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Feldweisheit

von Adolf Lederer.

(Im Grase liegend.) Bei allen Wiederbelebungen, in allem neuen Dasein sind Rückständigkeiten mitten darunter gemischt. Wenn man das Wiesengrün des Frühlings genau betrachtet, liegt viel verdorrtes überjähriges Gras zwischen und unter dem grünenden; es muß verfaulen und zum Dünger für das neue Leben werden. Da schreien dann die Thoren: es ist kein Frühling, es kann auch keiner kommen, seht hier die dürren Halme! Ist es nicht auch im ganzen Leben des Geistes so? . . . ist der alte Schullehrer nicht auch so ein Stück dürres Gras? . . .

Mir ist die ganze Natur ein Sinnbild des Geistes; ich meine immer, sie sei nur die Larve, hinter der das Geistesantlitz steckt. Die armen Bauern! sie leben mitten in der freiesten Natur wie in einem toten Hause, sie sehen in all den Feldern und Wäldern nur den Ertrag, die Zahl der Garben, die Säcke Kartoffeln, die Klafter Holz; ich aber schlürfe den Geistesduft der Schönheit, der darüber schwebt. Ich will hinwegsehen über die Menschen, die da mitten unter diesem glanzvollen Leben lichtlos einherwandeln, ich will mich erheben über all das niedere klägliche Treiben und wie die Biene hier aus der unanfaßbaren Distel Honig saugt, die dem Esel bloß zum derben Futter wird, so will ich den Honigseim des Geistes aus allem ziehen. Steh mir bei, du ewiger Geist und laß mich nicht denen gleich werden, die an der Scholle haften, bis die Scholle über ihren Sarg rollt; und ihr! ihr großen Geister meiner Nation, deren Werke mich hierher begleitet, stärket mich und laßt mich stets zu euren Füßen sitzen.

Jeder Acker hat seine Geschichte. Wüßte man die Wandlungen, die ihn aus der einen Hand in die andre gebracht, die Schicksale und Gefühle derer, die ihn bearbeitet, es wäre die Geschichte des Menschengeschlechts: sowie seine geologische Bildung, tief hinab bis zum Mittelpunkt der Erde aufgedeckt, die Geschichte des Erdballs aufzeigte.

Alles auf der Welt wird zur Nahrung oder zum sonstigen Verbrauch und Genuß für ein andres; nur der Mensch eignet sich alles an, er selber aber steht frei über der Erde, bis sie ihren Mund aufthut und seinen Leichnam verschlingt. Ich bin da auf eigene Weise zu dem trivialen Gedanken gelangt, daß der Mensch der Herr der Erde ist; aber nur das ist Wahrheit, eigene Erkenntnis, was wir auf eigentümliche Weise wiederfinden.

Ich habe einmal gehört und gelesen, daß nur da, wo die Anzahl der nützlichen Haustiere die der Menschen übersteige, ein behaglicher und glücklicher Zustand des allgemeinen Besitztums sei.

Ist das wohl eine geistige Lehre, daß die Zahl der Unvernünftigen die der Vernünftigen übersteigen müsse?

Es wäre schrecklich, wenn es so wäre, und doch . . .

Es ist entschieden, daß die Bildung der Menschheit erst mit dem Ackerbau und durch denselben begonnen hat. Solange die Menschen ihre Nahrung nur suchten, sei es durch Jagen, Fischen und dergleichen, standen sie noch fast den Tieren gleich. Erst als sie begannen, sich die Nahrung vorzubereiten, indem sie das natürliche Wachstum beobachteten und lenkten, indem sie pflanzten und pflegten, hielten sie an einem bestimmten Boden fest, mußten sie die Gesetze der Natur erforschen und entdecken, Einfluß auf das Leben der Außenwelt und ihrer Innenwelt gewinnen.

Der Ackerbau ist die Wurzel aller Bildung in der Welt, aber die Ackerbauer selber haben die wenigste Frucht davon. Muß das so sein?

Auf der schwankenden Blume, die vom Winde geschüttelt wird, klammert sich die Biene fest und saugt emsig den Honig: so auch genießet der Mensch das schwankende Erdenleben, und der Boden zittert unter ihm.

(Am Buchsee.) Ein Himmelstropfen, der in ein stehendes Wasser fällt, bildet eine Weile ein Bläschen, dann zerplatzt er und vermengt sich mit dem Sumpfe; in den lebenden Strom gefallen, wird er selbst ein Teil der lebendigen Welle. Ist mein Dasein ein solcher Tropfen? Ich will, daß ich in einen lebendigen Strom aufgehe, es muß so sein . . .

Alle Vögel fliehen den Regen, nur die Schwalben flattern lustig darin.

Es erregt mir oft ein sonderbares Gefühl, daß, wenn ich hinausgehe in das Feld, um mir körperlich erquickliche Ermüdung zu holen, die Leute von der Arbeit ermüdet heimkehren: es ist mir da oft, als müßt' ich mich schämen, daß ich jetzt spazieren gehe.

Nur am Abend und am Morgen bemerkt man den schnellen Wechsel des Lichts; dieser ist aber den ganzen Tag aufsteigend bis zum Mittag und von da absteigend ebenso.

Ist nicht bei der Entwickelung des Menschengeistes das gleiche der Fall?

So oft ich auch schon den Sonnenuntergang betrachtet, nie war er gleich; das ist die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur, darum ist sie auch ewig schön und neu.

Beim Sonnenuntergang glaubt man immer, von der Stelle, wo man steht, bis nach Westen hin reicht das Abendrot, da ist noch Licht, rückwärts gekehrt erscheint alles dunkel; diejenigen aber, die weiter hinten stehen, glauben, es reiche nur noch bis zu ihnen. So bemißt jeder den Horizont nach seinem Standpunkte, und wer das untergehende Licht betrachtet, glaubt, es reiche nur noch bis zu ihm.

Warum ist ein Sonnenuntergang für die meisten Menschen ansprechender als ein Sonnenaufgang?

Ist es, weil diesen die wenigsten oft sehen, oder weil das Verschwindende, das Sterbende näher zu uns spricht? Ich glaube nicht. Beim Sonnenuntergang erhält das Schauspiel einen zart geheimnisvollen Abschluß in der Nacht und der darauf folgenden Ruhe; der Sonnenausgang aber hat keinen Abschluß, ihm folgt das helle Licht, die Unruhe und das lärmende Gewühl des Tages. Schön ist das Sterben! o, ich sehne mich . . .

(Hinterm Schloßhag.) Wenn man einen Pfosten in die Erde rammt, muß man die einzugrabende Spitze brennen, damit sie nicht faule; wen die Flamme des Geistes berührt, der kann nicht sterben.

Aus der Haut des einen Tieres schneidet man das Riemenwerk für Zaum und Zügel und die Einjochung des andern. Die Anwendung ist leicht.

Wenn man jemand einen Weg zu kurz angibt, ermüdet er doppelt; dies kommt wohl von der stets gespannten Erwartung, am Ziele zu sein.

Ich habe mir den Weg zu meinem Lebensziele auch zu kurz gedacht.

Beim Mähen darf man nur kleine Schritte machen und gradaus. Je dünner der Klee steht, um so müder wird man beim Mähen; da fährt man mit der Sense auf dem harten Boden herum und in die Luft hinaus und hat am Ende nichts erschafft. Wie vieldeutig ist das.

Vom Futter und allem, was man grün heimthut, entrichtet man keinen Zehnten.

Beim Kornschneiden muß man die abgeschnittene Frucht stets hinter sich legen, da ist Raum dafür, vorwärts stehen die neuen Halme, die zu schneiden sind; so muß es auch mit unseren fertigen Thaten sein, wir müssen sie aus unserm Gesichtskreise legen und das vor uns stehende Neue in Angriff nehmen.

Wenn ich von ferne die bald sich erhebenden, bald sich niederbeugenden Schnitter ansehe, ist es mir oft, als ob sie ein zeremoniöses Gebet verrichteten.

Da wird der neue Zaun am Schloßgarten mit grüner Oelfarbe angestrichen. Dürres Holz fault in Wind und Wetter, wenn man es nicht mit Farbe bekleidet. Die Natur hat über alle ihre Geschöpfe eine schützende Oberhaut ausgebreitet; die Menschen aber reißen die natürlichen Rinden und Glasuren ab, dann müssen sie eine künstliche auftragen.

Ist die Bildung vielleicht nichts als eine Oelfarbe, die den natürlichen Schmelz ersetzt? Nein, sie ist erhöhte, sie ist die wahre Natur; diese Menschen, wie sie hier sind . . .

Der alte Zimmermann Valentin ist so vergeßlich, er geht mit der Peitsche über der Schulter seinen Weg und sagt immer vor sich hin: Hio! ohne zu merken, daß seine Kühe schon dreißig Schritte hinter ihm einen andern Weg gegangen sind. Ergeht es nicht auch manchen Herrschern gerade so?

In einem Garten an der Straße steht eine Trauerweide, deren Aeste in allerlei Ellipsen, Zirkel, schiefe und rechte Winkel zusammengebunden wurden und nun so ineinander verwachsen sind.

Ja, die Aeste des Trauerbaumes, die Zweige des Schmerzens sind am leichtesten zu biegen, da lassen sich die Menschen gar wunderlich verschnörkeln; aber die zähe Naturkraft macht die herben Krümmungen von neuem ausschlagen. Warum nur die Bauern die verschnörkelte Natur so lieben? warum sie die Trauerweide, den schönsten aller Bäume, so mißhandeln? Vielleicht liegt es tief in der menschlichen Natur, mit dem, was das ganze Jahr die ernsteste Beschäftigung darbeut, auch einmal zu spielen . . .

(Am Kreuz im Schießmauernfeld.) Ich habe früher nie über Juden nachgedacht, obgleich in meinem Geburtsorte auch Juden wohnten; ich erinnere mich nur, daß ich als kleines Kind auch die Judenknaben meines Alters verhöhnte und, wenn ich konnte, schlug.

Es kömmt uns nicht ein, über unser Verhältnis zu den Juden nachzudenken, sowenig wir über unser Verhältnis zu den Pferden nachdenken. Im Gegenteil, durch die Bibel bekömmt jedes Christenkind die Empfindung, daß ihm jeder einzelne Jude etwas Böses gethan. Ein geheimnisvoller Abscheu setzt sich dann in der Seele des Kindes fest: ich dachte mir immer alle Juden räudig; ein Kind kann ein Tier liebkosen, nie aber einen Juden.

