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Die klassische Frau ist nicht Charlotte von Stein. Sie war ja kein wirklich harmonischer Mensch; das Schicksal konnte sie zwingen; sie stand nie ganz über dem, was ihr zustieß. Sie litt, unversöhnt und unversöhnlich, unter Mutterschaft und Geschlechtsgebundenheit; sie litt unter dem Leben und dem Tode der Liebe. Sie war verfeinert, empfindsam, vornehm, klug, aber sie war auch matt und reizbar. Ihr fehlt das Ruhevolle, Quellende, die Unerschöpflichkeit des Gefühls, der Reichtum, der innerlich frei macht, die Kraft, die das Leben, mag von außen kommen was will, zum Gebilde nach eigenem Gesetz abrundet.
Dieses alles besitzt Caroline von Humboldt. Sie ist die lebensvolle Wirklichkeit klassischen Geistes, anmutig und heroisch, lebhaft und ruhevoll, süß und kräftig – Mutter und Geliebte, große Dame und Bürgerin – von höchster Kultur und doch innerlich ganz einfach. Wilhelm von Humboldt schenkt ihr einmal (im Jahre 1810) die Formel ihres Wesens: »Ich habe so oft und tief gefühlt, wie im edelsten Sinne des Wortes deutsch Du bist und wie sich in Dir klar und bestimmt zeichnet, was die Grundlage des Besten und Höchsten in unserm Denken und Empfinden ist. Ich kann gewiß mit Unparteilichkeit behaupten, daß sich vielleicht nie eine allgemeine Form in einem Einzelnen so rein und vollkommen ausgesprochen hat, als deutsche Weiblichkeit in Dir.«
Ein Strom des Gefühls, der ein ganzes reiches Leben in seinen unzähligen Beziehungen schwellend durchflutet, muß in der Jugend stürmisch und überschäumend gewesen sein. Die junge Caroline von Dacheröden ist kein sanftes Bild wie etwa ihre Cousine Charlotte von Lengefeld. Sie ist glühend und durstig, wie sie da, ein mutterlos aufgewachsenes Mädchen, in die Welt hinaus kommt, freier und sprühender, selbst in der äußeren Lebenssitte, die doch so fest war damals, als ihre Altersgenossinnen. Schiller fühlt sich bei einer ersten flüchtigen Begegnung gestört durch den Glanz, der um ihr Wesen ist, und das dezente Fräulein von Lengefeld, ganz aus dem Horizont der kleinen Residenz heraus – Rudolstadt, nicht Weimar – erschrickt ein bißchen vor ihrer »Freigeistigkeit«. Sie bringt einen anderen Stil mit in diese streng gebundene Welt des thüringischen Kleinadels – einen Stil, den sie aus sich nahm. Sie hatte mehr Saiten auf ihrem Spiel, mehr Blumen in ihrem Garten. Die wollten klingen und duften. Sie bestand darauf, jung, leidenschaftlich, übermütig, gefühlvoll zu sein. Mit den Wünschen ihres unbändigen Herzens hätte sie die Ewigkeit ausfüllen können und dem Genuß von Freundschaft und Liebe möchte sie ihre Dauer geben – so bricht es einmal aus ihr hervor. Ihre Seele ist Atem der inneren Revolution, die damals in der deutschen Jugend das Recht des Herzens wieder zur Geltung brachte. Der Strom, von Rousseau und Werther herquellend, nahm sie auf, als er schon breiter und machtvoller dahinrauschte. Ihre Jugend fällt in den Sommer der deutschen Empfindsamkeit, deren Frühlingsblühen der Werther ist.
Es ist dieser Weg der Emanzipation des Gefühls, auf dem sie sich mit Humboldt begegnet. Im Kreise der empfindsamen Gemeinschaft des »Tugendbundes« wechselten sie leidenschaftliche Briefe, ehe sie sich kannten. Und während sie listig miteinander den Vorwand ersannen, der Humboldt nach Burgörner in Carolines elterliches Haus führen sollte – die Besichtigung des Wunders einer ersten Dampfmaschine – schwelgten sie schon in der Phantasie der ersten Begegnung:
»Eilet raschen Flugs dahin,
Eilt ihr trägen Augenblicke,
Daß mein lieberfüllter Sinn
Meine Lina bald erblicke,
Sie, die meinem Herzen ach! so nah
Nie mein schwermutsvolles Auge sah!«
Im August 1788 schließt sie ihn verabredungsgemäß in der »heiligen Laube« auf der »umschatteten Bank« an den »Schwesterbusen«, wie sie ebenso überschwänglich seinen und ihren Freund Carl Laroche an das liebewallende Herz gedrückt hatte und weiter zu drücken bereit war. Über ein Jahr ist ihre Beziehung in die seelische Promiskuität des Tugendbundes eingespannt – sie wiegen sich mit auf diesem Meer von Tugendseligkeit, Freundschaft, geistiger Berührung, sinnlicher Genußfähigkeit, in dem die neue Jugend von damals badete, bedrückt von abgelebten Gesellschaftsformen unter dem herbstlichen Himmel des sterbenden Nationalismus. Kein unbedenkliches Abenteuern zwischen Geist, Seele und Sinnen, bei dem schwelgerischer Gefühlskommunismus die Konturen des Persönlichen überspülte. Leidenschaft konnte dabei in Sentimentalität ertrinken, Tiefen versanden, Natur und Individualität heillos verkitscht, Keuschheit und seelische Selbstbewahrung bedenklich verwirrt werden. Nur dem gesunden, tief innerlich formvollen, auf Individualität gestellten Menschen konnte diese Atmosphäre die Gefühlskräfte lösen, ohne ihn zu gefährden.
Es war für Caroline heilvoll, daß ihr gerade Wilhelm von Humboldt Freund wurde. Er war doch im Grunde nur Gast in dieser Welt, denn sein Gefühl war nicht zum Hinschütten in breit auslaufenden Fluten, es war verhalten und sparsam wie die Farben der märkischen Landschaft, der er entstammte. Ohne starkes Temperament, feinfühlig, empfänglich, vornehm und vor allem geistig so überlegen, daß er in dem brodelnden Treiben des Gefühls die werdende Gestalt der neuen Persönlichkeit zu erfassen vermochte.
