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Mit schwerem Herzen trug Flora den Hut am nächsten Tag zu ihrer Freundin Mizzi zurück. Sie hatte ihn über den Sonntag behalten, um sich in Gesellschaft des Herrn Gattinger nicht schämen zu müssen; ihn noch länger zu benutzen, wäre unbescheiden gewesen. Also setzte sie den schönen Hut ein letztes Mal auf und nahm ihren eigenen alten, einen kleinen Canotier mit blauem Band, der für ein achtzehnjähriges Mädchen gepaßt hätte, in Papier eingeschlagen, für den Rückweg mit.

Sie ging zu Fuß, am Arsenal vorbei und dann quer durch den Josefapark, in dessen Grün bereits die Crimson Rambler purpurne Inseln bildeten. Ein junger Mann, der ihr gefolgt war, sprach sie an und lud sie zum Souper ein. Offenbar hielt er sie für eine Modistin.

Flora, als eine heitere Wienerin, nahm ihm die Belästigung nicht im geringsten übel. Sie lehnte die überstürzte Einladung mit den Worten: »Dank' schön, es ist mir noch zu zeitlich zum Soupieren!« munter ab und bog links ein, gegen den Südbahnhof zu. Seit ein paar Wochen fühlte sie ihre Jugend und Schönheit deutlicher als je zuvor; und es war ihr, im Grunde genommen, recht, daß sie auch andere spürten.

Hatte sie sich, in früheren Zeiten, törichterweise vorgestellt, daß mit dreißig Jahren alles aus wäre, so erkannte sie jetzt im Gegenteil, daß das eigentliche Leben einer Frau erst in diesem Alter beginnt. Sie hatte die Empfindung, daß sie jünger wäre als mit fünfundzwanzig, jünger als mit zwanzig, ja, daß sie noch nie so jung gewesen. Eine unsagbare Lebenslust erfüllte sie, und die übermütigsten Gedanken wirbelten in dem kleinen blonden Kopf unter dem ausgeliehenen Hut durcheinander. Sie hatte Lust, der ganzen Welt einen Kuß zu geben. Sie hatte Lust, den Schmetterlingen nachzulaufen, über den Rasen zu kollern, in die Crimson Rambler mitten hinein zu springen und mit beiden Armen eine Garbe der purpurnen Blüten an ihre volle Brust zu pressen.

Schade, daß sie den Hut zurückgeben mußte, dessen Silhouette ihr ein Schaufenster gleich darauf verführerisch spiegelte. Sie hemmte den Schritt, machte einen Umweg, um sich seines Besitzes etwas länger zu erfreuen.

Als sie schließlich um vier Uhr nachmittag bei ihrer Freundin anlangte, stand diese, wie immer, wenn sie nicht auf dem Diwan lag, vor dem Spiegel. Sie war zum Ausgehen bereit und band sich eben den Schleier unter der Nase fest. Frau Mizzi zog den Schleier immer nur bis an die kecke Nasenspitze herunter; der Mund lag frei, wie aus dem Netz entschlüpft, und sah in dieser seiner Entblößung noch einmal so lecker aus.

Gutgelaunt, wie auch sie an diesem heiteren, warmen, zur Liebe wie geschaffenen Juninachmittag war, ließ sie die Freundin ihren Hut nicht erst abnehmen, sondern fiel ihr mit den Worten in den Arm: »Aber geh', du wirst mir den alten Deckel doch nicht zurückgeben. Behalt' ihn, ich schenk' ihn dir!«

Flora hielt es mit den Standespflichten einer Revidentensgattin für unvereinbar, ein derartiges Geschenk anzunehmen. Aber Mizzi lachte über ihre Bedenken und sagte schließlich, als die Freundin unerschütterlich blieb: »Also kauf' mir ihn halt ab!« Sie verlangte, wie im Scherz, fünf Kronen, und Flora beeilte sich, sie ihr einzuhändigen. Im Grunde tat sie damit auch Mizzi einen Gefallen; denn Mizzi lebte zwar in rangierten Verhältnissen, aber fünf Kronen fehlten ihr immer. Auch war, da sie ihre Toilette nicht selbst bezahlte, was immer sie aus dem Verkauf einzelner Gegenstände erzielte, sozusagen als reiner Gewinn zu betrachten.

