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Ein Porträt der Gräfin Marie d'Agoult
»Am Strand von Scheveningen … Die Sonne taucht schwermütig in die starre Flut. Schwere Wolken ziehen langsam über mich hin. Der Himmel ohne Klarheit, das Meer ohne Farbe und ohne Bewegung. Längs der einförmigen Düne, die so weit reicht wie meine Blicke und mir die bunte Schau üppiger Länder verbirgt, schreite ich schweigend über den nassen Strand, dem sich die Spur meiner einsamen Schritte einpreßt.
Wohin gehe ich? … Was suche ich hier? … Ich wandre weiter. Mein Leben, an seiner Neige, ist traurig wie die Sonne, die in starren Fluten stirbt. Meine Müdigkeiten ziehen langsam und schwer wie diese Wolken über meinem Haupt. Meine Hoffnung ist verhangen wie der Himmel, leer wie die Düne, die kaum einen trockenen Grashalm nährt. Meine Spur im Gedächtnis der Menschen wird gleich sein dem Abdruck meiner Schritte auf dem feuchten Sande.
Wohin gehe ich? … Was suche ich hier? … Ich wandre weiter. Nachtwinde stehen auf und schwellen das Segel des Fischers. Er zieht hinaus auf das hohe Meer. Er wird seine Netze in die tiefen Wasser tauchen. Morgen, wenn der Tag herabtaut, wird er zufrieden heimkehren; er wird einen glücklichen Fang bringen, über den seine Frau und seine Kinder sich freuen. Das Schiff, das mich trug, ist überall leck geworden; vergeblich sind meine Netze in die bittere Woge versenkt; meine Rückkehr hat niemand gefreut.
Wohin gehe ich? … Was suche ich hier? … Ich wandre weiter. Der Leuchtturm wird hell auf der Höhe; er warnt das verirrte Schiff vor diesen verhängnisvollen Küsten. Eine Möwe schneidet durch die Luft und schleudert ihren klagenden Schrei in die Weite. Die Feuer meines Geistes zeigen mir nicht mehr, was ich fliehen soll, der Schrei meines Herzens bleibt ohne Antwort.
Wohin gehe ich? … Was suche ich hier? … Ich wandre weiter. Ich wende mich zur Stadt. Ich betrete den hundertjährigen Wald. Der Mond ist über den Horizont gestiegen und durchdringt heimlich den dichten Schatten … Ich grüße euch, alte Eichen! Ich grüße dich, heiliger Wald, der seine zarte Frische über die brennende Stirn des Descartes ergoß und die erhabenen Gedanken Spinozas in göttliches Geheimnis hüllte, ich grüße dich. Hier zögert mein Schritt; hier schreite ich in Andacht; meine Seele sammelt sich wieder … Verlorene Strahlen, die in die düstren Tiefen gleiten! Wehen der Nächte, erhabenes Schaudern in hohen Wipfeln, unsterbliche Geister, redet, oh, redet zu mir. Ich werfe mich nieder und ich flehe euch an. Denn ich weiß es, ihr seid es, ihr allein, die ich hier suchen wollte; zu euch bin ich gekommen. Heilige Bäume, unsterbliche Geister, lächelt meinem stillen Kultus, nehmt mich auf. Seid für immer meine Zuflucht, meine Ruhe, mein verborgenes Leben, meine Hoffnung.«
Die Frau, deren Bild uns aus diesem Tagebuchblatt ersteht, mit dem nie geheilten Schmerz in den Augen und dem Triumph einer einsamen – ganz geistigen, ganz selbständigen – Überwindung auf der stolzen Stirn, trägt, trotzdem eine starke Bewußtheit ihrer Haltung etwas von »Pose« gibt, einen Zug von Würde und Größe. Das Pathos ihres Leidens ist durch die Glut und Kraft einer heroischen Seele, durch das unverletzliche Selbstgefühl eines Menschen, der ein Leben von selten großen Maßen lebte, durch den adligen Formsinn einer Natur, die auch ein wirres Schicksal noch in eine Harmonie zwingen muß und kann, ins wahrhaft Große gesteigert. Aufstieg, Katastrophe und Ausgang des Lebens fügen sich zu einem Gebilde, in dem peinliche Dissonanzen doch in einem größeren Einklang besiegt erscheinen.
Die Mutter von Cosima Wagner, Marie d'Agoult, geborene Gräfin Flavigny, durch zehn Jahre die illegitime Gattin Liszts, um dessentwillen die schon verheiratete Frau, die sechs Jahre älter war als er, ihre Familie verließ, ist uns heute wenig und undeutlich, ja verzerrt, bekannt. Die meisten wissen von ihr allein aus den Lisztbiographien. Etwa so, wie es der große Aufsatz von Kretzschmar in der Allgemeinen deutschen Biographie plump und platt darstellt: »Liszt wurde im Salon der George Sand ein Opfer der kecken Theorie von der schrankenlosen Freiheit der Liebe und ging im Jahre 1834 eine wilde Ehe mit der sechs Jahre älteren Gattin des Grafen d'Agoult ein. Das Glück der zehn Jahre an der Seite der interessanten Circe, die später als Daniel Stern eine geistvolle Schriftstellerin ward, war die Opfer nicht wert.« Die Biographie von Göllerich faßt das Verhältnis Liszts zu Marie d'Agoult noch rüder an. Die Ramannsche Darstellung, indem sie Marie d'Agoult in einer fast grotesken Art verzeichnet, macht einige recht ungeschickte und triviale Versuche zur »Gerechtigkeit«. Die Trennung von der, die mit dieser abscheulichen Journalistenvokabel klassiert werden soll, erscheint denn auch in dieser Darstellung als die endliche Befreiung eines unglücklichen Opfers aus einem gefährlichen Netz. Es gibt ein Gedicht von Marie d'Agoult über diesen Abschied:
»
Non, tu n'entendras pas de sa lèvre trop fière,
Dans l'adieu déchirant un reproche, un regret.
Nul trouble, nul remords pour ton âme légère
En cet adieu muet.
Tu croiras qu'elle aussi, d'un vain bruit enivrée,
Et des larmes d'hier oublieuse demain,
Elle a d'un ris moqueur rompu la foi jurée
Et passé son chemin.
Et tu ne sauras pas qu'implacable et fidèle,
Pour un sombre voyage elle part sans retour;
Et qu'en fuyant l'amant dans la nuit éternelle
Elle emporte l'amour.«
Aber nicht, eine Beziehung in das rechte Licht zu setzen, die, selbst wenn die entscheidenden Dokumente zugänglich wären, in ihrer Zartheit und Verworrenheit dem Urteil Dritter immer die äußerste Zurückhaltung auferlegen müßte, ist die Absicht dieses Aufsatzes über Marie d'Agoult. Seinen Inhalt bildet ihre bedeutende Persönlichkeit an sich – die, an der entscheidenden Wende zweier Zeiten und in der Kultur zweier Völker stehend, durch geschichtliche Situation und persönlichen Wert eine typische Wichtigkeit erhält. Den äußern Anlaß gab eine neue Veröffentlichung eines Buches von Marie d'Agoult durch ihre Enkelin Daniela Thode in deutscher Sprache: eines Buches über »Dante und Goethe«. (Karl Winters Universitätsbuchhandlung, Heidelberg.) Das Entzücken über die seelische Kultur und die Anmut der Form, über die Gelehrsamkeit und den Enthusiasmus, die philosophische Tiefe und die interessante romanisch-deutsche Zwiegestalt des Buches hat mich wünschen lassen, mehr von ihr zu wissen und zu kennen.
Von der ersten Hälfte ihres Lebens – über die Jahre 1806 bis 1833 – berichtet eine Autobiographie » Mes souvenirs«. Paris, Calmann Lévy 1877. Sie ist gegen Ende ihres Lebens geschrieben und erst nach ihrem Tode erschienen. Marie d'Agoult ist 1876 gestorben.
Man kann kaum der Versuchung widerstehen, das ganze Vorwort dieser Memoiren im Wortlaut wiederzugeben. Marie d'Agoult steht zagend vor der Aufgabe, die so schwer zu lösen ist in einer Form, die weder den sittlichen Takt noch den Geschmack beleidigt. Weder die Freude, von sich zu sprechen, noch das Bedürfnis nach Teilnahme treibt sie. Sie hat immer wie Pascal »das Ich hassenswert« gefunden, und sie hat in ihrem einsamen Lebenskampf um die Wahrheit des urgermanischen, so aristokratisch empfundenen Rates gewußt, daß, wer stark bleiben wolle, nicht klagen dürfe. Ganz ähnlich wie Marc Aurel vermag sie den subjektiven Schmerz objektiv zu erfassen:
»Ich habe in meinem Leiden niemals dieses gerührte Mitleid gesucht, das uns irgendwie lockt, uns über die Ungerechtigkeiten des Schicksals zu beklagen. Die Richtung meines Geistes ging dahin, mich in das Ganze eingefügt zu sehen und mich nicht abgesondert von dem Reich der menschlichen Traurigkeit zu fühlen. Wenn einem eine solche Betrachtungsweise selbstverständlich geworden ist, so mindert sie den eitlen Wunsch, seine Freunde oder die Öffentlichkeit von sich selbst zu unterhalten, sehr herab.« Und doch – Rechenschaft von seinem Leben zu geben, kann eine Pflicht sein. Sie, die seinerzeit ihren Freund Lamennais dazu drängte, »die große Revolution seiner Seele aufzuzeichnen, durch die er vom ultramontanen Priester und royalistischen Emigré ein Freidenker und volkstümlicher Republikaner geworden sei,« empfand diese Pflicht zunächst aus einem historischen Bewußtsein von der Bedeutung der Zeit. »In einer Zeit der allgemeinen Erschütterung ist es eine Pflicht für jemanden, der mit der alten Ordnung gebrochen hat und, den Tag einer wahrhaftigeren und freieren Gesellschaft vorwegnehmend, gewagt hat, die Handlungen seines äußeren Lebens mehr seinem eignen Gefühl als der allgemeinen Meinung anzupassen – es ist eine moralische Notwendigkeit, sich zu erklären und aus dem, was kleinen Seelen nur ein Skandal sein konnte, eine höhere Erbauung hervorgehen zu lassen. Es ist der wichtigste Dienst, den man den Menschen erweisen kann, sie in einem starken Gewissen den Kampf der Meinungen, Pflichten, Gefühle, Gedanken sehen zu lassen, dem mehr oder weniger dumpf die Mehrzahl zur Beute wird in einer Epoche, wie sie so verwirrt, so von Grund aus revolutionär vielleicht noch niemals war.« Aber gilt diese Pflicht auch für sie, eine Frau ohne politische Verantwortung, ohne öffentliche Rolle? Darf sie nicht wenigstens das schmerzvolle Geheimnis ihrer Kämpfe für sich allein bewahren und damit dies barmherzige Vergessen hüten, das der weiblichen Seele natürlicher und wohltuender ist als strenges Wägen? Sie entscheidet: auch die Frau, ja grade die Frau schuldet dem Werden einer neuen Ordnung das aufrichtige Bekenntnis ihrer Kämpfe. »Wenn eine Frau sich ihr Leben selbst gestaltet hat, und wenn dies Leben nicht von der allgemeinen Regel beherrscht war, so wird sie in den Augen aller dafür verantwortlich, verantwortlicher als ein Mann.« Und überdies: auch die Frau hat öffentlichen, geschichtlich wirksamen Einfluß, indem sie die Geister passioniert, indem sie den Intelligenzen eine neue Prüfung überlieferter Meinungen aufzwingt. »Es kann sogar sein, daß eine Frau, heute, mehr zu sagen hat und mehr verdient gehört zu werden als viele Männer. Denn das Übel, das wir alle beklagen, das uns beunruhigt, und durch das unsere ganze Gesellschaft bedroht erscheint, die Frau hat es eher als alle in ihrem ganzen Sein gefühlt. Unterwürfig oder empört, demütig oder überlegen hat die Tochter, die Schwester, die Geliebte, die Gattin, die Mutter in ihrer zarteren Empfindung und ihrer unterdrückten Lage mehr gelitten als der Sohn, der Bruder, der Geliebte, der Gatte, der Vater von der Disharmonie einer Welt, die keinen Glauben, keine Traditionen, keine respektierten Sitten mehr hat, und wo nichts mehr aufrecht dasteht, nicht einmal die Lüge.«
Und deshalb beschließt sie von sich zu sprechen: als Stimme, kämpfende Seele, Gewissen, Kreuzträgerin und Zukunft ihres Geschlechts.