Das geistesgeschichtlich Bedeutsame in der Lebensentfaltung der Caroline von Humboldt ist das Entstehen der klassischen Linie. »Nie hat sich allgemeine Form in einem Einzelnen so vollkommen und rein ausgesprochen.« Sie ist der vollendete Typus der klassischen Kultur geworden. Dazu war ihr Wilhelm von Humboldt Helfer und Mittler, zeigte ihr die eigene Idealität, deutete ihr in der lebenden Entwicklung die geprägte Form, half ihr, der überflutenden Fülle ihres Wesens Gestalt zu geben und gab ihrer Entfaltung den Boden: ein Dasein auf bedeutendem Schauplatz, Begegnung mit allem großen und wesenhaften Leben, in diesem Leben aber den festen Standort in einem verantwortungsvollen Wirkenskreis.
Die Ehe von Wilhelm und Caroline von Humboldt ist eine der vollkommensten Beziehungen zwischen Mann und Frau, die wir kennen. Eine eigentümliche Ebenbürtigkeit macht jeden dem andern zugleich zum Führer und Geführten. Sie hat die unerschöpflich quellende Produktivität des Gefühls, die Entschiedenheit und Sicherheit der Empfindung, sie entscheidet für ihn in allen Lebenslagen, in denen die Zukunft auf dem Unwägbaren beruht; von ihr strömt das Leben, die innere Bewegung, Blut und Kraft in ihr Zusammensein; sie besaß eine unerschöpfliche Wärme, um jeden seiner Gedanken beseelend zu umfangen. Er aber erbaut um sie die geistige Welt wie ein lichtes, schön gegliedertes, groß angelegtes Haus. Er läßt sie das geistig und politisch Große als ein Gegenständliches und zugleich Persönliches erleben. Wenn sie die objektive Welt, in der er lebte und arbeitete, in persönliche Kultur verwandelte, so hob er ihr subjektives Erleben klärend und beruhigend in die objektive Welt hinauf, knüpfte ihr bewegliches Gefühl an das Ewige, und erschloß ihr die Mächte, die den großen Rhythmus von Völkergeschicken und Ideengeschichte bewegen.
Es wäre aber nicht richtig anzunehmen, daß dieses Füreinander sich naturhaft und selbstverständlich gestaltete. Carolines unermeßliche Liebeskraft fügt sich nicht schmerz- und konfliktlos in die Ausschließlichkeit der Ehe. Ihre Herzensgeschichte hat in dem Bund mit Wilhelm von Humboldt noch nicht ihr Ende. Sie war geschaffen zu glühen, und ihre Frauenseele war zu reich und blühend, um sich in einer Herzensbeziehung zu erschöpfen. Zweimal noch hat eine tiefe Leidenschaft sie erschüttert und in Wonne und Schmerz ihrem Wesen seine wunderbare, schicksalberührte Reife gegeben. Die schöne Vornehmheit des Geltenlassens, die aus tiefem und sicherem Verbundensein quellende Achtung vor Freiheit und Schicksal des anderen, dazu auch die große innere Ruhe – und die Temperamentlosigkeit – Wilhelm von Humboldts führte beide durch solche Stürme hindurch, ohne daß ihre Ehe daran zerbricht oder auch nur entseelt wird. Sie stehen beide über diesen unfreien engen Eigentumsgefühlen aneinander, über kleinlicher Angst und gekränkter Eifersucht. Und sie sind beide der unauflöslichen inneren Gebundenheit in ihre Ehe und Elternschaft unbedingt gewiß. – »Mit größerer Grazie war noch niemand verheiratet, völlige Freiheit gebend und nehmend« – sagt Varnhagen von der vornehmen Sicherheit ihres Bundes.
* * *
Die Entfaltung der klassischen Form in der Persönlichkeitsentwicklung Carolines hat drei Phasen. Sie heißen: Individualität, Mutter, Bürgerin. Und sie ruhen so ineinander, daß die Individualität durch die zweite und dritte Zone ihrer Wesensgestaltung hindurch wächst, sich füllt und vollendet.
Aus dem rousseauischen Schwelgen in gestaltlosem Gefühl hebt sich bei dem jungen Humboldt die Anschauung der Persönlichkeit. Es ist die temperamentvolle Bestimmtheit und die eigenartige weibliche Anmut Carolines, an der ihm diese Anschauung sich bildet. Höchst bedeutsam der Brief aus dem Dezember 1790, in dem Humboldt, Rechenschaft gebend über seinen Bildungsgang, seinen Entschluß begründet, ohne Amt nur sich selbst, seiner Entfaltung zu leben. »Wie ich mich tiefer studierte, wie ich große Charaktere in andern näher sah, oh, und vor allem, wie Dein Anblick mich ewig beschäftigte, da dämmerte es erst so in mir, daß doch eigentlich nur das Wert habe, was der Mensch in sich ist.« Sie ist es, die ihn zur Klarheit darüber führt, daß »die schöngestaltete Natur einen wohltätigeren Segen über die Menschen verbreitet, die sich in ihrem Anschauen verlieren, als die fruchtbare über die, welche ihre Fülle genießen.« Und daß sein matteres Temperament die Entschlossenheit, sich aus dem vorgeschriebenen Gang herauszureißen und dem neu aufgegangenen Stern zu folgen, durch die strahlende Blüte ihres Menschentums gewann, bekennt er später (in einem Brief an Welcker vom 23. Dezember 1869): »Ich habe eine ordentlich unselige Fähigkeit, mich jeder Lage anzupassen, und stand, als ich mich versprach, eben auf dem Punkt, ganz und rettungslos in äußere Verhältnisse unter uninteressanten Menschen zu versinken, als mich meine Verbindung und der sich darauf notwendig gründende Plan, selbständig und für mich zu leben, plötzlich wie aus einem Schlummer herausriß. Indes wäre dies noch wenig. Allein der Umgang mit gewissen Naturen, und keine darf man dabei so nennen, als die meiner Frau, hat durch sich selbst etwas unmittelbar und in jedem Moment Bildendes.« So erwächst ihm die Bildung der Individualität als Wertidee des Lebens. »Der wahren Moral erstes Gesetz: Bilde Dich selbst, und ihr zweites: Wirke auf andere durch das, was Du bist.«