Hier habe ich Gelegenheit, oft mit Juden zu verkehren. Der jüdische Lehrer ist ein vorurteilsfreier Mann von Bildung, wie ich noch selten einen getroffen. Er weiß mehr von der Theologie als von den Naturwissenschaften. Ist das bei allen Juden so? In seinem Unterricht ist mehr Geistreiches, weniger Methode und Stetigkeit; das ist für minder begabte Kinder nicht gut. Als ich zum erstenmal die Synagoge besuchte, war es mir ganz eigen zu Mute: hier, in die schwarzen deutschen Tannenwälder haben sich diese hebräischen Worte vom Libanon verloren, und doch, ist nicht auch unsere Religion von dort her? Noch mehr, das alte Rom konnte die Deutschen nicht besiegen, sie nicht römisch reden lehren, das neue vollbrachte es; hier auf den fernen Bergen ertönt allsonntäglich in der Kirche die römische Sprache.

Meinem Hause gegenüber ist der sogenannte Brandplatz: dort stand das Haus, in dem eine ganze jüdische Familie, Großmutter, Schwiegertochter und fünf Enkel, verbrannt sind; jetzt spielen die Kinder am liebsten auf dieser Stätte, eine solche Ruine bietet sonst seltene Verstecke. An den schwarzen Wänden klettern die rotwangigen Buben umher und tollen und jubeln. So baut sich überall schnell neues Leben auf; wo die Flammen einst gewütet, tummelt sich sorglos das junge Geschlecht. Es ist auch in der Weltgeschichte so.

Drinnen im Dorfe haben sie heute den Hammeltanz aufgeführt.

Solche Dinge passen nicht mehr in unsre Zeit, sie gehören in das Mittelalter. Da sah wohl der Gutsherr vom Schloßerker herab der Fröhlichkeit seiner Leibeigenen zu; er hatte ihnen den Hammel und die Schnur geschenkt und steuerte wohl auch das gewinnende Paar mit einem kleinen Lehen aus. Jetzt hat das alles keine Bedeutung mehr, man sollte es abschaffen.

Manchmal verliert sich von der Tanzmusik drinnen im Dorfe ein Klang zu mir heraus in das Feld; nur die schmetternden Töne der großen Trompete sind es, die ich abgerissen vernehme. So auch stehen diese Bauern fern von der großen Harmonie der Geisteswelt; nur wenn die große Trompete erschallt, oder die große Trommel gerührt wird, dringt ein abgerissener Klang zu ihnen, und sie schreiten eine Weile im Marschtakte der Zeit. Von dem lieblichen Adagio, von dem friedlichen Zusammenklingen wissen und hören sie nichts.

Es ist gut, daß immer noch Plätzchen auf der Welt sind, die niemand gehören, wo die Armen ihr Gras sammeln können; das sind die Raine, Anwände, oder wie man sie nennen mag. Wo aber der Fuß des Menschen kaum mehr einen Halt findet, da klettert noch die Ziege, die Genossin der Armen, umher, um sich ein frisches Kraut oder ein schmackhaftes Läublein zu holen.

An den Holztagen dürfen die Armen von den grünenden Bäumen sich die dürren Aeste aneignen. Ich habe einmal die schöne Deutung gelesen, daß die gütige Natur dieses Gewohnheitsrecht aufstellte und von ihrem reichen Tische den Armen abgibt. Die Armen und das dürre Holz – –

Auch das Unkraut in den Kornfeldern gehört niemand, das jäten die Armen aus, und es ist nahrhaftes Futter; fragst du nun noch: wozu das Unkraut? Vielleicht ist es auch mit vielem andern so . . .

Diese Blätter sind die Ausbeute von dreien Monaten, während welchen der Lehrer in den Feldern umherschweifte. Sie hatten ihm manche üble Nachreden zugezogen, denn die Leute konnten gar nicht begreifen, was er immer einzubuchen habe, und sie erschöpften sich in allerlei Vermutungen. Man wird bemerkt haben, daß er auch manche Erkundigung über Gewöhnliches einzog, das ihm noch neu war; die Leute sahen ihn groß an und schüttelten die Kopfe, sie konnten gar nicht begreifen, wie man so etwas nicht wissen könne.

Es ist gewiß schon vielen begegnet, daß, wenn sie einen Bauern um den Weg nach dem nächsten Orte befragten, der Angeredete stutzte, weil er glaubte, man necke ihn, dann aber eine Erklärung gab, die auf der Voraussetzung beruhte, daß man die Oertlichkeiten kenne. Es geht aber auch vielen Gebildeten so: weil ihnen ihr gewohnter Gesichts- und Ideenkreis klar ist, meinen sie, das begriffe jeder, und sie verständigen sich nur halb.

Der Lehrer war im Dorfe noch so unbekannt, daß niemand seinen Namen wußte. Eines aber hatte jeder erfahren, nämlich, daß der Lehrer aus Lauterbach sei; hieran heftete sich nun die Spottsucht, man wollte es ihn entgelten lassen, daß er so stolz und zurückgezogen war. Abends, wenn die Burschen wußten, daß der Lehrer zu Hause war, rotteten sie sich vor seinen Fenstern zusammen und sangen unaufhörlich den Lauterbacher. Weil man auch wußte, daß er ein strenger Verteidiger des Vereins gegen Tierquälerei war, wurde ein gewöhnliches Lied zum Draufsetzen oft gesungen, es lautete:

Jetzt ischt das Liadle aus,
Jetzt speir i do e Maus:
Such i 'rum und find se,
Nem i e Messer und schind se,
Stich ihr d'Augen aus –
No haun i e blinde Maus.

Diese »Gemeinheit« ärgerte den Lehrer. Er wußte aber noch immer nicht, was alles das zu bedeuten habe, bis sich endlich der Studentle zu den Burschen gesellte; obgleich er verheiratet war, stand er doch bei jedem mutwilligen Streiche obenan. Er brachte nun einen neuen Vers, der oft wiederholt wurde:

Z' Lauterbach bin ich so stolz geborn,
Stolz, das ist meine Manier;
Ei, wär' ich doch wieder in Lauterbach,
Da wär' ich in meinem Revier.

Jetzt merkte der Lehrer, was diese Zusammenrottungen zu bedeuten hatten; in seiner tiefsten Seele trauerte er, daß diese Menschen, denen er doch nur wohlwollte, ihn so mißhandelten. Drinnen trauerte der Lehrer, draußen aber wurde das Gejubel immer lauter. Da raffte er sich auf, er wollte an das Fenster treten und ein Wort der Verständigung sprechen; glücklicherweise fiel aber sein Blick auf die Geige, er nahm sie von der Wand und spielte frischweg die Melodie des ihn verfolgenden Liedes. Drunten horchte man still auf, nur verhaltenes Kichern ließ sich vernehmen; aber der Gesang begann bald wieder, und der Lehrer begleitete ihn mit der Geige, so oft man auch wieder anfing.

Endlich trat er an das Fenster und sagte hinaus: »So, hab' ich's recht gemacht?«

»Ja,« erscholl die allgemeine Antwort, und von diesem Abende an blieb der Lehrer von dem Liede verschont, denn man wußte, daß es ihn nicht mehr ärgere.

Von dieser Zeit an nahm sich indes der Lehrer vor, freundlicher und gesprächsamer gegen die Leute zu sein; er erkannte, daß er nicht nur in der Schule, sondern auch außer derselben Pflichten gegen die Menschen habe, mit denen er gemeinsam lebte.

Die Ausführung dieses Vorsatzes wurde ihm bald treulich belohnt.

Eines Sonntags nach der Mittagskirche ging er durch die am Hügel gelegene Straße, »Bruck« genannt. Da sah er eine alte Frau vor einem Hause sitzen, sie hatte die Hände ineinander gelegt, und ihr Kopf wackelte; er sagte freundlich: »Guten Tag! Nicht wahr, der Sonnenschein thut Ihnen gut?«

»Dank schön, lieber Mensch,« erwiderte die Alte, oft mit dem Kopfe nickend.

Der Lehrer blieb stehen.

»Sie haben schon manchen Sommer erlebt,« sagte er.

»Achtundsiebenzig, es ist ein' schöne Zeit, siebzig Jahr ein Menschenleben, heißt es in der Schrift. Es ist mir oft, wie wenn mich der Tod vergessen hätt'; nun, unser lieber Herrgott wird mich schon holen, wenn's Zeit ist, er weiß wohl, ich verlauf' ihm nicht.«

»Sie können aber doch noch immer gut fort?«

»Nimmer recht – der Krampf – aber das thut gut,« sie zeigte auf die grauen Fädchen, die sie um die beiden Arme gebunden hatte, an denen die Venen geschwollen waren.

»Was ist denn das?«

»Ei, das hat eine reine Jungfrau gesponnen, des Morgens nüchtern mit ihrem Munde und hat drei Vaterunser dabei gebetet. Wenn man das unbeschrieen um den Arm thut und dabei neunmal das Gebet in unsres Herrgotts heilige drei Nägel sagt, so stillt's den Krampf, ich muß soviel husten,« sagte sie, wie zur Entschuldigung ihrer oft unterbrochenen Rede auf ihre Brust deutend.

»Wer hat denn die Fäden gesponnen?« fragte der Lehrer.

»Ei, mein' Hedwig, mein Enkele, kennet Ihr denn die nicht? Wer sind Ihr denn?«

»Ich hin der neue Lehrer.«

»Und da kennet Ihr mein' Hedwig nicht? Sie ist ja eine von den Kirchensängerinnen. Sag mir nur auch ein Mensch, was das für eine Welt ist, da kennt der Lehrer die Kirchensängerinnen nicht mehr. Ich bin auch Kirchensängerin gewesen, man hört mir's jetzt nimmer an mit meinem Husten; ich bin ein sauberes Mädle gewesen, ja, ich hab' mich dürfen sehen lassen, und alle Jahre war das Jahressen, da war der Pfarrer und der Schulmeister dabei: o! wie sind da g'spässige Lieder gesungen worden, der bayrische Himmel und so Sachen, das ist jetzt auch nimmer; ja, die alt' Welt ist eben aus und vorbei.«

»Sie haben wohl Ihr Enkelchen sehr lieb?«

»Es ist ja das jüngst'! O! mein' Hedwig, die ist doch eine von der alten Welt, die hebt mich und legt mich, und da ist kein unschön Wörtle; ich wollt's ihr gunnen, daß ich bald sterben thät, sie muß soviel daheimbleiben wegen meiner, und wenn ich gestorben bin, will ich auch recht für sie beten im Himmel.«

»Sie beten wohl recht viel?«

»Ja, was kann ich besseres thun? Mit dem Schaffen ist es aus. Ich kann auch ein Gebet, das die Seelen vom Mond gerad in den Himmel bringt und daß die Seelen gar nicht ins Fegfeuer brauchen. Die heilig' Mutter Gottes hat einmal zu Gott Vater gesagt: Lieber Mann, ich kann das nimmer hören, wie die armen Seelen im Fegfeuer schreien und heulen, es geht mir durch Mark und Bein, und da hat er gesagt. Nu meinetwegen, du darfst ihnen helfen. Und da ist in dem Tirol einem Mann, der acht Kinder gehabt hat, sein' Frau gestorben, und da hat er eben ganz schrecklich gejammert, wie man sie auf den Kirchhof tragen hat, und da ist alle Morgen die Mutter Gottes kommen, hat die Kinder gestrählt und gewäschen und die Betten gemacht, und da hat der Mann lang nicht recht gemerkt, wer das thut, und da ist er endlich zum Pfarrer gangen, und da ist der ganz früh mit dem Heilig kommen, und da hat der gesehen, wie die Mutter Gottes zum Fenster 'naus ist, schneeweiß, und da ist das Gebet auf der Simse gelegen, und da hat man da ein' Kirch' hingebaut.«

»Dieses Gebet kennen Sie?« fragte der Lehrer, sich neben der Alten auf die Bank setzend.

