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Wenn einmal das merkwürdige, reiche und problematische Stück Entwicklung, das mit dem Ausdruck »Frauenbewegung« etwas flach schlagwortmäßig bezeichnet ist, in das Licht der Geschichte rückt, dann wird sich niemand mehr dafür interessieren, wer dies Stück Organisation gebaut hat und wer jenes, wer dort Vorsitzende war und wer da – dann werden nur noch die Frauen bedeutsam erscheinen, ja überhaupt in den unterschiedslosen Massen der Mitdrängenden erkennbar und unterschieden bleiben, in denen die Bewegung sich zur Einmaligkeit eines ganz persönlichen Erlebens erhob, die Frauen, die sich, leidend und triumphierend, zum neuen Typus umschufen.
Und im Grunde sind nur diese die wahren Kräfte, die Träger der inneren Notwendigkeiten, durch welche die Bewegung allein den Wandel der äußeren Verhältnisse überdauert. Darum gehört Ika Freudenberg zur Geschichte der Frauenbewegung.
In der Stille eines Familienkreises, in dem der Vater sich von der Berufsarbeit zurückgezogen hatte und dem die viel älteren Brüder schon entwachsen waren, verbrachte Ika Freudenberg die Jugendjahre, in denen man ein geistiges Eigenleben zu führen anfängt. Das stille Leben der Haustochter in der beruhigten Welt einer Rentnerstadt – Wiesbaden. Einen Teil der Bedürfnisse ihrer reichen Natur befriedigte die Musik, die sie mit der Ausschließlichkeit und Konsequenz eines Berufsstudiums pflegte. Und sehr früh schon nahm die Sorge für eine kranke Freundin sie in einem Maße innerlich und äußerlich in Anspruch, in dem sich die stärkste Kraft ihrer Seele, das Mitleid, als das Gesetz ihres Lebens offenbarte. Die vielen, vielen Jahre, in denen sie sich dazu bestimmte, Leiden mit der ganzen durchdringenden und ermattenden Macht eines starken Gefühls mitzuerleben, konnten nicht anders als ihrer Seele unverwischbare Spuren eindrücken. Sie meinte selbst, daß, wer sie erst später gekannt hätte, wohl kaum ermessen könne, was es bedeute, den Einschlag solcher Jahre im Gewebe seines Schicksals, den Nachklang so vieler Tausende von tränenschweren, hilflosen Stunden wie einen heißen Strom in seinem Blut zu haben. Daß einen das ganz einfach wehrlos mache jedem leidenden und bekümmerten Menschen gegenüber und unfähig auch zur notwendigen und gerechten Härte.
Vielleicht ist es die zuverlässigste Probe auf das Edelmetall einer Frauennatur, ob der Rost dieses Mitleids sie nicht angreift, sie nicht gefühlsselig, larmoyant, kläglich und kränklich macht. So wie Ika Freudenberg war, so wundervoll gesund und elastisch, und so allen heiteren Eindrücken mit der Unbefangenheit und Frische eines von Grund aus kraftvollen Menschen offen, so weltenfern von aller Sentimentalität, konnte diese Erfahrenheit im Reiche der Schmerzen nur die Dankbarkeit und Schwungkraft erhöhen, mit der sie das Schöne aufnahm. Und während diese überempfindlich gewordene Fühlung für alles Schmerzliche einen zarten Hauch von Reife und Vornehmheit über ihre strahlenden Stunden legte, quoll auch ihre immer wache und bereite Teilnahme an den Lasten, unter denen die Menschen einhergehen, wie aus dem vollen Brunnen einer frauenhaft-mütterlichen Liebeskraft; sie war nicht peinvoll und gequält, sondern tröstlich und des Schenkens froh und es kam die segensvolle Gegenwart aller Schönheit der Welt irgendwie darin zum Ausdruck.