Und was ihm aufging, findet in ihr ein volles, jubelndes Echo. »Fühlst Du nicht oft, wenn Du eines künftigen Daseins gedenkst, ein süßes namenloses Verlangen, gleich dem Zurückkehren nach einem heimischen Ort? Sollte es trügen? Sollte etwas tief Empfundenes unwahr sein? O nein! Die Momente, wo ich von der heiligen Glut Deines Wesens getragen in einer reineren Ansicht der Dinge schwebte, lösten die lang gebundene Seele. Da empfand ich, daß alles Aufstreben, alles Ringen nach Veredlung, das einen menschlichen Busen füllt, Verlangen sei, die erste, einfache, hohe Urgestalt unsres Wesens wieder zu fassen! O laß mich an Deiner Seite leben, in der Freiheit aller äußeren Verhältnisse, daß nichts die Harmonie unseres Daseins störe, daß ich Dich leben sehe in der Fülle Deiner liebsten, eigensten Ideen, in allen geistigen Gestalten Deiner Seele. Mein Herz wird von einem neuen Leben glühen, mein Wesen sich zu einer höheren Schöne erheben und Dir den reinsten Genuß der Menschheit geben!«
In diesen Worten ist – mit der Intuition der Diotima – das Wesen der Bildungsidee erfaßt, die dem »klassischen Geschlecht« seine Bestimmung gab: in der Sphäre eines höheren Lebens die Natur, die eigene Urgestalt selbst noch einmal erschaffen. » Bilde Dich selbst« – diese ehemals unendlich gehaltvollen Worte gewannen im Leben der beiden Humboldts ihre gestaltende Kraft, ehe Goethe im »Wilhelm Meister« den Weg seines Geschlechts zu sich selbst beschrieb. Äußere Möglichkeiten und edle Familientradition unterstützten die Verwirklichung der Idee, die sich in Humboldt als Lebensprinzip gestaltete, die Caroline so tief und enthusiastisch aufnahm. In dem Frieden des Dacherödenschen Gutes Auleben, dann (seit 1794) in Jena in der brennenden Mitte des geistigen Kosmos Deutschland, dann (von 1797 ab) auf Reisen in Paris und Spanien – im ganzen durch ein Jahrzehnt, für Wilhelm von Humboldt das 24. bis 34., für Caroline das 25. bis 35. Lebensjahr, lebten sie beide sich selbst – d. h. einem edlen und ernsten »Dilettantismus«, der ihr Leben unverlierbar dem Walten des Geistes in Ideen und Begebnissen verband. Humboldts Arbeiten, seine griechischen Studien, sein Hineinwachsen in die Kantische Philosophie, seine politisch-sozialen Versuche (durch die französische Revolution hervorgerufen) füllen den Kreis beider mit Gestalten und Wesenheiten des großen geschichtlichen Lebens und erschließen im Empfangen und Wachsen unendliche Kräfte der Seele. Und eingebettet in dieses Wirken geistiger Mächte, umringt von erhabenen Gestalten, erlebt Caroline mit der ganzen Inbrunst ihrer warmen Natur das Muttersein. Wie selig sie in der seelisch-körperlichen Beglückung dieses Erlebnisses war, sagt ein Brief vom Sommer 1795, als sie ihren Jungen, den sie über ein Jahr selbst gestillt hat, absetzen muß: »Ich bin leidlich wohl, aber traurig, da mir die schöne Zeit so mächtig zu Ende geht und Brüderchen so ganz der Mutterbrust entwächst. Ach, so tief hat mich kaum je etwas geschmerzt, wenn er schon nun für einen großen Jungen und für keinen Säugling mehr gelten wird. Der große Junge wird nicht mehr so mein sein, wie es der kleine war. Ich werde nichts, nimmer, nimmer nichts mehr haben, was in diesem Sinne mir so gehören wird wie dieser Junge. Es ist mein bestes Kind, ich bin dessen so sicher, und ich vermag nicht, so kindisch ich auch fühle, daß es ist, vermag nicht, mich ohne tausend Tränen von ihm zu trennen. Ach, denn Trennung ist's doch, man mag auch sagen, was man will, Trennung von etwas mehr als es beim ersten Blick aussieht. – Vergib mir, daß ich weine.«
Es muß versucht werden, mit wenigen Linien zu zeichnen, was für Caroline und Wilhelm von Humboldt Sinn und Ertrag dieses Lebensabschnittes war.
Der Individualismus, der in die Gestaltung der Persönlichkeit Werte und Ziele setzt, ist bei den Humboldts ganz ohne subjektivistische Note. Und nichts bezeichnet mehr als dieser Umstand sein Wesen. An den Briefen der Brautzeit kann man erfassen, wie tief er in der ethischen Gesinnung des Rationalismus verwurzelt war. Werden, Entfaltung wird stets gleichgesetzt mit »Veredlung«. Das heißt: Persönlichkeit, Individualität wird verstanden als Aufgabe: – die Urgestalt, die Meinung der Schöpfung, die platonische Idee seines Ich lebend zu erschaffen. Dies: daß Persönlichkeit nicht sei, sondern gebildet werde, schließt die ehrfürchtige Anerkennung einer Welt außerhalb des eigenen Ich in sich, aus der die Wachstumskräfte der Seele sich ergießen. Die Idee der Persönlichkeit als Aufgabe führt immer von neuem über den Ring dessen hinaus, was der Mensch jeweils ist, und gibt jedem Moment in der Kette des Lebens die Bestimmung, die eigenen Konturen in die geistige Welt hinein klarer zu ziehen und aus dem Flüchtigen ein Bleibendes in die Ewigkeit zu bauen: das Ich als anschauliche, faßbare, geistige Form.