Es ist Selbstbewußtsein in dieser Begründung – das sichere Wissen um den Wert der eigenen Individualität, eines der wesentlichen Elemente in der aristokratischen Natur der Marie d'Agoult. Wer heute der Linie ihres Lebens folgt, durch die von einem Frauendasein noch selten umspannte Schicksalsfülle hindurch, wird noch tiefer empfinden wie sie selbst, daß sie der Geschichte der europäischen Frau des 19. Jahrhunderts diese Rechenschaft schuldete. Schon ihre Zeitgenossen haben die typische Bedeutsamkeit ihres Lebens empfunden. »Es gibt auch Frauen von geschichtlich repräsentativer Bedeutung«, sagt, anknüpfend an den Ausdruck Emersons » Representative Men«, in seinem Nachruf ihr Freund De Ronchaud. »Durch ihr Leben, durch ihr Talent, durch den Gegensatz eines männlichen Geistes zu weiblichen Instinkten, eines reinen Aristokratismus der Geburt und des Geschmacks zu in höchstem Grade demokratischen Überzeugungen, durch ihre Sehnsucht und ihre Leiden ist Mme. d'Agoult eine der anziehendsten und ausdrucksvollsten Gestalten einer Zeit, die schwand und die Epoche vorbereitete, in die wir nun eintreten.«
Aber freilich, die souvenirs brechen ab mit dem Jahre 1833. In das folgende Jahr fällt der Bund mit Liszt. Ob der Tod dies Ende verschuldete? Ob ihr Wille, der Öffentlichkeit »das letzte Wort ihres Herzens« anzuvertrauen, doch im Wiederaufleben bitterster Schmerzen erlahmt ist?
* * *
Der Vater der Marie de Flavigny gehört zu einem der ältesten Grafengeschlechter Frankreichs, ihre Mutter, eine Bethmann aus Frankfurt a. M., entstammt einer der tüchtigsten, erfolgreichsten Familien des deutschen Bürgertums. Sie spricht ausführlich und mit Stolz von der glänzenden Rolle ihrer Ahnen in der Geschichte Frankreichs; »es ist Ruhm, zu sterben, das Schwert in der Faust, für seinen Fürsten und ihn zum Zeugen seiner Tapferkeit haben«, sang ritterlich und ruhmsüchtig zugleich im 16. Jahrhundert ein Messire Charles de Flavigny, dem zu seinen kriegerischen Tugenden literarischer Esprit, ja, die Kunst geschenkt war » d'avoir mainte fois, aux sons de son luth, passionné diversement les escoutants«. Und dies scheint der Enkelin dieser glänzenden Reihe charakteristisch für ihr Geschlecht: bei aller Königstreue das Unabhängigkeitsgefühl des echten Edelmanns, Geschmack in Leben und Kunst und eine literarische Neigung, die viele auszeichnet. Das Schafott von 1793 bescheinigte den Flavignys ihren royalistischen und katholischen Adel. Am 5. Thermidor wurde der Ex-Comte A. L. Flavigny und die Ex-Komtesse » la femme Flavigny« in Gesellschaft der 95jährigen Ex-Abbesse de Montmartre und eines siebzehnjährigen jungen Ex-Vicomte zum Tode verurteilt. Der Vater von Marie de Flavigny war zu Truppenwerbungen an der deutschen Grenze und kam so im Jahre 1797 nach Frankfurt a. M. Dort lebte im Hause ihrer Eltern und Geschwister Marie Elisabeth Bußmann, geb. Bethmann, als achtzehnjährige Witwe mit einem kleinen Mädchen, das ihr eben geboren war. Dieses Kind, Auguste Bußmann, wurde später die Partnerin Clemens Brentanos in seiner abenteuerlichen Entführungsgeschichte. Damals scheint sie im Leben ihrer kindlichen Mutter eine ebenso flüchtige Rolle gespielt zu haben wie das Andenken des jung verstorbenen Gatten, denn Marie Elisabeth setzte, gegen den Willen ihrer Familie, durch eine Art Gewaltstreich ihre Ehe mit dem glänzenden, aber ganz armen Grafen durch. Eine Ehe, die wie ein Experiment erlesener Rassenmischung Herrliches und Verhängnisvolles zeitigen konnte.
Bis 1809 blieb das Paar in Deutschland. Dann kaufte der Graf Flavigny sich in der Touraine von neuem an. Entschiedener Royalist, lehnte er jeden Dienst bei der napoleonischen Regierung ab und widerstand auch den Versuchen, die gemacht wurden, seine Frau in die Umgebung der Königin Hortense zu ziehen. Auch später, nach der Restauration, blieb er dem Hofe fern.
Marie war das jüngste von drei Kindern, von denen der älteste Bruder früh starb. Auch der überlebende Bruder ist soviel älter als sie, daß sie ziemlich als einziges Kind aufwächst. Sie ist noch in Frankfurt geboren, ein Mitternachtskind einer der dunkelsten Nächte des Jahres – der vom 30. und 31. Dezember. Und ihr scheint – bei aller klaren Überlegenheit ihres Geistes – ein okkulter Einfluß von dieser Geburtsstunde auf ihr Schicksal zu wirken. Es ist wohl das geheime Gefühl der weitreichenden Bedeutsamkeit ihres Lebens, aus dem diese Vorstellung entsteht, die vielen großen Menschen gemeinsam ist.
In dem sanften Mortier mit seinen Hügeln, kleinen Wasserläufen, Baumgruppen, Weingärten, dem Park, der seine Terrassen in der Sonne breitet und dessen Wasserspiele hundertjährige Edelkastanien beschatten, wächst das kleine, wunderschöne Mädchen auf. Man denkt, während Marie de Flavigny ihre Heimat und ihre Jugend beschreibt, an Bilder von Gainsborough oder Reynolds (die französische Aristokratie hatte um die Zeit keine Maler), an diese feinen Frauen in elyseisch heitren und sanften Landschaften, zarteste Inkarnationen des Aristokratismus. So erzählt Marie de Flavigny – nicht ohne Bewußtsein und Kunst –; man sieht ihre zarte blonde kleine Person in dem hohen Louis quinze-Salon mit den weißüberzogenen Fauteuils am Wiener Piano Haydn und Mozart spielen, oder – ganz Prinzeßchen – mit schneeweißen Miniatur-Feldgeräten, einem zierlichen Schubkarren oder einer eleganten Traubenbütte wichtig und preziös bei Ernte und Traubenlese mitwirken und zum Schluß, wie in den schönen vorrevolutionären Edelmutsbildern: » mansuétude d'un prince« oder ähnliches, die von ihr gebundenen Garben oder den Inhalt der kleinen Bütte an ausgewählte »Kinder der Armen« verteilen. Wir sehen sie als die » petite châtelaine« mit dem Pagen hinter dem Stuhl, der ihr die Schüsseln reicht und den Wein schenkt, wenn nicht ihre weiße Haut ihn in sehnsüchtige Verwirrung stürzt. Und wenn derselbe Page ihr zum Fischen den Korb mit den Ködern nachträgt oder zur Jagd die Vorstehhunde hinausführt, so denkt man wohl an das deutsche Lied: »O daß ich doch ein Ritter wär' – Fischen und Jagen freute mich sehr.« Streng royalistisch war die Gesinnung des Hauses. Man pflanzte die Lilien der Bourbons im Garten, und die kleine Châtelaine errichtete in der romantischen Landschaft, die sie aus Spiegelseen, Moosbäumen, Muscheln und Sandwegen zusammenbaute, außer der unvermeidlichen Fischerhütte und der dito Eremitage, ein Schloß, auf dessen Balkon ein liliengeschmücktes Transparent das » vive le roi« ins Land strahlte. In der Kirche blieb man protestierend sitzen, solange zu Ehren des » usurpateur« ein Domine salvum fac imperatorem gefeiert wurde und erhob sich erst wieder, als es nach der Rückkehr der Bourbons endlich wieder hieß: Domine salvum fac regem.
* * *
Marie d'Agoult hat über die Soziologie des Adels viel nachgedacht. In ihrer Biographie wie in ihren geschichtlichen Arbeiten und ganz besonders in einem Kapitel ihrer Aphorismensammlung » Esquisses morales«: » De l'Aristocratie et de la Bourgeoisie« sind die Früchte davon. Wie Carlyle und viele andere Geister mit geschichtlichem Feingefühl und Empfänglichkeit für den großen Stil des Menschen – und außerdem in instinktiver Behauptung der eigenen Art und des eigenen angeborenen Geschmacks liebt sie das Wesen aristokratischer Lebensgestaltung. Und bei aller unerbittlichen Kritik an dem französischen Adel der Restauration ist der aristokratische Geist ihr doch ein unbedingter höchster Wert. »Der Geist der Aristokratie ist eminent künstlerisch. Es ist das Gefühl für Individualität und Form in höchster Stärke, das dem einzelnen, der patrizischen Familie, dem ›Hause‹, dem Geschlecht, diesen geistigen und, ich möchte sagen, plastischen Wert gibt, der in gleichem Maße die Schönheit der Werke der Kunst ausmacht. Diese lebendige Einheit des Namens, dieser geordnete und heilige Zusammenhang, der von allen Gliedern derselben Familie so sorgsam bewahrt und beachtet wird, diese Gemeinschaft der überlieferten Ehre, die alle bis auf den letzten Diener umfaßt und ein organisches Ganze herstellt, ist das nicht die Harmonie der Beziehungen und die Mannigfaltigkeit in der Einheit, die der Künstler sucht? Diese edle und anmutige Konvention in Haltung und Sprache, was ist sie anderes als der ideale Ausdruck durch Malerei und bildende Kunst? Das aristokratische Leben ist konventionell wie das Leben der Kunst; aber die Konventionen, die es beobachtet, sind, wie die Gesetze der Ästhetik, auf dem Bewußtsein der edelsten Bedingungen der menschlichen Natur begründet: Der Einfachheit in der Größe.« »Das Gefühl der Kunst in die geringfügigsten Einzelheiten des Lebens hineingetragen« – »Ästhetik des Willens« nennt sie, an anderer Stelle, das Wesen aristokratischer Lebensgestaltung. Sie ist nur denkbar auf dem Grunde eines durch Generationen vererbten Grundbesitzes. Es muß etwas Greifbares, ein sinnliches Symbol der unsichtbaren Kette da sein, durch welche die Menschen der gleichen Familie von Generation zu Generation aneinander gebunden sind. Daß dieselben Bäume, vom Urvater gepflanzt, die junge Liebe des Enkels und die Spiele der Urenkel beschirmen, daß die gleichen Mauern den ersten Schrei des Kindes und den letzten Segen der Mutter bezeugen, daß über den Wegen und in den Schatten und über den Plätzen der Atem verwandten Lebens schwebt, das vorüber ist, das vergeistigt die Materialität des Reichtums und den Egoismus des Besitzes. »Den Baum erben, den mein Vorfahr gepflanzt hat, und das Feld, das mein Vater bestellte, das heißt ein Stück ihres Herzens und ihrer Gedanken erben, das heißt, ihr Leben fortsetzen. Rentenscheine oder Eisenbahnaktien erben, die ich morgen wieder verkaufen werde, das heißt nur, zu meinem Vorteil eine gesetzliche Bestimmung durchführen. Es liegt ein Abgrund zwischen den Prinzipien dieser beiden Erbschaften; derselbe Abgrund besteht zwischen der patrizischen und der bürgerlichen Familie.« Denn in Marie d'Agoults empfindsamem und unerbittlich sicherem Geschmack für das Aristokratische wurzelt eine heftige und durchaus hochmütige Ablehnung der Bourgeoisie, die sich in echt gallisch pointierten Sätzen ausspricht: »Ehrenwert und langweilig, eine Ansammlung von hölzernen Tugenden, engen Fähigkeiten, plumper Eleganz, so offenbart die Bourgeoisie in ihrer Haltung, ihrem Schmuck, ihren Reden, daß sie nie etwas mit den Grazien zu tun hatte. – – Neben ihr träumt man niemals und vergißt man nichts. Ihre Unterhaltung erinnert dich auf Schritt und Tritt an alle untergeordneten Pflichten des Daseins. In der unbiegsamen Rechtschaffenheit ihrer beschränkten Ansichten schiebt sie Ideale grob und ohne Umstände beiseite, zieht sie den Enthusiasmus in Zweifel, führt sie den Schwung des Herzens und des Gedankens auf die armselige Vorsicht einer vulgären Moralität zurück.« Nie anders als mit dieser Schärfe hat Marie d'Agoult über das Bürgertum gesprochen. Sie umfaßt mit diesem Begriff den Menschen der kapitalistischen Gesinnung, denselben, den Carlyle in der glänzenden Produktivität seines heiligen Zorns mit immer neuen Wendungen den »bauenden Biber« oder die »zweibeinige Baumwollspinne« nennt, den Richard Wagner als den Menschen der beweglichen Betriebsamkeit für den Verfall der Kunst verantwortlich macht, den Karl Marx als den Warenanbeter brandmarkt. Von unten und von oben – aus dem Groll derer, die diese plumpen und schlauen Hände ins Joch spannten und aus der Empörung und dem tiefen Abscheu des echten Aristokraten gegen die nackte, nüchterne, berechnende Erfolgsucht, begleitete diese Kritik den Vorgang, daß ein Stand durch zähen Erwerbssinn in die Höhe klomm und dabei eine Stimmung verbreitete, in der man »die Ausgaben des Herzens mit ebensoviel Genauigkeit und Sparsamkeit regelte wie die der Kasse«.
