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Hallers Unglück war, daß seine Frau Flora einer zu feinen Familie entstammte. Sie war die Tochter eines Beamten der Österreichisch-Ungarischen Bank und eine leibliche Tante, die älteste Schwester ihrer Mutter, war sogar Hofrätin. Allerdings war diese gleich nach der Ernennung ihres Gatten mit den ärmeren Verwandten böse geworden und aus unerfindlichen Gründen bis an ihr Lebensende geblieben. Nichtsdestoweniger fiel ein Abglanz ihrer hohen Würde auf die ganze Familie, und wenn man von Flora in ihren Kreisen sprach, so vergaß man selten zu erwähnen, daß sie als die Nichte einer Hofrätin gewisse Ansprüche zu stellen wohl berechtigt wäre.

Auch ihr Gatte, der Revident der Staatsbahnen Laurenz Haller, gestand ihr dies ohne weiteres zu. Er wußte die Ehre, eine Oberleitnerische -- dies der Name der Familie -- zu besitzen, wohl zu schätzen und war in jedem Augenblicke seiner Ehe bemüht, sich ihrer würdig zu erweisen. Er selbst war ein Plebejer, Sohn eines Bahnhofportiers, und wenn er es unter solchen Umständen bis zum Revidenten gebracht hatte, so setzte das nicht allein ungewöhnliche Fähigkeiten, sondern auch Glück voraus. Herr Laurenz Haller konnte mit seinem Schicksal wohl zufrieden sein, und er für seine Person war es ja auch. Er bezog ein fixes Gehalt von 2800 Kronen jährlich, was sehr viel ist, wenn man erst zwölf Jahre dient. Überdies besaß Flora auch einiges Vermögen, das bei der Österreichisch-Ungarischen Bank vinkuliert und angelegt war und 277 Kronen 66 Heller vierteljährlich trug. Mehr als der Zins war solcherart gedeckt, obwohl die Wohnung in der Quellengasse sehr schön war, etwas hoch gelegen zwar, aber luftig, besonders im Frühjahr. Sie bestand aus drei »Piecen«, wie Frau Haller sagte, weil sie das Wort Kabinett vermeiden wollte: Zwei kleineren Zimmern, wovon das eine dem Ehepaar als Schlafgemach diente, und einem anstoßenden, mit trapezförmigem Grundriß, eben jenem Kabinett, in dem die beiden Kinder wohnten. Nach der Gasse hinaus aber lag ein größeres, zweifenstriges Gelaß, in dem man sich tagsüber aufhielt, aß und Besuche empfing. Dieser Raum war auch sehr wohnlich ausgestattet, mit polierten Nußholzmöbeln und einem eichenen Speisetisch, und hatte eine schöne Aussicht, auf die man Gäste aufmerksam zu machen niemals unterließ. Von dem rechtsseitigen Fenster nämlich überblickte man, wenn man die inneren Flügel öffnete und sich dann links hinstellte, über das nur dreistöckige Gegenüber hinweg, einen beträchtlichen Teil des Arsenals, das wie eine mittelalterliche Zwingburg finster dräuend den Horizont beherrschte. Dahinter aber, noch etwas weiter weg, lag der Prater, hellgrün und heiter, und an Frühlingsabenden, während die Familie beim Nachtmahl saß, wehte der Wind oft den Duft der Kastanienbäume beim offenen Fenster herein. »Es riecht wie im Waldsteingarten,« sagte dann Frau Haller, obwohl sie natürlich nie im Leben im Waldsteingarten gewesen war und ihn wie das Leben der Reichen nur sehnsuchtsvoll vom Vorübergehen kannte.

