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Er ging wieder, wie zur Zeit seines Urlaubes, in den Prater hinunter, der heute, an diesem näßlichen Novembertag, ganz kalt und verlassen dalag. Die Bäume der Allee, die schon völlig kahl waren, standen mager und eingeschrumpft am Rand der feuchten Straße, während das Laub zu länglichen Haufen zusammengekehrt war, die wie eine Reihe gleichförmiger Grabhügel den langen Weg begleiteten. Unten, um das einsame Lusthaus, flog, von dem unerwarteten Spaziergänger aufgestört, eine Schar Raben krächzend in den bleifarbenen Himmel. Sie hatten auch damals, im Frühjahr, in den hohen Bäumen genistet; allein der Revident hatte sie, im Wagen vorüberfahrend, nicht bemerkt.

Er kehrte fröstelnd in die Stadt zurück und fühlte sich schon versucht, wieder ins Büro zu gehen, an das er gewöhnt war und wo es doch wenigstens warm war. Allein er besann sich und schlug den Weg nach Hause ein: Einmal im Leben wollte er trotzen.

Seit zehn Jahren hatte er, von Urlaubszeiten abgesehen, niemals einen Vormittag zu Hause verbracht. Und es gelüstete ihn, zu kosten, wie das schmecke.

Als er vor dem Hause in der Quellengasse anlangte, stand dort ein Wagen, ein zweispänniger Wagen, um den sich niemand kümmerte, nicht einmal die Hausbesorgerin, so sehr hatte sich alle Welt nachgerade daran gewöhnt, daß vor dem Hause, in dem Herr und Frau Haller wohnten, in regelmäßigen Fristen immer wieder ein Fiaker stand. Auch Laurenz wäre es kaum aufgefallen, wenn ihm nicht das fleischige Gesicht des Kutschers merkwürdig bekannt vorgekommen wäre. Richtig, es war sein Feind; aber die Pferde waren andere, ein nettes, wohlhabendes, solid aussehendes Zweigespann.

Der Fiaker, der ihn gleichfalls erkannt hatte, blinzelte geringschätzig. Laurenz Haller wollte an ihm vorüber ins Haus; doch überlegte er es sich wieder, warf einen unruhigen Blick nach oben und blieb stehen.

Die Sache war die, daß er plötzlich Lust bekommen hatte zu frühstücken. Er setzte sich in ein kleines, dem Hause schräg gegenüber gelegenes Gasthaus und fixierte droben, im vierten Stock, das offene Fenster seines Speisezimmers. Niemand war dahinter zu sehen, weder die Magd, noch Flora, noch sonst wer -- die längste Zeit.

Mit einem Male schmeckte ihm das Gulasch nicht mehr. Er stand auf, zahlte eilig und klomm mit wachsender Ungeduld die vier Stockwerke hinan. Der Fiaker wartete noch immer vor dem Haustor.

Oben angelangt, drehte er leise den Schlüssel herum und trat vorsichtig ein. Seine Vermutung bestätigte sich: Das Mädchen war einkaufen gegangen, die Kinder waren noch in der Schule. Im Vorzimmer stand, neben einem mit Seide gefütterten Überrock, der am Kleiderständer hing, bequem angelehnt, ein Spazierstock.

Der Revident öffnete die Tür ins Speisezimmer. Es war leer, das große Fenster in der Ecke offenbar zum Lüften geöffnet. Nebenan im Schlafzimmer ging jemand auf und ab und sprach dabei. Es war ein Mann, und Laurenz kannte seine Stimme.

Zuerst wollte er sich gegen die verschlossene Tür werfen, sie aufreißen, dem frechen Eindringling an den Hals springen. Da hörte er, wie jener drinnen zu seiner Frau »Du« sagte. Er blieb stehen.

Dieses Du, gemächlich ausgesprochen, änderte die Sachlage und machte nach Ansicht des Revidenten Laurenz Haller eine weitere Intervention überflüssig. Nun wußte er wenigstens, woran er war; und indem er eins zum andern hielt, begriff er in einer jähen Erleuchtung die tragische und lächerliche Verzahnung eines Schicksals, das ihn erfaßt hatte wie eine gefährliche Maschine denjenigen, der in ihr rasendes Räderwerk den Nagel eines Fingers gebracht hat, und das ihn ganz ebenso zermalmte.

Seine hochgradige Erregung verkehrte sich in Entmutigung. Er wandte sich, mit einem jener plötzlichen Entschlüsse, wie sie die Verzweiflung faßt, von der Türe weg zum Fenster, griff nach den Flügeln, schwang sich hinauf …

Da sah er noch einmal, riesengroß, die gotische Zwingburg des Arsenals vor sich aufsteigen und schaute, über ihre Zacken hinweg, tiefer in den Prater hinein, als er je zuvor getan hatte. Dann aber zerging ihm alles, auch das Stimmengewirr hinter ihm und der Lärm der Straße, zu einer weichen und unendlichen Nacht.

Ende

 


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