Und doch: der Adel hat seine glänzende und ritterliche Rolle ausgespielt. Darüber ist Marie d'Agoult keinen Augenblick im Zweifel. Sie kennzeichnet die unvermindert leichtherzige und frivole Stimmung der alten französischen Aristokratie nach den grausamen Prüfungen der Revolution und des Kaiserreichs einmal mit einem feinen Vergleich. Der Adel sei wie ein Schmetterling, der den Händen des Naturforschers noch eben entwichen, seine verwischten Flügel in den Lüften schaukelt und wieder auf die Blumen zu fliegen beginnt: aber die stählerne Nadel, die ihn durchbohrt, trägt er mit sich herum. Die Probe auf seine Lebenskraft, die darin bestanden hätte, daß der Adel in einer neuen Gesellschaft die Führung des Geistes zu übernehmen imstande gewesen wäre, wie er in der alten die Führung der Waffen besaß, diese Probe hat er verloren. Was läßt sich retten von all dem Zauber der Anmut, der Hochherzigkeit und Loyalität, die er pflegte? »Muß man wählen zwischen der entnervten Zartheit der aristokratischen Sitte und der anmutlosen Kraft der demokratischen? Meine Entscheidung gehört ohne Zweifel der letzteren. Aber ich wünschte eine Versöhnung. Und ich glaube, es käme den Frauen zu, sie zu versuchen.«
Es ist eine soziologisch interessante Frage: wie stellen sich die starken Individuen einer ehemals führenden gesellschaftlichen Schicht zu einem Niedergang, dessen Gründe nicht in persönlichen, sondern in äußeren objektiven Veränderungen liegen? Die übliche Annahme ist, daß dies die wertvollsten und stärksten Persönlichkeiten sind, die das Schicksal ihrer Kaste teilen und ehrenvoll untergehen. Aber diese Annahme ist doch vielleicht mehr eine romantische Konvention, die Schwäche für Treue und einen Mangel an Elastizität für Kraft und Konsequenz nimmt, die mit dem melancholischen Zauber einer interessanten Dekadenz resigniert, wo doch das Schauspiel des nervigen Kampfes einer edlen Rasse um die Herrschaft über neue Bedingungen adliger wäre. Unsere Vornehmheitsvorstellung, die sich an den schwermütigen oder skeptisch überlegenen, jedenfalls aber kampf- und tatenlosen Niedergang heftet, hat doch eigentlich etwas Epigonenhaftes. Wird nicht das wahrhaft rassige, wahrhaft überlegene Individuum den neuen Lebensverhältnissen gegenüber eine neue – ebenso kostbare, ebenso edle – Form suchen und finden, zu herrschen und seinem Wesen ein Milieu zu schaffen? Muß nicht eine wahrhaft ihrer selbst sichere »Ästhetik des Willens«, von den äußeren Bedingungen unabhängig, jede soziale Form adeln, vergeistigen, mit Schönheit und Freiheit durchdringen wollen? Und wenn das so ist, so werden in solchen Krisen die starken, die wahrhaft aristokratischen Individuen die leblos gewordene Konvention brechen und – instinktiv und darum oft tragisch – mit dem einzigen Besitz der eigenen verfeinerten und spannkräftigen Energie sich von Grund auf eine neue Welt zu bauen beginnen.
* * *
Wir hielten inne im Anfang der Lebenslinie von Marie d'Agoult, um zu diesem Exkurs auszuholen. Er sollte den Standort gewinnen helfen, von dem aus gesehen ihr Leben seine typische Form am klarsten hervortreten läßt.
Eine tiefwurzelnde Abneigung gegen das Bürgertum tritt schon – allerdings verstärkt durch den Gegensatz der Nation – hervor, als das Kind 1814 bei der Rückkehr Napoleons von Elba mit der Mutter ins Haus der deutschen Großeltern Bethmann geflüchtet war. Zwar kam der Lebensstil des alten deutschen Bürgertums dem des französischen Adels sehr nahe. Die Seniorin des Hauses Bethmann hatte ihren Hofstaat von Gesellschafterinnen, einem Vorleser, einem Arzt und einem Kaplan wie nur irgendeine grande dame. Ja, in vieler Hinsicht bestand eine Exklusivität, von der man in Frankreich nichts wußte. Aus einem späteren Aufenthalt vom Jahre 1820/21 erzählt Marie de Flavigny von der Indignation, die sich erhob, als bei der Geburt eines Sohnes im Hause Bethmann Herr Amschel Rothschild einen Wochenbesuch anmeldete. Der weltläufige Chef des Hauses wußte freilich, daß man genötigt sein würde, den Besuch anzunehmen. Aber die alte Frau von Bethmann geriet außer sich: »dieser unselige Judensohn sollte in ihr Haus kommen, das Zimmer ihrer Schwiegertochter betreten, ja vielleicht mit seinen Händen die christliche Wiege ihres Enkels berühren!«
Trotz der patrizischen Luft des »Baslerhofs« empfand die kleine französische Gräfin eine Kluft.
Es war ihr in der Seele zuwider, von dem Chorus der Tanten im Bethmannschen Hause gefragt zu werden, was in Paris die Hasen kosteten – sie wußte nur, wie man einen Hasen jagte. Und zu stricken verstand sie auch nicht. Kostbare Kleider, in die man sie – prachtliebend und ein wenig auftrumpfend – steckte, wurden ihrem diskreten Geschmack zur Pein.
Aber ein Tag in der unbehaglichen Zeit ihres Exils entschädigte für alles Heimweh und knüpfte die kleine Fremde an ihr »Mutterland« mit einem Band, das erst symbolisch war, aber später leibhaft und wirklich wurde und sie durch das Labyrinth ihres Lebens leitete wie der Faden der Ariadne: Sie sah eines Sonntags im September, von der Familie Bethmann umringt und geführt, einen Greis die lange, gerade Allee des Bethmannschen Landsitzes hinaufkommen – Goethe. Die »kleine Nichte Flavigny«, zitternd vor Ehrfurcht und Scheu, wurde herbeigerufen. Goethe faßte die Hand des kleinen Mädchens und behielt sie in der seinen, während er sich auf eine Bank setzte. Sie sah scheu und geblendet zu seinen flammenden Augen und seiner lichten Stirn hinauf, und als er beim Abschied liebkosend über ihr blondes Haar strich, wagte sie nicht zu atmen. »Fühlte ich, daß in dieser magnetischen Hand für mich ein Segen und ein Versprechen war? Ich weiß es nicht. Alles, was ich sagen kann, ist, daß ich mich mehr als einmal in meinem langen Leben im Geist über diese segnende Hand geneigt habe, und daß ich mich dann stets stärker und reiner fühlte.« Manch eine Wallfahrt der unstät Gewordenen zu dieser Heimat hat das Andenken des kindlichen Erlebnisses erneuert. Viel, viel später, in einer Abendstunde am Goethedenkmal – » c'était par un long soir de la saison puissante« – neigt sich die vielerfahrene Frau in der gleichen zitternden Demut dem Geist, der sie segnete:
Sur le haut piédestal où ta gloire s'élève,
D'un regard de Vénus, doucement, comme en rêve,
O Goethe! s'éclairait ton grand front souverain,
Tandis que de silence et d'ombre revêtue.
Craintive, je baisais au pied de ta statue
Le pli rigide et froid de ton manteau d'airain.
* * *
Die Erziehung von Marie d'Agoult folgte dem einzigen Grundsatz, der für dieses Gebiet galt, dem, es ganz so zu machen wie die andern.
Das bedeutete: eine schickliche religiöse Unterweisung, irgendeinen oder mehrere in Mode befindliche Privatlehrer und dann das Kloster der Nonnen des Sacré Coeur. Diesen Weg ging die Normal-Demoiselle ohne große innere Beteiligung, unbewußt die rein konventionelle Bedeutung all dieser Dinge, die Religion eingeschlossen, fühlend, und mit ihren Gedanken und Erwartungen schon der Periode zueilend, für die dies alles nur ein Vorspiel war: der Heirat. Der stärkeren und geistigeren Individualität, die durstig nach dem Besonderen und Starken fahndet, boten sich aber auch auf dieser breiten und alltäglichen Straße einige tiefere und nachhaltigere Eindrücke.
Übrigens war dieser Unterricht gar nicht so ganz alltäglich und gleichgültig. Der gute, heitere kleine Abbé Gaultier, der in einer Familienschule alle vornehmen Kinder des Faubourg St. Germain, Mädchen und Knaben zusammen, unterrichtete, war jedenfalls ein tüchtiger Pädagoge. Nicht nur durch die Lancaster-Methode, die er von England mitgebracht hatte, sondern auch von Gottes Gnaden. Man lernte Lateinisch, Jungen und Mädchen ganz gleich, und Mathematik. Und die Aussicht auf den » triomphe«, der in chronologischer Steigerung die Wochenauszeichnung in Gestalt einer Anerkennungskarte, die Eintragung in das monatliche tableau d'honneur, und am Ende des Schuljahrs den Besitz eines Bandes der » Oeuvres complètes de l'abbé Gaultier« umfaßte – die Aussicht auf diesen triomphe machte den kleinen stolzen und empfindsamen Kindern ihres Volkes, die so viel von » honneur« reden hörten, das Herz schlagen und das Blut zu Gesicht steigen. Rückblickend urteilt Marie d'Agoult, daß die Vorzüge dieses Unterrichts hauptsächlich in der Gemeinsamkeit der Geschlechter gelegen hätten. Der etwas rationalistischen, präzis auf die einzelnen Tatsachen gerichteten und darum wohl auch zum Mechanismus neigenden französischen Methode diente eine Einführung in die deutsche Literatur durch einen Deutschen als Gegengewicht, und Marie d'Agoult meint, daß diesen deutschen Einflüssen das Erwachen der synthetischen Kräfte ihrer Seele zu danken sei, gegenüber der rein analytischen Tendenz des französischen Geistes.