Wie wuchs sie in die Zugehörigkeit zur Frauenbewegung hinein? Das erste war die Erfahrung der inneren und äußeren Hemmungen, die ein Frauenleben der Befriedigung aller tieferen Bedürfnisse nach geistiger Arbeit entgegensetzt. Das Befremden, dem der Wunsch nach Erkenntnis und die Freude an Gedankenarbeit begegnete, der allgemeine und selbstverständliche Zweifel und Unglaube an den Ernst solchen Verlangens; der gerade für feinere und gewissenhafte Naturen empfindliche Zwiespalt zwischen diesem persönlichen Drang nach geistiger Bewegung und dem Eingefügtsein in ein Zusammenleben voll zarter und von innen heraus freudig übernommener Verpflichtung – das alles wurde zum Keim einer tieferen Besinnung auf die »Frauenfrage«. Es kam nicht wie bei vielen anderen zu dem nagenden und brennenden Schmerz des Unzufriedenseins und noch weniger zu lauten Katastrophen und harten Schritten der Selbstbefreiung. Denn aller ungestillten Sehnsucht nach einem geistig bewegteren Leben hielt das so ganz frauenhafte Ausgefülltsein des Gefühls durch die Sorge für geliebte Menschen die Wagschale. Dazu kam die nie versagende Beglückung durch die Musik und überhaupt die Unabhängigkeit eines innerlich unerschöpflichen Menschen von der äußeren Gestalt seines Schicksals. Es gab so viel, das man trotz aller äußeren Einschränkung erringen und besitzen konnte. Und selbst, wenn sie alle diese Hilfsquellen nicht gehabt hätte – sie hätte niemals auf Kosten anderer etwas für sich durchsetzen können; gebunden war sie durch sich selbst: durch den inneren Zwang einer Kraft, die man bei Männern Ritterlichkeit nennt und für die man bei Frauen keinen Namen weiß.
Aber eben weil es mit ihrem persönlichen Anteil an diesem neuen Willen, der durch die Frauen hindurchging, so stand – daß sie ihn sehr tief und stark mitfühlte und doch von eigenen Zielen hingenommen war, konnte sie eine der sozialen und organisatorischen Führerinnen der Frauenbewegung werden.
Es gibt soziale Bewegungen, die mit guten Faiseurs oder mit hölzernen Fanatikern einer Idee, oder mit überzeugungstreuen Doktrinären ganz gut fahren. Die Frauenbewegung hat es wie keine andere mit dem Gesamttypus der Persönlichkeit – der weiblichen und in gewissem Sinne auch der männlichen – zu tun. Sie schließt die innerlichsten Angelegenheiten der Seele so gut mit ein wie Brot- und Machtfragen. So kann sie nur recht geführt werden von Frauen, die diese Verwurzelung der treibenden Ideen in die Tiefe und Fülle des persönlichen Lebens hinein zu ahnen und zu empfinden vermögen, die in ihrem eigenen Menschentum etwas von dem feinsten und innerlichsten Gehalt der Bewegung verkörpern. Man hat – bei uns so gut wie im Ausland – schon sehen können, wie grauenhaft banal und plump äußerlich man Frauenbewegung treiben kann: auf eine Art, die jeden Abscheu der Gebildeten unter den Gegnern vollkommen begreiflich erscheinen läßt. Ika Freudenberg hat als Vertreterin der Frauenbewegung ihre starke und bezwingende Wirkung vor allem dadurch geübt, daß alle feinfühligeren und innerlich anspruchsvolleren Menschen etwas von der seelischen Fülle und Zartheit ihres Wesens durch die Worte und Forderungen hindurchfühlten, die mit Entschiedenheit für äußere Ziele eintreten mußten.
Dazu kam dann, daß sie zu den noch nicht sehr zahlreichen Frauen gehörte, die – auch ohne den äußeren Zwang eines praktischen Zweckes – der politischen und sozialen Gegenwart eine lebhafte Teilnahme entgegenbringen. Bei der Wärme und Lebhaftigkeit ihres Gefühlslebens und der Intensität ihrer Hingabe an ihr nahestehende Menschen war es immer wieder überraschend, wie stark und weit ihre sachlichen Interessen waren. Gerade dieses seltene Nebeneinander machte das Besondere und Eigene ihrer Führerschaft aus: dieser klare, unbestechlich und scharf das Tatsächliche aufnehmende, freie Blick für alles, was in den Bereich des öffentlichen Lebens fällt, neben der Leidenschaftlichkeit des Herzens, und dieser einheitlich gerichtete, geschulte, sichere, praktische Wille bei aller Vielseitigkeit und Beweglichkeit liebevollen Verstehens.
Durch diese bei Frauen so selten »geeinte Zwienatur« war sie wie vorherbestimmt zu der schöpferischen Arbeit, die in noch nicht ganz zwei Jahrzehnten, seit 1894, von München aus, die bayrische Frauenbewegung zu einem sozial und politisch wirksamen Faktor machte.