»Ihr müsset nicht so Sie sagen,« begann die Alte, vertraulicher werdend, »das ist nicht der Brauch.«

»Habt Ihr noch mehr Enkel?« fragte der Lehrer.

»Noch fünf und auch vierzehn Urenkel, und von meinem Konstantin krieg' ich auch bald eins. Kennt Ihr meinen Konstantin nicht? Der hat auch gestudiert; er ist ein Wilder, aber ich hab' nichts über ihn zu klagen, gegen mich ist er alleweil gut.«

Plötzlich kam hinter dem Hause hervor ein Mädchen, dem ein schneeweißes Huhn auf dem Fuße folgte. »Hent Ihr guata Roat, Ahne?« fragte das Mädchen im Vorübergehen, es schaute kaum eine Weile auf. Der Lehrer war so betroffen, daß er unwillkürlich aufstand und nach der Mütze griff.

»Ist dies Euer Enkelchen?« fragte er endlich.

»Freilich.«

»Das ist ja prächtig,« sagte der Lehrer.

»Nicht wahr, es ist ein saubers Mädle? Der alt' Schmiedjörgli sagt ihm immer, wenn es das Dorf hineinkommt, es wär' grad' wie sein' Ahne. Der Schmiedjörgli ist noch der einzig von denen jungen Bursch, mit denen ich getanzt hab'; jetzt ist es grad, wie wenn wir hundert Stund' voneinander wären, er sitzt drinnen im Dorf und kann nicht zu mir kommen, und ich nicht zu ihm; wir müssen halt warten, bis wir halbwegs auf dem Kirchhof zusammenkommen, und da treff' ich die ganz' alt' Welt, und im Himmel, da geht's erst recht an. Mein guter Hansadam muß lange warten, bis ich zu ihm komm', die Zeit wird ihm lang werden.«

»Euch haben gewiß alle Leut' im Dorfe gern,« sagte der Lehrer.

»Wie's in den Wald 'neinhallt, hallt's 'raus. Wenn man jung ist, möcht' man gern alle Leut' auffressen, die einen aus Lieb' und die andern aus Aerger; wenn man alt ist, da läßt man einem jeden sein Sach'. Ihr glaubet's gar nicht, was die Leut' hier so gut sind, Ihr werdet's auch noch erfahren. Seid Ihr denn auch schon viel in der Welt 'rumkommen?«

»Fast gar nicht. Mein Vater war auch Schullehrer, er starb, als ich kaum sechs Jahr alt war, bald darauf starb auch meine Mutter; ich wurde nun in das Waisenhaus gebracht, blieb dort, zuerst als Zögling, dann als Inzipient und Hilfslehrer, bis ich diesen Frühling hierher versetzt wurde. Ja, liebe, gute Frau, es ist ein hartes Los, wenn man sich kaum mehr erinnert, daß einen die Hand der Mutter berührt hat.«

Die Hand der alten Frau streifte ihm plötzlich über das Gesicht, es war dem Lehrer in der That, als ob ihn eine höhere Macht berührte, er saß da mit geschlossenen Augen, und die Augäpfel zitterten und bebten, die Wangen glühten; wie erwachend faßte er die Hand der Alten und sagte:

»Nicht wahr, ich darf Euch auch Großmutter heißen?«

»Rechtschaffen gern, du guter, lieber Mensch, es kommt mir auf ein Enkele mehr oder weniger nicht an, und ich will's probieren und will dir deine Strümpf' stricken, bring mir auch die zerrissenen.«

Mit einem erhabenen Wohlgefühl saß nun der Lehrer bei der alten Frau, er wollte gar nicht weggehen. Die Vorübergehenden staunten, daß der stolze Mensch sich so vertraulich mit der alten Maurita unterhielt.

Endlich kam ein Mann aus dem Hause, die Augen reibend, sich reckend und streckend.

»Hast ausg'schlafen, Johannesle?« fragte die Alte.

»Ja, aber mein Kreuz thut mir noch sträflich weh von dem Schneiden.«

»Es wird schon wieder gut, unser Herrgott läßt einem vom Schaffen keinen Schaden zukommen,« erwiderte die Mutter.

Der Lehrer dachte daran, wie ihm das Bücken der Leute als ein zeremoniöses Gebet vorgekommen war. Nach gegenseitigen Begrüßungen begleitete er nun den Johannesle hinaus in das Feld.

Johannesle liebte eine Unterhaltung, bei der man nichts zu trinken brauchte und die auf diese Weise nichts kostete; er war daher entzückt von der Liebenswürdigkeit und Gescheitheit des Lehrers, denn dieser hörte ihm aufmerksam zu: die Darlegung seines Hauswesens, die Geschichte des Konstantin und noch vieles andre.

Am Abend erzählte Johannesle allen Leuten, der Lehrer sei gar nicht so ohne, er könne nur nicht recht mit der Sprache heraus, er könne den Rank nicht kriegen.

Der Lehrer aber schrieb, als er nach Hause kam, in sein Taschenbuch: »Die Frömmigkeit allein erhält den Menschen auch noch im Alter liebenswürdig, ja, sie macht heilig und anbetungswert, die Frömmigkeit ist die Kindheit der Seele; wenn fast wieder das Kindischwerden hervortritt, verbreitet sie eine anmutige glorienhafte Milde über das ganze Wesen. Wie hart, herb und häßlich sind genußsüchtige, selbstsüchtige Menschen im Alter, wie erhaben war diese Frau selbst in ihrem Aberglauben!«

Noch etwas andres schrieb der Lehrer in sein Taschenbuch, aber er strich es alsbald wieder aus. In herber Selbstanklage saß er lange einsam, endlich ging er hinaus auf die Straße, sein Herz war so voll, er mußte unter Menschen sein; der Gesang der Burschen, der weithin schallte, durchzitterte seine Brust, und er sagte: »Wohl mir, es ist gekommen, daß der Gesang der Menschen mich noch tiefer faßt, als der Gesang der Vögel; ich höre den brüderlichen Ruf. O Gott! ich liebe euch alle!«

So wandelte er noch lange durch das Dorf, im Herzen traulich zu allen sprechend, aber kein Wort kam über seine Lippen. Ohne zu wissen, wie es gekommen war, stand er plötzlich vor dem Hause Johannesles in der Bruck: alles still ringsum, nur aus der untern Stube, wo die Leibgedingwohnung der Großmutter war, vernahm man eintöniges Murmeln von Gebeten

Erst spät in der Nacht kehrte der Lehrer heim, alles war still, nur hier und dort vernahm man das leise Wispern zweier Liebenden. Als er endlich in seine Stube eintrat, wo niemand war, der ihm auf seine Reden eine Antwort gab, der nach ihm aufschaute und ihm gleichsam sagte: freue dich, du lebst, und ich lebe mit dir – da betete er laut zu Gott: »Herr. laß mich das Herz finden, das mein Herz versteht.«

Am andern Tage wußten die Kinder gar nicht, warum der Lehrer heute so überaus fröhlich dreinsah. In der Zwischenstunde schickte er des Matthesen Hannesle in den Adler und ließ sagen, man brauche ihm das Essen nicht zu schicken, er wolle selbst hinkommen.

Es war mißlich, daß der Lehrer sich mit so hochfliegenden Gedanken dem Leben um ihn her näherte; er konnte sich wohl zurückhalten, seine eigenen Empfindungen den andern mitzuteilen, dem aber konnte er nicht steuern, daß ihm manches Häßliche und Widrige vor die Augen gerückt wurde.

In der Wirtsstube traf er das Bärbele, das in der Schenke stand, im eifrigen Gespräch mit einer andern Frau.

»Gelt,« sagte Bärbele, »sie haben dir gestern abend den deinen wüst heimbracht, er hat stark auf ein' Seite geladen gehabt; wenn ich's gesehen hätt', daß sie ihm Branntwein ins Bier schütten, ich hätt' scharf ausgefegt.«

»Ja,« sagte die Frau, »er war ganz erbärmlich zugerichtet, er war grad wie ein voller Sack.«

»Ja, und du sollst dich noch so schön bedankt haben; was hast denn gesagt? Sie haben so gelacht, es hat gar kein End' nehmen wollen.«

»Ich hab' halt gesagt, sag' ich: Ich dank' schön, ihr Mannen, vergelt's Gott. Da haben sie mich gefragt: für was denn? Da hab' ich gesagt, sag' ich: Bedankt man sich ja, wenn man einem ein' Wurst bringt, warum wird man sich nicht für ein' ganze Sau bedanken?«

Der Lehrer legte die Gabel weg, als er diese Roheit vernahm; bald aber aß er wieder weiter, indem er lächelnd darüber nachdachte, wie das Unglück und die Leidenschaft so oft witzig mache.

Bei allen Gefühlsverletzungen, die der Lehrer durch die Art und Weise der Bauern empfand, wendete er sich aber nicht mehr an die Mutter Natur, sondern an die Großmutter Maurita, die ihm über die Art, wie die Menschen hier lebten, manchen Aufschluß gab. Viele Leute sagten daher, die alte Frau habe den Lehrer behext. Dem war aber nicht so. So gerne er sich auch an ihrem liebevollen Herzen erlabte, konnte man doch eher sagen, die Hedwig hätte es ihm angethan, obgleich er sie nur einmal gesehen und noch kein Wort mit ihr gesprochen hatte. »Hent Ihr guate Roat, Ahne?« Diese Worte wiederholte er sich oft, sie klangen ihm so innig, so melodisch, trotzdem sie in dem derben Dialekte gesprochen waren, ja, dieser selber hatte eine gewisse Milderung und Anmut dadurch erhalten.