Auf dieser Basis nun entwickelte sich in den kommenden Wochen ein schwunghafter Kleiderhandel zwischen den beiden Frauen. Flora kaufte einen seidenen Unterrock, ein paar gelbe Schnallenschuhe, einen roten Gürtel, ein blaues Leinenkleid und zwei Lingerieblusen -- lauter Dinge, die sie, wie sich jetzt herausstellte, dringendst benötigte. Übrigens hätte sie auch mit einer Lingeriebluse genug gehabt; aber Mizzi, die diesmal zehn Kronen brauchte, gab sie nur paarweise ab, und Flora erstand sie schließlich, weil man von lichten Blusen nie zuviel hat …

Natürlich konnte sie diese außerordentlichen Auslagen nicht von ihrem Taschengeld decken. Sie behalf sich, indem sie dem Fleischer und Bäcker die Rechnung eine Woche länger schuldig blieb; und tröstete sich damit, daß ihr Mann ohnehin binnen kurzem avancieren würde.

Laurenz fiel es als einem guten Ehemann nicht auf, daß seine Frau jetzt besser gekleidet ging. Er sah nur, daß sie hübscher geworden war und fand sie begehrenswerter denn je. Sie war leidenschaftlich und sie verbarg es nicht mehr; irgendeine Hemmung war seit jener Praterfahrt von ihr gewichen, und der glückliche Gatte erschrak zuweilen vor der Glut ihrer Umarmungen.

Mit dem Herrn Gattinger kam man seit dem Ausflug öfter und bald regelmäßig zusammen. Ein freundschaftlicher Verkehr entwickelte sich, an dem der Revident um so weniger Anstoß nahm, als der Handschuhmacher immer von seiner verstorbenen Frau sprach. Haller sowohl als seine Gattin fühlten sich verpflichtet, dem einsamen Witwer hin und wieder ein wenig die Zeit zu vertreiben. Man nahm ihn auf Ausflügen mit und ging ab und zu in seiner Gesellschaft auf ein Glas Bier ins Gasthaus. Manchmal war auch Konzert, dann zahlte Laurenz das Entree für alle drei, auch für den Handschuhmacher, und dieser revanchierte sich als ein artiger Mann, indem er für Flora von einer vorüberschwebenden Blumenfee ein paar rote Rosen erstand und sie ihr mit einem höflichen Zwinkern überreichte.

Einmal lud der Handschuhmacher das Ehepaar auch zum Speisen ein. Es war schon im Juli, ein heißer Tag, zu heiß, um einen Ausflug zu machen. Die Wohnung des Herrn Gattinger aber war recht kühl; sie lag im ersten Stockwerke eines älteren Hauses auf der Wieden, das ihm gehörte und in dessen Erdgeschoß sich das Geschäft befand. Laurenz kannte den Gassenladen nur vom Vorübergehen; aber Flora rühmte ihm, während sie die schneckenförmig angelegte Treppe hinanstiegen, die elegante Einrichtung. Sie hatte das Geschäft erst unlängst betreten, da ihr der Handschuhmacher, wie allen seinen Bekannten, bei Einkäufen eine Bonifikation von fünfzig Prozent zugestanden hatte. Übrigens brauchte sie die Handschuhe nicht für sich, sondern für ihre Freundin Mizzi, der sie sich gefällig erzeigen wollte, und die sie gebeten hatte, ein halbes Dutzend Glacés unter diesen überaus günstigen Bedingungen für sie zu erwerben.