Durch diese unendlich reiche Idee ist der ethischen Zielsetzung das Schablonenhafte der Norm genommen und die subjektivistische ist durch Verantwortung geadelt; im Sittlichen wird die starre Gesetzlichkeit überwunden durch das Gefühl, daß die Gesetze Wachstumskräfte der Persönlichkeit sind, etwas Lebendiges, Wirkendes, Elastisches, nicht Sätze des Verstandes, und daß ihrer bildenden Macht Mannigfaltigkeit der Formen eignet wie der Natur. Und als Ziel und Wesen der eigenen Bildung heben sich herauf – nicht Korrektheit, Normgemäßheit oder der Gewinn einzelner Tugenden – sondern: Harmonie und Totalität. Das Ich als ein in allen seinen Möglichkeiten entfaltetes Gefüge zusammenwirkender Kräfte, ein Kosmos feiner und mächtiger, heftiger und zarter Energien – in dieser Anschauung ist der unerschöpflich fruchtbare, wahrhaft epochemachende Glaube enthalten, daß Individualität und Vollkommenheit in Eins gedacht werden können. Über die Kluft zwischen Sein und Sollen, Idee und Leben, Philosophie und Historie, Kunst und Gedanke wölbt sich eine geheimnisvolle, schwebende Brücke, zart und flimmernd vor dem auf solche Gesichte noch nicht eingestellten Auge, hinschmelzend und wieder auftauchend – eine gewisse Zuversicht der Seele, die sich aus allen höchsten Augenblicken, aus allem innersten Bewegtsein bestätigt.
Dieser Glaube: daß Vollendung des Seins mit Individualität verbunden sei, ist das eigentliche Wesen des Klassizismus. Das »klassische« Wertgefühl sucht zwischen der wirren Mannigfaltigkeit der flüchtigen Erscheinung und der Einheit der höchsten Abstraktionen die »ideale Form« oder umgekehrt (mit Spranger in seinem Buch über Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee) »die individuelle Idealität«. Mögen die philosophischen Formulierungen, die Schiller und Humboldt dafür prägen, unzulänglich bleiben: wichtiger als Worte und Begriffe ist der lebendige Kern, das Fühlen, Werten, Gestalten selbst, das den Geist dieser Epoche ausmacht. Diese Verkörperung im Sein ist in Caroline von Humboldt vollendeter als in irgendeinem anderen von diesem Geist ergriffenen Menschen.
Es lag aber in einer Selbstbildung, die bewußt, halbbewußt, unbewußt dieser neuen Stimme folgte, schon der Keim zu einer anderen Daseinserfüllung als die eines geistgeprägten Privatlebens. Der Ring, das Gebilde des eigenen Seins vollendet sich nicht im bloßen Aufnehmen. Die Totalität des Ich zu gewinnen, bedarf es der Tat, des Wirkens auf andere. Diesen Weg findet Caroline sich vorgezeichnet durch die Mutterschaft. In ihr gewinnt sie die höchste Einfachheit, das vollkommenste Gleichgewicht von Geben und Nehmen, die still und tief bewegte Ruhe, die sie – die stürmisch durchwühlte, wortreiche, enthusiastisch in die Welt greifende Caroline von Dacheröden der Brautzeit – brauchte, um sich zu vollenden. Ihre ausgebreiteten Arme schließen sich befriedet um den zarten Leib ihrer Kinder, die sausenden Flammen ihrer Gefühle ziehen sich in einen Lichtkern zurück, der unauslöschlich und gleichmäßig strahlt. Ihre Sprache wird ganz einfach, lebensnahe, natürlich, legt alle deklamatorische Sentimentalität ab. Sie wird viel schlichter und dabei nicht weniger reich, nicht weniger individuell. Ihre fordernde und leidenschaftliche Natur gewinnt die Reife der stillen Einordnung in den Ring des Lebens, in dem das einzelne Schicksal im ewigen Rhythmus ruht. Damals erschütterte sie die Leidenschaft zu Burgsdorf, deren Überwindung sie in den schicksalgefüllten Worten an Rahel ausspricht: »Ich trage ein menschlich und doch ein göttlich Herz im Busen; nein, diese Liebe hat nicht die Kräfte meiner Seele gelähmt; sie hat mich die Tiefe meiner Natur ermessen lassen und mich zu einer Höhe gehoben, die mir ohne sie, ohne alles Leiden, das sie über mein Dasein ausgegossen hat, ewig unbekannt geblieben wäre. Meine Geschichte ruht unentweiht in meinem Herzen.«
Für Wilhelm von Humboldt mußte die Vollendung der Selbstbildung durch die Tat einen tieferen Einschnitt in der Führung seines Lebens bedeuten: die Konzentration seiner vielseitig ausgebreiteten Interessen und Tätigkeiten in den Beruf; der Selbstbildung mußte als zweiter Kreis die Selbstdarstellung im Tun, die Einwirkung auf die Welt folgen. Der Übergang in diese Welt des zusammengefaßten Handelns, der Entschluß zum Werk ist begleitet von einem stärkeren Aufleuchten und Hervortreten der objektiven Ordnungen der Welt – des Alls, der Geschichte und Entwicklung, der großen Lebensformen der Völker. Alles zusammen: Männlichkeit, sicheres Fußen des Ich in der rhythmisch bewegten Welt, praktische Orientierung im großen Gang der Geschichte, die Hand mit am bewegenden Motor.
Im Jahre 1802 wird Humboldt Gesandter in Rom. Die folgenden Jahre zeigen sie beide auf der Höhe eines von heiterem Gelingen gekrönten Lebens. Was sie in der Stille gesäet hatten, reift ihnen nun zu goldener Frucht. Alles schien Vorbereitung gewesen zu sein für die innere und äußere Fülle dieser Jahre. In dem dreifachen Element von Kunst, Geschichte und südlicher Natur breitet sich gesammelte Empfänglichkeit und Kraft ruhevoll aus. Und unter dieser dreifachen Einwirkung lernen sie tiefer noch das Geheimnis, von sich selbst loszukommen, um sich besser zu finden.