Mit aller Macht seiner früheren Vorsätze stemmte sich unser Freund gegen die Hinneigung zu einem Bauernmädchen, aber wie es immer geht, die Liebe findet Auswege genug; so sagte sich auch der Lehrer: »Gewiß ist sie das wiedergeborene Ebenbild der guten Großmutter, nur frischer, von der Sonne der neuern Zeit durchleuchtet. Hent Ihr guate Roat, Ahne?«

Eines Abends saß der Lehrer wiederum bei der Alten, da kam das Mädchen hochgeröteten Antlitzes mit der Sichel in der Hand vom Felde heim, seine Schürze hielt es behutsam aufgeschlagen; es trat nun zur Großmutter und reichte ihr aus der Schürze die in Haselblätter eingehüllten Brombeeren.

»Du weißt doch, was der Brauch ist, Hedwig, zuerst wartet man den Fremden auf,« sagte die Großmutter.

»Langet naun zua, Herr Lehrer,« sagte das Mädchen frei aufschauend; der Lehrer nahm errötend eine Brombeere.

»Iß auch mit,« sagte die Großmutter.

»I dank, esset's naun ihr miteinander, 's soll euch wohl bekommen.«

»Wo hast's denn brochen?« fragte die Großmutter.

»Neabe aunserm Acker im Grund, Ihr kennet jo die Heck,« sagte das Mädchen und ging in das Haus.

Es war dem Lehrer ganz eigen zu Mute, daß von der Hecke, die er am ersten Mittage seines Hierseins gezeichnet, ihm Hedwig jetzt die reife Frucht brachte.

Hedwig kam bald wieder aus dem Hause, die weiße Henne folgte ihr auf dem Fuße.

»Wohin so schnell wieder, Jungfer Hedwig?« fragte der Lehrer, »wollt Ihr Euch nicht ein wenig zu uns setzen?«

»Ich dank' schön, ich will noch bis zum Nachtessen ein bißle 'nüber zum alten Lehrer.« Hedwig sprach zwar immer ganz im Dialekt, zum bessern Verständnis geben wir es aber möglichst hochdeutsch wieder.

»Wenn's erlaubt ist, begleit' ich Euch,« sagte unser Freund, und ohne eine Antwort abzuwarten, ging er mit.

»Kommet Ihr oft zum alten Lehrer?«

»Freilich, er ist ja mein Vetter, sein Weib ist die Schwester von meiner Ahne gewesen.«

»So, das freut mich herzlich.«

»Warum? Habt Ihr mein' Bas' gekannt?«

»Nein, ich mein' nur so.«

Man war an dem Garten des alten Lehrers angelangt, Hedwig schloß schnell die Gartenthüre hinter sich und ließ die Henne draußen, die wie eine Schildwache hier harrte.

»Wie kommt's,« fragte der Lehrer, »daß Euch das Huhn so nachläuft? Das ist ja etwas ganz Seltenes.«

Hedwig stand verlegen da und zupfte an ihren Kleidern.

»Dürfet Ihr mir's nicht sagen?« fragte der Lehrer wieder.

»Ja, ich darf, ich kann, aber – Ihr dürfet mich nicht auslachen und müsset mir versprechen, daß Ihr's nicht weiter saget; sie thäten mich sonst foppen.«

Der Lehrer faßte schnell die Hand des Mädchens und sagte: »Ich versprech's Euch hoch und heilig.« Er ließ die Hand nicht mehr los, und verlegen zur Erde schauend, sagte das Mädchen:

»Ich, ich hab', ich hab' das Hühnle an meiner Brust ausgebrütet; die Gluckhenn' ist verscheucht worden, und da hat sie die Eier liegen lassen, und wie ich das einzig Ei'le gegen das Licht gehalten hab, hab' ich gesehen, daß schon ein Köpfle drin ist, und da hab' ich's halt zu mir genommen . . . . Ihr müsset mich nicht auslachen, aber wie das Hühnle 'rauskommen ist, da hab' ich mich vor Freud' gar nicht zu halten gewußt; ich hab' ihm ein Federbettle gemacht, hab' ihm Brot gekaut und hab's geäzt, und es ist schon am andern Tag auf dem Tisch 'rumgelaufen. Es weiß niemand was davon, als mein' Ahne. Da ist mir jetzt das Hühnle so treu, wenn ich in's Feld geh', muß ich's einsperren, daß es mir nicht nachlauft. Geltet, Ihr lachet mich nicht aus?«

»Gewiß nicht,« sagte der Lehrer und ging noch eine Strecke Hand in Hand mit Hedwig, dann aber verwünschte er die Ordnungsliebe und Sparsamkeit des alten Lehrers, der den fernern Weg so eng gemacht hatte, daß nicht zwei nebeneinander gehen konnten.

Unser Freund war sehr erzürnt, als der alte Schullehrer mit ungewöhnlich schnellem Lachen den beiden Ankommenden zurief:

»Kennet ihr schon einander? Hab' ich dir's nicht schon lang gesagt, Hedwig, du mußt einen Schullehrer kriegen.«

Dieses unzeitige Anfassen einer kaum knospenden Blüte that unserm Freunde in tiefster Seele weh, doch er bemeisterte seine Empfindlichkeit und schwieg; er staunte aber, daß Hedwig, als ob nichts gesagt worden wäre, begann:

»Vetter, Ihr müsset morgen Eure Sommergerste in den Holzschlägeläckern schneiden, sie ist überzeitig und fällt sonst ganz um.«

Es wurde wenig gesprochen, Hedwig schien sehr müde, sie setzte sich auf die Bank vor einem Baume. Die beiden Lehrer sprachen nun miteinander, aber unser junger Freund sah das Mädchen dabei immer so durchdringend an, daß es sich mehrmals mit der Schürze über das Gesicht fuhr: es meinte, es müsse in der Küche, als es die Kartoffeln ans Feuer gestellt hatte, sich rußig gemacht haben. Unser Freund hatte aber ganz andre Dinge zu bemerken. Es fiel ihm jetzt zum erstenmal auf, daß Hedwig mit dem linken Auge ein wenig schielte; dies war aber keineswegs unangenehm, vielmehr gab es dem Ausdrucke etwas Weiches und Scheues, was zu der übrigen Bildung des Gesichtes wohl paßte; die feine schlanke Nase, der überaus kleine Mund mit den kirschroten Lippen, die runden, zartroten Wangen – die Blicke des jungen Mannes ruhten mit Wohlgefallen darauf. Endlich, da er seinem Kollegen mehrere verkehrte Antworten gegeben hatte, merkte er, daß es Zeit zum Gehen sei; er verabschiedete sich, und Hedwig sagte:

»Gut' Nacht, Herr Lehrer.«

»Erhalte ich nicht auch noch eine Gutnachthand?«

Hedwig versteckte schnell beide Hände hinter dem Rücken.

»Bei uns fragt man nicht, bei uns nimmt man sich die Hand, he, he,« sagte der alte Lehrer.

Unser Freund ließ sich diese Weisung nicht zweimal geben, er sprang hinter den Baum, um die Hand Hedwigs zu fassen, diese aber wendete ihre Hände schnell nach vornen.

Der Lehrer getraute sich nicht, mit ihr zu ringen, und so sprang er noch mehrmals vor und rückwärts, bis er zuletzt stolperte und vor Hedwig niederfiel; sein Haupt lag in ihrem Schoße auf ihrer Hand, schnell besonnen drückte er einen heißen Kuß auf diese Hand und nannte sie im Geiste sein. So blieb er eine Weile, ohne sich zu erheben, bis endlich Hedwig mit beiden Händen seine Wangen bedeckend ihn emporhob; verworren um sich schauend, sagte sie:

»Stehet auf, Ihr habt Euch doch nichts gethan? Gucket, das kommt von denen Späß'; Ihr müsset Euch nur von meinem Vetter da nichts anlernen lassen.«

Der Lehrer stand auf, und Hedwig bückte sich schnell nieder, um ihm mit der innern Seite ihrer Schürze die beschmutzten Kniee zu reinigen; der Lehrer aber duldete das nicht, sein Herz pochte schnell, da er diese demutvolle Bescheidenheit sah. Bald stand er wieder gesäubert da und sagte Hedwig abermals gute Nacht; sie blickte zur Erde, weigerte ihm aber ihre Hand nicht mehr.

Schwebenden Ganges ging der Lehrer dahin, es war, als ob er den Boden kaum berührte, als ob eine höhere Macht ihn trüge; ein unnennbares Kraftgefühl durchströmte sein innerstes Mark, ihm war leicht und frei, alle Leute schauten ihn verwundert an, denn er lächelte ihnen ganz offen zu. –

So schnellem Wechsel ist aber ein Menschengemüt hingegeben, daß bald nach dem ersten Jubel der Lehrer in trüber Selbstanklage zu Hause saß: »Du hast dich von einer Leidenschaft zu schnell hinreißen lassen,« sagte er sich. »Ist das die Festigkeit? An ein ungebildetes Bauernmädchen hast du dich hingegeben, weggeworfen. – Nein, nein, aus diesem Antlitze spricht die Majestät einer zarten, sanften Seele.« Noch mancherlei Gedanken stiegen in ihm auf, er kannte jetzt das Bauernleben, und noch spät schrieb er in sein Taschenbuch: »Das silberne Kreuz auf ihrem Busen ist mir ein schönes Sinnbild der Heiligkeit, Unnahbarkeit und Unberührtheit.«

Hedwig aber hatte zu Hause keinen Bissen zu Nacht gegessen, ihre Leute zankten, sie habe zuviel geschafft, sie habe gewiß noch dem Lehrer in der Gartenarbeit geholfen; sie verneinte und machte sich bald zu ihrer Großmutter, mit der sie in einem Zimmer schlief.

Noch lange nach dem Nachtgebet sagte sie, als sie die Großmutter husten hörte und nun wußte, daß sie auch noch wach sei:

»Ahne, was hat denn das zu bedeuten, ein Kuß auf die Hand?«

»Daß man die Hand gern hat.«

»Weiter nichts?«

»Nein.«

Wieder nach einer Weile sagte Hedwig: »Ahne.«

» Wasele

»Ich hab' was fragen wollen, ich weiß aber nimmer.«

»Nun, so schlaf jetzt, du bist müd; wenn's was Guts ist, wird's morgen früh auch nicht zu spät sein; es wird dir schon einfallen.«

Hedwig wälzte sich aber schlaflos im Bett umher. Sie überredete sich, daß sie nicht schlafen könne, weil sie den Hunger übergangen habe; sie würgte nun mit aller Gewalt ein Stück Brot hinab, das sie für alle Gefahren bereit gehalten hatte.