An dem Mittagessen, das nach den besten Wiener Traditionen zusammengestellt war, nahm außer dem Ehepaar Haller nur der jüngere Sohn des Herrn Gattinger teil. Er hieß Pepi und war Sparkassebeamter. Da er erst zweiundzwanzig Jahre alt war, hielt er das für etwas sehr Hohes und benahm sich seiner verantwortlichen Stellung entsprechend zurückhaltend und vorsichtig, besonders Leuten gegenüber, die keine Beamten waren. Haller war einer, wenn auch kein Sparkassebeamter, und so ließ er ihn den Abstand weniger deutlich empfinden. Übrigens war Pepi ein junger Mensch von den feinsten Allüren; er stieß den Zigarettenrauch, mit dem er die Luft in seiner Umgebung schwängerte, nie anders als durch die Nase heraus, trug ein silbernes Kettenarmband, das von einer geheimen Liebe erzählte, und bestätigte seine Eleganz, an der niemand zu zweifeln wagte, des öfteren dadurch, daß er den kleinen Finger seiner rechten Hand in das rechte Ohr einführte und ihn in delikater Weise mehrmals hin und her bewegte, als ob er das Gehörorgan für irgendeine fern aufklingende Musik reinigen müsse -- was jedoch keineswegs der Fall war.

Gleich als der Milchrahmstrudel abgetragen war, erhob sich Pepi, nachdem er schon vorher die Zigarette angezündet hatte, und empfahl sich mit der Begründung, daß er im Kaffeehaus von seiner Karambolpartie erwartet werde. Er schlug die Absätze zusammen und küßte Flora die Hand. Sowie er fort war, beglückwünschten die Hallerischen den Vater zu den tadellosen Manieren seines Sohnes.

Gattinger nickte, gutmütig lächelnd. Er hatte noch einen anderen, der Leutnant in Krems war und mit seiner Gage gleichfalls nicht auskam. Auch die Tochter, Ludmilla, an einen Tierarzt in Payerbach verheiratet, brauchte ab und zu eine kleine Unterstützung. Glücklicherweise ging das alte Geschäft so gut, das er allen diesen Ansprüchen genügen konnte. Es hätte aber noch besser gehen können, leider. Gattinger machte eine Pause und seufzte schließlich: »In so ein Geschäft gehört halt eine Frau …« Zwar hatte er seit ein paar Monaten eine Kassierin, die rechtschaffen war und auch mit Damen umgehen konnte, jedoch:

»Eine Kassierin ist keine Frau.«

Der Revident gab ihm recht. Er rauchte eine von Gattingers feinen Zigarren und erzählte von einer blühenden Bahnhofrestauration an der Westbahn, die in zwei Jahren zugrunde gegangen war, bloß weil die Wirtin der Schlag getroffen hatte.

»Die meinige,« sagte Gattinger empfindsam, »ist an einer Lungenentzündung gestorben.«

Er begann neuerdings von ihr zu reden, pries die tadellose Gestalt der kinderreichen Frau, ihre Haare, von denen noch kein einziges grau gewesen, ihre Zähne, deren sie zweiunddreißig ins Grab mitnahm und erwähnte schließlich in einem natürlichen Übergang, träumerisch-dankbar, daß sie auch einen Milchrahmstrudel wie keine zweite zu bereiten verstand.

»Sie hat ihn immer selbst ausgezogen,« hob er rühmend hervor.

Flora, die diesen Wunsch schon lange hegte, verlangte ihr Bild zu sehen. Der Handschuhmacher holte es aus dem Schlafzimmer, wo es Tag und Nacht auf dem Nachtkästchen stand und seine Sehnsucht wach erhielt.

Die Photographie zeigte Frau Gattinger etwas jünger, als sie am Ende ihrer Tage gewesen, und noch im Vollbesitz ihrer Reize: Im Ballstaat, mit entblößten Armen, nackten Schultern und enthülltem Gebiß war sie vor den Photographen hingetreten und hatte ihm freudig zugelächelt, was ihr ziemlich schwer fallen mochte, da sie sehr stark geschnürt war. Doch merkte man ihr davon im Gesichte kaum etwas an.