»Immer mit allen Vermögen umschling des Geists und des Herzens
Was im unendlichen All mächtig die Kräfte Dir regt,
Daß, in der einsamen Brust befruchtet von zeugender Fülle,
Stets die empfundne Natur neu sich gestalte in Dir.«
Aber es fehlte ihr noch eine letzte innere Offenbarung, um die Höhe der von ihnen beiden erdachten und erlebten Weltanschauung zu gewinnen, jener Weltanschauung, die »befiehlt, menschlich zu sein bis ins tiefste Fleisch, alles zu kennen und zu durchsuchen, und alles in echteste Menschheit zu verwandeln«: das war das Erlebnis des Schmerzes. Ihrem Mutterherzen kam das Gebot des Schicksals: Noch ist Dein Tiefstes stumm – brich Furchen in den Fels mit härterer Schmerzen Stahl! Dem Ungeprüften schweigt der Gott! In Arriccia starb im Sommer 1803 ihr schönster und geliebtester ältester Sohn nach kurzer heftiger Krankheit.
Zuerst ist es ihr, als sei der Boden unter ihren Füßen fortgezogen. Sie empfindet das Geschehene als »eine tiefe Tücke des Schicksals«, sie fühlt sich in einem tiefsten Sinn unwiederbringlich beraubt. »Ach, nur zu tief fühle ich es, von meinem Leben ist der Glanz, der es schmückte, der schöne Glanz eines heiligen Glückes, eines unberührten Schicksals hinweggenommen und ich habe keine Sicherheit mehr für das Teuerste.« Der Tod war der olympischen Heiterkeit, der inbrünstigen Diesseitigkeit ihres Wesens fremd und feindlich. »Wie seine Augen im Tode brachen, seine Augen, deren reiner Glanz nur mit dem letzten Atemzug erlöschte, mußte ich mich fragen: Wohin führt dieser Weg und wohin der Funke des Lebens, der noch soeben diese liebliche Gestalt bewegte? Ach, alles ist tiefes Geheimnis. Entstehung und Tod deckt eine furchtbare Macht, und das Furchtbarste und Widersprechendste in der weiten Natur ist der Tod eines blühenden Kindes, in dem alle Kräfte sich regen.« – »Ich trage sein Schicksal und das meine wie ein schweres Rätsel mit mir herum.« –
Das Rätsel löst sich ihr nicht in der Schau eines Jenseits, in religiöser Überwindung, sondern getreu der Wahrheit, aus der sie bisher lebte: auch dieses Schicksal wurde ihr sinnvoll und fruchtbar, indem es die Größe und Kraft ihrer Seele hob. »Du hast es mir aus der tiefsten Seele geschrieben« – so bekennt sie diesen Sieg ihrem Gatten – »wenn Du in Deinem Brief sagst, es komme nicht darauf an, glücklich zu leben, sondern bloß darauf, alles Menschliche zu erschöpfen und sein Schicksal zu vollenden. Geahndet habe ich es immer – aber tiefer und ganz, ganz hab ich es seit unsers Wilhelms Tod empfunden. Die Tiefe und Unendlichkeit des Lebens hat sich seitdem vor mir aufgetan, und das Großmenschliche erblüht, ersteht, wie soll ich sagen, gewiß und einzig nur da, wo das Individuum sich weder im Genuß des Glücks, noch des Schmerzes schont.«
* * *
So gereift führt das Schicksal sie in den letzten weitesten Kreis, den ihr Sein zu erfüllen bestimmt war und in dem sie sich selbst vollendet: in das Erlebnis Bürgerin ihres Staates, Tochter und Mutter ihres Volkes zu sein, in die heroische Epoche ihres Lebens. Es ist die Zeit der Niederlage und der Erhebung Preußens, die sie vollendet und die zugleich in ihr das feurigste, reinste Herz, den klarsten, sichersten Willen gefunden hat.
Was war noch von Deutschland da, als der Deutsche Kaiser die Krone niederlegte und die Staaten auseinander fielen? Nichts als das Einheitsbewußtsein der Deutschen. Aus ihm den Staat neu erstehen zu lassen, war der einzige Weg. Aus Deutschsein ein Volk, aus dem Volk den Staat werden zu lassen, so nur konnte die Rettung aus eigener Kraft kommen. Um diesen Weg zu führen, war politisches Urgefühl nötig: Glaube, Instinkt, Kraftbewußtsein, Sicherheit über die inneren Mächte. Ohne Halt an der Vergangenheit, ohne Führung durch überlieferte Staatskunst mußte aus neuen Bedingungen und Kräften das Neue geschaffen werden – ein riesenhaftes Wagnis, eine Tat des reinen Glaubens, allen realen Unmöglichkeiten zum Trotz.
