicksal mannigfach sich klären und entwirren. Wehmut und Kraft, Größe und Demut, innere Bestimmung und äußere Gebundenheit des Frauengeschicks war hier von seherischer Kunst erschaut und ausgesprochen, Bestätigung immer wieder erlebter und durchkämpfter Dinge.
Philosophie im engeren wissenschaftlichen Sinne des Wortes erarbeitete sich Helene Lange bei Kant, Schopenhauer und den Vertretern des psychologischen Parallelismus, Lotze und Wundt. Ohne in einem philosophischen System etwas Endgültiges zu sehen, hat sie doch bei diesen die sie am meisten befriedigende Lösung der philosophischen Grundfrage nach Materialismus und Idealismus gefunden. Sie hat, weil sie Autodidaktin war, um so exakter gearbeitet, keinen Satz ohne Selbstkontrolle aufgenommen und das Gesamtbild mit der Präzision und vollkommenen Deutlichkeit erworben, die jedes Stück ihres geistigen Besitzes kennzeichnet. Sie lebte mit ihren Büchern auf vertrautestem Fuß, in einer reinen, durch keine Nebenzwecke entwerteten Freundschaft. Sie waren ihr alle nur um ihrer selbst willen da, nicht Mittel zu anderen Zielen, sondern Führer eines reinen Wahrheitsstrebens, einer ganz ursprünglichen und nie gesättigten Erkenntnisfreude.
Die Geschichte fügte dem System abstrakter Grundlegung die Baustoffe der historischen Wirklichkeit hinzu. Helene Lange ist von Jugend auf ein bewegter Zeitgenosse gewesen, voll Parteinahme und Mitkämpfen. Sie hat aber auch die Freude an der Historie als solcher gehabt, an der Entfaltung des Menschlichen durch die Zeiten hindurch und an dem Begreifen der Nachwirkungen, die Vergangenes und Gegenwärtiges verknüpfen. Ihre sichere Beherrschung der Völkergeschichte war ein Ergebnis der lebendigen Deutlichkeit, zu der ihr Helden und Ereignisse erstanden, aber auch der gliedernden Systematik ihrer Arbeit. Und dieses nicht nur erkenntnismäßige, sondern teilnehmende Vertrautsein mit geschichtlichen Entwicklungen und Zuständlichkeiten ist ein Element der inneren Sicherheit, mit der sie ihren eigenen Weg gegangen ist.
Die Reihe der Geister, die im Rahmen des eigenen Arbeitszimmers ihr inneres Leben erbauten, muß nun noch ergänzt werden durch die lebendigen Bildungsmächte, die sie umgeben. Helene Lange kam 1872 nach Berlin, um ihr Lehrerinnenexamen zu machen – eine reine Formsache übrigens, zu deren Erledigung nur noch brandenburgische Geschichte und Katechismus »gepaukt« sein wollte. Von da ab hat sie teil an der lebendigen geistigen Atmosphäre der Hauptstadt. Einer ortsfremden Privatlehrerin, die jung und ohne viele Beziehungen hier im Grunde nur den Arbeitsplatz sieht und im übrigen den eigenen inneren Interessen lebt, ist der Natur der Sache nach nicht viel von dem großen Leben zugänglich. Aber durch Beruf und Erweiterung des persönlichen Lebens kam sie bald auch in Beziehung mit dem Kreise, in den sie innerlich hineingehörte: der geistigeren Gruppe des politischen Liberalismus.
Die sechziger und siebziger Jahre haben eine Generation führender Männer auf den Gipfel ihres Einflusses geführt, die durch drei Merkmale gekennzeichnet sind: den politischen Liberalismus, die Höhe allgemeiner Kultur mit dem Einschlag einer feinen und eigenartigen Humanität, und die Beziehung zur rasch aufsteigenden wirtschaftlichen Entwicklung, der sie zum Teil tätig angehören. Lette, Schrader, Lasker, v. Holtzendorff, Rickert – um nur einige Namen zu nennen – repräsentieren diesen Kreis und damit die Färbung der für Berlin damals vielleicht bezeichnendsten Bildungsschicht. Ihr Liberalismus erwächst aus dem Boden einer ganz bestimmten Kulturstimmung. Die Nachwirkungen der Reaktionszeit äußern sich in einer allgemeinen kühlen Abwendung der Gebildeten vom kirchlich-religiösen Leben. Die festen Grundlagen der Lebenserfassung werden in einem praktischen Idealismus gesucht, der kirchlich nicht gebunden ist, sich aber doch in bewußtem Gegensatz zu materialistischer Gesinnung fühlt. Die geistig-kulturelle Grundlage gab dieser deutschen Bildungsschicht unsere klassische Literatur. Man darf vielleicht sagen, daß erst in dieser Generation, die von der Zeit Goethes und Kants durch ein halbes Jahrhundert getrennt war, der klassische Geist als eine einheitliche Welt empfunden wurde. Wie man aus der Ferne die einzelnen Gipfel eines Bergstocks zusammentreten sieht zu einem Ganzen, so schlossen sich die Führer des Klassizismus, aus der Zeitferne eines halben Jahrhunderts gesehen, zu einer Götterrunde, die – so stark und eigenartig ihre Einzelpersönlichkeiten – doch zugleich einer einheitlichen Welt entstammt und gebietet. Die Gedenkfeier des Geburtstages Schillers 1859 offenbarte, daß der Klassizismus die deutsche Weltanschauung geworden war. Die Kantsche Freiheitsforderung, die Persönlichkeitsidee, von Goethe mit elementarer Sicherheit verkörpert, von Schiller glühend und schwungvoll, von Humboldt feinsinnig und abgewogen verkündet, und darüber hinaus das neue politische Grundgefühl Steins – das alles ersteht aus der Gärung und Veräußerlichung von 1848 jetzt neu – abgeklärter und reifer. Die Beziehung dieser Gesinnung zum praktischen Leben ist anders als in der Bewegung von 1848. Die Fortschritte werden mehr von innen nach außen, auf dem Wege der Erziehung des einzelnen zur Selbsthilfe, gesucht. Dieser Bildungsgedanke ist ein Grundelement des Liberalismus jener Zeit: er kommt zum Ausdruck in der Auffassung aller wirtschaftlichen und sozialen Fragen: des Arbeiterproblems, der Mittelstands-(Handwerker-)Frage, der Frauenfrage. Bildung und Selbsthilfe waren die beiden Hebel, um alle guten Kräfte in Bewegung zu setzen, Krisen zu überwinden und Mißstände fortzuschaffen. Es war die selbstverständliche, unmittelbare Übertragung der Weltanschauung Kants und Schillers auf die tatsächlichen realen Anforderungen der Zeit. Denn dieser deutsche Liberalismus umfaßte Männer, die zugleich die wirtschaftliche Entwicklung von 1860 ab führten und in Bewegung erhielten, die auf den Gebieten des Verkehrs, der Finanz, der Industrie das moderne Deutschland gestalteten. In dieser Generation vollzog sich die Verschmelzung der klassischen Weltanschauung mit neudeutschem Realismus. Zugleich im Kampf mit dem Materialismus, der praktisch und philosophisch gewissen sozialen Schichten und geistigen Gruppen das Gepräge gab, und in der Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, der als Staatssozialismus dem Freiheits- und Selbständigkeitsbegriff der liberalen Geister, als kommunistische Arbeiterbewegung ihrem Bildungsideal widerstrebte, aus dem heraus die Herrschaft der Masse als solcher – der voraussetzungslosen, kulturlosen Masse – als eine Gefahr für die Bedingungen jedes wahren Fortschritts erscheinen mußte. Diese Ablehnung verband sich mit einer durchaus sozialen Gesinnung, ja, ging aus ihr hervor, denn man wollte den Aufstieg aller, die durch Kultur Anspruch darauf haben und dazu imstande sind. Wenn die Welle der sozialistischen Betrachtung, die zunächst die Einseitigkeiten dieses Kulturliberalismus ausgleichen mußte, vorüber ist, so wird man seine unumstößliche Grundlage vielleicht wieder klarer sehen und besser würdigen, als es heute geschieht.