Der Lehrer war indes auch mit sich ins reine gekommen. Anfangs hatte er sich vorgenommen, sich selber und seine Neigung zu prüfen, eine Zeitlang Hedwig gar nicht mehr zu sehen; endlich aber gelangte er doch zu dem weisern und erfreulichern Entschlusse, Hedwig im Gegenteil recht oft zu sehen und ihre Geistesbildung auf allerlei Weise zu prüfen.

Andern Tages ging er nun zu seinem alten Kollegen und forderte ihn zum Spaziergange auf; er sah es wohl, schon um Hedwigs willen mußte er hier in ein näheres Verhältnis treten. Der alte Mann ging eigentlich nie spazieren, die Gartenarbeit verschaffte ihm Bewegung genug; die Einladung unsres Freundes erschien ihm jedoch als Ehrenbezeigung, und er ging mit.

Es war auffallend, wie wenig Gesprächsstoffe bei dem alten Manne Feuer fingen; sie waren immer wieder ebenso schnell aus als seine Pfeife, für die er alle fünf Minuten Feuer schlug. Von Hedwig wollte der junge Mann nicht unmittelbar sprechen, aus den Bestrebungen des Alten selber wollte er schon manches schließen.

»Leset Ihr auch bisweilen noch etwas?« fragte er daher.

»Nein, fast gar nichts, es kommt mir auch doch nichts dabei heraus; wenn ich auch alle Bücher auswendig könnte, was hätt' ich davon? Ich bin pensioniert.«

»Ja,« erwiderte der junge Mann, »man vervollkommnet seinen Geist doch nicht bloß um des äußern Nutzens willen, den man daraus ziehen mag, sondern um ein erhöhtes, inneres Leben zu gewinnen, um immer tiefer und klarer zu schauen. Alles auf Erden und zumal das höhere Geistesleben muß zuerst Zweck für sich –«

Der Alte schlug sich mit großer Gemütsruhe Feuer, unser Freund hielt mitten in einer Auseinandersetzung inne, die ihm erst seit kurzem aufgegangen war. Eine Weile schritten die beiden wortlos nebeneinander, dann fragte der jüngere wieder:

»Nicht wahr, aber Musik macht Ihr immer gern?«

»Das will ich meinen, da sitz' ich oft halbe Nächt' und feile, da brauch' ich kein Licht, verderb' mir die Augen nicht, hab' Unterhaltung und brauch' keinen Menschen dazu.«

»Und Ihr vervollkommnet Euch darin, soweit Ihr könnt?«

»Warum nicht? Gewiß.«

»Ihr habt doch aber auch keinen Nutzen davon,« sagte der junge Mann. Der Alte schaute ihn verwundert an; jener aber fuhr fort: »Wie Euch die Musik und Eure Ausbildung darin Freude bereitet, ohne daß Ihr einen Nutzen davon wollt, so könnte und sollte es wohl auch mit dem Lesen und der Geistesbildung sein; aber es geht hiermit oft gerade so wie vielen Leuten, die sich nicht mehr mit der gehörigen Sorgfalt kleiden, weil sie niemanden haben, auf dessen Gefallen sie ein besonderes Gewicht legen. Ich hörte vorgestern, wie ein junger Bursche einer jungen Frau über ihren nachlässigen Anzug Vorwürfe machte. ›Ei,‹ sagte sie, ›was liegt jetzt da dran? Ich bin jetzt schon verkauft, der mein' muß mich halt haben, wie ich bin.‹ Als ob man sich eines äußern Zweckes, nur andrer wegen sorgfältig kleide, und nicht, weil es die eigene Natur, die Selbstachtung verlangt. So geht es auch vielen mit der Geistesbildung; weil sie solche bloß des äußern Zweckes wegen betrieben, lassen sie davon ab, sobald der nächste Zweck erreicht oder nicht mehr da ist. Wer aber seine geistige Natur, seinen geistigen Leib, wenn ich so sagen kann, achtet und schätzt, wird ihn immer schön und rein erhalten und ihm stets mehr Kraft zu geben suchen.«

Der junge Mann erkannte erst jetzt, daß er eigentlich ein lautes Selbstgespräch gehalten hatte; er fürchtete indes nicht, den Alten beleidigt zu haben, denn er sah dessen vollkommene Gleichgültigkeit. Mit schwerem Herzen erkannte er von neuem, wie mühevoll es sei, die höhern allgemeinen Gedanken und Anschauungen an Mann für Mann zu verzapfen. »Wenn der alte Lehrer so harthäutig ist, wie wird es dir erst bei den Bauern gehen,« dachte er. So schritten sie eine stille Weile dahin, bis der jüngere wieder begann:

»Meinet Ihr nicht auch, daß man in unsrer Zeit viel frommer, oder wenigstens grad so fromm ist, als in der alten Zeit?«

»Frommer? Ins Teufels Namen, man war in der alten Zeit auch nicht letz, aber man hat nicht so viel Aufhebens, so viel Geschmus davon gemacht; z'litzel und z'viel verdirbt alle Spiel, he, he.«

Wieder war Stille.

Endlich fand der junge Mann den rechten Gegenstand, indem er fragte:

»Wie war's denn in früheren Zeiten mit der Musik?«

Da lebte der Alte ganz auf, er hielt Zunder und Stahl in der Hand, ohne sich Feuer zu schlagen, denn er sagte:

»Das ist heutigestags nur noch ein Gedudel. Ich war dritthalb Jahr' Unterorganist im Münster zu Freiburg, Herr! Das ist eine Orgel, ich hab' den Abt Vogler drauf gehört, im Himmel kann's nicht schöner sein, als der gespielt hat. Hernach hab' ich auch auf mancher Kirchweih aufgespielt. Früher hat man meist Geigen gehabt, auch eine Harf' und ein Hackbrett, jetzt haben sie nichts als Blasinstrumente: große Trompeten, kleine Trompeten, Klappentrompeten, alles nichts als Wind und viel Geschrei. Und was verdient jetzt so ein Musikant bei einer Kirchweih? Vorzeiten waren drei Mann vollauf, jetzt müssen's sechs, sieben sein; sonst waren kleine Stuben, kleiner Baß und groß Geld, – jetzt große Stuben, großer Baß und klein Geld. Ich bin einmal mit zwei Kameraden im Schappacherthal 'rumzogen, da sind uns die Federnthaler von allen Seiten zugeflogen. Einmal haben sich zwei Orte schier totgeschlagen, weil mich ein jedes hat zur Kirchweih haben wollen.«

Nun erzählte der Alte eine seiner Hauptgeschichten, wie ihn nämlich ein Ort wegen seines guten Geigenspiels als Lehrer angenommen, die Regierung aber einen andern mit Dragonern einsetzen wollte, wie das ganze Dorf revoltierte, so daß es am Ende doch bei seiner Bestallung blieb.

»Hat denn Euer Ansehen als Lehrer nicht darunter gelitten, wenn Ihr auf den Kirchweihen spieltet?« fragte der junge Mann.

»Im Gegenteil, ich hab' hier im Ort mehr als fünfzigmal gespielt, und Ihr werdet keinen sehen, der nicht die Kapp' vor mir lupft.«

Der Redefluß des Alten war in ununterbrochenem Gange, bis man wieder in den Garten zurückgekehrt war; unser Freund harrte aber umsonst auf die Ankunft Hedwigs, sie kam nicht. So ward doch der anfängliche Vorsatz erfüllt, er sah Hedwig eine lange, lange Zeit nicht, nämlich einen ganzen Tag.

Andern Tages ging unser Freund wieder allein in das Feld, er sah den Buchmaier auf einem großen, breiten Acker mit einem Pferde, das vor eine Art Walze gespannt war, arbeiten.

»Fleißig, Herr Schultheiß?« sagte der Lehrer; er hatte sich nun schon die bräuchlichen Anreden gemerkt.

»So a bißle,« erwiderte der Buchmaier und trieb seinen Gaul noch bis ans Ende des Feldes nach dem Wege zu, dann hielt er an.

»Ist das der Fuchs,« fragte der Lehrer, »den Ihr selben Tag, als ich angekommen bin, eingewöhnt habt?«

»Ja. der ist's, das freut mich, daß Ihr auch daran denket; ich hab' gemeint, Ihr denket allfort bloß an Eure Geschriften. Gucket, mit dem Gaul ist mir's ganz besonders gangen. Ich hab' meinem Oberknecht seinen Willen gelassen und hab' ihn gleich anfangs zweispännig eingewöhnen wollen, aber es ist nicht gangen. So ein Füllen, das sein Lebtag noch kein Geschirr auf dem Leib gespürt hat, das schafft sich ab und zieht und thut und bringt doch nichts Rechts zuweg; wenn es scharf anzieht und mit den Sträng' ein bißle vor ist, so macht es den Nebengaul nur irre, daß er gar nichts mehr thut und nur so neben her lottert; wenn man's allein hat, so lernt es stet thun und zappelt sich nicht so für nichts ab. Wenn ein Gaul einmal allein gut ist, nachher geht er auch selbander gut, und man kann schon eher 'rauskriegen, wie stark der Nebengaul sein muß.«

Aus mancherlei Anwendungen, die der Lehrer von dieser Rede machte, sagte er nur diese laut:

»Es geht auch bei den Menschen so: zuerst muß man für sich allein etwas gewesen sein, ehe man in Gemeinschaft gut arbeitet und tüchtig ist.«

»Daran hab' ich noch nicht dacht, aber es ist wahr.«

»Ist das die neue Säemaschine, die Ihr da habt? Was säet Ihr denn?«

»Raps.«

»Findet Ihr es nun mit der Maschine nützlicher, als mit der früheren Art zu säen?«

»Wohl, es wird gleicher, ist aber nur für große Aecker; Bauern, die nur ein klein Schnipsele haben, das man wohl mit einer Handvoll überlangen kann, die säen besser mit der Hand.«

»Ich muß gestehen, für mich hat das Säen mit der Hand etwas Ansprechendes; es liegt eine sinnige Deutung darin, daß das Samenkorn zuerst unmittelbar in der Hand des Menschen ruht, dann hingeschleudert eine Weile frei in der Luft schwebt, bis es von der Erde angezogen in den Boden fällt, um zu verwesen und neu aufzugehen. Findet Ihr das nicht auch?«

»Es kann sein, ich merk' aber eben erst, daß man den Säespruch nicht mehr gut sagen kann mit der Maschine; nun, man kann's doch dabei denken.«

»Welchen Säespruch?«

»Früher hat man, wie man das Saatkorn so aus der Hand gestreut hat, dabei gesagt:

Ich säe diesen Samen
Hier in Gottes Namen,
Für mich und die Armen.«

»Dieser Spruch sollte nicht aufhören.«

»Ja, wie gesagt, man kann's ja auch so denken, oder auch sagen; es ist eben nützlicher mit der Maschine.«

»Finden solche neue Erfindungen hier leicht Eingang?«

»Nein. Wie ich zum erstenmal meine Ochsen jeden in ein besonder Joch gespannt hab', ist das ganze Dorf nachgelaufen; wie ich nun gar das Ding da vom landwirtschaftlichen Fest heimbracht hab' und zum erstenmal mit 'naus bin, da haben mich die Leute für närrisch gehalten.«

»Es ist doch traurig, daß die Verbesserungen so schwer bei dem gewöhnlichen Volke Eingang finden.«

»Oh, Fuchs, oha!« schrie der Buchmaier seinem unruhig scharrenden Pferde zu; dann es fester haltend, fuhr er fort: »Das ist gar nicht traurig, Herr Lehrer, im Gegenteil, das ist recht gut. Glaubet mir, wenn die Bauersleut' nicht so halsstarrig wären und jedes Jahr das Versucherles machen thäten, das die studierten Herren aushecken, wir hätten schon manches Jahr hungern müssen. Oha, Fuchs. Ihr müsset Euch in der Landwirtschaft ein bißle umsehen, ich will Euch ein paar Bücher geben.«

»Ich will zu Euch kommen, ich sehe, das Pferd will nicht mehr stillhalten; ich wünsch' gesegnete Arbeit.«

»B'hüt's Gott,« sagte der Buchmaier, über den letzten Gruß lächelnd.