Caroline von Humboldt war dem neuen Geist, der mit der Erhebung von 1813 sich ankündigte, von Anfang an und ohne Schwanken und Zaudern innig vertraut. Sie fühlte die neue Grundkraft, die in die Geschichte eintrat, klar und rein: die Nation, die, ihrer selbst bewußt, ihr Schicksal in Freiheit und Selbstbestimmung gestalten wollte. Vier Grundpfeiler tragen ihr politisches Bewußtsein: dieser Krieg ist ein Volkskrieg, nicht eine Affäre der Kabinette – er ist oder kann werden Geburt der deutschen Nation – die Führung in Deutschland gehört Preußen – der Ausbau innerer Freiheit und Selbstverwaltung ist die unentrinnbar notwendige moralische Konsequenz der Volkserhebung. Dies so begründete politische Bewußtsein hat sie mit einem Feuer, einer unerschöpften Energie, ja Leidenschaftlichkeit vertreten, daß sie den diplomatischen, anpassungs- und resignationsbereiten Humboldt immer wieder in seiner Haltung befestigte. Humboldt war als Vertreter Preußens auf dem Prager Kongreß, der nach den ersten Mißerfolgen über die Fortführung des Krieges mit oder ohne Österreich entscheiden sollte. Rückblickend sagt er ein Jahr später über diese Zeit:
»Mit Dir über die Angelegenheiten meines Geschäfts zu reden, ist mir wirklich ein ernstes Bedürfnis. Ich tue es gar nicht bloß, weil ich weiß, daß es Dir Freude macht, so hinreichend natürlich auch dieser Grund wäre. Ich tue es noch weniger aus Bedürfnis mich mitzuteilen, Gott weiß es, daß es selbst mein Fehler ist, dies nicht zu haben. Aber ich tue es, weil Du immer so rein, so aus tief gemütvollen Maximen und mit so richtiger Ansicht über die Begebenheiten, wie sie an sich, wenn sie von allem Zufälligen und Unwesentlichen entkleidet sind, dastehen, urteilst, daß kein Mensch auf Erden solcher Leitung entbehren möchte. Ich weiß und werde nie vergessen, wie unendlich sie mir in der schwierigsten Zeit meiner jetzigen Laufbahn geholfen hat, wo alles und fast auch die sonst Besten daran arbeiten, mich herunterzuziehen.«
Was sie Humboldt in dieser Zeit war, entspringt allein der Kraft ihres Herzens, die sie befähigte, »mit allen zu fühlen und mit jedem ganz«. Ihrem Herzen ist gegenwärtig, daß diesen Krieg der leidenschaftliche Wille von Tausenden entfache, und in die kühle Luft der Prager Beratungen, die sie mit tiefer Sorge begleitet, versucht sie immer wieder den Brand von dem gemeinsamen heiligen Feuer zu tragen. Vergeßt nicht, so bittet es aus jedem ihrer Briefe, daß ihr das Schicksal von Millionen in den Händen tragt, die opferbereit und hingebend für ihre Freiheit eintreten wollen. Daß Metternich und Gentz für solche heilige Volksleidenschaft kein Organ haben, fühlt sie klar – Metternich, der auch diesen gewaltigen Dingen mit der zynischen Gelassenheit seiner Devise gegenüberstand: » Cette affaire comme toute affaire finira d'une manière quelconque« und dem der deutsche Gedanke damals nach dem Urteil Humboldts ganz fern lag:
»Daß es wirklich im intellektuellen und moralischen Sinn ein Deutschland gibt, das nicht Preußen und Österreich ist, wenn es auch gleich Teile von beiden enthält, und daß man diesem Deutschland politisch zu Hilfe kommen muß, begreift und fühlt er nicht (Metternich). Wenn es nach ihm geht, bestehen die Stücken Deutschlands wie andere europäischen Staaten, Dänemark, Holland, Venedig ohne alle, oder höchstens in der lockeren Verbindung fort, daß sie sich durch diplomatische Allianztraktate an Österreich und Preußen anschließen. Dies nun ist, meiner Art zu sehen nach, in hohem Grade verderblich, und ich glaube, es muß ein gemeinschaftliches engeres Band geben. Ich fühle wohl, daß dies schwer zu knüpfen ist, und daß es auch nicht immer und nicht ewig halten wird, allein es kann es doch einigermaßen, und schon den Gedanken zu erhalten, daß Deutsche eins sind und eins bleiben müssen, ist es gut, daß es vorhanden sei.«
Sie ist niemals daran irre geworden, daß Österreich die Vormacht des neuen Deutschland nicht sein könne, weil es nicht die staatenbildende nationale Kraft aufzubringen imstande sein würde, und mit seherischem Weitblick hat sie das Schicksal Österreichs und seine künftige Stellung zu Deutschland vorausgesehen.
»Österreich ist im ganzen überhaupt zurück, und es ist, mein ich so in mir, das Land, dem die nächsten großen Veränderungen in Europa bevorstehen. Dazu ist es so verschiedenartig und heterogen in seinen Kräften gemischt, in den Nationalitäten, aus denen es besteht, daß ich alles wetten möchte, daß es noch in diesem Jahrhundert aufhören wird, eine deutsche Macht zu sein. Deutschland, deutsche und nationelle Deutschheit ist offenbar noch im Wachsen, und damit hält Österreich nicht Schritt. Den Geist der Zeit aufzuhalten, dazu ist offenbar keine Macht stark genug, und die Geschichte gibt große Aufschlüsse über das, was die Zukunft noch verbirgt. Aber freilich lesen wohl die Herren sie nicht.«
Das ist so bezeichnend für sie, daß sie ihre politischen Urteile aus der Fühlung für das schöpft, was sie als den Geist oder den Willen der Zeit erfaßt. Sie fühlt das Werden des deutschen Nationalbewußtseins ebenso wie sie das damit verbundene Drängen nach der Konstitution fühlt. Und da ihr diese inneren Mächte die eigentlich gestaltenden sind, möchte sie ihnen ganz und rein die Politik anvertraut sehen. Daher ihr tiefes Mißtrauen, ihre heftige Abneigung gegen Metternich, in dessen glatter Routine und leidenschaftslosem Machiavellismus sie die große Versuchung für ihren Gatten bekämpft.