In diese Welt des Kulturliberalismus trat Helene Lange in Berlin ein. Ihr Mittelpunkt war das Haus von Karl und Henriette Schrader: er einer der feinsten und aufrechtesten Vertreter des bürgerlichen Liberalismus, sie, eine Schülerin Friedrich Fröbels, durchdrungen von dem Glauben an eine weibliche Aufgabe in diesem Aufstieg der ganzen Nation durch Erziehung und geistige Pflege. Beide von ausgesprochen patrizischem Typus. Die Lösung wirtschaftlich-sozialer Fragen von der Seite der Bildung her – das war der Weg, auf dem Helene Lange sich in diesem Kreise bestätigt fand.
Es ist zweierlei: die innere Entwicklung eines Menschen und die Formung und Festigung seiner Wirkensweise. Die Leitung des Lehrerinnenseminars der Crainschen Anstalten in Berlin gab Helene Lange den Boden für die Ausgestaltung der besonderen Wirkensweise ihrer Persönlichkeit.
Das Lehrerinnenseminar ist damals der Sammelpunkt aller der jungen Mädchen, die sich nach Arbeit und geistigem Vorwärtskommen sehnten. Es ist die einzige allgemeine Bildungsstätte jenseits der höheren »Töchterschule«. So konnte es die Stelle regsamsten Lebens werden, wenn das innere Bedürfnis und die frische Aufnahmefähigkeit der jungen Mädchen die rechte Einschätzung und Führung fand. Unter diesen Voraussetzungen stand die gemeinsame Arbeit, die Helene Lange mit den Generationen ihrer Schülerinnen verband. Man arbeitete aus dem Vollen aller geistigen Schätze, die nur irgend zu erobern waren. So wie Helene Lange selbst jede Erkenntnis rein um ihrer selbst, um ihrer lebendigen Kraft willen suchte und liebte, so führte sie auch ihre Schülerinnen nicht in ein Zweckwissen, sondern in eine geistige Welt voll beglückender Kraft und Schönheit. Daß es ein Examen zu bestehen galt, hinderte nicht – im Gegenteil, fügte der Arbeit die Frische des geistigen Sports hinzu. Mit den Anforderungen der preußischen Prüfungskommission sich in Einklang zu setzen, war nicht immer leicht. Aber es gab doch einen Weg, für die Examensfragen des Schulrats X und Y gerüstet zu sein, und trotzdem oder darüber hinaus in jedem Fach so zu arbeiten, wie es diese reine Freude am Lernen, Denken und Wachsen sich nur wünschen konnte.
In dieser durch 15 Jahre geführten Arbeit gestaltete sich in Ausgangspunkten, Wesen und Zielen die Wirkensweise, die Helene Lange auch im weiteren Tätigkeitsgebiet festgehalten hat. Ihr Wirken war ganz und gar auf das Bewußtsein geistiger Kraft gestellt – und auf das lebenerfüllende Glück inneren Wachstums. Die Übermittlung dieses Kraftgefühls an andere ist das Element ihrer pädagogischen Berufsarbeit und ihrer Tätigkeit in der Frauenbewegung gewesen. Es kennzeichnet die Atmosphäre der Arbeitsgemeinschaft, die sie mit ihren Schülerinnen vereinigte wie den Ton jedes Satzes, mit dem sie später die Sache der Frauen führte, und gibt hier wie dort den Untergrund einer humorvollen Frische und einer frohen, sicheren Überlegenheit. Vielleicht gibt es kein besseres Eingangstor in die Frauenbewegung, als durch dies Erarbeiten der inneren Voraussetzungen, das Erschaffen der Entwicklung von ihrer geistigen Seite aus. Denn hierin beruht doch eigentlich das lebendige Wesen der Bewegung, in der Vermehrung des geistigen Kraftkapitals der Frauen liegen ihre eigentlichen, bleibenden Siege und ihr organisches Wachstum. Die Frauen, die solchen Kraftzuwachs beglückt an sich erlebten, gehören der eigentlichen Geschichte der Frauenbewegung an, nicht die, die nur befreit wurden, sondern die sich selbst befreiten. Alle äußeren Veränderungen sind nur Bedingung oder Folge dieses inneren Vorgangs und empfangen durch ihn Sinn und Wert. Helene Lange ist immer darauf ausgegangen, den Frauen zu dieser Entdeckung ihrer selbst, d. h. ihrer Fähigkeiten und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten zu verhelfen und ihnen das Urerlebnis der Frauenbewegung, das glaubensvolle Höhersetzen der eigenen Ziele über Gewohnheit, Sitte und Vorurteil hinaus, zu vermitteln. Das nur ist ihr als Fortschritt im letzten wesentlichen Sinne erschienen, als ein Unverlierbares, das nach dem Gesetz des Geistes selbst wieder neues Leben zeugen muß. In diesem Sinne ist die Lehrtätigkeit der geistige Nährboden ihrer ganzen Wirksamkeit geblieben. Auf die innere Entwicklung der Frauen, auf den Einklang von geistiger Reife und äußerer Befreiung, ist es ihr vor allem angekommen. Strenge gegen alle Halbheit, gegen alle oberflächlichen, nicht in innerem Wert begründeten Ansprüche, aber unerschütterliches Feststehen auf dem geistig eroberten Boden – das hat ihre Haltung stets bestimmt. Diese Sicherheit, die stärkste suggestive Kraft des Vorkämpfers, hat ihren Grund in der äußersten Klarheit und durchdringenden Echtheit aller gewonnenen Überzeugungen, jener Disziplin, die sich mit nichts Halbem und Unbewältigtem begnügt, weil sie sich unter dem Zwang eines unbedingten Strebens nach Erkenntnis und innerem Werden bildete.
Die Lehrtätigkeit am Seminar hat aber für Helene Lange nicht nur den allgemeinen Typus der Wirkungsweise geformt, sondern auch die erste programmatische Aufgabe gewiesen: die Neugestaltung der höheren Mädchenschule und die Erweiterung der Lehrerinnenbildung in akademischer Richtung.
Die Mängel der höheren Mädchenbildung traten ihr einerseits in der Vorbildung entgegen, die die Schülerinnen mitbrachten – oder vielmehr vermissen ließen. Das war die negative Seite. Positiv aber gestalteten sich ihr in der eigenen Unterrichtstätigkeit die neuen Grundlagen, auf denen die Mädchenbildung aufgebaut werden mußte. Auch hier bestimmten sich ihr die Ziele zunächst nicht von außen, sondern durchaus von innen. Ausgangspunkt aller Lehrgänge und Methoden muß das Prinzip der Kraftbildung sein. Warum ist es in der Mädchenschule bisher so wenig zur Geltung gekommen? Helene Lange findet die Antwort: weil die Ziele der Frauenbildung nicht autonom geworden, d. h. von den Frauen selbst gesetzt sind, sondern für sie von den Männern, die den entscheidenden Einfluß auf die Mädchenbildung haben. Die Mädchenbildung muß so lange in ihrem Wesen verschoben, nach falschen Zielen orientiert sein, als ihre Bildungsideale nicht aus dem Geist der Frauen und ihrem Erfahrungskreis geschaffen sind. Sie trägt alle Merkmale einer Dressur für bestimmte von außen gesetzte Zwecke, und sie läßt eben das vermissen, was autonome Bildungsideale kennzeichnet: den Aufbau aus einem in der Persönlichkeit selbst beschlossenen oder durch sie zu verwirklichenden Wert. Der schöne Wesenszug deutscher Kultur, daß sie als Formung des Menschen von innen heraus erfaßt wird, ist in der Mädchenbildung noch nicht zur Geltung gekommen und wird sich erst in ihr ausprägen, wenn Frauen selbst den ausschlaggebenden Einfluß auf sie haben. So verschmelzen ihr zwei Ziele in eines: die Neugestaltung der höheren Mädchenschule und die innere und äußere, d. h. qualitative und numerische Steigerung des Fraueneinflusses auf sie. Die Durchführung dieser aus der Praxis gewonnenen Gedanken findet sich in der Schrift: »Die höhere Mädchenschule und ihre Bestimmung«, die 1887 erschienen ist als Begleitschrift zu einer Petition, die von Frauen des Schraderschen Kreises dem Kultusministerium eingereicht wurde. Was die Bedeutung und den Erfolg der Denkschrift ausmachte, war noch mehr der Mut, mit dem der Ausgangspunkt der Kritik gewählt war, als die Ausführungen im einzelnen. Für die Auffassung der Mädchenschulpädagogen lag natürlich eine unbegreifliche Anmaßung darin, daß man für die Lehrerin diesen Platz in der Mädchenschule verlangte, und man kann ihnen dieses Urteil nicht einmal so übelnehmen, wenn man in Betracht zieht, wie Vorbildung, Stellung und vor allen Dingen die Selbsteinschätzung der Lehrerinnen beschaffen war, wie wenig man ihnen zutraute und wie wenig sie sich selbst im allgemeinen zutrauten. Im Glauben an werdende Kraft und verborgene Entwicklungsmöglichkeiten für das Prinzip der Erziehung der Mädchen durch die Frau eintreten, hieß in der Tat eine gewisse Zuversicht bekunden »des, das man hoffet«. Es ist charakteristisch für Helene Lange, daß sie die aufregende Wirkung der »gelben Broschüre« nicht vorausgesehen hatte und von ihr ganz überrascht war. Ihr erschienen die von ihr vertretenen Gedanken so selbstverständlich, daß sie nicht gemeint hatte, den Menschen etwas Verblüffendes zu sagen.