Vielleicht aber war es gar nicht gut für Flora, ihren Mann und die Kinder, daß die junge Frau durch diese so überaus günstige Lage der Wohnung immer wieder an den Prater erinnert wurde; denn sie kannte diesen genießerischen Bezirk aus ihrer Jugend, und zwar nicht nur so, wie ihn jedes Wiener Kind kennt, das, an seinem Rande aufgewachsen, dort als Bub seine erste Zigarette geraucht, als Mädel seinen ersten Kuß geküßt hat, sondern noch etwas näher und auch von seiner luxuriösen Seite. Zweimal in ihrem Leben war sie selbst im Wagen durch die Hauptallee gefahren, beide Male im Mai; zuerst als Firmling mit ihrer Patin, der Hofrätin, die damals noch keine war; sie saßen in einem gravitätischen Landauer, die Tante bot ihr fortwährend Eibischzuckerln an und fragte gnädig, wo sie Kaffee zu trinken wünsche. Aber das zweitemal war es noch bedeutend luftiger gewesen; da sauste sie im federnden Gummiradler zum Lusthaus hinunter, an der Seite des Fräulein Irma Krampusch vom Theater an der Wien. Dieses bedenkliche Abenteuer erklärte sich auf ganz unschuldige Weise; die Soubrette nämlich, die zwei oder drei Zinsquartale lang mit den Oberleitnerischen auf demselben Flur wohnte, fand Gefallen an dem hübschen jungen Mädchen, das ihr nach Backfischart im Vorübergehen auf der Treppe himmelnde Blicke zuschickte, sprach es an und lud es, in einer großmütigen Wallung, eines Tages ein, mit ihr in den Prater zu fahren. Flora, die allein zu Hause war, ließ sich rasch überreden, nahm ihr weißes Kleid, den Paradehut einer älteren Schwester, die schon Braut war, goß eine halbe Flasche Parfüm, das gleichfalls aus dem Besitzstand der Verlobten stammte, über sich aus und stieg, unbekümmert um den zweifelhaften Ruf der Theaterdame, in den eleganten Wagen. Die Operettensängerin lächelte ein wenig über das Konfirmandenkleidchen und die roten Wangen der ihr zur Seite sitzenden Unschuld; diese wieder betrachtete den Rennstaat der Wagengenossin mit scheuen, blinzelnden Seitenblicken, als fürchtete sie sich, geblendet zu werden. War die eine augenscheinlich froh, daß ein tugendhaftes Mädchen sich öffentlich mit ihr zeigte, so fühlte sich die andere geehrt, daß eine so große Dame, die wahrscheinlich eine Menge Verehrer hatte, ihre armselige Begleitung nicht verschmähte. So rückten sie nah aneinander, beide lächelnd, beide glücklich und fuhren durch die mit Blüten besteckte Hauptallee, in einem fröhlichen Schwall von Wagen, angeregt dahin. Flora glaubte zu träumen; als sie nach Hause kam, erwachte sie und bekam von ihrer Mutter Prügel. Die Frau Oberleitner, die in Dingen der Moral keinen Spaß verstand, schrieb der Sängerin überdies einen Brief, den diese niemand zeigte. Der Verkehr wurde abgebrochen, sogar der Gruß eingestellt, und Flora fuhr nie mehr in den Prater. Trotz dieser mehr als peinlichen Folgen jedoch lebte die Erinnerung an das Genossene in der Seele des jungen Mädchens, die hinfort von einer seltsamen Sehnsucht erfüllt war. Immer wieder trieb es sie in den Prater, an den Rand des Fahrdammes, über den in der heiteren Jahreszeit die tägliche Kavalkade des Luxus brauste. Sie machte Bekanntschaften, hatte Rendezvous, unschuldige allerdings, aber wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht rechtzeitig Herr Haller aufgetreten wäre, um an einem Sonntag Vormittag, im Frack und einem reichlich gestärkten Hemde, das ihm vor Aufregung auf der einen Seite wie eine Ziehharmonika aus der Weste herausstand, um ihre Hand anzuhalten. Da wurde freilich vieles anders, und sie fuhr mit dem Erwählten durch die arbeitsreiche Vorstadt Favoriten zur Kirche.