Der Kreis der Münchener Frauen, in dem sie verwurzelte und den sie mit gestaltete, steht in der Geschichte der Frauenbewegung mit seinen besonderen, stark ausgeprägten Zügen da. Hier wuchs nämlich der neue Wille nicht angesichts irgendeines einzelnen neuen Zwecks: etwa des Berufs oder des Rechtes. Hier wuchs er aus dem Herzblut starker, lebensvoller Menschen, die sich einen Zugang zu reicherem und freierem Dasein bahnen wollten. Aus enger, ängstlicher Bürgerlichkeit heraus in eine reinere klarere Luft. Aus Konvention zu unbefangener Lebensgestaltung. Aus der Gedrücktheit und dem mannigfachen Ausgeschaltetsein zu einer stolzen, selbständigen und lebendigen Teilnahme. Starke Temperamente, künstlerische Naturen, warme leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen – eine lebendige bewegte Anbruchsstimmung voll Kraft, Humor, Geist und Geschmack. Hier war – im Kreise von Sophie Goudstikker und dem von ihr begründeten ersten Atelier für die künstlerische Photographie – eine eigene Keimzelle der Frauenbewegung. Eine temperamentvolle Emanzipation voll Herzensanteil, ein tapferes und zugleich frohes Erschaffen neuer Lebensformen. Etwas menschlich Ganzes, nach allen Seiten Strahlendes. Die Generation der Schriftstellerinnen, die dieser Phase der Frauenentwicklung im besonderen ihren Stempel gegeben haben: Helene Böhlau, Gabriele Reuter, Frieda von Bülow, Lu Andreas-Salomé standen in näherer oder fernerer Beziehung zu diesem Zentrum. Neben ihnen viele Männer: Künstler, Gelehrte, Politiker.
Ika Freudenberg hatte die Aufgabe, diese Fülle des Lebens, die um sie herum brauste und durch sie hindurchging, unter sozialer Verantwortung zu gestalten; sie mußte es hinausleiten in den weiteren Kreis der Frauen, die von diesem Feuer erwärmt und ermutigt werden sollten.
Zwei Jahre nach ihrem Kommen nach München wurde sie Vorsitzende des Vereins für Fraueninteressen, der damals – etwas schwerfällig, aber bezeichnend – »Verein für die geistigen Interessen der Frau« hieß.
Sie stand der Aufgabe der Organisation mit einem – man könnte sagen: künstlerischen Empfinden gegenüber. Mit der richtigen künstlerischen Liebe zum »Material«: zu der schönen Fülle unbewußt drängender Kraft in den Frauen, die befreit, zusammengefaßt, ihren Aufgaben zugewendet werden sollte. Und mit einem künstlerischen Vorgefühl der Form, die zu schaffen war. Es ging nichts Lebendiges durch unsere Bewegung, das sie nicht berührt, kein neuer Anstoß, dessen Kraft sie nicht auch auf ihre Arbeit und in ihren Kreis zu leiten verstanden hätte. Die verschiedenen Seiten der Bewegung: die Bildungsfragen, die Gestaltung der Frauenberufe, die sozialen und politischen Forderungen hat sie mit gleich sicherer Beherrschung und mit gleich lebhafter Anteilnahme in ihrem Verein ausgebaut und dabei immer verstanden, auch in dem trockensten und sprödesten Stoff das Lebendige, das sie unmittelbar fühlte, zum Klingen zu bringen. Und mit dieser Eigenschaft vor allem war Ika Freudenberg der Mensch, der an der Stätte ihrer Wirksamkeit, in München, allein etwas schaffen konnte. Denn diese »Stadt von Volk und Jugend«, wie ein deutscher Dichter sagt, verlangte vor allem Schwung und Frische und Wirklichkeitssinn, aber sie gewährte auch einer Bewegung, in der sie das alles fühlte, bereitwilliger und großherziger Heimatrecht, als die Städte der übergescheiten Vorsicht. Jede einzelne Veranstaltung, jede einfache Vereinsversammlung war ihr ein Stück »Qualitätsarbeit«, nach Inhalt und Zweck sorgfältig durchdacht und umsichtig vorbereitet. Und in dem, was sie selbst dabei tat, in Leitung, Einführung des Redners, Führung der Diskussion, war stets ihre ganze Seele, ihr ganzes feuriges Interesse und alle gesellschaftliche Feinheit und Anmut, die ihr zur Verfügung stand. Sie hatte den Respekt vor der Öffentlichkeit, ohne den man sich eigentlich am öffentlichen Leben nicht beteiligen dürfte: das Pflichtbewußtsein, daß dem Aufgebot an Zuhörerschaft auch eine in jeder Hinsicht zulängliche geistige Leistung gegenüberstehen müsse. Nichts hat sie mehr gefürchtet, mit nichts sich nachträglich mehr gequält, als Stimmungslosigkeit und Lauheit des Publikums. Sie hat die Idee der »guten Form« im Vereinsleben ganz bewußt erfaßt und sich als Vorsitzende bis zur Selbstquälerei dafür verantwortlich gefühlt.