Die Aufnahme der gelben Broschüre in der Lehrerpresse eröffnete in Deutschland den Kampf um die Frauenbildung, der seitdem nicht wieder aufgehört hat.
Wenn in der Denkschrift über die höhere Mädchenschule die prinzipiellen Forderungen – gewissermaßen die innere Form für die Mädchenbildung im Vordergrund standen, so galt es nun, die äußere Gestalt zu schaffen, in der diese Grundsätze zum Leben erweckt werden konnten. Mit der sachlichen Gewissenhaftigkeit, die Helene Lange in der Bearbeitung jeder Aufgabe bewies, verschaffte sie sich eine gründliche Kenntnis der Frauenbildung des Auslandes – insbesondere durch eingehende Studien an Ort und Stelle der englischen. War doch außerhalb Deutschlands schon vielfach die grundsätzliche Angleichung der höheren Mädchenbildung an die der Knaben vollzogen. (Die Ergebnisse dieser Studien sind niedergelegt in der Broschüre »Frauenbildung«.) Trotzdem verfolgte der praktische Versuch, den sie dann unternahm, eine wesentlich andere Richtung. Er bestand in der Begründung der »Realkurse für Frauen« in Berlin (1889), deren Leitung sie übernahm. Das Ziel der Kurse war zunächst ein rein inneres – ein Bildungsziel. Es sollte über die höhere Mädchenschule hinaus der weiblichen Jugend eine Weiterbildung ermöglicht werden, die sie lebensreif zu machen und ihrem Bedürfnis nach geistiger Schulung zu entsprechen vermochte, ohne daß auf eine bestimmte Prüfung hingearbeitet wurde. Daß der Bildungsgang nebenbei eine gewisse Grundlage für den Erwerb der Schweizer Maturität darstellte, bestimmte sein inneres Wesen nicht, das vielmehr ganz unabhängig von solchen Prüfungszwecken im reinen Bildungswert des Gebotenen wurzelte. Das tritt in der Eröffnungsansprache von Helene Lange klar hervor und drückt sich in der Zusammenstellung der Fächer aus. Mathematik und Naturwissenschaften, dazu Nationalökonomie kennzeichnen den Charakter der Anstalt als »realistisch« – durch den deutschen, lateinischen und Geschichtsunterricht war das humanistische Element vertreten –, beide einten sich in dem Grundgedanken einer modernen Bildung, die, von klarem Denken und geschulter Urteilsfähigkeit beherrscht, zugleich die Kulturschätze von Vergangenheit und Gegenwart zu werten und zum Aufbau des inneren Lebens zu nützen verstand. Zum erstenmal in Deutschland wurden in einer schulmäßigen Veranstaltung die Fächer der höheren Lehranstalten an Mädchen gelehrt. Es waren zunächst nicht sehr viele Schülerinnen, die den Versuch mitmachen wollten. Die öffentliche Meinung verhielt sich ablehnend, ja feindselig – so sehr, daß die Gewinnung von Mitteln für die Kurse sehr erschwert war. Umringt von der allgemeinen Skepsis und Abneigung wie von einer kalten Luftschicht, genoß die kleine Schar der Schülerinnen gleichwohl das Hochgefühl gesunder, festgefügter und doch vielseitig ausgebreiteter Arbeit – die unvergleichliche Freude und Frische der ersten Beackerung von neuem Land. Fünf Jahre wurden die Realkurse in dieser Weise durchgeführt. Verschiedene der dort vorgebildeten Schülerinnen gingen nach der Schweiz, um dort die Maturität zu erwerben und zu studieren. Größere Hoffnungen organisatorischer Art, in denen dieser praktische Anfang wurzelte, waren abgeschnitten durch den Tod des Kaisers Friedrich. Die Kaiserin Friedrich nahm schon als Kronprinzessin den lebhaftesten Anteil an allen zeitgemäßen Frauenbildungsbestrebungen in Deutschland. Sie bildete aus den Frauen des Kreises von Henriette Schrader eine Art Arbeitsgemeinschaft, die Pläne für die Neugestaltung der Mädchenbildung beriet und mit der Fürstin in vielen angeregten Aussprachen erwog. Für ihre Studien in England hatte Helene Lange durch die Kaiserin Friedrich die wirksamste Förderung erfahren. Bei der Eröffnung der Realkurse war sie anwesend. Wäre dem Kaiser Friedrich eine längere Regierungszeit vergönnt gewesen, so hätte die Kaiserin Viktoria allen Einfluß für eine Reorganisation der Mädchenbildung im Sinne von Helene Lange und ihrem Kreise eingesetzt. Nachdem jede Möglichkeit dazu ausgeschaltet war, mußten auch die Realkurse – wie manche anderen dem Interesse der Kaiserin nahestehenden Bildungsanstalten – darauf vertrauen, sich ohne Stütze von außen aus eigener Kraft zu erhalten und durchzusetzen.
Mittlerweile rückte doch auch in Deutschland die Möglichkeit, für die Frauen den Zugang zur Universität zu erlangen, näher. Der Allgemeine Deutsche Frauenverein, der seit 1865 als Organisation der deutschen Frauenbewegung bestand, hatte seit den achtziger Jahren energischer für die Zulassung der Frauen zum Studium gearbeitet. Dasselbe tat seit 1888 ein neuer Verein »Frauenbildungsreform« (später Frauenbildung – Frauenstudium). Zugleich begann sich das preußische Unterrichtsministerium der in der Denkschrift von 1887 ausgesprochenen Forderung einer höheren Lehrerinnenbildung allmählich günstiger zu zeigen. Der »Deutsche Verein für das höhere Mädchenschulwesen«, die offizielle Vertretung der männlichen Mädchenschulpädagogik, trat für zweijährige akademische Oberlehrerinnenkurse ein – eine durchaus unzulängliche und halbe Erfüllung der in der gelben Broschüre gestellten Forderungen, aber immerhin ein Programm, das notwendig an die Türen der Universität führte. Im »Viktorialyzeum« in Berlin, einer Art weiblicher Hochschule, an der namhafte Gelehrte Vortragskurse für fortbildungsbedürftige Damen hielten, richtete man Oberlehrerinnenkurse ein – d. h. einen Bildungsgang, durch den Lehrerinnen in einem Fach bei dreijährigem Studium eine Art akademischer Durchbildung erlangen konnten. Das alles zusammengenommen wirkte doch als Vorbereitung auf die Erschließung akademischer Berufe für die deutschen Frauen, so daß die Verantwortung, junge Menschen auf diese Möglichkeit hin auszubilden, übernommen werden konnte.