Flora lächelte anerkennend und reichte das Bild ihrem Manne, der es behutsam angriff und schwermütig betrachtete, weil es doch eine Verblichene war. Nichtsdestoweniger fiel ihm auf, daß Frau Katharina Gattinger Flora ähnlich sähe. Es war derselbe Frauentypus, blond, gutmütig und lebensfroh. Nur das Alter machte einen kleinen Unterschied, Frau Haller war um zehn Jahre jünger. Aber darüber setzte sich der Handschuhmacher leichten Herzens hinweg.

»Ein sauberes Weiberl,« seufzte er, in vielen Erinnerungen schwelgend, und indem er über den Rand der photographierten Ehehälfte nach Flora spähte, fügte er mit einer galanten Wendung hinzu:

»Ich find', sie sieht Ihnen ähnlich. Um den Mund herum.«

»Nicht nur um den Mund herum,« versetzte Flora schlagfertig und schaute dem angeregten Witwer dreist in die Augen.

Der Handschuhmacher war ein erfahrener Handschuhmacher. Er schwieg und zwinkerte, ohne im Beisein des Gatten mehr zu sagen. Aber Flora fand, um ihn zu necken, immer neue Ähnlichkeiten heraus.

Laurenz war ans Fenster getreten und verhielt sich still, was dem Herrn Gattinger schließlich auffiel. Als ein aufmerksamer Hausherr erkundigte er sich:

»Was ist denn, Herr Revident? Hat die Zigarre leicht keine Luft?«

»Luft genug! -- Aber sie wird mir zu schwer sein!« sagte Haller, die geschenkte weglegend und eine von seinen mitgebrachten Portorikos anzündend. Es war ihm plötzlich alle Lust an den Zigarren des Herrn Gattinger vergangen, und auch der gute Milchrahmstrudel verursachte ihm nachträglich Beschwerden.

Wenige Tage später kam es im Amt zu einem kleinen Zusammenstoß; auch hier wegen eines Bildes. Bachmeier nämlich, der sich seit einiger Zeit in auffallender Weise für Flora zu interessieren schien und sie im Gespräch mit Haller nie anders als »die schöne Frau Gemahlin« nannte -- ein Kompliment, das sich Laurenz gern gefallen ließ -- sprach eines Tages den Wunsch aus, eine Photographie von ihr zu sehen. Haller, der als ein zärtlicher Gatte immer eine bei sich trug, reichte sie ihm arglos hinüber und wartete stolz, was jener sagen würde. Indessen, der Kollege Bachmeier schwieg und sammelte sich.

Erst nach einer geraumen Weile bemerkte Haller, daß sich Bachmeiers Gesicht veränderte. Das Lächeln sprang von links nach rechts, wurde böse, die struppige Lücke, durch den Wegfall eines weiteren Zahnes noch vergrößert, tat sich auf, und der lang aufgesparte Geifer trat zutage.

»Ah, ja, jetzt begreif ich's,« zischte er, das Bild der hübschen Frau scheinbar bewundernd: »Jetzt ja …!«

»Was begreifen Sie?«

»No -- daß Sie in Prater fahren können. Wenn man so eine Frau hat … Sie haben wohl vieles umsonst?«

Eine Ohrfeige war die Antwort.

Glücklicherweise war Bemm nicht zugegen, der seinen Urlaub bereits angetreten hatte und irgendwo in den böhmischen Wäldern dem edlen Weidwerk oblag. Andernfalls hätten die beiden wohl unweigerlich aufs Terrain müssen, denn von Bemm verstand in Ehrensachen keinen Spaß. In seiner Abwesenheit wurde die Angelegenheit auf minder ritterliche Weise beigelegt. Bachmeier lief zum Chef, beklagte sich, und Haller erhielt eine Rüge.