Der Verein für Fraueninteressen in München, von dem dann die Begründung des Hauptverbandes der bayrischen Frauenvereine ausging, ist ein Zentrum von strahlender Lebendigkeit gewesen. Er hat Jahre hindurch wöchentlich seine Sitzungsabende gehabt, und alles in seinen Kreis gezogen, was in engerem oder weiterem Sinne die Kultur der Frau betraf. In ihm ist immer Neues an sozialen Gründungen und Einrichtungen gekeimt: die Rechtsschutzstelle, das Institut für soziale Arbeit, die Organisation der Kellnerinnen – dauernde oder für den Augenblick arbeitende Einrichtungen, Geistiges und Praktisches.
Der Geist, der den Verein erfüllte, war ein schwungvoller Liberalismus, mit einem starken, lebendigen sozialen Einschlag. Ohne politisch festgelegt zu sein, war es doch natürlich, daß der Verein für Fraueninteressen und der aus ihm hervorgehende Hauptverband der bayrischen Frauenvereine sich dem Liberalismus nahe fühlte, bei ihm vor allem seine politische Unterstützung fand. Ika Freudenberg stand im nationalsozialen Gedanken- und Stimmungskreise. Ihr ist Friedrich Naumann politischer Führer gewesen – so sehr sie gerade in Frauenfragen sich auch ihm gegenüber in ihrer selbständigen Auffassung zu behaupten hatte. In einem der großen Münchener Vorträge, aus denen nachmals Naumanns »Neudeutsche Wirtschaftspolitik« hervorging, ist sie – äußerlich zaghaft, aber innerlich sicher – seiner damals stark marxistisch-materialistischen Auffassung der Frauenfrage entgegengetreten. Es war nichts Geringes für sie, einem gerade ihr in seiner ganzen Wirtschaftsauffassung so imponierenden Führer gegenüber, dem sich die geistige Welt Münchens damals jubelnd anschloß, die eigenen inneren Ziele zu vertreten. Eine Pflicht, deren Verantwortlichkeit sie schwer empfand und deren Erfüllung sie tief erregte.
Und damit ist schon etwas gestreift, das zum Bild ihres Wesens und ihrer öffentlichen Tätigkeit gleichmäßig gehört: die Art, wie sie unter ihrer Natur und ihrer Aufgabe gelitten hat – die Opfer, die sie bringen mußte. Vielleicht hat die Geschichte der Frauenbewegung nichts Kostbareres, als den Schatz dieser schmerzlichen Opfer, den die edelsten und höchstgearteten ihrer Trägerinnen wie in ihrem verschlossensten Heiligtum aufgehäuft haben.
Es gibt im öffentlichen Leben eine Menge Menschen, die sich in dem äußeren Getriebe zu einem Grad innerer Bedürfnislosigkeit herunterschrauben lernen (oder ihn vielleicht auch schon mitbringen), daß sie nichts entbehren, wenn der Vereinsmoloch alle Kraft verschlingt. Für alle anderen kommt in einer aufsteigenden, sich verbreiternden Bewegung der Augenblick, wo die Anforderungen der Sache über die Grenzen hinausschwellen, die man sich um sein geistiges Eigenleben gezogen hat. Ein Werk, das man selbst klein begonnen hat und das nun wächst und wächst, ohne den Schöpfer und Leiter im geringsten freizugeben, kann wohl schwerer und unentrinnbarer belasten als irgendeine andere Verpflichtung. Und so entsteht eben an diesen Grenzen ein Gebiet unausgesetzter schmerzlichster Reibungen, Verzichte, Gewissenskonflikte; für einen zartfühlenden, gewissenhaften und nervösen Menschen eine Atmosphäre peinigender Unruhe und innerer Bedrängnis. Diese Opfer, die heute von sehr vielen Menschen gebracht werden, bedeuteten für Ika Freudenberg aus vielen Gründen mehr, als für die meisten anderen; denn sie hatte aus Jahrzehnten persönlicher Gebundenheit ein um so frischeres, anspruchsvolleres Verlangen nach eigener Vertiefung, eigener Gedankenarbeit, nach künstlerischen Eindrücken, nach einem Lebensinhalt mitgebracht, der den reichen Anlagen ihrer Natur entsprach. Und die Gestaltung ihres persönlichen Lebens in München – die nahe Freundschaft und Hausgemeinschaft mit einem künstlerisch so reich beanlagten, sprühenden und empfänglichen Menschen wie Sophie Goudstikker verstärkte diese Forderungen ihrer eigenen Natur. Sie hatte das lebhafte Gefühl, viel versäumt zu haben, nachholen zu müssen, noch lange nicht reif und fertig zu sein. Andererseits bewahrte sie aus der träumerischen Zurückgezogenheit dieser Jugendjahre ein starkes Bedürfnis nach Stille und Fürsichsein, und ihr künstlerisches Lebensgefühl empfand die »ewige Geschäftigkeit« lebhaft und peinvoll als »eine Versündigung an allem Schönen und Tiefen«. So natürlich und spontan ihre Freude an der öffentlichen Arbeit war – ich weiß kaum jemanden, der dabei so voll frohen Eifers und wirklichen politischen Temperaments gewesen wäre – so tief und schmerzlich entbehrte sie die innere Ruhe, die im anschwellenden Übermaß der Verantwortung und, in den letzten sechs Krankheitsjahren, bei sinkender Kraft, immer vollständiger geopfert werden mußte.