So verwandelte Helene Lange 1893 ihre Realkurse in Gymnasialkurse mit dem Ziel des deutschen humanistischen Abituriums. Ihre eigene Durchbildung für die neue Aufgabe war wieder autodidaktisch. Sie hatte aus starkem inneren Interesse Mathematik getrieben, und das Latein war ihr als Sprache – in seiner formalen Klarheit und intellektuellen Eleganz ganz besonders anziehend. Sie war vertrauter mit Ovid und Horaz als gewiß viele Männer mit humanistischer Bildung – vertraut genug, um als Leiterin der Kurse ihnen den einheitlich humanistischen Geist zu geben, dessen Ausprägung in einer Anstalt, die keine vollamtlichen Lehrkräfte hatte, natürlich nicht leicht war. Das Unternehmen, mit erwachsenen Mädchen in drei bis vier Jahren das Pensum des Gymnasiums durchzuarbeiten, erregte nach außen hin vielleicht noch mehr skeptische Kritik, als es die Realkurse getan hatten. Niemand glaubte eigentlich an die Möglichkeit. Selbst manche der Lehrer nicht, die sich zu dem Versuch bereitgefunden hatten. Nach drei Jahren konnten die Kurse die ersten sechs Abiturientinnen entlassen. Helene Lange erkämpfte ihnen die Zulassung zur Prüfung, die sie selbstverständlich vor einer fremden Kommission machen mußten. Sie bestanden mit so gutem Erfolge, daß die Skepsis wohl oder übel die Segel strich. Diese Erfolge waren nicht ohne harte Opfer an Kraft und Sorge. Es ist leichter, propagandistisch für dies oder jenes Ziel zu kämpfen, als die volle Verantwortung zu tragen für die Arbeit, die dorthin führt. Damit, daß Helene Lange sich mit der ganzen Kraft dafür einsetzte, den ersten praktischen Beweis für die Möglichkeit des neuen Weges zu bringen, identifizierte sie sich ganz anders mit dem Wagnis, als wenn sie nur theoretisch die Freigabe des Weges verlangt hätte. Es ist stets ihre Art gewesen, eine Aufgabe ganz zu übernehmen, mit dem ganzen Gewicht der damit verbundenen Verantwortungen. Und sie hat diese Verantwortungen auch mit der ganzen Belastung einer bis zur Schwere gewissenhaften Natur getragen. So bedeutete jeder Erfolg, so wenig ihre Schülerinnen davon gespürt haben, einen inneren Kampf mit allen schlimmen Möglichkeiten, die nicht leicht fortgeschoben wurden. Es ist Helene Lange nicht gegeben gewesen, ihre Schritte vorwärts gewissermaßen blind zu tun, ohne Voraussicht aller Folgen und ohne Bewußtsein der Tragweite. Sie mußte vielmehr – auch in dieser Hinsicht eine niederdeutsche Natur – die Verantwortung im voraus nach jeder Richtung ausschöpfen, und hat darum für jedes Werk den vollen seelischen Einsatz leisten müssen.
Die Entschädigung dafür – oder richtiger gesagt: das Gegengewicht – war das Glück, einer neuen Generation den Weg zu höheren Schaffensmöglichkeiten zu bahnen, dieses nicht wiederholbare Glück des neuen Weges, der Entfaltung neuer Kräfte an nie gestellten Aufgaben. Die Gymnasialkurse haben in den Jahren, während deren sie unter Leitung von Helene Lange standen, 111 Abiturientinnen entlassen. (Alles Nähere über die Anstalt steht in dem Bericht, der bei ihrem Übergang in andere Hände herausgegeben wurde: »Geschichte der Gymnasialkurse in Berlin«. W. Moeser, 1906.)
Durch ihre Schülerinnen verwuchs Helene Lange nun vollends mit der Entwicklung des Frauenstudiums in Deutschland. Es war ihnen zunächst nicht die volle Immatrikulation, sondern nur das Recht des Gastbesuchs zugestanden. Ihre Zulassung zu den Staatsprüfungen stand noch ganz dahin. Für alles das galt es – wenn auch der entscheidende Faktor die Tüchtigkeit der Studentinnen selbst war, noch zu kämpfen. Hier liegt eines der Glieder, das Helene Lange an die organisatorische Arbeit der Frauenbewegung anschloß, der sie überdies von innen heraus durch ihre geistige Mitarbeit mehr und mehr zur Führerin geworden war.
Die Zeit vom Erscheinen der gelben Broschüre bis etwa zum Jahrhundertende bedeutet in Helene Langes Wirksamkeit die volle Entfaltung ihres Kampfprogramms, die Schaffung aller dafür notwendigen Organe und die von Schritt zu Schritt fortschreitende Aufnahme der Ziele, für die sie eingetreten ist.
Das erste war die Begründung des Allgemeinen deutschen Lehrerinnenvereins im Jahre 1890. Vielleicht erscheint es heute Außenstehenden nicht als etwas Besonderes und Bahnbrechendes, daß die Lehrerinnen ihre Berufsorganisation schufen. Aber der Allgemeine deutsche Lehrerinnenverein war mehr als eine einfache Berufsorganisation. Sein Entstehen, sein Geist, seine pädagogische und berufspolitische Arbeit bedeutete die Erweckung eines neuen weiblichen Berufsbewußtseins, eines neuen Stolzes, der aus dem Wissen um eine eigene Bestimmung in der Frauenbildung quoll. Was war die Lehrerin bis dahin gewesen? Durch Ausbildung, Stellung, Gehalt, inneren Einfluß als pädagogische Kraft zweiten Ranges abgestempelt und selbst von der durch alle diese äußeren Umstände ihr eingeprägten »lumpenhaften« Bescheidenheit erfüllt. Die Berufsorganisationen der Lehrer oder die gemischte Standesvertretung – wie der Verein für das höhere Mädchenschulwesen eine solche darstellte – konnten nichts für die Hebung der Lehrerin tun. Selbst wo sie in ihr nicht die unerwünschte Konkurrentin sahen, spiegelten die Anschauungen, die sie vertreten, nur die Verhältnisse an den Schulen selbst. Der deutsche Verein für das höhere Mädchenschulwesen hatte entschieden, daß der Einfluß der Lehrerin vor allem auf der Unterstufe des Mädchenschulwesens zu liegen habe. Und trotzdem auch im Kreise dieses Vereins einzelne stärkere Persönlichkeiten einen gewissen Einfluß gewannen, erreichten sie doch grundsätzlich für die Lehrerinnen nichts. Darum war die Sonderorganisation notwendig. Man konnte nicht neuen Wein in diese alten Schläuche füllen, sondern bedurfte eines neuen Gefäßes für einen neuen Geist. In Verbindung mit Marie Loeper-Housselle, die schon vorher in der »Lehrerin« der pädagogischen Arbeit der Frauen ein Organ geschaffen hatte, und Auguste Schmidt, der Mitbegründerin des Allgemeinen deutschen Frauenvereins, rief Helene Lange 1890 die Lehrerinnen nach Friedrichroda zur Begründung einer eigenen Berufsorganisation zusammen, die sie zur Vorsitzenden wählte. Es war eine Kampforganisation in doppeltem Sinne. Geschaffen zum Kampf für die Hebung der Frauenbildung und für die Verstärkung des weiblichen Einflusses im gesamten Mädchenschulwesen. Wirtschaftliche Ziele standen in zweiter Reihe, als äußere Bedingung, nicht als Selbstzweck. Diese Zielsetzung gab dem Allgemeinen deutschen Lehrerinnenverein seine Schwungkraft. Er band Frauen aller Schulgattungen und Erziehungsgebiete an ein gemeinsames Ziel: die Erschaffung des neuen, des autonom von der Frau selbst zu gestaltenden weiblichen Bildungsideals. Aus den »Gehilfinnen« des Mannes, wie man die Lehrerin gern bezeichnete, wurden Pioniere einer eigenen Mission. Das war das Geheimnis des Feuers, das die Zusammenkünfte und die Arbeit des Allgemeinen deutschen Lehrerinnenvereins erfüllte. Diese Idee, die er vertreten sollte, konnte auch nur durch einen alle Schulgattungen umfassenden Verband getragen werden. Innerhalb seiner mochten sich die Kräfte dann nach Schulgattungen und Fächern gruppieren für ihre Sonderausgaben. Die Hauptsache war die innere Gemeinsamkeit angesichts eines Ziels, das über all diesen Sonderzwecken, sie einend und in sich aufnehmend, stand. Aus seiner Grundidee wuchsen die Teile des Programms: Schaffung einer akademischen Lehrerinnenbildung, aber nicht in der unzulänglichen Form zweijähriger Kurse, mit der sich der deutsche Verein für das höhere Mädchenschulwesen zufrieden gab, sondern einer vollwertigen; Vermehrung der Lehrerinnen auf den Oberstufen aller Schulen und Verstärkung des weiblichen Einflusses in der Leitung; Vertretung der Lehrerinnen in der Schulverwaltung – auf der anderen Seite: Reform der Mädchenbildung, Schaffung von Bildungsgängen, die zur Universität führen, Begründung einer tüchtigen weiblichen Fortbildungsschule – alles das unter strenger Ablehnung aller Surrogate und Halbheiten. Der Allgemeine deutsche Lehrerinnenverein hat unter Führung von Helene Lange seine Mitgliederzahl von den ersten 85, die sich zusammenfanden, auf 40 000 im Jahre 1919 gesteigert. Aber diese Zahl ist nur Ausdruck einer inneren Kraft, die mehr bedeutet als sie: jenes tapferen, schwungvollen, hingebungsvollen Idealismus, der Tausende fähig gemacht hat, über ihr kleines Privatinteresse hinaus einer Zukunft zu dienen, die nicht eigene egoistische Wünsche erfüllen, sondern neuen Kräften die Bahn freigeben sollte.