Wütend begab er sich nach Hause und machte seiner Frau eine Szene. Neulich die Geschichte mit der Ähnlichkeit und die heutige Erfahrung, das war für seine Geduld zuviel. Das Unglück wollte es, daß sie auch gerade den erst kürzlich erstandenen roten Modegürtel trug; er witterte Unrat und fragte nach seiner Herkunft. Sie klärte den Fall widerstrebend aus, aber diese Erklärung befriedigte ihn nicht. Im Gegenteil, er hatte nun einen Grund mehr, ihr ihren luxuriösen Lebenswandel vorzuwerfen. Er tat es mit schonungslosen Worten, die ihr die Tränen in die Augen trieben. Unlängst hatte er, zum erstenmal, seitdem er verheiratet war, einen Vorschuß auf den noch nicht fälligen Monatsgehalt nehmen müssen, daran war sie schuld, an allem war sie schuld. Ihre Koketterie, ihre Liederlichkeit waren sein Verderben. Sie lebte nicht mehr wie eine Beamtensfrau, sondern wie eine Dame; brannte sich jeden Morgen vor dem Spiegel die Haare, ging zu Hause in weißen Blusen herum und wischte neuestens sogar in Handschuhen Staub ab. Flora wandte ein, daß es alte wären, und daß sie die neuen von Herrn Gattinger um den halben Preis bekäme. Aber Laurenz, der auf diesen Moment nur gewartet zu haben schien, entgegnete, seinen Zorn sammelnd, was den Herrn Gattinger betreffe, so werde er ihn, wenn er sich noch einmal bei ihnen blicken ließe, eigenhändig zur Türe hinausbefördern.

Drei Tage später, als der Handschuhmacher gegen Abend auf Besuch kam, empfing ihn Laurenz wie gewöhnlich. Es geht nicht gut an, einen Menschen hinauszuwerfen, bloß weil er eine Frau gehabt hat, die der eigenen ähnlich sieht. Und übrigens liefen ihm auch die beiden Kinder entgegen, denn Herr Gattinger brachte ihnen immer Schokolade.

 

Im August hatte Haller wie alljährlich für ein paar Tage von Wien weggehen wollen. Ein Ausflug in die Mariazeller Gegend oder mit der Pyhrnbahn schwebte ihm vor. Allein er kam nicht dazu, dieses Projekt auszuführen, da er bereits am Ersten eine Nachricht erhielt, die ihn für den Rest des Monats verstimmte.

Die Hallerischen wurden im Zins gesteigert. Ob auch das mit der Praterfahrt und der unvermeidlichen Denunziation des Hausmeisters zusammenhing? Es lag wohl mehr an der allgemeinen Teuerung, die alle Preise schonungslos hinauftrieb und jedem einzelnen den Brotkorb höher hängte.

Laurenz ergab sich in das Unvermeidliche. Er blieb den August über mit seiner Familie in Wien und wartete eine Einladung seiner Schwiegereltern nach Windischgarsten ab, die nicht erfolgte. Im September trat er dann einen vierzehntägigen Urlaub an, aber gleichfalls ohne die Stadt zu verlassen, da es jetzt, wie er zu den Bekannten sagte, in den Bergen schon zu kalt wäre. Allerdings hätte er auch an die See reisen können, und zwar umsonst, da er Bahnbeamter war. Jedoch er wollte, aus Gründen, über die er sich selbst keine genaue Rechenschaft gab, seine Frau in diesem Jahre nicht allein lassen.

Er benutzte die ihm aufgezwungene Muße zu Ausflügen in die Wiener Umgebung, in deren grünen Mantel der Herbst jetzt schon seine bunten Muster wob. Doch gab er diese Exkursionen bald wieder auf, da sie ihn ermüdeten, und weil ihn übrigens die Sorgen, die er hatte, überall hin begleiteten. So blieb er lieber in der Nähe, lungerte in den öffentlichen Gärten mit einem Buch in der Hand, das er nicht las, oder schweifte durch den Prater, den er seit dem Frühjahr nicht betreten hatte und ziemlich verändert fand. Das Laub der Bäume war angegilbt und schon recht schütter, die Wagen auf dem Fahrdamm spärlich, und wenn man durch die menschenleeren Alleen ging, so wurde man von den niederfallenden Kastanien erschreckt, die mit einer schußähnlichen Detonation zersprangen. Auch roch man allenthalben das welke Laub wie einen feinen Moder.