Seit ihrer Verheiratung kam Flora nur noch äußerst selten in den Prater. Einmal war es vom zehnten Bezirk, wo man jetzt wohnte, ziemlich weit dahin, und die Elektrische kostete Geld. Dann hatte sie auch in den ersten Jahren wenig Zeit und Lust zum Spazierengehen. Nachdem die Sorge der Einrichtung überwunden war, kamen in rascher Aufeinanderfolge die beiden Kinder, und die Erfüllung ihrer Mutterpflichten nahm die Kräfte der jungen Frau dermaßen in Anspruch, daß kein ungebundener Rest zum Träumen blieb. An Wochentagen war sie zu Hause mit der Wirtschaft beschäftigt, in der sie nur durch eine noch ungelernte, dumme böhmische Magd unterstützt wurde, und mit ihren beiden Rangen, die, wie die Kinder der Armen meistens, sehr schlimm waren und sich abwechselnd die Köpfe anschlugen und brüllten. An Sonntagen aber kamen Herr und Frau Oberleitner, entweder auf Besuch, oder sie holten das junge Paar zu einem Ausflug ab, der sich jedoch, da die sonntäglichen Unternehmungen des Herrn Oberleitner letzten Endes immer durch den grünen Zeiger eines Heurigen bestimmt wurden, in ganz anderer Richtung bewegte, als der Prater lag. Von den Eltern sich unabhängig machen, wollte man anderseits auch nicht und das aus Gründen: wenn es nämlich zum Zahlen kam und Herr Laurenz Haller in die Tasche griff, sagte der Schwiegervater fast immer: »Laß nur, Laurenz!« und winkte den Kellner mit einer königlichen Geste zu sich herüber. Infolgedessen zog der Revident, der Familiensinn hatte, die Gesellschaft seiner Schwiegereltern derjenigen von Fremden bei weitem vor. Übrigens war dafür gesorgt, daß er trotzdem nicht zu Reichtümern gelangte, denn wenn man nach einer solchen Exkursion in vergnüglicher Stimmung in sein Heim zurückkehrte, schmeichelte ihm Flora fast immer ab, was der Wein gekostet hätte und oft noch ein Trinkgeld dazu. Sie hatte ihr eigenes Toilettenbudget, das aus einem permanenten Defizit bestand und aus derartigen Zuflüssen gespeist wurde. Oft lachte Laurenz, wenn er, ein Revident auch zu Hause, ihre peinlich genauen Aufschreibungen, die nie stimmten, revidierte. Schließlich machte er ein ernstes Gesicht und glich den Schaden aus, der fast immer mit ein paar Kronen zu decken war; denn trotz ihres natürlichen Leichtsinnes hielt Flora sich in gewissen vom Herkommen und der Erziehung gezogenen Grenzen, die sie im Anfang ihrer Ehe nicht zu überschreiten wagte.

Als sie sich jedoch den Dreißig näherte, wuchs das Defizit und, im Maße als es zunahm, kam auch jene alte Sehnsucht wieder zurück und wurde größer. Hatte sie sich bisher dem Prater bloß ferngehalten, so wich sie ihm jetzt absichtlich aus, weil sie nicht erinnert sein wollte an jene Lustfahrt, an die sie doch in allen müßigen Stunden denken mußte. Im Frühjahr zumal, wenn der Wind jenen Duft herübertrug, gab sie sich den törichtesten Wünschen und Hoffnungen hin, die sie freilich im Familienkreise niemals zu äußern wagte. Aber der Frühling verging, ohne daß sie in Erfüllung gingen, dann kam der Sommer mit seiner heißen Schwermut, der Herbst, der Winter, und eh' man sich dessen versah, war man wieder ein Jahr älter. Floras Geburtstag fiel unglücklicherweise in den Mai, die schönste und üppigste Zeit der Praterfahrten. Jahr für Jahr wartete sie nun darauf, daß ihr Laurenz eine solche vorschlagen würde; allein sie wurde siebenundzwanzig, achtundzwanzig und am Ende gar neunundzwanzig, ohne daß es geschah. Offenbar dachte er gar nicht daran und man mußte ihn erinnern. Als der Dreißigste heranrückte und mit ihm das Datum, das ihrer Ansicht nach den Freuden der Jugend ein Ende setzte, beschloß sie, nicht länger zu warten und, kost' es, was es wolle, ihren sehnsüchtigen Traum zu verwirklichen.

»Du, Haller!« sagte sie eines Abends, just in dem Augenblick, da sie, von einem Ausflug heimkehrend, in die übelbeleuchtete Quellengasse einbogen: »Weißt, was ich mir Heuer zum Geburtstag wünsch'?«

»Geburtstag?« -- Er tat erstaunt: »Ist wahr, du hast ja schon wieder Geburtstag!« und: »Na, also, was wünschst du dir?« erkundigte er sich, nicht ungnädig, denn er hatte sich blitzschnell vergegenwärtigt, daß man ja erst April schrieb, die Frage infolgedessen nicht sonderlich aktuell war.

Sie zögerte nicht länger.