Alle vornehmen Mädchen wurden, ehe sie in die Welt eintraten, für einige Zeit den frommen Schwestern vom Sacré Coeur anvertraut. Zwar war die körperliche Erziehung dort in einem Zustand unbeschreiblicher Vernachlässigung. Baden war lediglich ein Kurmittel, das der Arzt in Krankheitsfällen verordnete. Für die ganze Toilette waren täglich zehn Minuten zur Verfügung gestellt – und es gehörte zu den schwersten Überwindungen der jungen Nonnen, die zum Teil aus einem eleganten Weltleben ins Kloster eintraten, sich ihre Reinlichkeit abzugewöhnen. Eine vornehme Novize fragte zuerst immer ängstlich und insgeheim ihre Freundinnen: » Ma soeur, est-ce que je sens la crasse?« – bis sie sich daran gewöhnt hatte. Daß ein sensitives und verwöhntes Kind wie Marie de Flavigny über diese Dinge – auch die ganz primitive Ernährung – so schnell hinwegkam, spricht für die Macht der geistigen Atmosphäre von Sacré Coeur über die erregbare, hingebungsbereite Seele eines jungen Mädchens. Die »Melancholie des Klosters« bezaubert ihr poetisches Gefühl, und ihre »feurige Sehnsucht zu lieben« fand Genüge in der Feier gemeinsamer religiöser Inbrunst, in der erbarmenden und ritterlich beschützenden Fürsorge für eine vernachlässigte Mitschülerin, in der Schwärmerei für die zarte junge Leidensgestalt einer der Nonnen. Wenn sie in der Kapelle das Veni creator oder das Sanctus der Nonnen und Zöglinge auf der Orgel begleitete, durchdrang sie das Gefühl, am Herzen Gottes geborgen zu sein, und in der fortklingenden Stimmung solcher Stunden weckten die vagen Hindeutungen der Nonnen und des Beichtvaters auf die » dangers du monde« ein banges Vorgefühl künftigen Heimwehs nach diesem stillen und entrückten Asyl. Über den bleibenden Wert dieses Einflusses urteilt die Verfasserin des » Essai sur la liberté« später sehr scharf. »In unserer Frömmigkeit: viele Sensationen, Ergüsse, herausgefordert in den Geständnissen vor dem Beichtiger, gepflegt und aufgepeitscht in den Tränen am Fuß des Kruzifixes, in Fasten und Enthaltsamkeit, durch die Idolatrie der Bilder, die gefährliche Lektüre der lodernden Schriften einer Therese, einer Chantal, eines Liguori, durch eine ganze Sprache voll Mystik, die in dem Alter, in dem wir waren, uns notwendig in verzehrende Sehnsucht oder Ekstase stürzen mußte. Wenn ich mir diese ganze Perversion unserer Sinne und unserer Phantasie ins Gedächtnis zurückrufe, unsern Geschmack, der sorgfältig verfälscht wurde, ganze Jahre, die verwandt wurden, um uns vom Denken und Wollen zu entwöhnen, uns zu verdummen und an Körper und Geist zu erschlaffen, so weiß ich nicht, was stärker wird: meine Trauer oder meine Empörung.« Dieses Urteil steht hier nicht um einer objektiven Gültigkeit willen, die ihm etwa zukäme, sondern weil es wiederum Marie d'Agoults geistige Art so charakteristisch beleuchtet, in der alles auf rationale Klarheit und Bestimmtheit, auf Beherrschung der Seele von der höchsten geistigen Zone der Freiheit aus, auf eine aktive, unabhängige, autonome Haltung zur Innenwelt angelegt ist. »Wollen und Denken«, sagt sie in dem Abschnitt über die Erziehung der Esquisses morales, »damit ist der ganze Mensch bezeichnet. Was tut ihr, wenn ihr während mindestens zehn Jahren dem Kinde jeden eigenen Gedanken, jedes eigene Wollen verbietet? Ihr gewöhnt ihm ab, zu leben.« So wendet sich ihre Natur, nachdem sie über sich selbst ins reine gekommen ist, mit zwiefacher Heftigkeit gegen das Prinzip der kirchlichen Erziehung. Nämlich sowohl aus der Abneigung des freien Geistes, »durch leidenschaftlich aufgeregtes Blut ins Mißbehagen des Gefühls versetzt« zu werden, wie aus der Überzeugung, daß die Zeit der ungebrochenen, uneingeschnürten Aktivität der Seele zur Lösung ihrer Aufgaben bedarf. Ein Mensch, der zu edler und hoher Art ist, um nicht religiös zu sein, und zu viel moralisches Formgefühl und historisches Verständnis besitzt, um bindende gemeinschaftliche Überzeugungen für entbehrlich zu halten – meint sie doch, daß die Zeit neuer religiöser Impulse zum Aufbau der zerbröckelnden Ordnungen bedürfe, und vor allem, daß eine Weltanschauung der Zuversicht alle stolzen, produktiven Kräfte der Seele aufrufen müsse. »Die Gesellschaft«, so sagt sie, »ist heute aufgerührt, wie in der ersten Zeit des Christentums. Dieselben Fragen werden aufgeworfen, derselbe Antagonismus wird laut. Wie damals hält eine unbestimmte Erwartung die Geister in Spannung. Die Frau, Leid tragend im Schoß einer Familie ohne Liebe, fragt, ob es kein anderes Schicksal für sie gibt, als die Bedrückung des Herzens und der Intelligenz. Der Proletarier, dieser moderne Sklave, fragt, ob Elend und Unwissenheit das endgültige Gesetz seines fluchbeladenen Daseins sind. Auf dies alles – was antwortet da der Deuter der ewigen Wahrheit, der Vertreter Gottes auf Erden, der Priester? Er sagt, daß die Liebe eine Torheit, der Gedanke eine Gefahr, Unterwürfigkeit eine Pflicht, Gleichgültigkeit eine Gnade, Schweigen eine Frömmigkeit, die Entkräftung des Körpers und des Geistes ein gottgefälliges Opfer sei. Und diese Weisheit des Todes meint, das Beben des empörten Lebens für immer dämpfen zu können!«
Das junge Mädchen von damals empfand diese Unzulänglichkeit nicht. Sie schied mit Tränen aus dem Kloster, das Herz voll Angst vor ihrer Jugend, voll Angst vor dem Leben. Und doch erlebte sie irgendwie, daß die Schule ihre Pflicht an ihrer erwachenden Seele nicht getan hatte. Denn sie sagt von den fünf Jahren, die von jetzt ab bis zu ihrer Heirat verflossen, daß sie bei allem Glanz und aller Freiheit voll Langerweile, Dumpfheit und Melancholie waren. Seltsam, wie schon vor hundert Jahren die typische Krise des jungen Mädchens erlebt wurde: Marie de Flavigny war auch darin »repräsentativ«; ihr wurde diese Leere des Lebens in einer Zeit größter geistiger Bedürftigkeit und lebendigster Sehnsucht in ihrer vollen Bedeutung bewußt. Verschärft noch durch eine Fremdheit, die zwischen ihr und der Mutter aufwuchs. Sie lag wohl mehr als in dem nationalen Gegensatz in dem der Persönlichkeiten. Die Tochter des Hauses Bethmann scheint eine einfache, klare, gesunde, aber schwunglose und wenig nuancierte Individualität gewesen zu sein, die ohne Fühlung für die höhere Art ihrer zarten und besonderen Tochter ihr ein Jungmädchenglück nach den in ihren Kreisen geläufigen Vorstellungen davon bereiten wollte. »Ich sollte meinen Einzug in die ›Welt‹ halten: zum Ball, zum Konzert, zur italienischen Oper gehen; tanzen, singen, Klavierspielen, gefallen und mich amüsieren, so sehr ich konnte, in der edelsten und elegantesten Gesellschaft Frankreichs. Dabei war gar nichts zu überlegen, da war mein Geschmack nicht zu befragen oder mein Charakter zu berücksichtigen; so machte es jedermann, wir würden es auch so machen; das war damals, und wird es vielleicht immer sein, das letzte Wort der französischen Weisheit« – zur italienischen Oper durften die jungen Mädchen, die sonst die Sitte vom Theater ausschloß, mit der Zustimmung des Beichtvaters gehen, denn erstens waren die Sänger auf jeden Fall gute Katholiken, und zweitens verstanden die jungen Mädchen den Text ja doch nicht!
Auf diese Art fünf Jahre zuzubringen, muß selbst einen Menschen, der die ästhetische Seite des Lebens intensiv zu genießen weiß, in einen Zustand schmerzlichen Ausgehungertseins oder dumpfer Lähmung seiner frischeren und edleren Kräfte bringen. Die Aussicht auf die Ehe bedeutete zunächst nur die auf einen veränderten Schauplatz, auf dem sich aber nichts wesentlich anderes begab als auf dem alten. Als Erfüllung tieferer und lebendigerer Sehnsucht sahen sogar die jungen Mädchen selbst sie kaum an. Es war die funeste tradition des mariages sans amour et sans vertu, an der nach der Überzeugung der Marie d'Agoult der Adel überhaupt seine Lebenskraft einbüßte, die aus den Heiraten ein Geschäft im Dienst des Familienansehens machte. Ein Verlöbnis war eine Affäre von Zahlen, Genealogien, Titeln, Namen von Schlössern, Ämtern – nichts weiter. Einmal schien es, als sollte das Schicksal der Marie de Flavigny besseres schenken. Sie erlebte ein tieferes Gefühl der, wenn nicht Liebe, so doch Heldenverehrung für den ihr ritterlich ergebenen General de Lagarde. Aber diese Liebe, die auf beiden Seiten war, scheiterte an den Bedenken der Familie gegen einen Mann, der die Vierzig überschritten hatte und an den Folgen einer schweren Verwundung litt. Und Marie de Flavigny erzählt, daß sie durch die nun um so intensiver betriebenen Verhandlungen, mit den Ratschlägen und Gutachten der Damen, den interessierten Beobachtungen und dem Klatsch der müßigen Gesellschaft, den Wichtigkeiten der Mittelspersonen in einen so verzweifelten Überdruß getrieben wurde, daß sie schließlich ihre Mutter gebeten habe, nur diese Zeit um jeden Preis abzukürzen.
Es geschah denn auch so, daß die erste » grande alliance« die sich bot, angenommen wurde. Der Graf Charles d'Agoult war aus einem der ältesten Geschlechter Frankreichs, seine Familie stand dem König nahe, er war ein tapferer Offizier – und der Beichtvater meinte, daß ein junges, wohlgeborenes Mädchen immer den Mann liebt, den es heiratet. So unterzeichneten der König Karl X., der Dauphin und die Dauphine, Louis-Philippe d'Orléans, die Herzogin von Berry und Marie-Amélie, Mademoiselle d'Orléans, am 16. Mai 1827 den Heiratsvertrag, der Marie de Flavigny zur Komtesse d'Agoult machte.
Auf diesem Vertrage baute sich das Schicksal einer Frau auf, die von sich sagt, daß sie viel Leid erfahren und verursachen mußte.
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»Es gibt Menschen, die sich ein Schicksal bauen, und solche, die sich darauf beschränken müssen, ihre Existenz zu ordnen.« Marie d'Agoult mußte wohl – als der Mensch, der sie war, in der zu neuer Gestaltung so leidenschaftlich drängenden Zeit – aus der sozialen Reihe heraustreten und sich ein eigenes Schicksal bauen. Das Große ihres Lebens liegt darin, daß sie diesen Bau zu Ende führte, trotzdem der Grund, in dem die Fundamente ruhten, ihre Erwartungen betrog. Sie hat den starken und heroischen Willen, der sie dabei lenkte (in ihrer ersten Novelle Hervé), durch ein Bild erschütternd ausgesprochen: »Unser Leben ist wie der Turm von Pisa; wir beginnen es mit Kühnheit und Gewißheit, wir wollen es gerade und hoch; aber plötzlich beginnt der Grund, auf dem wir bauen, nachzugeben. – – Dann heißt es, wie Bonanno Pisano handeln können; dann heißt es weiterbauen, unser geneigtes Leben zu Ende führen, damit, wer es ansieht, wenigstens erkennt, daß es mehr wert war, als daraus geworden ist, und sich fragt, ob nicht eine größere Vollkommenheit weniger bewundernswert gewesen wäre.«
Es ist, wie schon angedeutet, nicht möglich, von dem Wesen ihrer Beziehung zu Liszt, dem Gesetz, nach dem sich diese Liebe knüpfen und lösen mußte, eine ganz deutliche Vorstellung zu bekommen. Was darüber in den Lisztbiographien berichtet wird, ist nicht nur in der Auffassung banal und grobdrähtig – ganz abgesehen noch von der natürlichen Parteilichkeit, die sich dabei zeigt –, sondern auch in den tatsächlichen Angaben unzuverlässig. Liszt selbst hat z. B. eine angebliche Tatsache der Ramannschen Biographie aufs schärfste dementiert, durch welche die Gräfin d'Agoult in das Licht einer oberflächlichen Auffassung ihres Verhältnisses zu Liszt gesetzt wird. Liszt habe darauf bestanden, ihren Bund zu legitimieren, und sie habe es nicht gewollt, weil sie nicht Mme. Liszt heißen wollte. In einem Brief an die Fürstin Sayn-Wittgenstein (10. November 1880) teilt er mit, er habe »der Ramann« geschrieben, sie möge in einer zweiten Auflage diese Darstellung berichtigen. » Quiconque me connaît un tout soit peu, ne m'attribuera jamais semblable pratique.« Dieses Dementi ist Glasenapp entgangen. In einer biographischen Skizze über Marie d'Agoult in dem »Wegweiser für Besucher der Bayreuther Festspiele 1912« zitiert er noch diese Auseinandersetzung, wenn auch mit dem Vorbehalt eines: es »soll« sich so zugetragen haben.