Der Lehrer ging seines Weges, der Buchmaier fuhr in seiner Arbeit fort. Kaum war aber jener einige Schritte entfernt, als er den Buchmaier den Lauterbacher pfeifen hörte, er schreckte ein wenig zusammen, denn er war noch nicht frei von Empfindlichkeit und war geneigt, dies für Spott zu halten; bald aber sagte er sich wieder: der Mann denkt gewiß nichts Arges dabei – und darin hatte er recht, denn der Buchmaier dachte nicht nur nichts Arges, sondern gar nichts dabei, die lustige Weise war ihm eben so in den Mund gekommen.

In einer Feldschlucht, wo er sich zuerst umgesehen, ob ihn niemand bemerke, schrieb der Lehrer in sein Taschenbuch:

»Die stetige und fast unbewegliche Macht des Volkstums, des Volksgeistes, ist eine heilige Naturmacht; sie bildet den Schwerpunkt des Erdenlebens, und ich möchte wiederum sagen, die vis inertiae im Leben der Menschheit.

Welchen unglückseligen Schwankungen wäre die Menschheit hingegeben, wenn alsbald jede sittliche, religiöse und wirtschaftliche Bewegung die der Gesamtheit würde! Erst was die Schwankung verloren, erst was Stetigkeit, ich will sagen, was ruhige Bewegung geworden, kann hier einmünden; hier ist das große Weltmeer, das sich in sich bewegt . . .

Ich will das Leben und die Denkweisen dieser Menschen heilig achten, aber ich will es versuchen . . .«

Was der Lehrer versuchen sollte, war hier nicht ausgedrückt, aber er hatte auf glückliche Weise an manchen Enden des Dorflebens angeknüpft.

Hedwig sprach er mehrere Tage nicht, er sah sie wohl einigemal, als er bei der Großmutter war, aber sie schien sehr beschäftigt und huschte nur immer mit kurzen Reden vorbei, ja, sie schien ihm fast auszuweichen; er wartete in Geduld eine Zeit der Ruhe ab.

Wohl bewegte die Liebe zu dem Mädchen mächtig sein Herz, aber auch die ganze Welt des Volkstums, die sich ihm aufschloß, schwellte ihm die Brust. Er ging oft wie traumwandelnd umher, und doch hatte er noch nie so sicher und fest im Leben gestanden als eben jetzt.

Manche Trübsal und Störung erfuhr auch der Lehrer durch den Studentle. Dieser war begierig, zu erfahren, was der Lehrer mit seiner Großmutter zu »basen« habe; er gesellte sich daher mehrmals zu den beiden. Wenn ein tieferer Gemütston angeschlagen wurde, fuhr er mit lustigen Spöttereien drein.

Als der Lehrer fragte: »Großmutter, gehet Ihr gar nie in die Kirche?« erwiderte der Studentle schnell: »Ja, Großmutter, Euch gedenkt's vielleicht noch, wer die Kirch' gebaut hat; der Herr Lehrer möcht's gern wissen, er will aber doch die Kirch' im Dorf lassen.«

»Sei still, du,« entgegnete die Großmutter, »wenn du was nutz wärest, wärst du jetzt Meister in der Kirch' und wärst Pfarrer.« Zu dem Lehrer gewendet, fuhr sie fort: »Schon seit fünf Jahren bin ich nicht in der Kirch' gewesen, aber am Sonntag merk' ich schon daheim am Läuten, wenn das Heilig gezeigt wird und wann die Wandlung ist; da sag' ich dann die Litanei allein. Alle Jahr zweimal kommt der Pfarrer und gibt mir das Abendmahl; er ist gar ein herziger Mann, unser Pfarrer, er kommt auch sonst zu mir.«

»Meinet Ihr nicht, Herr Lehrer,« begann der Studentle, »daß meine Großmutter eine Aebtissin comme il faut wäre?«

Die Großmutter schaute den beiden verwundert ins Gesicht, da sie so fremde Worte über sich hörte, sie wußte nicht, was das zu bedeuten habe.

»Allerdings,« sagte der Lehrer, »aber ich glaube, daß sie auch eben so fromm sein und eben so selig werden kann.«

»Gucket Ihr's, Ahne,« sagte der Studentle frohlockend, »der Herr Lehrer sagt's auch, daß die Pfarrer kein Brösele mehr sind als andre Menschen.«

»Ist das wahr?« fragte die Alte betrübt.

»Ich meine so,« begann der Lehrer, »es können ja alle Menschen selig werden, aber ein echter Geistlicher, der fromm und gut ist und eifrig für das Seelenheil seiner Nebenmenschen sorgt, der hat eine höhere Stufe.«

»Das mein' ich auch,« sagte die Alte. Dem Lehrer stand der Angstschweiß auf der Stirn, der Studentle aber fragte wieder:

»Sind Ihr nicht auch der Meinung, Herr Lehrer, daß die Geistlichen heiraten sollten?«

»Es ist Kirchengesetz, daß sie nicht heiraten dürfen, und wer bei vollem Bewußtsein Geistlicher geworden ist, muß sein Gesetz halten.«

»Das mein' ich auch,« sagte die Alte mit großer Heftigkeit, »die, wo heiraten wollen, das sind Fleischteufel, und man heißt's Geistlich und nicht Fleischlich. Ich will Euch was sagen, gebet dem da kein' Antwort mehr, lasset Euch Euer gut Gemüt nicht verderben, der hat heut wieder seinen gottlosen Tag, er ist aber nicht so schlecht, wie er sich stellt.«

Der Studentle sah, daß bei seiner Großmutter nichts auszurichten war, und ging mißmutig davon, auch der Lehrer entfernte sich bald; wieder war ihm ein schönes zartes Verhältnis hart angefaßt worden. Erst zu Hause gelangte er zur Ruhe und stählte sich gegen die unvermeidlichen Eingriffe von außen.

Am Sonntag gelang es unserm Freunde endlich wieder, Hedwig in Ruhe zu sprechen; er traf sie bei dem alten Lehrer im Garten, sie saß mit ihm auf der Bank, die beiden schienen nichts gesprochen zu haben.

Nach einigen gewöhnlichen Redeweisen begann der Lehrer: »Es ist doch eine hohe erhabene Sache, daß der siebente Tag durch die Religion geheiligt und aller Arbeit ledig ist; wenn wir uns vorstellen, daß das nicht so wäre, die Leute würden vor übermäßiger Anstrengung sterben. Wenn man in dieser hohen Erntezeit z. B. Tag für Tag ohne Unterlaß arbeiten würde, bis alles vollbracht wäre, niemand könnte es aushalten.«

Hedwig und der alte Mann sahen zuerst über diese Rede verwundert drein, dann aber sagte Hedwig:

»Ihr sind wohl schon hier gewesen, wie's der Pfarrer in der Heuet erlaubt hat, daß man am Sonntag das Heu wenden darf, weil es so lange geregnet hat und alles erstickt wär'. Ich bin auch mit 'naus ins Feld, aber es ist mir gewesen, wie wenn jede Gabel voll Heu doppelt so schwer sei; es ist mir gerad' gewesen, wie wenn mich einer am Arm halten thät, und den andern Tag und die ganz' Woch' war mir's, wie wenn die ganze Welt verkehrt wär' und schon ein Jahr lang kein Sonntag mehr gewesen sei.«

Freudestrahlend blickte der Lehrer Hedwig an, ja, das war die Großmutter; zu dem alten Manne gewendet, sagte er aber:

»Ihr müsset Euch noch der Zeit erinnern, als man in Frankreich die Dekaden einführte.«

»Dukaten? die kommen ja aus Italien.«

»Ich meine Dekaden. Man verordnet nämlich, daß nur alle zehn Tage ein Ruhetag sein solle, da wurden ebenfalls alle Menschen krank. Die Zahl Sieben wiederholt sich auf eine geheimnisvolle Weise in der ganzen Natur und darf nicht verrückt werden.«

»Das war ja verrückt, alle zehn Tage einen Sonntag, he, he,« sagte der alte Mann.

»Wisset Ihr auch die Geschicht' von dem Herrn, wo in der hiesig' Kirch' in Stein gehauen ist mit dem Hund?« fragte Hedwig.

»Nein, erzählet sie.«

»Das war auch so einer, der den Sonntag nicht heilig gehalten hat. Es war ein Herr –«

»Der Herr von Isenburg und Nordstetten,« ergänzte der Alte.

»Ja,« fuhr Hedwig fort, »man sieht in Isenburg nur noch ein paar Mauern von seinem Schloß; der hat nun auch nichts auf keinen Sonntag und keinen Feiertag gehalten und hat nichts auf der Welt lieb gehabt als seinen Hund, der war so groß und bös wie ein Wolf. Am Sonntag und Feiertag hat er die Leut' zwungen, daß sie haben alles schaffen müssen, und wenn sie nicht gutwillig gangen sind, ist der Hund von ihm selber auf sie gesprungen und hat sie schier verrissen, und da hat er, der Herr, gelacht und hat dem Hund den Namen Sonntag geben. Er ist nie in die Kirch' gangen als ein einzigmal, wie man sein' einzig' Tochter kopuliert hat; er hat den Hund, wo Sonntag geheißen hat, mit in die Kirch' nehmen wollen, der ist aber nicht dazu zu bringen gewesen und hat sich vor der Kirch' auf die Schwell' hingelegt, bis sein Herr wieder 'rauskommen ist. Wie nun der 'rausgeht, stolpert er über den Hund, fällt hin und ist maustot, und da ist auch sein' Tochter gestorben, und die sind jetzt beide mitsamt dem Hund in der Kirch' in Stein gehauen. Man sagt, der Hund sei der Teufel gewesen, und sein Herr hab' sich ihm verschrieben gehabt.«

Der Lehrer suchte zu beweisen, daß diese Sage sich erst durch das Vorhandensein des Denkmals gebildet habe, daß die Adeligen sich gern mit Wappentieren abbilden lassen u. s. w.; er fand aber wenig Anklang und schwieg.