Dazu kam noch etwas anderes: die selbstquälerische Intensität ihres Verantwortungsgefühls. Es war einfach nicht möglich, sie über irgendeinen Fehlschlag, ein Mißlingen zu trösten, wenn sie sich selbst die Schuld daran zuschrieb. Und wann tat sie das nicht! Vielleicht der vornehmste Zug ihres Wesens war diese Unerbittlichkeit und schonungslose Kritik gegen sich selbst. Wir haben sie oft scherzend dem Winkelried verglichen, wenn sie immer bereit war zu dem ritterlichen Griff, der alle Lanzen der Feindseligkeit, der Schmähung und Herabsetzung auf ihre eigene Brust zusammenriß. Und sie hatte eine so naive, reine, aufrichtige Art, sich mit allem, was sie sich an Unzulänglichkeit zuschreiben zu müssen glaubte, der Kritik zu »stellen«, daß fast noch schöner als dieser seltene moralische Mut die gerade, einfache, selbstverständliche Vornehmheit war, in der er sich gab. Natürlich waren auch Leute genug da, die das mißverstanden und ausnutzten – wie denn vielleicht die einzigen Fehler, die sie als Organisatorin machte, in der moralischen Überschätzung des Durchschnittsmenschen wurzelten.
So hat sie der ganzen sittlichen und ästhetischen Roheit des öffentlichen Lebens viel wehrloser gegenübergestanden als ihr vollkommen sicheres und beherrschtes Auftreten Fernerstehende ahnen ließ. Sie selbst hat die geheime Pein, die sie mit diesem überscharfen Verantwortungsgefühl, mit ihrem empfindlichen Takt, mit ihrem so leicht erschütterten Selbstvertrauen in der öffentlichen Arbeit dauernd durchmachte, als Schwäche empfunden und auf die Ungewandtheit und Schwerfälligkeit eines Menschen geschoben, der nicht früh genug in das alles hineingekommen ist. Ich möchte sie eher als die Schmerzen eines »Gewissens der Zukunft« ansehen, und mir scheint, wir müßten versuchen – gerade auch die, die einen Puff vertragen können – das öffentliche Leben, oder wenigstens unser weibliches Stück davon, besser auf die feineren und empfindlicheren Menschen abzustimmen, für die es heute in so vieler Hinsicht noch eine Tortur ist.
Aber auch denen, die aus nächstem Zusammenleben mit Ika Freudenberg um all dies wußten und oft trösten und ermutigen mußten, wird in der Erinnerung an sie nicht diese Seite im Vordergrund stehen. Denn sie besaß eine Kraft der Überwindung aller Depression und Selbstquälerei in ihrem nie versagenden Humor, durch den sie sich selbst, auch in schwersten Stunden, der Bemitleidung mit einer wundervoll elastischen Bewegung entzog. Aus einer ganz tiefen Selbstlosigkeit und der Reife, die das eigene Dasein im großen Horizont von Schicksal und Notwendigkeit zu sehen und ohne Bitterkeit zu verzichten vermag, nahm diese heitere, beschwingte Selbstironie ihr Feuer. Bis in die allerletzten Tage hinein hat sie so mit tausend anmutigen Siegen über die Qual des Augenblicks – ein echter und unüberwindlicher Künstler des Lebens – die Situation für den Geist und die Schönheit gerettet und den nackten Jammer fortgeschoben. So steht sie in unserer Erinnerung, trotz der Jahre immer wiederholter körperlicher Qualen, die wir mit durchlitten, frei und stolz, und fast wie mit einer lächelnden und beschwichtigenden Bewegung der Abwehr ohnmächtiger Tränen.