Irgendwie aber liegt das Verhängnis dieses Bundes jedenfalls darin begründet, daß Marie d'Agoult mehr Geist als Seele war, und daß ihr vollends die dunkle, naturhafte, erdwarme Gefühlskraft der Frauen fehlte, die zur großen Liebe geschaffen sind. Sie war keine »hingebende Natur« – in keinem Sinn. Das Gesetz, »nach dem sie angetreten«, bestimmte sie, auf anderem Wege, durch andere Kräfte zur Reife zu gelangen als durch die Macht des tiefen Gefühls. Das war ein Ausnahmegesetz für eine Frau, und darum verkannte sie es selbst. In dem Bekenntnisroman Nélida, von dem noch die Rede sein muß, gibt sie, noch immer nicht ganz frei von Selbsttäuschung, aber doch mit der Schärfe des ihr eigentümlichen Wissens um sich selbst, eine Deutung, die überzeugend ist: »Bei sehr hochbegabten Frauen eilt das Herz in seinem raschen Aufschwung dem Gedanken so weit voraus, daß es allein die ganze erste Hälfte ihres Lebens bewegt, unterwirft, umstürzt oder mitfortreißt. Der Gedanke, langsamer auf seinem Wege, wächst, unbemerkt zuerst, inmitten der Stürme; aber allmählich steigt er über sie hinaus, erkennt sie, richtet sie, verurteilt oder spricht sie los; er wird souverän.« Diese Sentenz bezeichnet gewiß den letzten Sinn von Marie d'Agoults Schicksal absolut richtig. Nur daß man zweifeln kann, ob wirklich das Herz allein die ersten Entschlüsse dieses Schicksals bestimmte. Ob nicht von Anfang an etwas anderes stärker war als die Liebe des Weibes zum Mann: die geistigere Beziehung einer hochgestimmten, fein gearteten, aber mehr aufnehmenden als schöpferischen Persönlichkeit zum Genie. Eine Beziehung tiefer Sehnsucht und dankbaren Enthusiasmus, die aber schon unzählige Male sich selbst mißverstanden hat und dadurch die Quelle schwerer Irrungen geworden ist. Wenn Marie d'Agoult eine »Schuld« trifft, so ist es nur allein die Schuld dieses Irrtums, und daß sie die ganze Spannung, die sie mit vielfach hergeleiteter Kraft aus ihrer Lage heraus zu einem neuen, ihr gemäßen Lebensspielraum drängte, für Liebe nahm. Darum konnte sie nicht einlösen, was sie mit dem kühnen Schritt der Vereinigung mit Liszt auf sich nahm. Sie hatte – unter der Suggestion einer Überlieferung, die den Frauen diese Rolle zuteilt – gemeint, ihren Anteil an den großen Dingen des Lebens in der Form suchen zu müssen, daß sie die »Muse« eines genialen Mannes wurde. Aber sie hatte weder sinnliche Wärme und weibliche Leidenschaft genug für eine solche Mission, noch war überhaupt ihr Wesen darauf angelegt, sich als irgend jemandes »Ergänzung« zu vollenden. Was sie werden konnte, war ihr auf dem einsamen Wege zu einer ganz in sich geschlossenen Selbständigkeit bestimmt, und wenn sie Helferin an eines anderen Werk hätte sein sollen, so hätte dieses Werk und dieser Mensch groß und universal genug sein müssen, um einer »Persönlichkeit« Spielraum zu lassen. Das konnte das Virtuosentum Liszts selbstverständlich nicht. Als sie, mit der Reife ihres Menschentums, »in den vollen Besitz der Kräfte trat, die ihr von der Natur geschenkt waren«, mußte die starke und »exigeante« (das Wort wird immer von ihr gebraucht) Notwendigkeit ihrer Wesensentwicklung bald an die gegebenen Schranken eines Lebens zu zweien – ja mehr noch: für einen andern stoßen. Da riß die unversöhnliche Verschiedenheit der beiden Menschen wie eine tiefe Kluft auf. Liszt, eine ganz religiös bestimmte, ja in einer seltsamen und schwer zugänglichen Art mystische Seele – sie, ganz beherrscht durch den »Gedanken«, kühl und durchsichtig, und mit allen Kräften ihres Wesens dem Ziel der geistigen Freiheit verpflichtet. Und dieser Gegensatz verschärft durch den des Alters: eine innerlich frühreife Frau um die dreißig, und ein Jüngling in Sturm und Drang. Verschärft durch das Geschlecht: denn die seelische Ergänzung, die gattungsmäßig der Mann bei der Frau sucht, fand er bei ihr nicht, und diese unsinnliche Klarheit, die zuerst für ihn den sublimen Reiz einer seltenen Idealität hatte, Aus den ersten Jahren ihres Zusammenlebens stammt die folgende Äußerung Liszts an Louis de Ronchaud: »Ja, mein Freund, wenn vor Ihrer träumenden Seele das ideale Bild eines Weibes vorüberzieht, eines Weibes, dessen himmelentstammte Reize kein sinnverlockendes Gepräge tragen, nein, nur die Seele zur Andacht beflügeln! Und wenn Sie ihr zur Seite einen Jüngling erblicken, treuen, aufrichtigen Herzens: verweben Sie diese Gestalten in eine ergreifende Liebesgeschichte …« mußte ihn schließlich eben deshalb erkälten, weil sie von einer Frau ausging.
Es ist in diesem Verhältnis eine bestimmte Ähnlichkeit mit dem zwischen Goethe und Frau von Stein – so mißlich es immer ist, Beziehungen zwischen Menschen in solche Parallele zu setzen –, nur daß die Persönlichkeit der Marie d'Agoult in demselben Maße glänzender, reicher und weiter war als Charlotte von Stein, wie Goethe, neben Liszt gestellt.
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Das Verhältnis von Marie d'Agoult zu Liszt ist kein rein individuelles Erlebnis, es ist vielmehr eine Frucht am Baum einer bestimmten Kultur, von der großen Bewegung der Zeit geboren und genährt. Es gehört der unruhvollen, abenteuerlichen, zweifelsüchtigen Generation an, in der das neunzehnte Jahrhundert seine große schmerzliche Krisis erlebte. Wie besonders und unvergleichbar die beiden Menschen sein mögen, sie bedeuten zugleich eine Gruppe in einem großen Bild – » representative men« auch in ihrem persönlichsten Zueinanderstehen.
Die Gräfin d'Agoult war durch ihre Heirat dem Hof und der royalistischen Partei noch fester angeschlossen. Sie wurde in feierlicher Zeremonie Karl X. vorgestellt – drei Damen, ihre »Paten« und sie selbst, rückten mit endlosen Courschleppen in feierlicher Front durch die ganze Länge eines Saals gegen den Thron vor, mit drei rhythmischen Verbeugungen beim Eintritt, in der Mitte des Saales und vor dem Thron. Sie badete mit der Herzogin von Berry in Dieppe und war Zeuge, wie alljährlich zum ersten Bad der ärztliche Badeinspektor, in Gala und weißen Handschuhen, die Herzogin ins Wasser führte – unter dem Donner von Böllerschüssen, die den feierlichen Akt begleiteten. Ihre Verwandten ließen sie ängstlich und ungern zu den Reunions des Herzogs von Orléans gehen, der suspekt war, und an dessen Hof die Gesellschaft so »gemischt« war, daß man Männer wie Lafitte, Thiers, Guizot dort traf. » On n'y connaissait personne«, sagte eine alte bourbonistische Herzogin indigniert, als sie von dort zurückkam.
Dann kam die Julirevolution. Aus den Fenstern ihres Hotels sah Marie d'Agoult, wie über dem Pavillon d'Horloge die Trikolore gehißt wurde, und wie schließlich, am 9. August, Louis Philippe mit seiner Familie im offenen Wagen als neu proklamierter König der Franzosen durch Paris fuhr. Der Graf d'Agoult kam um seine Entlassung ein. Auch die Gräfin suchte keine Beziehungen zu dem Hof des Bürgerkönigs, der wie ein Philister in den Straßen von Paris spazieren ging, mit seiner Frau und seinem Regenschirm.
M. de Ronchaud sagt in seiner diskreten kleinen Studie über Marie d'Agoult, die ihre Esquisses morales einleitet, daß schon damals, als sie von der Terrasse am Quai Malaquais der Julirevolution zusah, die junge Gräfin nur noch durch Wohnung und Namen mit ihrer Gesellschaftsschicht zusammenhing. Ob das wahr ist, muß dahingestellt sein. Jedenfalls scheint die Revolution ihr zu einer Stichprobe des Gefühls geworden zu sein – so wie ihr später der deutsch-französische Krieg zur Stichprobe ihres Zugehörigkeitsgefühls zu Frankreich wurde. Als sie das ferne Knattern der Flintenschüsse hörte, die auf das Volk abgefeuert wurden, nahm etwas in ihrer Seele Partei für den Mut und das Unglück der Masse. Aus dem Wesen ihrer adligen Gesinnungen selbst – in gerader Fortbildung jener Noblesse, die den engen Egoismus verpönt und die Verantwortung für das Geschick der anderen, der Schwachen insbesondere, auf sich nimmt, erwächst ihr das Ideal der Demokratie.
In der Zeit zwischen der Julirevolution und der von 1848 dringt das Bewußtsein, daß im Schoße der alten Gesellschaft alle bildenden Kräfte an einer neuen sozialen Ordnung schaffen, die bald ans Licht treten muß, beunruhigend und erregend in alle wachen Seelen. Ein Vorgefühl der ungeheuren Tragweite der gesellschaftlichen Umgestaltung, die als Konsequenz des Industriestaates kommen mußte, entfesselt den Drang, in Spekulation und persönlicher Lebensführung mit der Überlieferung aufzuräumen und das Neue zu suchen. Die simonistische Bewegung wurde nach dem Tode ihres Begründers um so leidenschaftlicher; die kühnen Abhandlungen des Globe über die gesellschaftliche Reorganisation bewegten alle vorurteilslosen Geister; die Jünger Fouriers begründeten eine Schule, Pierre Leroux, Louis Blanc stellten ihre sozialen Systeme zur Diskussion – und endlich kam Proudhon als der einsamste, revolutionärste, aufregendste. Wie ein starker dunkler Strom flutet eine leidenschaftliche Mystik, der Geist der französischen Romantik, durch die soziale Bewegung hindurch, über sie hinweg, an ihr vorüber und wühlt den sozialen Ideen ein noch tieferes Bett in den Seelen dieser erschütterten Generation. Und inmitten all dieser sensitiven, schwärmerischen, glühenden Menschen George Sand – wie die geruhsam verderbliche Göttin all ihrer frommen Frevel.
Marie d'Agoult kam aus der Leere einer Umgebung, in der alles, bis in die Intimität des Familienlebens hinein, Konvention war, in diesen Aufruhr der Geister. Er enthielt für sie die Aufforderung, ihrem ganzen inneren Leben neue Grundlagen zu finden – für ihren regen, arbeits- und eroberungsdurstigen Geist die lockendsten Aufgaben. Es ging ihr wie so vielen in jener Zeit:
Schon fühl' ich meine Kräfte höher,
Schon glüh' ich wie von neuem Wein.
Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,
Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
Mit Stürmen mich herumzuschlagen
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.
In solcher Stimmung traf sie den jungen Künstler, den genialen Bohemien: auch voll von St. Simon, auch in allen Nerven den Sturm jener seltsamen Jahre.
Leidenschaft und der Wagemut einer vermeintlichen sozialen Mission, ein heißes Gefühl und ein verhängnisvoll fanatisierter Zukunftsglaube vereinigen sich in dem nach langem Kampf gefaßten Entschluß. Marie d'Agoult verließ ihre Kinder, den Kreis, dem sie angehörte und folgte Liszt ins »Exil« – das dem Franzosen nach einem Wort von ihr stets wie »eine schmerzvolle Aufhebung des Lebens« ist.