Sie ist mit aller Glut ihrer politischen Seele in dieser Zeit Preußin und versucht beständig, Humboldt zu entschiedenerer Vertretung der preußischen Ansprüche stark zu machen. Überhaupt ist ihre Stellungnahme ausgezeichnet durch temperamentvolle Entschiedenheit, weil sie unbeirrbar das Große und Wesentliche der politischen Linie festhält und nicht wie Wilhelm von Humboldt in Gefahr ist, aus Anpassungsfähigkeit die Richtung zu verlieren. Ihre Urteile über Menschen und politische Beziehungen sind immer gerade und groß:
Es verdrießt mich nicht wenig, wenn Preußen nicht des ganzen politischen Einflusses genießt, dessen es genießen sollte. Denn Rußlands Interesse an Deutschland kann eigentlich nur das sein, daß Deutschland nicht ein Werkzeug in Napoleons Händen zu seiner Unterjochung sei. Österreich und Preußen sind die wahren Stützen Deutschlands, und Österreichs Benehmen in allen vorigen Jahren hat es eigentlich kalt gegen Deutschland gemacht. Wenn Metternich das nicht fühlt, so ist er doch nicht auf dem rechten menschlichen Wege und hat eigentlich nicht die großen Ansichten, die er haben sollte, und mit denen allein er der Zeit gewachsen wäre.«
Ihre einzige Sorge ist, daß die Entscheidungen nach dieser Erschütterung Europas nicht groß und endgültig, sondern kompromißlich und halb ausfallen könnten. Darum ist ihr die Wiederkehr Napoleons aus Elba beinahe willkommen. Sie schreibt im März 1815:
»Ich bin nicht eigentlich angst über das Evenement mit Napoleon. In dem großen Weltgericht, das gehalten wird – denn ich gestehe, mir kommen alle Begebenheiten so vor –, wird es nötig sein, daß dieser Stoff der Gärung dazwischen falle, damit das Gute und Böse, die Wahrheit und die Lüge sich schärfer sondern.«
»Für uns sehe ich den Krieg als entschieden an, er wird blutig werden, ach Gott, man kann nicht genug wünschen, beten und flehen, daß jetzt große, sehr ernste, sehr konsequente Maßregeln kommen werden. Ist man Österreichs ganz sicher? Bayerns? Die deutschen Völker sind gut, aber mit Recht sind sie unzufrieden mit vielem, was seit dem Frieden von Paris geschehen ist. Dieser Krieg trägt einen ganz andern Charakter als der vorige. Im vorigen war trotz seiner herrlichen Waffentaten ein Fehler, sein Zuschnitt war nicht gemacht, wie er hätte sein sollen. Gott gebe, daß man sich diesmal sage, daß mit Napoleon kein Frieden, keine Unterhandlung, kein Waffenstillstand ist. Doch verzeih, daß ich Dir dies alles sage, der Du es tausendmal besser als ich weiß und fühlst.«
Die Verhandlungen des Wiener Kongresses sind ihr eine Quelle des Schmerzes, der Empörung, der Ungeduld. Ein besonderes Anliegen ist ihr die Schwächung der Macht des Königreichs Sachsen, dessen politische Haltung 1813 ihren unversöhnlichen Groll erregt hat:
»Deine heutige Äußerung über Sachsen stimmt nur zu sehr mit dem, was hier im Publikum munkelt. Ich gestehe gern, daß es mich sehr verdrießen würde, wenn wir es nicht bekämen. Wie mir vorkommt, so kann der König nicht wohl zurück, ich meine, der unsere. Es würde keine Großmut für den König von Sachsen, es würde eine Schwäche dem unsrigen ausgelegt werden, ein Wollen und nicht Durchsetzenkönnen, was immer von allem Benehmen das Fatalste ist, und am allerwenigsten dem Lande und dem Könige ziemt, das unter allen Ländern und allen Fürsten Deutschlands am glänzendsten gehandelt hat, und dem Deutschland eigentlich allein seine Befreiung vom französischen Joch zu verdanken hat. Alle haben daran teilgenommen, ich weiß es wohl und will den Ruhm der anderen nicht schmälern, allein Preußen ist das Herz dieser großen Unternehmung gewesen, das Herz, in dem alle Lebenspulse schlugen. Wenn Sachsen jetzt nicht unser würde, so ist auch zu bedenken, daß wir einen sehr boshaften und erbitterten Nachbar an ihm haben werden, dahingegen weise und liberale Behandlung uns in wenig Jahren mit diesem Lande einen müßten. Und allen Wohldenkenden durch das ganze weite Vaterland hin wäre die moralische Garantie genommen, die sie in Preußens vergrößerter konsolidierter Macht allein für die Ereignisse der Zukunft finden können. Schonung gegen den König von Sachsen scheint mir in diesem Fall nur Schwäche. Der Fall scheint mir aber der, wo man sein eigenes verräterisches Betragen der Welt darlegen muß. Ein Fürst, der, wie er gehandelt hat, dem kann man nicht den Mittelpunkt von Deutschland anvertrauen, auch scheint mir, kann man die Erbfolge fürstlicher regierender Familien nicht wie die Erbfolge gewöhnlicher Privatpersonen betrachten. Gäbe es ein Reich, einen Kaiser von Deutschland, so dünkt mich, hätte der König von Sachsen verdient, in die Acht erklärt zu werden. Daß es keinen Kaiser gab, entbindet ihn doch nicht der Fürstenpflichten gegen sein Land, und daß er diesen zuwider gehandelt, läßt sich, glaube ich, beweisen.«
Ein ebenso entschiedenes Verfahren wünscht sie dem napoleonischen Schwiegersohn des Königs von Bayern:
»Nur um das eine bitte ich Dich, wenn meine Bitten und Dein Einfluß etwas vermögen. Steure, daß der Eugen Beauharnais kein deutscher Fürst wird, ich kann Dir nicht genug, nicht ernstlich genug sagen, welchen üblen Eindruck das machen muß. Sündlich und frevelhaft finde ich es, wenn man es tut. Er erbe das Vermögen seiner Mutter, der König von Bayern, der ihm seine Tochter gegeben, gebe ihm zu leben, wahrlich, Bayern hat dazu genug gestohlen und praßt täglich genug dazu zusammen, aber daß dieser Eugen etwas erblich in dem von ihm oft gemißhandelten Deutschland haben soll, finde ich abscheulich, gottlos und sündlich. Wenn er ein Engel von Charakter wäre, soll er nichts haben, aber er ist dazu höchstens ein guter General, übrigens ein Räuber wie die anderen, wie denn sein Abzug aus Mailand bewies und seine erpreßte Kontribution. Ich gebe mich nicht zufrieden, wenn der auch etwas bekommt. Wenn wir unsre eigenen entarteten Kinder wie den Primas, den König von Sachsen behalten und zu Tode füttern, so mag es ein Werk der Barmherzigkeit sein. Allein diesen Eugen sende man doch hin, woher er gekommen ist. Der Kaiser von Rußland muß doch auch keinen Tropfen deutsches Blut in sich haben, wenn er das nicht fühlt. Und doch sollte er!«
Man sieht an diesen herzhaften Vorschlägen, wie ihr jeder Legitimismus ganz fern lag. Pietät oder gar irgendwelche mystische Ehrfurcht vor Fürsten kennt sie nicht, auch nicht etwa für das Herrscherhaus des von ihr so geliebten Preußens. In ihren Briefen ist kein Wort und kein Hauch von »monarchischem Gefühl«. Ihr Patriotismus geht unmittelbar auf das Volk, die Heimat, den Staat. Sie ist – natürlich nicht im Sinne einer ganz bestimmten politischen Theorie – aber im Grundgefühl ihres politischen Herzens demokratisch.