Stand der Allgemeine deutsche Lehrerinnenverein in Geist und Arbeit schon ganz im Zeichen der Frauenbewegung, deren Sinn er auf seinem Gebiet in vollem Umfang und ganzer Tiefe ausprägte, so vermochte eine pädagogische Berufsorganisation doch den größeren Rahmen der Aufgaben, die der Aufstieg der Frauen zu Kraft und Einfluß stellte, nicht zu erfüllen. Deshalb genügte der Allgemeine deutsche Lehrerinnenverein, so sehr er immer den von Helene Lange am einheitlichsten geprägten Arbeitskreis dargestellt hat, ihr doch nicht, um allem, was sie wirken wollte, als Boden und Organ zu dienen. Für diese weitergreifende Wirksamkeit ist nun nicht die Mitarbeit in den vorhandenen Organisationen der Frauenbewegung, sondern die von ihr geschaffene Zeitschrift »Die Frau« (Verlag F. A. Herbig) das wesentlichere. Denn das, was sie zur Vertretung und Begründung, zur Weiterentwicklung und Durchsetzung der Frauenbewegung zu geben hatte, war so persönlich und individuell schöpferisch, daß eine Vereinstätigkeit dem höchstens ein Forum schaffen, nicht aber den Inhalt selbst verkörpern und ausprägen konnte. Sie bedurfte der eigenen Zeitschrift, weil sie der eigenen über alle vorhandenen Programme hinausgehenden Ausprägung ihrer Überzeugungen bedurfte. »Die Frau« begann 1893 ihr Erscheinen. Sie spannte ihren Rahmen weit, absichtlich nicht nur Frauenbewegung im engeren Sinne, sondern die Gesamtinteressen der Frau umfassend. Denn das, was Helene Lange unter Frauenbewegung verstand, war nicht eine Zusammenstellung dieser und jener Forderungen, sondern die Durchleuchtung des ganzen Frauenlebens mit einem neuen Geist der Selbständigkeit und Kraft, der Weite und Ausbreitung, des Selbstvertrauens und der mutigen Kritik. Jedes Gebiet, jede tatsächliche Aufgabe, alles Erleben und jede Pflicht konnte durch diesen neuen Geist geprägt und gewandelt werden. Darum war alles einbegriffen, was der Erhöhung und Befruchtung des Frauenlebens dienen konnte. Es darf ruhig gesagt werden, daß »Die Frau« die geistige Führung der deutschen Frauenbewegung gehabt hat, und daß es keine ähnliche Zeitschrift im Ausland gibt, die auf gleicher geistiger Höhe in gleicher gedanklicher Vertiefung die Sache der Frauenbewegung vertritt. Es gibt kein Problem, keinen neuen Gedanken, keine für die Frauensache belangvolle Erscheinung, die hier nicht geklärt, gewertet und in das Licht einer einheitlichen Auffassung gesetzt worden wären. So wie die Entwicklungsbedingungen der Frauenbewegung in Deutschland geartet waren, mußte »Die Frau« eine Kampfzeitschrift werden; Kritik, Abwehr, Verteidigung, Angriff prägen ihren Charakter – immer aber ist es die Grundlage einer positiven, aufbauenden, schöpferischen Gedankenbildung und Zielsetzung, von der die Kritik ausgeht.
An Organisationsbildung innerhalb der Frauenbewegung fand Helene Lange den Allgemeinen deutschen Frauenverein vor. Seine Führung mußte ihr sympathisch sein. Fand sie doch in ihr etwas von der Echtheit und Wahrhaftigkeit der Überzeugungen, die ihr selbst unumgängliches Bedürfnis war. Fand sie doch dort die tief sittliche Erfassung des ganzen Problems, die ihrer eigenen Einstellung entsprach. Und vor allem: die Arbeitsweise des Allgemeinen deutschen Frauenvereins war geprägt durch den Geist wahrer Bildung, der von jedem Fortschritt verlangt, daß er innerlich vorbereitet, begründet und befestigt sei, der jeder Phrase, jedem flachen Vorwegnehmen letzter Ziele, jedem aufgeregten Pathos abgeneigt war. Als Helene Lange in den Vorstand des Allgemeinen deutschen Frauenvereins eintrat, tat sie es in voller innerer Übereinstimmung mit dem dort herrschenden Geist, aber doch zugleich als der schöpferische Mensch, der bestimmt war, das Vorhandene weiter und höher zu führen. Und zwar in doppelter Richtung: in der exakteren, vertieften und erweiterten Durcharbeitung des Programms, und in der Versachlichung, man kann auch sagen, in der Politisierung der äußeren Form der Arbeit. Es bedeutet keine pietätlose Kritik an den Begründerinnen der deutschen Frauenbewegung, Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt, wenn ausgesprochen wird, daß sie, damals am Ende ihres Lebenswerkes stehend, die Aufgabe erfüllt hatten, der Frauenbewegung ihren ersten einfachen Ausdruck zu geben und ihre nächsten Ziele zu bestimmen. In die psychologische, soziale und wirtschaftliche Kompliziertheit moderner Verhältnisse dieses einfache Programm umzusetzen, überschritt die Bestimmung ihrer Generation. Hier hat Helene Lange mitwirkend eingesetzt. Stets die von ihr verehrten Führerinnen mit unbedingter Pietät deckend und vertretend, hat sie doch einen neuen Geist in die Wirksamkeit des Vereins getragen, zu bestimmterer schärferer Fassung der Probleme, zu strafferer Organisation der nach außen gewandten Arbeit, zu höherer gedanklicher Formung der Programmpunkte führend.
Im Jahre 1894 wurde der Bund deutscher Frauenvereine begründet. Er sollte alle deutschen Frauenvereine irgendwelcher Ziele und Arbeitsgebiete in eine Organisation zusammenfassen, deren Zweck die Vertretung solcher gemeinsamen Ziele war, die der Hebung des weiblichen Geschlechts und des Volkswohls zu dienen vermochten. Da die reinen Wohlfahrtsvereine dem Bund zunächst fernblieben, stellte der Bund im ganzen eine Zusammenfassung der bürgerlichen Frauenbewegung dar und hat sich entsprechend dieser seiner Zusammensetzung entwickelt. Die Führung übernahm Auguste Schmidt. Verglichen mit dem Allgemeinen deutschen Frauenverein kennzeichnete den Bund eine stärkere Vielseitigkeit seiner Bestandteile. War der Allgemeine deutsche Frauenverein eine unter langjähriger einheitlicher Führung zusammengeschweißte Gesinnungsgemeinschaft, so vereinigte der Bund einerseits farblosere, in der Frauenbewegung noch wenig bestimmt festgelegte Vereine jeder Art – andererseits solche radikaleren Gruppen, die im Verein Frauenbildungsreform und in dem Verein Frauenwohl, Berlin, ihren Ursprung hatten. In dem Versuch, aus diesem Vielerlei eine Einheit der äußeren Haltung zu schaffen, kam es zu den ersten großen Prinzipienkämpfen in der deutschen Frauenbewegung. Helene Lange, die dem Vorstand des Bundes von seiner Begründung ab angehörte, hat als die Führerin der »Gemäßigten« gegolten, denen eine »radikale« Minorität im Bunde gegenüberstand. Wie weit dieser Gegensatz programmatisch bedingt war, wird im letzten Abschnitt zu besprechen sein. Mehr aber als grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten trennte Helene Lange von dieser radikalen Minderheit die tiefe Abneigung gegen alle demagogischen Skrupellosigkeiten, gegen jedes Mißverhältnis zwischen Ansprüchen und Leistungen und gegen allen agitatorischen Aufwand an sachlichen oder Gefühlsübertreibungen. Sie hat mit der unbedingten und unbeugsamen Festigkeit, mit der sie für die ihr zur Gewißheit gewordenen Werte eintrat, gegen die Verflachung der Frauenbewegung im Fahrwasser einer politischen Massenbewegung gekämpft, gegen das Abgreifen ihrer Ideale zu Schlagworten, gegen das summarische Verfahren mit weittragenden und vielseitig bedingten Forderungen.