Ein unter solchen Auspizien geschlossener Bund, aufrechterhalten in dem Wanderleben eines gefeierten Künstlers, mußte zwischen Ekstasen und Depressionen auf und nieder gerissen werden. Reichtum und Gegensätzlichkeit der beiden Menschen waren ebensowohl der Hort eines überschwenglichen Gefühls von Beschenktsein, wie der Quell schmerzvoller, bitterer Reibung. Dazu kam das gefährlich Labile eines Verhältnisses, das so ganz und gar außerhalb des stillen und beständigen Laufes der Tage lag, das der Festigung durch die Sitte entbehrte und das deshalb die hochfahrenden und angstvollen Ansprüche des Menschen, der alles auf die Karte seiner Leidenschaft gesetzt hat, ständig bis zum Zerreißen spannen. Marie d'Agoult nennt selbst ihr Verhältnis (in Nélida) »eine von diesen königlichen Leidenschaften, die ausschließlich und einzig sein wollen, und gegen die durch eine Ironie des Schicksals, das dem Menschen nichts Absolutes gewährt, sich dieselbe Macht wendet, die sie einen Augenblick triumphieren ließ und sie scheinbar unverletzlich machte.« Es liegt etwas wie Symbolik in der Episode ihres Wanderlebens, von der George Sand in dem ihr eigenen theatralischen Stil in den Lettres d'un voyageur erzählt, in denen Liszt und Marie d'Agoult als Franz und Arabella eingeführt werden. Es war in dem Dom St. Nicolas von Freiburg während des Schweizer Aufenthaltes. Man wollte die vielbewunderte Orgel Moosers hören. »Arabella, dem Erlebnis des Erhabenen vertraut, eine unendlich reiche Seele, unersättlich, voll königlicher Ansprüche an Gott und die Menschen … wartete, und wartete vergebens auf den Widerhall der himmlischen Stimmen, die ihre Brust durchzittern, aber die keine menschliche Stimme, kein Instrument, das aus unseren sterblichen Händen hervorgegangen ist, als leibhaften Klang ihrem Ohr schenken kann. ›Es ist nicht, was ich erwartet hatte‹, sagte sie unbefangen und ohne von der stolzen Forderung ihrer Worte zu wissen.«
In den » Lettres d'un Bachelier ès musique«, die Liszt aus diesen Wanderjahren an die » Gazette musicale« schrieb, steht zwischen den Zeilen, was Marie d'Agoult ihm zu geben hatte. In dieser Zeit des rein menschlichen und persönlichen Reifens, in der Liszt seine Idee von der allgemeinen persönlichen Bildung des Künstlers für sich zu verwirklichen strebte, war sie ihm Mitarbeiterin und Führerin. Es gab lange, stille Zeiten reinen Glückes in dem tiefen Genuß dieses Miteinanderwachsens, der gemeinsamen Selbstbildung durch alle Schönheit und Größe der Welt. Und doch deutet sich leise in den Zeugnissen selbst dieses Glückes an, daß ihre Wege sich, ihnen vielleicht noch unbewußt, zu trennen begannen. Es ist da in dem schon erwähnten Reisebrief Liszts an den gemeinsamen Freund de Ronchaud (der nachher ihr Freund geblieben ist) ein charakteristischer Exkurs über die Beatrice des Dante, dessen göttliche Komödie er im Platanenschatten der Villa Melzi in Bellagio mit Marie d'Agoult liest. Er äußert sein Mißfallen darüber, daß Beatrice dem Dante als Führerin zur höchsten Weisheit und zu den ewigen Geheimnissen erscheint. »Nicht durch Abhandlungen und Beweisführungen beherrscht das Weib des Mannes Herz. Ihr steht es nicht zu, ihm die Gottheit zu beweisen, sondern sie ihn kraft der Liebe ahnen zu lassen und ihn nach sich zu ziehen dem Himmlischen entgegen. Nicht im Reich des Wissens, nein! im Reich des Fühlens äußert sich ihre Macht! Das liebende Weib ist hehr, sie ist der wahre Schutzengel des Mannes; das pedantische Weib ist ein Unding, ein Mißton, welches in der Hierarchie der Wesen nirgends an seinem Platze ist.« Man kann Liszts Worte benutzen, um damit zu sagen, daß in dieser zweigliedrigen »Hierarchie« für eine Persönlichkeit wie Marie d'Agoult kein Platz ist. Sie war gewiß nicht der Typus des »pedantischen Weibes«, aber nichts war ihrem Wesen gemäßer als die Liebestat der Beatrice: geistiges Ringen aus Dumpfheit und Dissonanz zu Klarheit und Harmonie zu führen. Sie erlebte nun einmal die Gottheit nicht nur mit dem Herzen, sondern, überwältigender noch, und entscheidender, in der Sphäre des Gedankens. Auch wenn damals – mit dem Wortlaut ihres eigenen Bekenntnisses sei es gesagt – ihr ganzes Leben noch vom Herzen allein beherrscht gewesen sein sollte, so wuchs doch schon, eben in der Atmosphäre dieser kostbaren Freiheit und Fülle, in der sie lebte, der »Gedanke« zu seiner Führerschaft heran.
Daß hier der Keim eines Konfliktes lag, zeigt der Roman Nélida, in dem Marie d'Agoult nach der Trennung von Liszt das Erlebte gestaltete. Als Bekenntnisroman gefaßt, ist dieses Buch ohne Zweifel eine peinliche Erscheinung, Es ist künstlerisch nicht überzeugend genug, als daß man der Verfasserin einen unwiderstehlichen Zwang, eine dichterische Notwendigkeit zugute halten könnte. (In dem Sinn, wie Goethe sagen kann: Werther mußte sein!) Um so mehr darf der Maßstab des sittlichen Taktes an das Buch gelegt werden – und da besteht es nicht. Das Allzumenschliche, das sich in Erfindung und Durchführung der Einkleidung Geltung schaffte: das Bedürfnis nach persönlicher Genugtuung, verwundeter Stolz, gedemütigtes Selbstgefühl – ein Schmerz, in dem noch alle bösen Dämonen wühlen – wirkt um so peinlicher in einer kultivierten Form und einer leidenschaftslosen Darstellung. Aber immerhin und trotz der Verzerrung des Erlebnisses Marie d'Agoult–Liszt in dem Schicksal von Nélida und dem Maler Guermann führen einige Züge des Romans in das Innere dieser Trennung. Es wird erzählt, wie Nélida, der genießenden Muße müde, philosophische Studien aufnimmt, die ihre Seele mehr und mehr »edler Wißbegier« erschließen. »Da sie einen aufrichtigen Wahrheitsdrang hatte, erwarb sie in kurzer Zeit viel richtigere und geordnetere Kenntnisse als die Guermanns … Ihre Intelligenz wurde durch diese methodische Arbeit zugleich sicherer und entwickelter. Nach einem halben Jahr hatte sich eine fühlbare Umwandlung in ihr vollzogen; ihr Denken war vollkommen den Kinderschuhen entwachsen. Dem blinden Glauben war das nachdenkliche Gefühl gefolgt, der katholischen Kirchlichkeit eine religiöse Anschauung der menschlichen Bestimmung.«
In diesen Sätzen muß ein Stück Wahrheit und Erlebnis sein. Und so viele andere äußere und innere Spannungen in dem Bruch zum Zerreißen gekommen sein mögen, so scheint es doch, als ob letzten Endes diese Entwicklung ihrer geistigen Persönlichkeit Marie d'Agoult Liszt entfremdet und beiden offenbart hat, daß ihre Naturen nicht wahlverwandt waren.
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» La suprême ivresse de l'âme n'est qu'un désir trompé, qui s'éteint dans les pleurs.«
Es ist natürlich, daß Marie d'Agoult aus dem Bund mit Liszt tiefer verwundet, schwerer getroffen hervorging als er selbst. Ihr Leben lag in zwei schmerzhaft verstümmelte Bruchstücke zerfallen vor ihr. Wie sollte sie es vollenden? Der Zerbrochenen schien nur übrig zu bleiben, zu trauern und zu zürnen. Das tiefe Unrecht, das ihrem Andenken geschehen ist, liegt darin, daß wir sie nur so – entstellt durch Schmerz und Groll – gesehen haben. Und doch war die Tat, in der sich aller Wert und alle Kraft ihres Lebens sammelte, wie sie sich selbst entsühnte und befreite. Was an Irrtum in ihrer Leidenschaft, an Härte in der Trennung von ihrer Familie, an schmerzlicher Gereiztheit und verbittertem Stolz in ihrer Enttäuschung durch Liszt war, erscheint wahrhaft besiegt durch die Kraft und Strenge, mit der sie den reinen Umriß ihres Menschentums wiederherstellte. Daß aus einem solchen Schiffbruch der stolze Friede, die Weisheit, der Glaube und die Anmut gerettet werden konnten, die aus ihrem reifsten Werk, den Dialogen über Dante und Goethe sprechen, das ist das eigentlich Wichtige und Entscheidende ihres Lebens.
In den Esquisses morales, in deren Sentenzen wir so viele Kristallisationen ihrer Erfahrungen finden, sagt sie einmal: »Die Moralisten haben dem Menschen gesagt: dämpfe, unterdrücke, ersticke deinen Hochmut. Ich sage ihm: rechtfertige ihn. Das ist das Geheimnis jedes großen Lebens.«
Und so hat sie selbst die Pflicht ihres Lebens von nun an aufgefaßt: als eine Rechtfertigung aller stolzen Ansprüche, die sie erhob, als sie einst, ihr übertragene Liebespflichten von sich schiebend und dem Schutz der Sitte entsagend, ihr eigenes Schicksal suchte. »Der Kampf begann noch einmal unter anderen Bedingungen und auf einem anderen Schauplatz«, heißt es von der Nélida ihres Romans; Nélida schenkt ihr Leben von nun an der geistig-sozialen Bewegung, deren Kind sie schon unbewußt war, indem sie die Sitte durchbrach und – wenn auch auf falschem Wege und durch schwere Irrung – einem tiefbegründeten Recht ihrer Persönlichkeit folgen wollte. Marie d'Agoult lehnte die Wiederaufnahme in ihre Familie ab – nicht aus Kälte und Gleichgültigkeit; mit einer von ihren Töchtern, Claire Christine, hat sie später eine ganz innige Freundschaft verbunden, die sich in den Dialogen über Dante und Goethe in dem zarten Verhältnis von Diotima zu Viviane spiegelt. Aber sie hatte wohl das Gefühl, daß es sich nicht gezieme, einen Lebensabschnitt so voll Schmerz und Glück einfach auszulöschen und in ein Heim zurückzukehren, an dessen Seele sie nicht mitgeschaffen hatte. Sie war nicht ein Mensch, dem eine nachträgliche »Reue« das Leben zerfraß. In den konditionalen Imperfekten »ich hätte tun müssen« – »ich hätte voraussehen müssen« sah sie nur eine unfruchtbare Ermüdung des Gewissens. Aber ihr war etwas anderes innerstes sittliches Bedürfnis: die Treue gegen ihren Schmerz und ihr Schicksal. Sie beschloß, »zu bleiben, wo sie geweint hatte«, in der vollkommenen seelischen Einsamkeit, in die der Bruch mit Liszt sie geworfen hatte, zu verharren und ihr Leben auf die Kraft zu gründen, die ihr unverletzt und ungebrochen geblieben war: die schaffende Teilnahme an den fortschreitenden Siegen des Geistes, des Gedankens, der Schönheit.