Niemand war geneigt, das Gespräch fortzusetzen. Hedwig machte mit ihrem Fuße ein Grübchen in den Sand, der Lehrer nahm hier zum erstenmal Gelegenheit, die Kleinheit ihres Fußes zu bemerken.

»Leset Ihr nicht auch mitunter am Sonntag?« begann er so vor sich hin; niemand antwortete; er blickte Hedwig bestimmt an, worauf sie erwiderte:

»Nein, wir machen uns so Kurzweil.«

»Ja, womit denn?«

»Ei, wie Ihr nur so fragen könnet; wir schwätzen, wir singen, und hernach gehen wir spazieren.«

»Nun, was sprechet Ihr denn?«

Das Mädchen lachte laut und sagte dann: »Das hätt' ich mein Lebtag nicht denkt, daß man mich das fragt. Geltet, Vetter, wir besinnen uns nicht lang drauf? Jetzt wird bald mein Gespiel', des Buchmaiers Agnes, kommen, da werdet Ihr nimmer fragen, was man schwätzt, die weiß eine Kuhhaut voll.«

»Habt Ihr denn noch gar keine Bücher gelesen?«

»Ja freilich, das G'sangbuch und die biblisch' G'schicht'.«

»Sonst nichts'?«

»Und das Blumenkörble und die Rosa von Tannenburg.«

»Und noch?«

»Und den Rinaldo Rinaldini. Jetzt wisset Ihr alles,« sagte das Mädchen, mit beiden Händen über die Schürze streifend, als hätte es sein gesamtes Wissen jetzt vor dem Lehrer ausgeschüttet; dieser aber fragte wieder:

»Was hat Euch denn am besten gefallen?«

»Der Rinaldo Rinaldini, 's ist jammerschad', daß das ein Räuber gewesen ist.«

»Ich will Euch auch Bücher bringen, da sind viel schönere Geschichten darin.«

»Erzählet uns lieber eine, aber auch so eine recht grauselige; oder wartet lieber, bis die Agnes auch da ist, die hört's für ihr Leben gern.«

Da kam ein Knabe und sagte dem alten Lehrer, er solle sogleich zum Bäck kommen und seine Geige mitbringen, des Bäcken Konrad habe einen neuen Walzer bekommen; schnell erhob sich der Alte, sagte: »Wünsch' gute Unterhaltung,« und ging von dannen.

Als nun der Lehrer mit Hedwig allein war, erzitterte sein Herz; er wagte es nicht, aufzuschauen. Endlich sagte er so vor sich hin:

»Es ist doch ein recht guter alter Mann.«

»Ja,« sagte Hedwig, »und Ihr müsset ihn erst recht kennen. Ihr müsset es ihm nicht übel nehmen, er ist gegen alle Lehrer ein bißle bös und brummig; er kann's noch nicht verschmerzen, daß er abgesetzt worden ist, und da meint er, ein jeder, der jetzt als Lehrer hierher kommt, der sei jetzt gerad' dran schuld, und der kann doch nichts dafür, das Konsistore schickt ihn ja. Es ist eben ein alter Mann, man muß Geduld mit den alten Leuten haben.«

Der Lehrer faßte die Hand des Mädchens und blickte es innig an; dieses liebende Verständnis fremden Schicksals belebte seine ganze Seele. Plötzlich fiel ein toter Vogel vor den beiden nieder, sie schreckten zusammen; Hedwig bückte sich aber alsbald und hob den Vogel auf.

»Er ist noch ganz warm,« sagte sie, »du armes Tierle, bist krank gewesen und hat dir niemand helfen können; es ist nur eine Lerch', aber es ist doch ein lebigs Wesen.«

»Man möchte sich gern denken,« sagte der Lehrer, »ein solcher Vogel, der singend himmelan steigt, müßte beim Sterben gleich in den Himmel fallen; er schwebt so frei über der Erde, und nun berührt ihn der Tod, und von der Schwerkraft der Erde angezogen, fällt alles

immer wieder
zur Erd' hernieder.«

Hedwig sah ihn groß an, diese Worte gefielen ihr, obgleich sie dieselben nicht recht begriff; sie sagte nach einer Pause:

»'s ist doch arg, daß sich seine Verwandten, seine Frau oder Kinder gar nichts um ihn kümmern und ihn nur so 'rabfallen und liegen lassen; es kann aber auch sein, sie wissen noch gar nicht, daß er gestorben ist.«

»Die Tiere,« sagte der Lehrer, »wie die Kinder verstehen den Tod nicht, weil sie nicht über das Leben nachdenken; sie leben bloß und wissen nichts davon.«

»Ist das auch g'wiß so?« fragte Hedwig.

»Ich meine,« erwiderte der Lehrer. Hedwig erörterte die Sache nicht weiter, wie sie überhaupt nicht gewohnt war, anhaltend etwas zu ergründen; der Lehrer aber dachte: hier sind die Elemente einer großen Bildungsfähigkeit, hier ist schon der Stamm eines selbständigen Geistes. Den Vogel aus des Mädchens Hand nehmend, sagte er dann:

»Ich möchte diesen Bewohner der freien Lüfte nicht in die dunkle Erde versenken, hier an diesen Baum möchte ich ihn heften, damit er im Tode in einzelne Stücke verfliege.«

»Nein, das gefällt mir nicht; an des Buchmaiers Scheuer ist eine Eul' angenagelt, und ich möcht's allemal, wenn ich vorbeigeh', 'runter nehmen.«

Stille begruben nun die beiden den Vogel. Der Lehrer, der heute so glücklich in seinen Entdeckungen war, ging schnell einen Schritt weiter; er wollte erproben, wie weit sich Hedwig einer feinern Bildung fügen würde.

»Ihr sagt so gescheite Sachen,« begann er, »daß es jammerschade ist, daß Ihr das holperige Bauerndeutsch sprecht, Ihr könntet es sicherlich auch anders, und das würde Euch viel besser anstehen.«

»Ich thät mich in die Seel' 'nein schämen, wenn ich anders reden thät, und es versteht mich ja auch ein jedes.«

»Allerdings, aber gut ist gut, und besser ist besser. In welcher Sprache betet Ihr denn?«

»Ei, wie's geschrieben steht, das ist ganz was anders.«

»Keineswegs, wie man mit Gott redet, sollte man auch mit den Menschen reden.«

»Das kann ich halt nicht, und das will ich auch nicht. Gucket, Herr Lehrer, ich wüßt' ja gar nichts mehr zu schwätzen, wenn ich mich allemal besinnen müßt', wie ich schwätzen soll; ich thät mich vor mir selber schämen. Nein, Herr Lehrer, Euer Wort auf ein seiden Kissen gelegt, aber das ist nichts.«

»Saget doch nicht immer Herr Lehrer, saget auch meinen Namen.«

»Das kann wieder nicht sein, das geht nicht.«

»Ja warum denn?«

»Es geht halt nicht.«

»Es muß doch einen Grund haben, warum?«

»Ei, ich weiß ja Euern Namen nicht.«

»So? Ich heiße Adolf Lederer.«

»Also, Herr Lederer, das ist fast gleich, Herr Lederer oder Herr Lehrer.«

»Nein, heißet mich Adolf.«

»Ach, machet jetzt keine so Sachen; was thäten denn die Leut' sagen?«

»Daß wir uns gern haben,« sagte der Lehrer, die Hand des Mädchens an sein Herz drückend, »habt Ihr mich denn nicht auch lieb?«

Hedwig bückte sich und brach eine Nelke. Da öffnete sich die Gartenthüre.

»Gott sei's getrommelt und gepfiffen, daß ich erlöst bin,« rief des Buchmaiers Agnes. »Guten Tag, Herr Lehrer! Hedwig sei froh, daß du nimmer in die Christenlehr' brauchst. Herr Lehrer, das solltet Ihr machen, daß so große Mädle nimmer drein müssen; freilich mich nutzt's wenig mehr, ich komm' schon nächsten Herbst draus.«

»Schenkt mir doch die Nelke,« sagte der Lehrer mit zart bittendem Tone zu Hedwig; sie gab ihm mit errötendem Antlitze die Blume, und er drückte sie als Zeichen der Erwiderung seiner Liebe inbrünstig an seine Lippen.

»Du würdest schön ankommen,« sagte Agnes, »wenn der alte He he sehen thät, daß du eine Blum' abbrochen hast; 's ist gut; drinnen sitzt er beim Bäck und spielt den neuen Walzer. Den wollen wir aber auch rechtschaffen tanzen an der Kirchweih'. Ihr tanzet doch auch, Herr Lehrer?«

»Ein wenig, aber ich hab' mich schon lange nicht geübt.«

»Probieren geht über Studieren, lalalalala,« trällerte Agnes, im Garten umherhüpfend, »was machst du für ein Gesicht, Hedwig? Komm!« Sie riß Hedwig, die ihrer Gewalt nicht widerstehen konnte, ebenfalls mit sich fort; sie waren aber so ungeschickt, daß sie in ein Beet traten. Agnes lockerte singend den Boden wieder auf und sagte dann:

»Jetzt komm, mach fort, wir wollen aus dem Garten 'naus, wo man sich nicht regen kann; die andern Mädle sind alle schon draußen im Kirschenbusch, und er wartet gewiß schon lang auf uns.«

»Wer?« fragte der Lehrer.

»Ei, er,« erwiderte Agnes, »wenn Ihr mit wollet, könnet Ihr ihn umsonst sehen; wir werden Euch doch nicht zu gering sein, daß Ihr mit uns gehet?«

Der Lehrer faßte die Hand der Agnes, und sie festhaltend, gleich als hielte er die der Hedwig, ging er mit den beiden in das Feld.