Der Vorsitz im Allgemeinen deutschen Frauenverein fiel ihr mit dem Tode von Auguste Schmidt zu. Da der Bund deutscher Frauenvereine mehr und mehr die Sammelstelle für die gesamte deutsche Frauenbewegung geworden war – die Stelle, der die Vertretung dessen zufiel, was im umfassendsten und allgemeinsten Sinne »Frauenbewegung« ist – so erkannte Helene Lange die Notwendigkeit, dem Allgemeinen deutschen Frauenverein ein besonderes Arbeitsgebiet innerhalb der vielgestaltig gewordenen Frauenbewegung zu bestimmen. Der Eigenart seiner Ortsvereine, seiner Arbeitsweise und seiner Interessen entsprach die besondere Pflege der Frauenarbeit im Dienst der städtischen und ländlichen Gemeinde. Andererseits lag für die Ausgestaltung dieser Arbeit ein starkes Bedürfnis vor. So wurde der Allgemeine deutsche Frauenverein, ohne den Boden seiner allgemeinen Ideen zu verlassen, eine Fachorganisation für den Ausbau der kommunalen Frauenarbeit – mit einer Zentrale als Auskunfts-, Beratungs- und Propagandastelle, die durch ihre Erhebungen und Darstellungen die Grundlagen für die praktische Förderung des Fraueneinflusses in der Gemeinde geschaffen hat.
Es wird sich selbstverständlich niemals feststellen lassen, welchen Anteil an den tatsächlichen Fortschritten und Veränderungen auf dem Gebiet der Frauenfrage die Wirksamkeit einer einzelnen Persönlichkeit hat. Im Zusammenwirken von Wille und Notwendigkeit, äußeren Umständen und der überwindenden Kraft einer überzeugten Seele, eines vorausschauenden Geistes läßt sich das Gewicht jedes einzelnen Faktors nicht abschätzen. Aber die Art, wie Fortschritte zustande kommen, ist mit dem Wesen der Vorarbeit, die für sie geleistet wurde, eng verbunden. Und wenn in Deutschland die Zulassung der Frauen zum ärztlichen Beruf (1899), die allmählich (von 1901 ab) erfolgende Immatrikulation, die Erschließung der Staatsexamen für das höhere Lehrfach (1906) einer Schar tüchtiger, bewährter oder sich bewährender Frauen neue Tore öffneten, so wirkte darin der Geist, der von Helene Lange gepflanzt war; wirkte in der Berufsauffassung, dem Verantwortungsgefühl, der Arbeitsfreudigkeit, die alle neuen Möglichkeiten durch ihr Gepräge adelten. Daß die Männer, die sich für die Erschließung all dieser Wege einsetzten, es taten, nicht als Nachgebende einem äußeren Druck, sondern als Überzeugte durch Geist und Leistung, liegt gleichfalls im Wesen der Vorbereitung dieser Fortschritte begründet, die von innen heraus durch Lösung und Stählung lebendiger Kräfte geschehen war. Wer ermißt, wie weit die Wirkungen einer bis zum letzten Grunde wurzelhaften Arbeit reichen, einer solchen, die hohe Maßstäbe schafft und strenge Verpflichtungen auferlegt? Wenn die Neugestaltung der Mädchenschule in Deutschland seit Anfang der neunziger Jahre in stetem Fluß geblieben ist, so kamen die stärksten Anstöße dazu aus einer Kritik, die nicht bei halben Lösungen stehen blieb, am einmal Geschaffenen haltmachte, sondern zäh das Wesentliche und Richtige festhielt und immer von neuem vertrat. Die Neugestaltung der Mädchenschule hat die Wege einschlagen müssen – trotz allen Widerstrebens einflußreicher Kreise –, die Helene Lange vorzeichnete, weil es die sachlich notwendigen waren und die Entwicklung mit ihr im Bunde war. Und wo es noch nicht der Fall ist, wie in dem Fortbestehen des sogenannten vierten Weges, da wird die Zukunft ihr weiter recht geben.
Auch in der Frage der weiblichen Leitung des Mädchenschulwesens. In dieser Frage ist die tatsächliche Entwicklung am weitesten hinter den von Helene Lange gestellten Forderungen zurückgeblieben. Sie äußert selbst gelegentlich, daß in diesem Punkt ihre Lebensarbeit vergeblich gewesen sei. Umstände, die zum Teil ihre Grundlage außerhalb der Schule haben, wirkten auf eine Zuspitzung aller Widerstände gerade auf diesen Punkt und hielten hier einen Fortschritt zurück, der innerlich längst vorbereitet ist – vorbereitet in dem Grade, als Frauen da sind, die solche Posten voll auszufüllen vermöchten.
Und so hat auch in allem, was außerhalb des Bildungsgebietes für die Frauen erreicht ist, ihr Geist schaffend und zündend gewirkt. Nur die echte Kraft weckt Kraft, die lebendig und unvergänglich ist; wer weiter sieht als andere, erschließt ihnen Ziele, die sie vielleicht noch im Dunkel suchten, wer sicher gegründet ist, weckt Mut und Vertrauen, die sonst schwankend schnell erliegen würden, wer hohe Maßstäbe aufstellt, bestimmt die Ansprüche, die Nachfolgende an sich stellen. So hat Helene Lange jedem Gebiet, das sie innerhalb der Frauenbewegung persönlich oder in organisierender Arbeit gestaltete, den Stempel jenes kraftvollen Ernstes aufgeprägt, dem sich schließlich alle Widerstände ergeben, weil er die schöpferische Tat einsetzt. Die Siege der Frauenbewegung sind nie unmittelbar und greifbar. Nie wird ein Gegner ausdrücklich die Segel streichen und sich als überwunden bekennen. Selten kommt es zu einem sichtbaren Erfolg des Machtkampfes. Wirksam ist überall die schaffende Tat, die unmerklich das Gegenwärtige zum Vollkommeneren wandelt. Und die Geister, deren Worte das Geheimnis dieser Tatenzeugung tragen, weil sie aus dem Grunde gestaltenden Willens quollen, sind die oft ungekrönten Sieger. Auf allen Arbeitsgebieten der Frauenbewegung – auch auf solchen, die ihrer eigenen praktischen Mitwirkung ferner lagen – hat Helene Lange durch diese ihre Kraft Leben geweckt, neue Formen mit bilden helfen.
Wenn irgendwo von der allgemeinen Bedeutung Helene Langes – abgesehen von ihrer Wirkung auf die Frauenbildung – die Rede ist, so nennt man sie wohl die Theoretikerin der deutschen Frauenbewegung. Damit ist die Tatsache richtig bezeichnet, daß Helene Lange – philosophischer, grundsätzlicher eingestellt als die anderen Vorkämpferinnen ihrer Generation – die einzelnen Forderungen zum erstenmal gedanklich in systematischer Weise unterbaute und damit zum innerlich geschlossenen Ganzen eines Programms zusammenfügte. Sie schuf in der Tat der deutschen Frauenbewegung erstmalig eine Theorie und gab ihr damit die Festigkeit eines gedanklich Organischen. Das geschah nicht in einer einzigen grundlegenden Schrift, sondern in einer Folge von einzelnen Aufsätzen, die, von Schritt zu Schritt fortschreitender eigener Erkenntnis entstammend oder aus äußeren Anlässen entstanden, doch die Steine eines klar gegliederten Baus bilden.