Ihre literarische Tätigkeit, mit der sie nun begann, ganz zu verfolgen, ist hier in Deutschland nicht möglich, weil uns die Zeitschriften, in denen ihre ersten Arbeiten erschienen, hier nicht zugänglich sind. Sie schrieb kunstwissenschaftliche Aufsätze für die Zeitschrift » La Presse«, die Emile de Girardin herausgab; in der » Revue indépendante« erschienen Abhandlungen über die deutsch-katholische Bewegung, über die Verfassungskämpfe in Preußen –; im » Courrier français« schließlich begleitete Marie d'Agoult 1848 den Ausbruch der Revolution mit den » Lettres républicaines«. Man müßte gewiß besonders diese republikanischen Briefe kennen, um ein vollständiges Bild ihrer literarischen Persönlichkeit zu haben. Von diesen ersten kleineren Arbeiten sind wohl nur die in der » Revue des deux Mondes« erschienenen in deutschen Bibliotheken zu finden. Sie sind allerdings für uns auch von besonderem Interesse, denn sie dienen der Vermittlung der beiden Kulturen, die Marie d'Agoult in sich angelegt fand, und im Laufe der Reisejahre nebeneinander immer bewußter reifen fühlte: der deutschen und französischen. Es sind Aufsätze über Bettina von Arnim, über Freiligrath und Heine. Es ist charakteristisch für Marie d'Agoult, daß ihr das Königsbuch der Bettina schlechtweg ungenießbar war. Sie, die in der Politik nichts so hassenswert und gefährlich fand als die » mots vagues« und die » formules obscures«, mußte diese schwelgerische und romantische Vorstellung von der Vermählung der Volksseele mit ihrem Hirten von Gottes Gnaden, von dem schwärmerisch demokratischen König und dem schwärmerisch monarchischen Volk abstoßen. Sie fand – indem sie das Buch mit dem kühlen Urteil einer kampferprobten und zielbewußten Republikanerin betrachtete – diesen ganzen Gefühlsappell an den König geschmacklos, deplaciert, in seiner politischen Naivität anmaßend; die Formlosigkeit der Sprache und der inneren Haltung des Buches widerstrebte ihrem gallischen und aristokratischen Empfinden. Ebenso stark verurteilt ihr Geschmack Freiligrath. Hier ist ihr Urteil übrigens verblüffend sicher und treffend. Sie bespricht das »Glaubensbekenntnis«, in dessen Vorwort Freiligrath spießbürgerlich-pathetisch mitteilt, daß er die königliche Pension zurückgewiesen habe und sich auf die Seite der Revolution stelle. Diese Vorrede » pédante et maladroite« ist ihr typisch für den Revolutionär Freiligrath. Es liegt seinen friedlichen Instinkten nicht, »düster und von Zorn durchpocht«, den Tyrtäus zu spielen, nachdem einst, wie Marie d'Agoult mit spitzigem Witz sagt: »Die Gazelle und das Kamel der Wüste seine Lieblingshelden gewesen sind«. Voll feinen Verständnisses ist ihr Urteil über Heine: »Denkt euch etwas wie die Verve eines Rabelais, genährt durch die Phantasie des Wunderhorn, die Legenden des Rheins und die Träume Jean Pauls. Man könnte sie nicht wiedergeben, diese vollkommene musikalische Schönheit, diese scheinbare Ungezwungenheit und Leichtigkeit bei einer durchaus klaren Form, und besonders diese plötzlich abbrechenden Akzente einer tiefen Melancholie, die ewige Antithese von Zärtlichkeit und Bitterkeit, die in die zartesten Schattierungen eingeschmolzen ist; diese Abgründe von Trauer, die sich öffnen wie unter einer blühenden Wünschelrute, die sie gleich wieder schließt.«
Übrigens fand ihre Mitarbeit an der » Revue des deux Mondes« bald ein Ende, denn der konservative Chefredakteur wollte Nélida nur mit Kürzungen bringen, und fürchtete sich vor der Mitarbeiterin, die, wie er sich ausdrückte, eine literarische Revolution in der einen und eine politische in der anderen Hand hatte.
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Die erste selbständige wissenschaftliche Arbeit von Marie d'Agoult ist der Essai sur la Liberté, der 1847, ebenso wie alle ihre früheren und späteren Arbeiten unter dem Pseudonym Daniel Stern erschien. Der Polizeipräfekt von Paris tat dem Buch die Ehre an, es mit den Évangiles des Lammenais und den Contradictions économiques des Proudhon für staatsgefährlich zu erklären. Marie d'Agoult nennt dieses Buch den Schrei einer Seele, die sich einer langen Dunkelheit entreißt und die noch geblendet ist von der ersten Berührung mit der Luft und dem Licht. Es ist die Rückkehr in das Leben nach der lähmenden, zerschmetternden Lösung ihres Liebesbundes. »Ich suchte ein Mittel, um der Not meiner Seele zu entgehen, einen Grund, um auf Gott zu hoffen und das Leben zu lieben. Ich wußte wohl, oder richtiger: ich fühlte, daß sich die Weisen täuschen, die uns sagen, das Glück sei das Ziel des Menschen, und daß uns die Theologen täuschen, wenn sie uns dieses egoistische Glück in der fortschrittlosen, untätigen Ewigkeit eines Besitzes an Gott zeigen. Ich empfand das Bedürfnis, mir ein anderes Wozu für mein Leiden und mein Handeln zu geben – einen anderen Grund, um zu leben. Ich suchte, suchte lange und geduldig, in einer unaussprechlichen Verlassenheit von allem, was die Freude und die Hoffnung anderer Menschen ausmacht.«
In solchen Schmerzen ging es ihr auf: die Bestimmung des Menschen ist die Freiheit.
Man kann vielleicht sagen, daß das deutsche Element in Marie d'Agoult sich mit dieser Erkenntnis und in dem Sinn, den die » Freiheit« für sie annahm, ans Licht rang. Denn was sie – inmitten der zu ganz anderen Endgültigkeiten hinstrebenden zeitgenössischen französischen Philosophie, man denke an St. Simon und Comte – hier als Grund eines eigenen neuen Lebens legte, war die große Idee des deutschen Idealismus, der ethische Gedanke der Selbstbestimmung und der künstlerische der Individualität, die ihr in eines zusammenzufallen schienen. Noch ohne die Fülle einer vielerfahrenen, aus allen Lebensströmen schöpfenden Seele, als die sie sich in den Dante-Dialogen zeigt, ein wenig trocken und spröde, mit einer fast pedantischen und etwas hilflosen Einteilung in kurze Kapitel sucht sie ihrer Intuition die Gestalt eines Systems zu geben, das die sie bewegenden Probleme zu fassen vermochte. Es schwebt ihr vor, daß unser schwankendes Leben an dem Punkt zur Ruhe kommen müsse, an dem es ganz aus sich lebendig, nirgend nur Gehorsam, nirgend nur Dienst, bis in die letzte Zelle hinein Aktivität und Wille ist. Diese höchste Freiheit verwirklicht zugleich das Gesetz, die Form, in die unser Leben gebannt, und an die seine höchsten Möglichkeiten geknüpft sind. Wie die Pflanze die gesundeste, intensivste Auswirkung ihrer Kräfte in der ungehemmten Verwirklichung ihrer angelegten Form findet, und eines mit dem andern wird: die Vollkommenheit der Form mit dem freien Strom der Kraft – so ist auch das Geheimnis menschlichen Werdens in dieser letzten Identität von Freiheit und Gesetz zu finden. »Es ist das Gefühl, das Durchdrungensein und die Liebe zu dieser unauslöschlichen Harmonie, die den Menschen zugleich zu dem freiesten ( spontané) und dem ehrfürchtigst unterworfenen der irdischen Wesen macht, gut handelnd in dem Maße, als er klar erkennt; mächtiger von Zeitalter zu Zeitalter in dem Maße, als er sich selbst gehorsamer zu machen vermag; Geschöpf und Schöpfer Gottes in die ewige Unendlichkeit.«
Glück ist, Gott in sich werden zu fühlen – ein Glück über alle Schicksalsmacht hinaus und ihr ewig entzogen, ein Glück, zu dem der Weg am freiesten ist, in der » alta solitudine«, der hohen Einsamkeit der schmerzgeprüften, verlassenen Seele. Der Durchführung des Grundgedankens folgt in dem Essay eine Untersuchung, wie diese Freiheit in der Gesellschaft zu verwirklichen sei – ein Versuch, der mit der Abhandlung des jugendlichen Wilhelm von Humboldt über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates viel Verwandtschaft hat. Hier werden Gedanken über eine Nationalerziehung im Sinne Fichtes ausgesprochen. Hier ist auch zum erstenmal die Rede von der Lage der Frau in der Gesellschaft. Ja der ganze Essay gipfelt in einem glühenden Appell an die Frauen, nach der Krone dieser Freiheit zu streben, ihr Recht auf dieses höchste Lebensziel zu fordern:
»O ihr« – so heißt es, nachdem die Rechtlosigkeit und geistige Verkümmerung der Frau mit scharfen, von vielerlei nachzitternden Schmerzen klingenden Worten geschildert ist – »o ihr, die ihr noch nicht in einem frivolen Müßiggang jedes Gefühl für Größe und Gerechtigkeit verloren habt, ihr aufopfernden Frauen, ihr Mütter, ihr Schwestern, ihr furchtlosen Bräute, nehmt euren Mut zusammen, vereinigt euren Willen. Eure Gatten vergessen euch, eure Söhne enttäuschen euren Ehrgeiz, eure Brüder verkennen euch, eure Geliebten verraten euch. Starke Herzen, zerbrecht nicht in Schluchzen; edle Stirnen, beugt euch nicht unter der Kränkung; tröstende Blicke, erlöscht nicht in Tränen. Stürzt euch nicht, um dem Stachel eurer Schmerzen zu entgehen, in die Betäubung eitler Freuden. Läutert eure Tugenden, erweitert eure Hingabe. Lernt es, mit Leidenschaft, aber ohne Schwäche zu lieben: nicht mehr eines dieser Phantasiegeschöpfe, die nur in euren Träumen leben, sondern das Vaterland und die Menschheit. Laßt, wie eine abgenutzte Hülle, euren erniedrigenden Aberglauben, eure nichtigen Arbeiten, eure egoistische Aufopferung hinter euch. Zieht endlich aus dem Lande der Knechtschaft aus. Hört nicht mehr auf diesen versucherischen Dämon, der euch in den Fesseln einer unfruchtbaren Vorsicht festhalten will. Gedenkt eurer großen Vorfahren. Ehemals stürzten sich die christlichen Frauen in die Arena trotz ihrer Väter, Gatten und Söhne, und bald bestritt ihnen niemand mehr die Öffentlichkeit des Martyriums. Eine andere Arena öffnet sich heute, unsichtbar und unblutig: die des Geistes, in der die Ideen allein kämpfen; Vergangenheit und Zukunft ringen dort in schwerer Erbitterung. Ansehen, Reichtum, Glück – aber die Dienstbarkeit – auf der einen Seite. Arbeit, Entsagung – aber die Freiheit – auf der anderen. Frauen der Christenheit, versteht zu wählen!«
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In den Esquisses morales zeigt sich die Weltanschauung, die hier in ihren ersten Umrissen wie eine ferne selige Küste aufdämmert, in dem prangenden Reichtum einer schnellen Reife. Diese Aphorismen sind 1849 zum erstenmal erschienen und 1880, eingeleitet durch eine feinfühlige Studie über Daniel Stern, von ihrem Freunde de Ronchaud nochmals veröffentlicht. Paris, Calmann Lévy. Es kommt dem darin ausgebreiteten Gedankenreichtum zugute, daß die systematische Form aufgegeben ist. Erscheint dadurch der Zusammenhang der aphoristischen Gedanken untereinander gelockert, so bietet doch das Ganze ein um so lebendigeres und farbigeres Bild von dem Werden der modernen Seele. Denn das kann man als den Inhalt dieser Aphorismen bezeichnen, daß sie uns zeigen, wie aus überwundener Tradition und bewahrtem, neu erworbenem Vergangenheitsgut, wie angesichts überwältigender neuer Aufgaben das Lebensgefühl keimt, das uns für den Menschen des 19. Jahrhunderts charakteristisch erscheint.