»Eine Praterfahrt!« sagte sie und nahm seinen Arm fester an ihre Brust.

»Eine Praterfahrt?« fragte er zurück, äußerst erstaunt, obwohl sie ihm als junge Frau jenes unschuldige Abenteuer mit der Operettensängerin, den einzigen Flecken auf ihrer Vergangenheit, pflichtgemäß gebeichtet hatte. Was sie allerdings nicht wußte, war, daß er, während sie es tat, bereits geschlafen hatte. Daher seine Verwunderung, die sie ein wenig erbitterte.

»Na ja natürlich: Eine Praterfahrt. Weißt vielleicht nicht, was das ist? Wenn man im Fiaker in der Hauptallee auf und ab fahrt, bald im Trab, bald im Schritt und sich die reichen Leut' anschaut.«

Jetzt verstand er erst, und: »Sonst hast keine Schmerzen?« war seine Antwort.

»Nein,« sagte sie trotzig und ließ seinen Arm los.

Eine Weile gingen sie einzeln nebeneinander her. Aber die Luft war weich und zärtlich, beinahe schon wie im Mai, und Herr Haller, der ein wenig Wein im Kopfe hatte, vermißte eine warme und bewegliche Stütze im Gehen. Er suchte den ihm entflohenen Frauenarm und, eifrig bemüht, seine linke Hand zwischen Ellbogen und Hüfte unterzubringen, sagte er begütigend:

»Wir reden noch darüber.«

Das war Flora zu wenig. Sie reagierte mit einer ungeduldigen Bewegung, und, indem sie ihren eigenen Arm fest an den Leib preßte, machte sie es Laurenz unmöglich, seine Hand weiter vorzuschieben, so daß er unverbunden hinter ihr her zappelte, um einen halben Schritt zurück, da sie zu allem Überfluß auch das Tempo beschleunigte. Es war eine unmögliche Situation, die er, als ein verträglicher Gatte, zu überbrücken suchte.

»Wie kommst du denn eigentlich auf die Idee?« fragte er und, da keine Antwort erfolgte, ohne weiteres zum Hauptpunkt der ganzen Angelegenheit vordringend: »Was kost't das überhaupt, so eine Praterfahrt?«

»Das weiß ich nicht!« sagte sie hart, fügte dann aber, den Arm etwas lockernd, hinzu: »Es wird uns nicht umbringen -- einmal im Leben!«

Das war ein Argument, das überzeugend wirkte. Schließlich, ob ich ihr das schenk' oder was anderes, dachte Laurenz, und da er überdies im Kopfe rasch überschlagen hatte, daß sich, den ihm von Spesennoten bekannten Stundentarif der Fiaker zugrunde gelegt, der ganze Spaß auf höchstens zehn Kronen belaufen konnte, meinte er nach einer Pause, die ein anständiger Rückzug zu erfordern schien, achselzuckend:

»Na, wenn du dir sonst nichts wünschst -- in Gottes Namen!«

»Nein, sonst wünsch' ich mir nichts,« rief sie mit unterdrückter Fröhlichkeit, da sie spürte, daß die Partie gewonnen wäre. Dabei lüftete sie mit einer anmutigen Bewegung den widerspenstigen Arm, so daß Laurenz nun den seinigen bequem placieren konnte, und warm ineinander eingehängt, wie ein Liebespaar trotz ihrer schon zehnjährigen Verbindung, kehrten die beiden nach Hause zurück. An der Treppe angelangt, schritt die hübsche Frau beweglich voran, der Gatte folgte, und der Hausmeister, der schon seinen Schlafrock an hatte, schaute ihnen schmunzelnd nach, weil sie es wieder einmal zuwege gebracht hatten, unmittelbar vor Torsperre und ohne Sperrgeld durchzurutschen.

 

Was Flora ihrem Mann an jenem Abend nicht sagte, weil sie wahrscheinlich annahm, daß er es noch rechtzeitig erfahren würde, war, daß ihr Geburtstag in diesem Jahre auf einen Sonntag fiel. Richtig, am letzten April, als er, im Hausrock und aus seinem Meerschaumspitz rauchend, am Schreibtisch im Eßzimmer saß und den Dienstkalender für den nächsten Monat zusammenstellte, kam er ganz von selbst darauf. »Der 21., das ist ja ein Sonntag!« rief er plötzlich, als hätte er eine große Entdeckung gemacht. Frau Haller, die eben fürs Abendessen den Tisch aufdeckte und wirtschaftlich in der Stube hin und her ging, nickte errötend und schaute unsicher lächelnd an ihm vorbei.