Seine Fundamente liegen in der Überzeugung von der seelischen Verschiedenheit der Geschlechter, die Mann und Frau zu anderen Kulturwirkungen bestimmt. Nicht nur also der wechselvolle geschichtliche Zufall dieser oder jener wirtschaftlichen und sozialen Zustände, sondern eine ursprüngliche seelische Anlage entscheidet darüber, wo die eigensten und darum höchsten Kulturleistungen der Geschlechter liegen. Die Frau, welche Arbeit im einzelnen ihr die Verhältnisse eines Volkes oder einer Zeit zuweisen, wirkt durch sie als Frau, gestaltet sie aus einem unwandelbar Wesenhaften ihrer Natur auf ihre Art. Kulturziel ist das Zusammenfallen ihrer äußeren Wirkensmöglichkeiten mit ihren inneren Anlagen – die volle Verwertung ihrer Kulturkraft im Werk, das ihr zu schaffen ermöglicht wird. Das Wesenhafte der Frau – das zeitlos Eigene – ist gegeben in ihrer Bestimmung zur Mutterschaft. Unabhängig davon, ob das äußere Schicksal ihr die seelische Auswirkung ihrer Mütterlichkeit am eigenen Kinde ermöglicht, bestimmt die Verbindung der Wesenszüge, die in der Pflege des Kindes zur Geltung kommen, ihre Art. Alle Kultur bedeutet Vergeistigung dieser gegebenen Anlage – keine Bildung vermag etwa anderes an die Stelle dieser ursprünglichen Natur zu setzen.
Mit diesem Kulturbegriff der Männlichkeit und Weiblichkeit verbindet Helene Lange jedoch ein menschlich Gemeinsames. Es liegt in der gleichen Beziehung von Mann und Frau zum Geistesleben, in dem Unterworfensein unter die gleichen Gesetze des geistigen und sittlichen Seins, das sich als ein Ewiges in der Mannigfaltigkeit der äußeren Daseinsformen erhält. Helene Lange hat das einmal auf die einfache Formel gebracht, daß auch für die Frau zwei mal zwei vier sei – so sehr man sich auch zuweilen bemühe, sie das Gegenteil glauben zu machen. Sie will damit sagen, daß ihr gesamtes geistiges Leben in der gleichen Gesetzmäßigkeit beschlossen ist, die uns im Gebiet der Erkenntnis und der Werte aufnimmt und beherrscht. Auch der Frau klärt sich das Chaos der Erscheinungen im Erfassen des ordnenden Begriffs, des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, auch sie baut aus dem Vielerlei der Wirklichkeit den geistig-sittlichen Kosmos durch Erkenntnis und Gewissen. »Es gibt keinen Königsweg zur Wissenschaft« – es gibt keinen weiblichen Weg der Vergeistigung und Versittlichung des Lebens. Im Sondergepräge ihrer Anlagen und Wirkensweisen bewahrt sie ein menschlich Gleiches. Wie dieselben ewigen Kräfte in der Natur die Vielgestalt der Formen schaffen, so entsteht die besondere Form weiblicher Geistigkeit durch die gleichen Mittel der Arbeit und des Wachstums.
Daraus ergibt sich ein Doppeltes: einmal, daß in der Frauenbildung der gleiche Weg beschritten werden muß, wo die gleichen Ziele erreicht werden sollen. Selbstverständlich gibt es eine Differenzierung der weiblichen Bildung nach bestimmten äußeren Zwecken: z. B. in der Frauenschule. Da aber, wo, wie in der Vorbereitung auf die Universität, das Ziel das gleiche ist, muß der Weg der gleiche sein – kann er außerdem der gleiche sein, ohne daß die Zerstörung weiblicher Art zu befürchten wäre.
Die zweite Folgerung reicht noch weiter: sie liegt darin, daß die »Sphäre« der Frau, ihr Wirkensgebiet in der Kultur, kein äußerer wirtschaftlich-sozialer, sondern ein innerer seelischer Begriff ist. Sie liegt nicht ausschließlich hier oder dort, z. B. nicht etwa nur im Hause, sondern sie entsteht überall, wo den Frauen die Möglichkeit gegeben ist, wesensgemäß zu wirken. Wie es in der Bibel heißt, daß man Gott nicht nur in Jerusalem oder an einem anderen heiligen Ort anbeten könne, so kann auch die Frau im »Geist und in der Wahrheit« weiblich wirken außerhalb der Stätten, die ihr zu dieser oder jener Zeit die Gesellschaft als ihr Gebiet angewiesen hat. Die Betätigung ihrer Art ist nicht gebunden an den engsten Kreis ihrer Gattungsaufgabe, weil diese »Weiblichkeit« ein geistiges Element ist, das alle ihre Wirkensweisen charakteristisch prägt. Die Gegenseite dieser Erkenntnis ist die Überzeugung, daß alle Kultur auf dem Zusammenwirken der Geschlechter beruht und auf Ergänzung männlicher und weiblicher Art angelegt ist. Mann und Frau sind füreinander bestimmt nicht nur im unmittelbaren Gattungssinn, sondern in der höheren Bedeutung gemeinsamen Kulturaufbaus.
Es ist letzten Endes eine Frage des Kulturempfindens, ob man in einer gegebenen Zeitlage den Anteil der Frau an der Kultur ausreichend entfaltet findet oder nicht. Objektive Maßstäbe für dieses Gleichgewicht männlicher und weiblicher Geltung gibt es nicht. Die Tatsache, daß das Bewußtsein der Frauen aller modernen Nationen eine zwangvolle Begrenzung fühlt und sich im Besitz unverwerteter Kräfte weiß, ist jedoch ein Zeugnis, das unübersehbar eindringlich auf ein vorhandenes Mißverhältnis hinweist. Es entstand in dem Maße, als der Familie in der neuzeitlichen Entwicklung wirtschaftliche, soziale und kulturelle Funktionen entzogen wurden und an die Gesellschaft übergingen. Die Frau mußte im Maß dieser Vergesellschaftung von ihnen zurücktreten. Ihr Leben verarmte, wurde leerer und enger. Der Ausgleich kann nur gefunden werden, indem die Frau ihren Anteil in neuer Form zurückerhält: in der Form unmittelbarer Teilnahme an der Gesellschaftsleistung in Beruf, sozialer Fürsorge, Politik.
Diese Wiederherstellung bedeutet aber zugleich einen Schritt weiter in bisher unbekanntes Land, ein Stück jener Menschheitsentwicklung, die in wachsendem Maße die brutale Kraft ihres Vorrechtes entkleidet und den geistigeren Mächten zur Herrschaft geholfen hat, die das Fruchtbare und Wertvolle, das still und fernhin Wirksame entdeckte und zur Geltung brachte. Die Befreiung der Frau, ihr Hinausschreiten in die Welt außerhalb des Hauses, damit sie sie unmittelbar mit gestalte, ist mehr als Ausgleich vorausgegangener Beraubung – ist ein Neues am Baum der Menschheit.
Auf dieser Grundlage errichtet Helene Lange ihr Ideal vom weiblichen Bürgertum.
Eine von immer neuen Seiten einsetzende Kritik zeigt ihr die einseitig männlichen Züge im Antlitz der modernen Gesellschaft und ihrer Ordnungen. Die Überschätzung der Güter vor dem Menschen – die Herrenmoral, die achtlos an zertretenem Leben vorübergeht –, die Vernachlässigung sozialer Kultur, Kultur der Wohnung und Lebensführung, der Gesundheit und Erziehung, im rücksichtslosen Kampf um wirtschaftliche Macht – der Bureaukratismus in jeder Form, das alles verlangt nach der Mitwirkung eines anders gerichteten Willens, den man zu lange ferngehalten und ausgeschaltet hat. So setzt Helene Lange die Forderung des Frauenstimmrechts in Gemeinde und Staat ein, als der unter den gegebenen Verhältnissen moderner Verfassungsstaaten unumgänglichen Voraussetzung für die Entfaltung eines weiblichen Kulturwillens im sozialen Leben. Was sie in einer 1896 entstandenen Abhandlung »Frauenwahlrecht« vertreten hat, ist dann maßgebend geblieben für eine Folge von Aufsätzen, in denen sie den Kampf für das volle Staatsbürgertum der Frau fortsetzte. Auch hier immer sich stützend nicht so sehr auf das formale Recht, als auf die Leistung, der die Bahn freigegeben werden sollte, auf die Überzeugung, daß einer zu eigenen Zielen strebenden weiblichen Kulturkraft die Auswirkung im Staat ermöglicht werden müsse – eben zum Zweck des ergänzenden Ausbaus männlich gestempelter Lebensordnungen.