Marie d'Agoult war die erste, die Emerson in Frankreich bekannt machte. Und von Emersons Geist ist etwas in den Anschauungen und Impressionen, die sie hier mit der ihr eigenen Freude und Kunst der Pointe gibt. Der Mensch der Jahrhundertmitte sieht in einer von lang her vorbereiteten Auflösung die Form der Gesellschaft, des Individuums zerfallen, und in der Angst dieser Zerstörung ergreift er nun erst recht, was ihm inmitten dieser Auflösung neu geschenkt war und was sich an die Namen Goethe, Kant, Fichte knüpft. Indem er die Ordnungen einer langen Vergangenheit schwinden sieht, werden ihm erst die Schätze teuer, die ihm der gestrige Tag schenkte; denn mit diesen Schätzen ist es ihm gegeben, eine neue Welt zu bauen. Und erst jetzt beginnen diese Schätze in dem Glanz zu leuchten und in dem Duft zu blühen, der ihnen eignete, und über alle Stirnen hin weht der Geruch neuen Lebens vor ihnen her. So wird Goethe erlebt von den Menschen der Jahrhundertmitte – Carlyle, Emerson, Henri Taine. »Ich höre jammern und die Gegenwart anklagen: alles geht abwärts, alles wird müde, alles stirbt. Ich schaue zu, ich horche auf, ich höre das Klopfen meines Herzens und ich antworte: alles geht aufwärts, alles verwandelt sich, alles wird lebendig. Wer hat nun recht? Wer täuscht sich? Das tiefe Wort eines großen Schriftstellers wird den Widerspruch lösen. ›In dieser Zeit‹, schreibt Chateaubriand, ›gab es viel Tod, weil es viel Leben gab.‹«
Aus dem schmerzlich-sieghaften Hochgefühl dieses großen Ringens ist jeder Satz dieser Aphorismen geboren. Königliche Anlagen und die Reife großer Schmerzen liehen in schwankender Zeit das Geschenk einer seltenen Sicherheit für den neuen Weg. Eine helle klare Besonnenheit gibt der Stimme des Instinkts, der alle diese Werturteile über die Zeit prägt, etwas Freies, Klingendes, Beherrschtes. So spricht sie zu uns.
Und auch wieder insbesondere zu den Frauen: sie ist streng und verlangt viel, aber sie versteht und verteidigt.
»Die Männer unserer Zeit kennen nur zwei Arten von Frauen, die der Lust und die der Mühe. Die eine hat sie nach dem Trinken zu amüsieren, die andere muß ihnen das Essen bereiten. Wenn – aber das ist unmöglich – einer von ihnen zufällig einmal einer wirklichen Gefährtin begegnete, einer Frau nach dem Sinne Gottes, der Liebe und der Freiheit, was sollte er mit ihr anfangen?«
»Die Männer unserer Zeit haben eine so kleine Seele, daß sie, wenn sie eine dieser heroischen Leidenschaften einflößen, deren Geheimnis das Herz der Frau nicht verloren hat und die auch irgendwie von ihnen Größe verlangen, nur in Verlegenheit geraten, sich belästigt fühlen. Sie versuchen, diese große Liebe zu verringern, sie herabzudrücken, sie ihren Maßen anzupassen.«
»Geistige Überlegenheit bei einer Frau ist noch eine zu seltene Erscheinung, um nicht das Mißtrauen des gemeinen Denkens zu erregen. Damit hängt es zusammen, daß sie eine unruhige, gewappnete Größe ist, die ihre Kräfte gebraucht, um sich selbst zu verteidigen, statt sie dem Wohl der Familie und der Gesellschaft nutzbringend zu widmen.«
»Was dem Geist der Frau im Kern fehlt, ist Methode. Daher regiert der Zufall ihre Überlegung und oft genug auch ihre Tugend.«
»Was die Frauen irreführt; ist ihre Phantastik ( esprit de chimère). Sie tragen diese Phantastik in alles hinein: in die Religion, in die Liebe, ja sogar in die Politik, wenn sie damit in Berührung kommen. Das kommt von ihrer abgeschlossenen Erziehung und der Entfremdung von aller Wirklichkeit, in der man sie erhält. Sie wissen weder von der physischen noch von der moralischen Welt etwas. Alle Dinge behalten in ihren Augen etwas von Geheimnis. Die männliche Weisheit hat es so entschieden. Ich wundere mich, daß sie sich angesichts der Resultate nicht versucht fühlt, es mit einem anderen System zu probieren.«
»Bei dem gegenwärtigen Zustand unserer Sitten sind sehr wenige Frauen der Freundschaft fähig. Gewöhnt entweder an Despotismus oder Sklaverei, versteht ihre schwache und schwankende Seele, die immer über das Wahre und Gerechte hinausgetrieben wird, nicht den ruhigen Reiz eines ernsten, dauernden Gefühls zu genießen, das auf einer vollkommenen Gleichheit beruht.«
Die Natur der Marie d'Agoult war in seltener Weise zur Freundschaft bestimmt. Auch die Reife der Liebesleidenschaft sah sie in einem inneren Verwachsensein und Miteinandergehen, das zuständlich still geworden ist, ohne an Wärme zu verlieren; und das Verhängnis in der Liebe ihrer Nélida faßt sie in das Wort, daß sie nicht die Bedingungen zur Freundschaft in sich trug.
Zu diesen Bedingungen gehört ihr eine Gemeinsamkeit der inneren Ziele, das Verbundensein in großen Interessen. Mit zahlreichen politischen und geistigen Führern der Zeit fand sie sich in schöner Kameradschaftlichkeit auf dieser Grundlage: mit den Männern des Risorgimento, von denen sie in den »politischen Studien« aus Turin und Florenz Florence et Turin. Etudes d'Art et de Politique. erzählt; mit den italienischen Exilanten, die in Paris waren: Daniele Manin, Graf Federigo Confalonieri. Mit Mazzini knüpften ihre Dialoge über Dante und Goethe ein Band. Aber vor allem in ihrer Heimat durchlebte sie die Hoffnungen und Enttäuschungen, die Siege und Depressionen der Männer, die ein modernes Frankreich schaffen wollten, wie einer von ihnen. Ein ebenso geschichtlich interessantes wie persönlich anziehendes Dokument dafür ist ihre Geschichte der Revolution von 1848, die während der Ereignisse selbst geschrieben ist und 1851 zuerst veröffentlicht wurde. Man bewundert – bei einer Frau, die aus der abgeschlossensten französischen Aristokratie hervorgegangen war – die Sicherheit des geschichtlichen Urteils, die staunenswerte Vorurteilslosigkeit, die sie selbst in ihrer eigenen geistigen Leidenschaft, der Sehnsucht nach einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung, nicht befangen erscheinen läßt. Man bewundert vor allem die wahrhaft historische Auffassung, die sie verstehen läßt, daß die Revolution der Gesellschaft schon gar nicht mehr abhängig von dem Willen irgendeiner Klasse ist, sondern ihren gesetzmäßigen Weg durch die technisch-ökonomische Umgestaltung der Lebensgrundlagen gewiesen bekommt.
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In den »Dialogen über Dante und Goethe«, die zum erstenmal 1860 in der Revue moderne erschienen, ist es Marie d'Agoult gegeben, alle lebendigen Ströme ihrer Persönlichkeit wie in einem kostbaren Brunnenbecken aufzufangen und zu fassen. Die in geschichtlicher Einzelforschung geschulte Historikerin (Marie d'Agoult hatte auch eine Geschichte von den Anfängen der niederländischen Republik geschrieben, die von der Akademie preisgekrönt ist) hat einen ungemein reichen Wissensstoff vor allem über Dante und die Danteforschung durchgearbeitet, die Politikerin verstand den mächtigen Strom nationaler Leidenschaft, der in Dante zu heroischer Kraft anschwoll. »Das Genie gedeiht in Gewitterstürmen. Was seine Schöpfungen bedürfen, ist das, was auch den Schöpfungen der Natur nottut: Wärme und Bewegung; diese beiden großen Strömungen des öffentlichen Lebens sind es, die in den Demokratien, mehr als in allen anderen Staatsverfassungen, das volkstümliche Element, nämlich den Instinkt, das Gefühl, die unwillkürliche Einbildungskraft, mit dem eigentlich aristokratischen Element, dem Geschmack, der Reflexion und dem Zartgefühl mischen und vereinigen. Nie vielleicht so wie zur Zeit des Alighieri haben diese Strömungen von Wärme, Licht und Elektrizität das durchdrungen, was wir heute den sozialen Körper nennen würden, was damals in Italien das Vaterland, die Vaterstadt hieß: große Worte, deren Sinn uns verlorengegangen ist.« Die Philosophin bewegt sich frei und sicher in den großen Horizonten des Gedankens und des Weltgefühls, die sich um ihre beiden Heroen ausbreiten. Ein künstlerisch empfänglicher Geist fühlt die dichterischen Herrlichkeiten in ihren gewaltigen und ihren anmutigen Offenbarungen. Eine Seele, die durch Finsternis geschritten war, »so schlimm, daß wenig mehr ist sterben«, klingt das dunkle Pathos der erhabenen Lebensüberschau der Divina Commedia voll und schwer wieder und verstand aus innerstem Erlebnis das Wesen des Bildes aus dem ersten Gesang der Hölle:
»Und wie ein mann der sich herausgezogen
Schwer atmend an das ufer aus den riffen
Und umdreht nach den fährlich wüsten wogen
So wandte sich mein geist im fliehn begriffen
Noch einmal rückwärts um die bahn zu schauen
Die nimmermehr lebendige durchschiffen.«
Übersetzung von Stefan George.
Französin und Deutsche zugleich fühlte Marie d'Agoult sich dem Seher der Renaissance und dem »echtesten Erben« germanischen Wesens gleichermaßen nahe. Und schließlich: ihre gesellige Kultur ließ sie all dem, was es sie mitzuteilen drängte, in diesen Dialogen eine Form von vollendeter Anmut finden. Wie diese Dialoge von der gesellschaftlichen Grazie der sprechenden Menschen umsponnen sind wie von den Kränzen aus Mohn und Verbenen, die Viviane während des heiter-ernsten Gespräches flicht, fühlen wir etwas von dem Zauber der berühmten französischen Salons, durch welche die großen Gedanken und die tiefen Gefühle der Zeit wie zu einem leuchtenden Reigen gefügt zogen.
Noch vor einem Jahrzehnt wäre man vielleicht über den Wert des Dialogs als Form für die Auslegung eines Gedichts, die umfassende Charakteristik einer Persönlichkeit, die Darlegung tiefer geistesgeschichtlicher Zusammenhänge zweifelhaft gewesen. In unserer für die Beweglichkeit des Ausdrucks wieder empfänglicheren Zeit empfinden wir, daß für das Thema dieses Buches der Dialog eine sehr glückliche Form ist. Worauf es Marie d'Agoult ankommt, z. B. Goethe der französischen Geistesart nahezubringen und die grandiose Leidenschaftlichkeit Dantes dem Lebensgefühl eines skeptischen, zersplitterten, relativistischen Jahrhunderts, das gestattet der Dialog, bei dem dann der moderne Franzose leibhaft beteiligt wird, sehr lebendig und deutlich zu machen. Und überdies: man denkt auf den Wegen, über die der Dialog die Gedanken führt, an das Wort des Oscar Wilde: »Der Dialog wird für den Denker seinen Reiz als Ausdrucksmittel niemals verlieren. Er kann sich in ihm entschleiern und verhüllen, kann jedem Einfall Form, jeder Stimmung Wirklichkeit verleihen. Er kann seinen Gegenstand in ihm von jedem Standpunkt aus zeigen wie ein Stück Rundplastik; er gewinnt all den Reichtum und die Kunst der Wirkung, die in jenen Seitenwegen liegen, die sich plötzlich im Verfolg des Hauptgedankens auftun und ihn vollständiger erhellen; er gewinnt auch die Möglichkeit jener glücklichen späteren Einfälle, die einem geschlossenen Gedankengang erst seine Vollständigkeit verleihen, und die doch etwas vom zarten Reiz des Zufalls hineintragen.«
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Marie d'Agoult starb kurz vor Beginn der Bayreuther Festspiele 1876. Und die Frage drängt sich auf: Hätte sie in dem Werk ihrer Tochter die vollkommene Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Hingabe an eine » grande cause« erlebt? Hätte das strenge und trotzige Ringen ihres Geistes um die Klarheit und Reinheit der Höhe hier Ruhe gefunden?
Vielleicht war es doch nicht nur der Zufall von Alter und Tod, der sie einer solchen Krönung ihres Lebens entzog. Vielmehr ersteht sie uns aus den Zeugnissen ihrer Kämpfe als einer von den Geistern, denen »Gott stumm bleibt«. Ein ihrem Freunde Dolfus gewidmetes Gedicht heißt » Dieu muet«. Oder denen er eine andere Erlösung schenkt als die Wonne des Grals: den heiligen Fatalismus des Promethiden, der weiß, daß ihm in alle Ewigkeit kein Glück und kein Stern leuchtet als die nimmer beschwichtigte ruhelose Sehnsucht der eigenen Seele. » Selon la voix intime qui parle à chacun de nous, cette lumière désirée qui féconde et métarmorphose, qui appelle et répand la vie, n'est autre que la Liberté.«