Ich habe ganze Hefte von ihr gesehen voll von Notizen über Gelesenes und Durchdachtes. Zeugnisse der mühsamen und beinahe trotzigen Arbeit des Autodidakten, dem die gebahnten Wege auf die Höhen des Gedankens verschlossen sind und der nun mit ganzer Seele versucht, auf dem steilen und unwegsamen Steig der »ungelernten Arbeit« trotzdem hinaufzugelangen. Ohne das Ziel irgendeiner beruflich-praktischen oder literarischen »Verwertung«, ja, durch die frischesten und geistig bedürftigsten Jahre hindurch ohne irgendeinen Menschen, der an dieser Arbeit Anteil nahm, hat sie sich bemüht, die philosophischen Fragen zu verstehen, die im Wandel der Zeit auftauchten und wichtig wurden. Die Zeugnisse solcher tapferen, auf sich gestellten geistigen Arbeit ergreifen durch die Vornehmheit in der Beziehung des Autodidakten zur Erkenntnis: wieviel reiner und ehrfürchtiger ist sie als die des Fachmenschen, der Glied eines großen Systems der gegenseitigen Erleichterungen, der Arbeitsteilung, der praktischen Ziele ist! Man erlebt mit einem Menschen, der ohne jeden äußeren Zweckgedanken einfach nur erkennen will, dieses jäh in ihm aufsteigende Gefühl des Entzückens, das Herzklopfen des tiefen und stummen Glücks, wenn sich ein Nebel zerteilt, ein Umriß scharf und klar hervortritt, eine Wirrnis sich gliedert und ordnet. Dieses wundervolle, beschwingende Pfadfinderglück im Reiche des Gedankens hat sie so gut gekannt. Es war ihr nicht etwa leicht und schnell geschenkt. Sie dachte ungemein konkret, bildlich und plastisch, und es wurde ihr schwer, den Begriffen die Erde ganz von den Wurzeln zu streifen, die ihnen ihr Wachstum im Wirklichkeitsboden anhangen läßt. Leicht und mit Freude erfaßte sie das rein Formale nur in der bildenden Kunst. Ein Buch wie das von Volkmann über die Grenzen der Künste konnte sie entzücken. In der Philosophie waren ihr Geister wie Schopenhauer und Nietzsche näher, weil sie Philosophie »dichteten«, weil sie fühlende Denker waren und aus ihren Begriffen das leibhafte Leben nicht ganz vertrieben. Sie hatte eine merkwürdige Gefühlssicherheit in der Ablehnung des ihr Ungemäßen und ließ sich, auch wenn sie mit Selbstverleugnung und Eifer auch dies Fremde geistig zu bewältigen bemüht war, doch niemals durch den Verstand zu etwas überreden, dem ein tiefer ruhendes Wesensbewußtsein in ihr widersprach. Um Kant haben wir – als wir in sonnig klaren Herbsttagen im Hochgebirge Chamberlains Kantbuch lasen – heftig und immer wieder miteinander turniert. Ihrer auf Ausgleich und ein Miteinander aller starken Lebensimpulse eingestellten Natur widerstrebten die Geister des Entweder-Oder, des harten Dualismus; und ihr für die schwankende Beweglichkeit des Daseins so feinfühliges Wesen wehrte sich gegen die Vergewaltigung der vielgestaltigen, fließenden Welt der Seele durch starre Prinzipien. Sie verstand, daß man die Gegensätzlichkeiten einmal auf diese äußersten begrifflichen Formeln bringen muß, um sie bewußt zu machen und ihren Grund und Umfang zu ermessen, aber ihrer zarten und verstehenden Menschlichkeit schien es nicht möglich, das Leben nur von der gepanzerten Hochburg des Prinzips aus zu betrachten und lenken zu wollen. Sie bedurfte in der seltenen Sicherheit ihrer Natur einer solchen abstrakten Lenkung so wenig, um ihren Weg zu wissen. Und – da ich nun einmal aus allerpersönlichstem Erlebnis die Züge zu diesem Bilde leihen muß, möchte ich auch das sagen dürfen, daß ich selbst im Anschauen und unter der Führung ihrer so weiten und warmen Menschlichkeit den Weg von einer jugendlich-rigorosen, ethisch-dogmatischen Betrachtung der Lebensfragen zu einem schonenderen, behutsameren Verstehen des Menschlichen suchen gelernt habe, und daß dies – so vollkommen unbewußt und selbstverständlich ausgeübt – einer der stärksten Einflüsse ist, deren ich mir bewußt bin.