Eines Tages raffte er sich auf und wollte gleich nach dem Essen nach Neustift am Wald und Sievering, ins Weinland, wo auf besonnten Hängen zwischen den mit Vitriol getupften Blättern goldgrüne und mattblaue Trauben dem vorüberstreifenden Wanderer zuäugeln. Allein er kam nur bis zum neuen Türkenschanzpark, woselbst er inmitten des weiten, schon blassen Kranzes von Bergen Halt machte. Er setzte sich müde auf eine Bank nieder und dachte über sein Schicksal nach.

Plötzlich fiel ihm ein, daß er Flora von Mizzi abholen könnte. Sie hatte die Absicht geäußert, ihre Freundin gegen Abend zu besuchen, um ihr einen kleinen Betrag, den sie ihr schuldete, zu behändigen. Laurenz mißbilligte diesen Verkehr, konnte ihn aber nicht verhindern, da die beiden Frauen fortwährend in Verrechnung standen.

Er traf die Freundin seiner Frau nicht zu Hause, nur ihren Gatten, den Kontrollor, der, die Zeitung in der Hand, behaglich rauchend, ihre endliche Heimkehr erwartete.

Als Laurenz nach Flora fragte und ob sie vielleicht schon weggegangen wäre, sagte der Kontrollor verwundert, sie wäre gar nicht dagewesen. Der Revident erbleichte, entschuldigte sich und wollte sich entfernen. Da kam Mizzi zurück, in einem weißen Kleid, duftumwölkt und mit dem wie ein dreieckiges kleines Segel aufgespannten Schleier. Sie hörte, was es Neues gab, wechselte mit ihrem Manne einen Blick und sagte in einem vollkommen natürlichen Ton:

»Freilich war Ihre Frau da. Vorhin. Wir sind miteinander weggegangen.«

Sie lächelte mit ihrem frischen Mund, in dem sich die Zahne klein und gleichmäßig wie Maiskörner aneinanderreihten.

Laurenz empfahl sich, und der Kontrollor begleitete ihn bis zur Türe. »Auf Wiedersehen, Herr Kollege!« sagte er, dort angelangt. Aber der Revident erwiderte bloß: »Auf Wiedersehen!« denn es wäre ihm peinlich gewesen, diesen hübsch gekleideten und wohlgehaltenen Herrn im dunkelblauen Sakkoanzug seinen Kollegen zu nennen.

Von einer vagen Eifersucht getrieben, hetzte er nach Hause. Er wußte ja eigentlich nichts, aber er hatte eine unbestimmte Ahnung von dem, was ihm bevorstand. Wie einer jener Ochsen war er, die täglich zu Hunderten auf der Favoritenstraße an ihm vorbeifuhren. Man hat ihnen die Augen verbunden, und sie können nicht wissen, wohin die Reise geht. Dennoch brüllen sie von Zeit zu Zeit, dumpf und schmerzlich, als stünden sie bereits im Schlachthaus.

Auch Laurenz Haller brüllte, als seine Frau eine Viertelstunde nach ihm zu Hause anlangte.

»Wo warst du?« brüllte er.

Sie erwiderte freimütig:

»Beim Herrn Gattinger. -- Im Geschäft.«

Er sprang auf sie los, als ob er sie erwürgen wollte.

»Was hast du im Gattinger seinem Geschäft zu schaffen?«

Sie rechtfertigte sich ruhig: Im Vorübergehen sei sie eingetreten, um ein Paar Handschuhe zu kaufen. Er hätte sie zurückgehalten und sie hätten sich verplauscht. Da Laurenz eine neue wütende Gebärde machte, fügte sie einfach hinzu:

»Es ist heut' der Sterbetag seiner Frau.«

Und nach einer Weile, mitleidheischend:

»Er hat mir die ganze Zeit von ihr erzählt.«

Laurenz Haller war kein Unmensch und begriff, daß Gattinger am Sterbetag seiner Frau das Bedürfnis hatte, von ihr zu reden. Aber es mußte nicht gerade mit Flora sein. Er setzte sich noch am selben Abend hin und schrieb dem Handschuhmacher einen Brief, den er eigenhändig zur Post trug. Zurückkehrend sagte er mit jener ruhigen Bestimmtheit, mit der man bei den Frauen noch am meisten durchsetzt:

»Der kommt mir nicht mehr ins Haus.«

Und er behielt recht: Leopold Gattinger kam wirklich nicht mehr ins Haus. Dennoch fuhr Flora fort, sich das Haar zu brennen …

 

Die Ernennung der neuen Oberrevidenten hätte anfangs Oktober erfolgen sollen. Mitte November war sie noch immer nicht vollzogen. Das Ministerium sparte, wo es konnte, und zögerte die Ausbezahlung der höheren Gehälter nach Möglichkeit noch um ein paar Wochen hinaus.

Mittlerweile ereilte den Revidenten ein anderer Schicksalsschlag: Er erhielt eine Vorladung zur Steuerbehörde, und, des Schlimmsten gewärtig, machte er sich auf den Weg. Aber die Wirklichkeit übertraf noch seine ärgsten Erwartungen.

Man war dahinter gekommen, daß er die Zinsen seiner Frau nicht einbekannte. Er sagte, daß er sich dazu nicht verpflichtet geglaubt hätte, da das Geld ja nicht ihm, sondern Flora gehöre. Aber der Referent der Steuerbehörde war anderer Ansicht; er sprach von Steuerhinterziehung. Schließlich nahm man, um den Staatsbeamten zu schonen, bloß eine Steuerverheimlichung an, was ein etwas geringeres Verbrechen ist und strafte den Übeltäter um ein Mehrfaches des dem Staate vorenthaltenen Betrages. Es waren etwa 120O Kronen, die er in Monatsraten von 50 Kronen sich von seinem Gehalt abziehen lassen mußte. Zusammen mit den schon vorhandenen ergab dies eine schier unerträgliche Last von Schulden. Und niemand half ihm; auch nicht der Herr Oberleitner, der vielmehr, korrekt wie er war, den Schwindel in der Fassion um so schärfer verurteilte, als er ihn stillschweigend gutgeheißen hatte.

Laurenz Haller wußte, wem er dieses neue Unglück zu danken hatte. Als er am Tage nach der Vorladung ins Büro kam, spuckte er vor Bachmeier laut und vernehmlich aus. Bachmeier begann sofort zu addieren. Aber von Bemm schrie von seinem Schreibtisch herüber:

»Spucken Sie nicht im Büro!«

Er war, wie die meisten Jäger, jähzorniger Natur und duldete wie bei Hunden so auch bei Menschen keine Unreinlichkeit.

Laurenz arbeitete geduckt an seinem Schreibtisch weiter. Sein einziger Trost, seine letzte Hoffnung war die Arbeit. Wenn er Oberrevident wurde, so konnte noch alles gut werden. Infolgedessen verdoppelte und verdreifachte er seinen Fleiß. Kollege Bachmeier tat das gleiche; auch er zerriß sich förmlich in einer gewaltsamen, zur Schau gestellten Ambition, wie sie die Beamten in Ernennungszeiten befällt. Er kam noch früher, ging noch später weg als Haller. Nur von Bemm tat bei diesem keuchenden Wettlauf nicht mit. Er jagte wie gewöhnlich und ließ für alles übrige Gott sorgen. Und, obwohl er zwei Dienstjahre weniger hatte als die anderen, stand seine Ernennung außer Zweifel.

Am 16. November hatte Laurenz die Genugtuung, als erster im Büro zu sein. Er bemächtigte sich eines Aktes, den eigentlich Bachmeier abzuliefern gehabt hätte, und ging damit zum Chef. Unterwegs wurde er vom Amtsdiener eingeholt: Der Hofrat wünschte ihn zu sprechen.