»Freilich!« sagte sie. »Ein Sonntag -- der Sonntag vor Pfingsten.«

»Das auch noch! Da bin ich schön hineingefallen.«

»Hineingefallen?«

Sie blieb stehen, ein Besteck in der Hand, zog die Brauen bis unter den blonden Haarschopf und blickte ihn aus zwei runden blauen Puppenaugen indigniert und fragend an: »Hineingefallen? Womit?«

»Mit der Praterfahrt.«

»Wieso? Weil's Sonntag ist? Das ist doch grad' das Richtige.«

»Das Richtige -- o ja! Aber was es kost't.«

Sie drehte sich um, legte das Besteck neben den Teller. Nach einer Weile sagte sie, und daß Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden:

»Na, so wird's halt ein paar Kronen mehr kosten.«

Ein paar Kronen mehr! Er ruckte, machte eine bittere Miene. Alles kostete in der letzten Zeit ein paar Kronen mehr: Der Fleischer, der Bäcker, die Aufziehung der Kinder, die in die Schule zu gehen begonnen hatten und fortwährend Ausgaben für Kleider, Schuhwerk, Bücher veranlaßten. Trotz seiner bevorzugten Stellung gelang es ihm kaum mehr, die beiden Enden zusammenzubringen und ohne Schulden durchzukommen. Für Praterfahrten blieb unter solchen Umständen wahrhaftig nichts übrig.

Er versuchte, das seiner Frau zu verdeutlichen, ihr diese närrische Idee auszureden. »Schau,« redete er auf sie ein: »Was hast davon, wenn du schon wirklich im Wagen sitzst und ein oder zwei Stunden lang zwischen lauter Leuten, die du nicht kennst, auf und ab fährst? Das kost't doch -- also bescheiden gerechnet -- fünfzehn Kronen. Ist nicht schad' ums Geld? Ich kauf' dir lieber einen roten Sonnenschirm, wie die Tant' Mali einen hat. Der kostet freilich ebensoviel. Aber den hast du dann auch fürs Leben.«

Flora wollte von dem roten Sonnenschirm als Geburtstagsgeschenk nichts wissen. Sie bestand auf ihrer Praterfahrt, auf die sie bereits ein Recht zu haben glaubte. Kostspielig, zwecklos und glänzend, wie eine solche Ausfahrt war, erschien sie ihr als das Symbol eines Lebens, das ganz fern von dem ihrigen lag und an dem teilzunehmen -- wenn auch nur für die Dauer eines kurzen Nachmittags -- sie sich dennoch berechtigt wähnte. Sie war hübsch, jung und eine Frau. Alle hübschen und jungen Frauen fühlen sich gleichgestellt, trotz aller sozialen Unterschiede, die nur die Männer trennen. Daß solche Unterschiede vorhanden waren, gab Flora wohlerzogen und gefügig zu; aber einmal im Leben wollte sie sich darüber hinwegsetzen und, in die Ecke eines schaukelnden Wagens gedrückt, für eine kurze Spanne Zeit das Leben der Reichen genießen. Es schien ihr, daß die Armut in Zukunft erträglicher sein würde, wenn sie zuvor ein ganz klein wenig am Luxus genascht hätte.

Laurenz ließ kein Mittel unversucht, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen, in dessen Ausführung er nicht nur eine ökonomische Gefahr erblickte. Was würde man im Amt, was würden seine Vorgesetzten von ihm denken, wenn er gesehen würde? »Derlei paßt sich nicht für einen Revidenten,« sagte er würdevoll und spielte damit seinen letzten und höchsten Trumpf aus, die Beamtenehre, das Standesbewußtsein. Er wollte rhetorisch hinzufügen: »Auch nicht für einen Oberrevidenten,« denn er hatte gegründete Ursache anzunehmen, daß sein Avancement nahe bevorstand. Der Hofrat war unlängst ganz besonders freundlich gewesen und hatte ihm, während er sein Referat erstattete, sogar einen Stuhl angeboten -- in der sicheren Voraussetzung allerdings, daß er sich nicht setzen würde. Übrigens war er an der Tour und wenn auch der Kollege Bachmeier etwas länger Revident war, so hatte doch er ein halbes Dienstjahr mehr und war überdies besser beschrieben … Indessen besann er sich und ließ den Oberrevidenten vorläufig lieber aus dem Spiel. Der Augenblick schien ihm wenig geeignet, um Hoffnungen zu erwecken, die den Leichtsinn seiner Frau nur begünstigen konnten. Er verzichtete auf die sich bietende billige Steigerung und wiederholte bloß nachdrücklich und gereizten Tones:

»Es paßt sich nicht für einen Revidenten, sag' ich, daß er mit seiner Frau im Prater spazieren fährt!«

»Und der Bemm?« entgegnete sie flink: »Der geht doch sogar auf die Jagd.«

Es ist wahr, der Bemm ging jeden Sonntag auf die Jagd. Aber der wurde von einem Landtagsabgeordneten protegiert und konnte infolgedessen tun, was er wollte. Außerdem war er ein »von«, Konrad Ritter von Bemm, und somit, als Adeliger, zu einer feudalen Lebensführung gewissermaßen verpflichte!

»Was der Bemm tut, ist mir gleich!« versicherte der Revident Laurenz Haller mit großer Entschiedenheit. »Ich bin nur für mich verantwortlich -- für mich und meine Familie. Wenn man Kinder hat --«. Er sprach noch eine Weile weiter, mit dem ruhigen Selbstgefühl eines Mannes, der sich seiner Verantwortung bewußt ist und sich überdies im Recht weiß. Flora, die mit dem Tischdecken fertig war, trat schweigend ans offene Fenster, dasjenige, von dem aus man den Prater sah. Aber sie wandte sich nicht nach links von wo man diese Aussicht genoß, sondern blieb rechts stehen; sie blickte auf den trüben Grund der Vorstadtstraße und weinte.

Laurenz bemerkte es plötzlich an einem kleinen Zucken ihres blauen Schlafrockes, der, oben ausgeschnitten, den weißen Nacken freiließ. Er sah ihren hübschen Hals gebeugt und von einem leisen Schluchzen erschüttert. Da beendete er seine Rede mit einem Seufzer und stellte sich zu ihr ans Fenster.

Es war schon Abend. Einförmig grau und schattenlos lagen die Häuser- und Straßenzüge, zu einem häßlichen Netz verstrickt, aus dem es kein Entrinnen gab. Nichts als höchstens ein paar offenstehende Fensterflügel verriet in diesem trüben Einerlei, dessen Grundfarbe von den Jahreszeiten unberührt blieb, den Frühling. Aber der Himmel, der sich darüber hinwölbte, war lenzhell, im Westen fliederfarben, und in der Ferne hinter dem riesigen, düsteren Bau des Arsenals, das seine finsteren Jacken in den lichten Horizont einbohrte, lag unter einer Duftwolke, als eine weiche, samtig grüne und lockende Insel, der Prater. Der Abendwind fegte über die Donau herüber und brachte den noch herben Duft seiner Auen.

Laurenz Haller betrachtete seine Frau kummervollzärtlich von der Seite. Sie hielt den Blick noch immer gesenkt, und an ihren gebogenen Wimpern zitterten zwei kleine Tränen. Der Gatte sah die beiden Tröpfchen sich langsam auszehren, unter dem Einfluß der vom Prater herüberwehenden frischen Brise. Nun schlug sie die Augen auf, ihr Blick begegnete dem seinen und das Einverständnis in seinen Zügen lesend, ließ sie sich, mit einer plötzlichen leidenschaftlichen Bewegung zu ihm Hinübergleiten, umschlang seinen Kopf und suchte seinen Mund. Einen Augenblick lang fühlte er ihren weichen Körper ganz nah an dem seinen -- da kamen die Kinder herein, zugleich mit dem Nachtmahl. Er machte sich los und, den letzten Rest seiner ehelichen Autorität zusammenraffend, sagte er, unvorsichtigerweise in Gegenwart der Magd:

»Aber das eine sag' ich dir: Mehr als fünfzehn Kronen darf der Spaß nicht kosten.«

Sie nickte glücklich und begann die dampfenden Butterkartoffeln auszuteilen, so zierlich, als wären es Pasteten.

* * *

 


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