Auch hier ist sie Priesterin des Geistes der Geschichte. In immer neuer Beleuchtung erscheint ihr die Notwendigkeit, daß Preußen in Deutschland das Vorbild der Verwirklichung der inneren Freiheit gebe.
»Der Wunsch nach repräsentativen Formen scheint allgemein in Deutschland zu sein, und wenn nach beendigtem Kongreß Preußen in Deutschland mit diesem Beispiel voranginge (der Trieb des menschlichen Wollens ist unstreitig), so würde es im Frieden das Höchste erreicht haben, wie es im Kriege das Höchste erreichte.«
Nicht nur aber um der Freiheit selbst willen, sondern auch wegen der moralischen Eroberungen scheint ihr dieser Ausbau des Konstitutionalismus für Preußen Bestimmung:
»Jetzt steht Preußen allerdings mit weit hingebreiteten Armen, allein mit weniger konzentrierter Kraft, man sieht es der bloßen Landkarte an, daß bald wieder ein blutiger Krieg sein muß, denn die vorhergegangene Zeit, das Prinzip des Bösen, was überall reichlich gewuchert, Preußens weit alle anderen überstrahlender Waffenruhm muß Neid, bitteren Neid erregen. Um alles muß man wünschen, daß man sich rüste im Geist und in der Tat und sich rege erhalte in jeder Tugend und Stärke. Mich dünkt, das Innere ist jetzt das Wichtigste, worauf man sehen muß, und in der Hinsicht kommt es mir doch wie eine kränkliche Politik vor, daß man Dich nicht lieber im Lande employiert als außer dem Lande. Preußen muß sich durch gesetzmäßige Liberalität jetzt noch dreimal stärker machen, als es durch seine Kriegsmacht ist, diese aber dabei nicht versäumen und den Geist, der diesen Krieg glücklich geführt hat, hinüberhauchen in die rheinischen Provinzen.«
Die moralische Eroberung des Westens, des rheinischen Preußens, beschäftigt sie sehr. Man hat das Gefühl, daß sie selbst brennend gern an einer solchen Mission beteiligt gewesen wäre – und wie gut wäre sie dafür geeignet gewesen! – Die staatliche Kraft Preußens erscheint ihr davon abhängig, daß man verstehe, alles mit demselben Geist zu beseelen. Darum solle man eine rechte Auswahl edler und gutgesinnter Männer in Militär und Zivil dort etablieren, um die Abneigung der noch nicht preußisch gewesenen Provinzen zu überwinden.
Die Weite des Blicks, die innere Freiheit des geschichtlichen Urteils, die nie verdunkelte Bereitschaft zu allen opfervollen Entscheidungen (sie hatte ihren sechzehnjährigen Sohn im Felde) zu bewahren, ist ihr aber im letzten Grunde nur dadurch möglich, daß sie zugleich in und über dem Geschehen zu stehen vermochte. Alles was je in ihrem Leben zur Kraft geworden war, alle Schicksale, die sie als Frau und Persönlichkeit in sich zur Klarheit gebracht hatte, stand ihr jetzt bei. Im leidvollen Verzicht ihres heißen Frauenherzens auf eine Liebe, die dem Rahmen ihres Lebens nicht mehr einzufügen war – in den dunklen und bitteren Stunden der Mutterangst um das Leben geliebtester Kinder hat sie dem äußeren Schicksal gegenüber die Weisheit gelernt: »Setze den Fuß nur leicht auf«. Ihr konnte im Grunde nichts geschehen, weil sie ihres wesentlichsten Besitzes ganz gewiß war. Und so war ihr auch äußeres Geschehen niemals sinnlos, verwirrend und verzweifelt, sondern Bewegung, deren Ziel der Sieg des Geistes sein mußte. Immer fühlte sie ihr Leben unter diesem Zeichen, das in den drei Ringen, die sie fühlend und wirkend als Mensch, Mutter und Bürgerin erfüllte, die erhabene Mitte bildete: ein klarer lebendiger Idealismus. In größter Stunde sammelt sich ihr der innere Ertrag ihres Lebens in dem Glauben, den sie im August 1813 ausspricht:
»Man trägt in das Gefühl des Lebens keine Einheit, wenn man die Gegenwart sozusagen nicht schon als gewaltige Geschichte betrachtet – ach, die Schmerzen des Herzens, die, die es treffen, und die, die es ahndet, widerstreben dieser großen Ansicht, und doch drängt sich's einem mit jedem Moment auf, daß es so ist, und daß das gewaltige Schicksal jeden Moment, den des unaussprechlichsten Schmerzes wie den der höchsten Freude, nur immer zurückdrängt in die Vergangenheit. So geht es vorwärts, entgegen dem stürzenden Strom der Zeit, und die abfließenden Wellen nehmen uns bald vielleicht mit in ihre Kühle. – Wenn die Anstrengungen der Lebenden Geistesfreiheit, Gesetzmäßigkeit, Ordnung und Menschlichkeit zurückbringen dem künftigen Geschlecht, so muß man glücklich preisen, die mit ihrem Blut so Hohes und Schönes erringen. Von dem Glauben soll mich nichts trennen, daß nur das Gute siegt, und daß kein schönes, reines Gefühl in dem Menschen, der es ernst mit sich meint und Eitelkeit und Selbstsucht in sich niederkämpft, verloren geht.«