Der Revident hatte eine Ahnung. Er drehte sich auf den Fersen um, schickte den Akt mit dem Diener zurück und ging, so wie er war, im Bürorock zum Hofrat.

Der Hofrat, ein kleiner, glatzköpfiger Mann, mit einem Ziegenbart, einem elastischen Mund und falschen Äuglein, die, wenn man sie fixierte, immer nach oben auswichen, begrüßte ihn höflich, freundlich sogar, und bat ihn, Platz zu nehmen.

Der Revident blieb stehen.

Aber der Hofrat bestand darauf, daß er sich setzte. Er schob ihm den Stuhl unter und drückte ihn liebenswürdig am Arm nieder. Da wußte Laurenz, wie beim Zahnarzt, sogleich, was ihm bevorstand.

Richtig begann der Hofrat vor allem seinen Fleiß zu loben. Es war dreiviertel neun, und Haller trug bereits seinen Bürorock; das wäre das Richtige, solche Beamte brauche der Staat … Er machte eine Pause, schaute zu Boden, legte die Hände sanft ineinander und sagte schließlich:

»Um so schwerer fällt es mir. Ihnen eine Mitteilung zu machen, die ich leider nicht länger aufschieben kann.«

Jetzt kam es heraus: Bachmeier wurde Oberrevident, desgleichen von Bemm. Nur Haller war für dieses Jahr übergangen.

Laurenz fand es ganz in der Ordnung, daß Bemm ernannt wurde. Von Bemm war zum Vorgesetzten geboren: er war faul und streng. Aber warum Bachmeier? Das erschien ihm ungerecht.

»Der Bachmeier hat um ein halbes Dienstjahr weniger,« sagte er bescheiden, bemüht, dem Hofrat in die Augen zu schauen, was ihm jedoch nicht gelang, da sie eben wieder, unter dem Blick des Revidenten, nach oben zur Decke entwichen.

»Gewiß,« ließ sich der Hofrat verbindlich vernehmen: »Sie haben ein halbes Dienstjahr mehr und sind vorzüglich beschrieben. Sie haben immer Ihre Pflicht getan, mehr als Ihre Pflicht …« Die Art, wie ihn der Revident anstarrte, war ihm entschieden unangenehm und er machte die Augen vorübergehend lieber ganz zu, während er fortfuhr: »Aber …« Er dehnte das Wort und machte eine Pause. Was kann jetzt kommen? dachte der Revident und erinnerte sich besorgt jener Ohrfeige. Indessen der Hofrat schien sich um derlei interne Reibereien nicht zu kümmern oder von der Ohrfeigengeschichte nichts zu wissen, denn er setzte in einer ganz anderen, unerwarteten Richtung fort: »Aber wir müssen -- leider!« wieder flogen die Äuglein nach oben: »Wir müssen, sage ich, auf die materiellen Verhältnisse unserer Herren bei der Ernennung einige Rücksicht nehmen. Sie, lieber Herr Revident, haben eine wohlhabende Frau« -- das kam von der Steuerbehörde -- »Sie haben Ihr Auskommen, können sich ab und zu eine kleine Zerstreuung oder Belustigung gönnen« -- das war die Praterfahrt -- »mit einem Wort: Sie sind in der Lage, etwas länger zu warten …«

»Nein!« sagte Laurenz, mit einer sonderbar rauhen Stimme, stand auf, verbeugte sich und schritt zur Türe.

Er ging in sein Büro zurück, zog seinen Arbeitsrock aus und nahm den gewöhnlichen. Als er eben weggehen wollte, begegnete ihm Bachmeier und grinste.

»Oh! Herr Kollega! Wohin denn so zeitlich in der Früh?«

Er hatte plötzlich Zähne bekommen und zeigte sie fröhlich, wie ein Neger, die ganze Reihe, die lückenlos herumlief und seine beiden Lächeln, das gute und das böse, zu einer einzigen hohnvollen Grimasse verband.

»Ich geh' spazieren,« erwiderte Haller, verächtlich und so laut, daß man es auch in den Nebenräumen hören konnte.

* * *

 


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