Um zum Ziel zu gelangen, hat sie daher stets in erster Linie die Wege praktischer Tat empfohlen: die Mitarbeit an den sozialen Aufgaben überall, wo sie erfaßbar sind, in Vereinen, in der Gemeindeverwaltung – und daneben die Mitarbeit in den politischen Parteien. Denn wie ihr selbst die Frauenbewegung in der Einheit einer freiheitlichen Staatsauffassung ruhte, so hat sie es als eine unumgängliche Stufe staatsbürgerlicher Entwicklung angesehen, daß die Frauen sich politische Überzeugungen bilden und für sie eintreten. Sie hat durch den Beitritt zur Freisinnigen Vereinigung, unmittelbar nachdem das Vereinsgesetz von 1908 das ermöglichte, die äußere Konsequenz ihrer inneren Stellung gezogen und ist seit der Fusion zur Fortschrittlichen Volkspartei jahrelang Vorsitzende des Arbeitsausschusses der Frauen der Partei gewesen.
Zu den Prinzipienfragen, die in den letzten Jahrzehnten in der Frauenbewegung zum Austrag gekommen sind, war auf der oben gekennzeichneten Grundlage Helene Langes Stellung gegeben.
Sie, der sich das Programm der Frauenbewegung aus der Tatsache der seelischen Sonderbestimmung der Frau ergab und der die Frauenfrage in ihrem letzten Wesen eine Kulturfrage bedeutete, mußte die materialistische Auffassung ablehnen, die den ökonomischen Faktoren die nicht nur äußerlich entscheidende, sondern auch wesensgemäß ausschlaggebende Bedeutung zusprach. Die Auffassung, daß aller Aufstieg der Frauen an der Bedingung der ökonomischen Freiheit – der Unabhängigkeit durch eigenen Erwerb – hafte, und daß daher die Erwerbsarbeit auch der Ehefrau der einzige Schlüssel zur Freiheit sei, – diese Auffassung hat sie als eine doktrinäre Verflachung bekämpft. Sie ist überzeugt, daß jede soziale Geltung von dem Einsatz geistiger Kraft abhängt, und daß daher die Frau dort ihre höchsten Möglichkeiten der gesellschaftlichen Achtung hat, wo sie am intensivsten wesensgemäß zu wirken vermag. Alle eigentlich entscheidenden Faktoren der »Befreiung« sind nicht materieller, sondern dynamischer Natur, überzeugend und überwindend wirkt die lebendige Kraft. In dem Problem Beruf und Ehe liegt – wie auch wirtschaftliche Umstände die äußere Entscheidung beeinflussen mögen – die ideelle Entscheidung in jedem Fall da, wo der Frau die Auswirkung ihres geistigen Wesens ermöglicht wird, wo sie nicht unter einer Doppellast auf halbe und gehemmte Leistung gesetzt ist, sondern in Freiheit ihrer so oder so gearteten Bestimmung dienen kann.
In gewissem Zusammenhang damit steht die Stellung zum Eheproblem als solchem. Teils als Konsequenz dieses ökonomischen Materialismus, der die Selbständigkeit der Frau nur auf dem Wege der Erwerbsarbeit suchte und damit die wirtschaftliche Grundlage der Ehe auflöste, teils von der Seite der Sexualmoral aus ist in einem kleinen Teil der deutschen Frauenbewegung die Forderung einer freieren Gestaltung der Ehe vertreten worden. Durch die gesellschaftliche Anerkennung des ohne den Willen zur Dauer geschlossenen »Verhältnisses« wollte man eine Lösung der Konflikte finden, in die Mann und Frau durch das Hinaufrücken des Heiratsalters weit über die Zeit erotischer Reife geraten. In dem Kampf um die »Neue Ethik« hat Helene Lange mit größter Entschiedenheit die unbedingte Aufrechterhaltung des monogamischen Ideals vertreten. Im letzten Grunde wieder aus dem Zusammenhang ihres klaren und feinen Empfindens für die Sonderart der Frau. Weil die Liebe der Frau mit der Mutterschaft verknüpft ist, so kann nicht ihrem seelischen Bedürfnis eine Lockerung des Bandes entsprechen, das den Vater mit Mutter und Kind verknüpft. Der Sieg monogamischer Eheideale bedeutet in diesem Sinne ein Stück der Entwicklung, die in langem, noch keineswegs ans Ziel gelangten Kampf den Gefühlsmaßstäben der Frau zu höherer Geltung verholfen hat – verhängnisvollster Rückschritt, wenn, um einer momentanen sozialen Notlage willen, etwas von dieser Errungenschaft preisgegeben wird. Nur in der Steigerung, nicht in dem Lockern der mit der Ehe verknüpften Verantwortung kann die Lösung sexueller Krisen gesucht werden.
Es ist die Schulung jenes Maßbewußtseins, das man wohl als »Kulturgewissen« bezeichnen kann, die auch in der Stellung zu dieser Frage wieder den Ausgleich zwischen Freiheit und Bindung, Einordnung und Persönlichkeitsrecht findet. Eine von Grund aus gesunde Natur, stark genug in ihrem elementaren Empfinden, um sich durch keine Dialektik davon entfernen zu lassen, und gehalten zugleich durch eine geschichtliche Bildung, die das Urteil des eigensten Gefühls nicht beirrt, sondern fest unterbaut – so hat Helene Lange in einer Krisis der Frauenbewegung, die vielleicht in anderer Form gerade nach dem Kriege wieder auftauchen wird, die Sicherheit der »reinen Lehre« gewahrt und verteidigt.
Mit der Festigkeit und Klarheit, der kraftvollen Folgerichtigkeit dieses gedanklichen Unterbaus hat Helene Lange der deutschen Frauenbewegung zugleich noch etwas anderes gegeben: einen Zug deutschen Wesens. »Diese Nation, die«, wie Goethe einmal sagt, »sich stets Rechenschaft gibt von dem, was sie tut«, hat damit auch in ihrer Frauenbewegung den philosophischen Charakter ihrer Kultur ausgebildet. Wenn Helene Lange unbewußt und ungewollt, einfach aus dem eigenen Wesen heraus, der deutschen Frauenbewegung eine Prägung gab, die sie von der äußerlich gleichen Entwicklung anderer Länder entscheidend abhebt, so hat sie doch auch bewußt die Verwurzelung der Frauenbewegung im nationalen Leben als eine unerläßliche Bedingung gesunden Wachstums erkannt. Sie, der vielseitigste Studien einen besonders weiten Überblick über die Frauenfrage des Auslandes verschafft haben, wußte doch stets eine klare Grenze zu ziehen, die das international Gemeinsame vom unvergleichbar Bodenständigen schied. Sie hat gerade im Frauenweltbund, dessen Vorstand sie einige Jahre angehörte, sich als Deutsche gefühlt und als Deutsche gewirkt. Und sie hat in der geschlossenen Energie ihrer Persönlichkeit selbst, in der schweren Gewissenhaftigkeit ihrer Natur, in dem nie getrübten Echtheitsbedürfnis ihres Geistes gar nicht anders gekonnt, als den starken Zusammenhang mit dem Mutterboden in selbstverständlicher Treue wahren.
Noch ist wohl die Zeit nicht gekommen, da der Inhalt dieses Lebenswerkes in historischer Betrachtung seine Bedeutung als ein Stück deutschen Aufstiegs ganz enthüllen kann. Noch vermögen wir, die wir der späteren Generation angehören, in unseren eigenen Anschauungen noch kaum zu sondern, was als Gabe und Kraft ihres Lebens auf uns gekommen ist. Was aber von diesem Werk ganz unmittelbar auf uns ausstrahlt, das ist die Macht jenes idealistischen Mutes, jener höchsten inneren Unabhängigkeit, die das letzte Wesen jeder geistigen Neuschöpfung ausmacht.
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Kroll's Buchdruckerei, Berlin S 14