Das – so scheint mir – ist auch der gewinnende Zug, die eigentlich persönliche Note ihrer Schriften. Die Fähigkeit und der Wunsch, die Dinge so zu verstehen, wie sie erlebt werden, und die feine Zurückhaltung, mit irgendeiner Theorie hart über sie hinzufahren, macht es, daß in ihrer Betrachtung alles so bewegt und in seinem konkreten Wesen erscheint: auch z. B. Massenzustände und soziale Probleme, über die wir uns so gewöhnt haben, in formelhaften, leeren Begriffsworten zu reden. Ihr Buch »Die Frau und die Kultur des öffentlichen Lebens« hebt sich vor allem durch diese ungemein lebendige Auffassung der Wirklichkeiten, mit denen es zu tun hat, aus der übrigen Frauenfrageliteratur heraus.
Es ist die frohe Liebe zur Welt und zu allen Erscheinungsformen ihrer herrlichen, ewig wirkenden Kräfte, die zu solchem lebendigen Verständnis die Wege bahnt, der nichts Menschliches fremd bleibt, weil ihr der Atem des Lebens auch aus dem Fremden und Ungemäßen noch vertraut und erfrischend entgegenweht.
So vieles umspannte diese Liebe, die niemals die Fessel einer praktisch-fachlichen Anteilnahme an irgendeinem Bereich der geistigen Welt getragen hatte. Erinnerungen immer gleich starken und frohen Genießens kommen in endlosem Zuge, wenn ich versuchen will, etwas von den Dingen aneinanderzureihen, die für sie mit solcher köstlichen, überwältigenden Daseinsfülle getränkt waren. Etwa der west-östliche Diwan und vor allem die Verse »Sagt es niemand, nur den Weisen« – sie begleiteten uns nach der Heidelberger Tagung des Bundes deutscher Frauenvereine durch die zartfarbigen silbernen Herbsttage auf dem Kohlhof – aber auch die Marienbader Elegie und die Verse an Frau von Stein »Kanntest jeden Zug in meinem Wesen«, die in meiner Erinnerung verschmelzen mit einer Wagenfahrt über die Halbinsel von Sorrent hinüber nach Amalfi, als die Felsinseln der Sirenen purpurrot aus dem Türkisblau des Meeres tauchten. Oder Dialoge Platons und die Essays von Pater, Naumanns »Neudeutsche Wirtschaftspolitik« und Simmels »Philosophie des Geldes«, die frühmittelalterliche Lyrik – das war an lichtgrünen Maitagen in den Wäldern von Hohenschwangau, der Kuckuck rief in der Ferne und der ganze See flimmerte von Sonnenfunken –, Rickerts Buch über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, und ein paar Gedichte des Mönches Johannes vom Kreuz, an die ich denken muß, weil ihre Melodie mitklingt in den Erinnerungen an den letzten gemeinsam verlebten Sommer.
Ja, und vor allem doch die Briefe und Tagebücher und Lebensschilderungen aus dem Kreise Nietzsche, Wagner, Bülow. Was sich unter diesen Menschen zutrug: der große tragische Zusammenprall von zwei titanenhaften, zeitumspannenden Geistern, die geglaubt hatten, einander lieben zu dürfen – und die Größe und Not all der persönlichen Schicksale im Umkreis dieser gewaltigen Gegensätze, das war ihr begreiflich und nahe wie eigenes Erlebnis. Durch die Musik sowohl wie durch alle die literarischen Zeugnisse bis hin zu Wagners Selbstbiographie, die sie mit fast aufreibender innerer Beteiligung während des letzten Sommers las, hat sich ihr diese Welt so lebendig und innig aufgeschlossen, wie nichts anderes – bis zum Vergessen des eigenen Daseins.
So bis ins Innerste ergriffen und mitgezogen werden von diesen Zeugnissen fremder Schicksale kann aber nur, wem dies alles nicht bloß »Literatur« ist; man muß den Blick für die symbolische, stellvertretende Bedeutsamkeit jeder einzelnen Erscheinung für alle anderen haben; man muß so erleben können wie Dichter erleben: denen das Wesen und der tiefste Sinn des Daseins erscheinen kann an stummen, nichtigen und scheinbar bedeutungslosen Dingen. Daß sie so schöpferisch sehen und erleben konnte, machte das Zusammenleben mit ihr so schwungvoll und sonnig-hell. Es wurde alles beredt und wichtig, voll Ausdruck und Seele. In kleinen Ereignissen: ein paar Worten, die sich Burschen auf der Wanderschaft zuriefen, oder in der Inschrift auf einer Kirchenmauer, in dem naiv ergebenen Ausdruck eines Madonnenbildchens am Wege oder in dem Daliegen eines Bauerngärtchens, dessen schwelgerische Sommerpracht der silbergraue Zaun lose und wie auseinandergedrängt umfaßt – in solchen kleinen, flüchtigen und kaum wiederzugebenden Bildern und Geschehnissen konnte sich ihr die Stimmung, die Heiterkeit oder der Ernst eines ganzen Tages sammeln. Es gab Eindrücke, die sie bis zur Fassungslosigkeit erschüttern und wie mit einem Schauer plötzlich und geheimnisvoll entbundenen Lebens übergießen konnten: wie im Hafen von Capri das Schiff wendete und zu dem lustig-trivialen Gedudel der Musikbande in die sonnige Nachmittagsherrlichkeit des Golfs hinausrauschte. Oder wie um den blumenüberhangenden Marktbrunnen des kleinen südtiroler Städtchens das bescheidene stille Treiben eines Feiertag-Vorabends zur Ruhe ging. Oder ein dunkler Oktoberabend in einem schon herbstlich vereinsamten Hotel im Thüringer Wald, der Nebel stand unergründlich vor den Fenstern, und durch die Totenstille hörte man nichts als ab und zu das unnatürlich laute Niederschlagen der reifen Kastanien. Oder der mondübergossene Platz in Siena, auf den die leeren Fenster verlassener Paläste niedersahen. Und dann der Ausdruck, den einmal die Pietà des Michelangelo trug, als wir von einem sonntäglichen Streifzug durch das bunte Volksleben der Passeggiata Regina Margherita noch einmal für einen Augenblick in jene Seitenkapelle von St. Peter einkehrten – der Ausdruck eines unsagbar schmerzvollen Wiederbesitzergreifens von dem göttlich Fremden, den der Tod noch einmal wieder eigenen Willens bloß der Mutter auf den Schoß legt.
Aus alledem entstand uns eine Welt, die sie mit einer Fülle zarter Anspielungen immer lebendig und gegenwärtig zu halten verstand und in die man aus dem Alltag hineingehen konnte wie in ein goldenes Reich.
Wollte man den schweren, schwingenden Akkord zerlegen, mit dem ihre Seele auf solche Eindrücke antwortete, so würde man das Mitklingen eines verhaltenen religiösen Gefühls vernehmen. War Ika Freudenberg – bei der künstlerischen Färbung ihres Innenlebens – in der religiösen Sphäre auf einen faustisch-pantheistischen Grundton gestimmt, so verbanden sie doch starke Mächte ihrer warmen und leidenschaftlichen Natur mit der christlichen Gefühlsweise. Ich erinnere mich eines Gespräches über die Wahrheit und Neuheit des Christentums, sofern es die Persönlichkeit um die erhöhende Macht des Schmerzes bereicherte. Und ganz besonders vermochte sie die sehnsüchtige Inbrunst nachzufühlen, mit der aus der vollen bewußten Gegenwart des leidbelasteten Menschendaseins die Idee der Liebe geboren wurde.
Hinter einem Bildchen von Frauenchiemsee, das sie mir einmal aus der Klinik schickte, stehen, unter dem frisch angelegten Verband mühsam mit steilen Buchstaben hingeschrieben, die Worte der Litanei: Sempiterni fons amoris – Consolatrix tristium.
Jetzt scheint es mir, als sei das Besondere und Einzige ihres Wesens diese feurige, feinnervige Kraft gewesen, sich dem Leben ohne Schranken in die Weite und die Tiefe hin zu verbinden. Mir kommt es vor, als ob die anderen Menschen schlaffer und stumpfer und kälter seien. »Ein Liebender des Lebens sein«: das Wort Platons hat sie immer mit Entzücken erfüllt, wie alle Aussprüche, die uns helfen, uns selbst zu finden und zu fassen. Sie war keiner von diesen geräuschvollen Temperamentsmenschen, die wie ein Naturereignis, blendend und hinreißend, in jedem Kreise, in den sie eintreten, die Luft mit ihren Ansprüchen erfüllen und das Zusammensein beherrschen. Aber es war kein Weniger, sondern ein Mehr an innerer Bewegtheit, das sie stiller und gesammelter machte: eine ungemein entwickelte Feinfühligkeit für die Seele anderer, mit denen sie, sich selbst vergessend, zu leben anfing, wenn sie mit ihnen in Berührung kam.
»Ein Liebender des Lebens sein« – das war ihr geschenkt in jedem Bereich: dem des Gedankens und des Gefühls, der Kunst und der Natur, der Anteilnahme am großen Geschehen und der praktischen schaffenden Arbeit. Und im Zusammensein mit ihr ist jeder, der ihr nahe kam, ein Liebender des Lebens geworden: das war das Glück, das sie schenken konnte.