Draußen, wo der Weg nach dem Daberwasen geht, an der Hanfdarre, saß ein kräftiger, wie eine Tanne grad und schlank gewachsener Mann; der Lehrer erkannte in ihm den Oberknecht des Buchmaiers, der, als er die drei so daher kommen sah, aufsprang und wie festgebannt stehen blieb; Trotz und Wehmut sprach aus seinem ganzen Wesen; sein Antlitz erheiterte, seine Faust entballte sich aber, als Agnes fröhlich auf ihn zuschritt. Der Lehrer grüßte den Thaddä; so hieß der Oberknecht, mit besonderer Freundlichkeit. So schritten nun die beiden Paare vergnügt nebeneinander.

Um dem Thaddä seine Vertraulichkeit zu bezeigen, sprach der Lehrer viel von dem Fuchsen und wie er sich in den Zug eingewöhne.

So war nun gekommen, was der Lehrer nie vermuten mochte: er hatte ein Bauernmädchen zur Geliebten und einen Bauernknecht zum Kameraden.

Bald ging Thaddä mit Agnes voraus und der Lehrer mit Hedwig Hand in Hand hinterdrein.

Unter traulichen Gesprächen schritt man des Weges dahin. Tief erfuhr es nun der Lehrer, daß man wohl viel miteinander sprechen kann, ohne gerade Bücher gelesen zu haben.

Nicht weit von dem Katzenbrunnen, aus dem der Sage nach die Hebammen die Kinder holen, setzte man sich an einen Rain, und nun wurde gesungen. Der Lehrer erfreute sich inniglich an der schönen Altstimme Hedwigs, Thaddä begleitete den Gesang trefflich, und der Lehrer empfand es zu seiner großen Betrübnis, daß er so wenig von den Volksliedern kannte; bei seiner musikalischen Bildung faßte er indes die einfachen Weisen schnell und begleitete sie in tiefem Baß. Mit strahlendem Antlitze nickte ihm Hedwig Beifall zu. Oft aber mußte er auch bei einer unerwarteten Wendung der Melodie, die dazu diente, den schroffen Gedankensprung oder die Ungleichheit des Silbenmaßes auszugleichen, innehalten; dann ermunterte ihn Hedwig mit ihren Blicken, die so viel sagten als: sing nur mit, wenn's auch nicht ganz gut geht. So vereinte der Lehrer seine Stimme mit denen der dörflichen Sänger.

Jetzt war es so weit gekommen, daß er nur den Ton und die Bauern das Wort und den Gedanken hatten.

Man sang:

Bald gras' ich am Neckar,
Bald gras' ich am Rhein,
Bald hab' ich ein Schätzle,
Bald bin ich allein.

Was hilft mich das Grasen,
Wenn d' Sichel nicht schneid'?
Was hilft mich ein Schätzle,
Wenn's nicht bei mir bleibt?

Und soll ich denn grasen
Am Neckar, am Rhein,
So werf' ich mein schönes
Goldringlein hinein.

Es fließet im Neckar
Und fließet im Rhein,
Soll schwimmen hinunter
Ins tiefe Meer 'nein.

Und schwimmt das Goldringlein,
So frißt es ein Fisch,
Das Fischlein soll kommen
Auf Königs sein Tisch.

Der König thut fragen.
Wem's Ringlein soll sein:
Da thut mein Schatz sagen:
Das Ringlein g'hört mein.

Mein Schätzlein thut springen
Bergauf und bergein,
Thut wieder mir bringen
Mein Goldringelein.

Kannst grasen am Neckar,
Kannst grasen am Rhein,
Wirf du mir nur nimmer
Das Ringlein hinein.

Nach einer Weile drückte Thaddä Agnes näher an sich, und sie sangen:

Mädle, ruck, ruck, ruck
An meine rechte Seite,
I hab' dich gar zu gern,
I kann di leide.
Wann die Leut' et wär'n,
No müschtst mein Schätzle wär'n,
Wär'n die Leut' et g'west,
So wärst mein Weible jetzt.
Mädle, ruck u. s. w.

Mädle, guck, guck, guck
In meine schwarze Auge,
Du kannst dein lieble
Bildle drin erschaue;
Ja, guck du nur 'nein,
Du muscht drinne sein,
Du muscht bei mir bleibe,
Muscht mir d' Zeit vertreibe.
Mädle, guck u. s. w.

Mädle, du, du, du
Muscht mir den Trauring gebe,
Sust liegt mir wahrlich
Nix mehr an mei'm Lebe.
Wann i di net krieg,
No zieh' ni fort in Krieg;
Wann i di net hab',
No wurd' mir d' Welt zum Grab.
Mädle, du u. s. w.

Noch gar viele andre, meist traurige Lieder wurden gesungen, obgleich die Sänger heiter und frohen Mutes waren. Wie der Brunnen zu ihren Füßen fortquoll und leise durch die Felder dahinrieselte, so schien auch der Liederquell unerschöpflich.

Der Lehrer war wie in eine neue Welt versetzt. Wohl hatte er schon früher die kindlich zarte Empfindungs- und Denkweise des Volksliedes kennen gelernt, aber er hatte sie nur gekostet, wie man an reich besetzten Tafeln die Walderdbeeren ihres eigentümlichen Duftes wegen den künstlich gehegten und gepfropften vorzieht, sie aber doch mit Zucker und Wein verzehrt; hier aber war er selbst in den Erdbeerenschlag gekommen, und nicht in Haufen genossen, sondern einzeln frisch vom Strauche gepflückt, schmeckte die Frucht noch ganz anders.

Die tiefe Urkraft des Volksliedes erschloß sich unserm Freunde in ihrer ganzen Herrlichkeit, er sah sich liebend umfangen von der edeln, majestätischen Herrlichkeit des deutschen Volksgemüts, und die liebliche Vertreterin desselben saß in trauter Zuneigung an seiner Seite. Er gelobte sich, ein Priester dieses heiligen Volksgeistes zu werden.

Als er abends mit Hedwig heimkehrte und sie vor der Großmutter standen, faßte er ihre Hand, drückte sie an sein Herz und sagte:

»Nicht zu mühseliger Arbeit sollt Ihr für mich Eure Hände erheben, sondern für das, was ihnen gebührt, zum Segnen.«

Mehr konnte er nicht sprechen, und er ging rasch von dannen.

Im ganzen Dorfe sprach man am Abend von nichts als davon, daß der Lehrer mit des Johannesles Hedwig Bekanntschaft habe.

Unser Freund, der früher immer so gern und fast ausschließlich allein gewesen war, konnte jetzt, wenn er seine Schulstunden beendet hatte, fast keine Viertelstunde mehr allein ausdauern, in seinem Hause oder außer demselben. Von all den Büchern, die er bei sich hatte, paßte ihm keines zu seiner Stimmung, und wollte er etwas in sein Taschenbuch schreiben, erschien es ihm so nackt und nichtig, daß er es alsbald wieder durchstrich.

Im Felde konnte er es zu keinem Gedanken und zu keiner Zeichnung mehr bringen, er sprach mit jedem, der ihm begegnete oder am Wege arbeitete; die Leute waren freundlich gegen ihn, denn seine offene Seele war auf sein Antlitz herausgetreten. Oft aber stand er auch bei den Leuten und sah träumerisch lächelnd vor sich hin, ohne ein Wort weiter zu sprechen; es war, als könne er nicht weggehen, als fürchte er sich, wieder in seine trübe Verlassenheit und Vereinsamung hinausgestoßen zu werden, als müsse er sich an jeden, wer er auch sei, fest anklammern.

Einst sah er Hedwig auf dem Felde schneiden, er eilte zu ihr, machte sich aber alsbald wieder fort; es war ihm eine unüberwindlich mißliche Empfindung, so allein arbeitslos unter den Emsigen dazustehen, und doch verstand er nichts von der Feldarbeit und wußte, wie ungeschickt er sich dabei anstellen würde. Die Hoheit Hedwigs erschien ihm nicht erniedrigt, vielmehr erhöhter durch ihre Arbeit. Im Weggehen sagte er vor sich hin: »Nur Hostien, nur Himmelsbrot sollte man aus der Frucht bereiten, deren Halme sie geschnitten.«

Bei der Großmutter saß er oft in Zerstreuung, und nur wenn sie von ihren Eltern und Großeltern erzählte, gewann sie seine volle Aufmerksamkeit; es that ihm so wohl, an diesem Familienbaume hinaufzuklettern in die Geschichte der Vorzeit. Der Großvater der Alten hatte den Türkenkrieg unter Prinz Eugen mitgefochten, und sie wußte noch gar viel von ihm zu erzählen. Manchmal sagte die Alte, jedoch ohne Klage, sie spüre es wohl, sie würde diesen Winter alle ihre Vorfahren wiedersehen. Er suchte ihr solche Gedanken auszureden, was ihm nicht schwer fiel; er suchte sie dahin zu bringen, daß sie von der Kindheit Hedwigs erzählte: wie sie in einem Glückshäubchen geboren ward, ihre Mutter aber bald darauf starb, wie Hedwig sich schon als kleines Kind grämte, daß ihre Puppe mit offenen Augen schlafen mußte, und sie daher nachts ihr mit Papierchen die Augen zuklebte. Wenn sie so sprach, da leuchtete das Auge des jungen Mannes und das der Alten von derselben Glorie, wie zwei nachbarliche Wellen, von demselben Mondstrahle durchglitzert.

Ueber Hedwig finden wir nichts im Taschenbuche, aber durch die Erinnerungen der Alten und andre Erfahrungen angeregt sind wohl folgende Worte:

»Man denkt sich wohl gern, man könnte mit einem Katechismus der gesunden Vernunft hinaustreten unter das Volk und es alsbald bekehren; hier aber ist überall heiliger Boden der Geschichte, wir müssen die Fußstapfen der Vergangenheit aufsuchen. Traurig, daß unsre Geschichte zerrissen und zerstückt ist . . . wo anknüpfen? . . .«

Bei dem Buchmaier war der Lehrer von nun an auch oft, er studierte eifrig die Landwirtschaft und erfreute sich an den kernigen Gedanken des Buchmaiers, trotz ihrer Derbheit; je heimischer er aber im Hause des Buchmaiers wurde, um so fremder schien er in dem Hause Johannesles zu werden, er selber war noch wie zuvor, aber Hedwig wich ihm sichtbar aus und grüßte ihn im Vorbeigehen immer scheu und zaghaft.

Eines Abends kam Hedwig weinend zu Agnes und sagte:

»Denk nur, mein Wilder will's nicht leiden.«

»Was denn?«

»Nun, daß der Lehrer zu mir geht. Mein Konstantin hat gesagt, wenn ich mich noch einmal mit dem Lauterbacher sehen ließ, nachher schlag' er mich und ihn krumm und lahm; du weißt ja, er bosget, weil er mit deinem Vater so gut ist.«

»Das ist ein Kreuz. Was ist denn jetzt da zu machen?«

»Sag dem Lehrer, wenn er kommt, er soll nicht bös sein und soll doch weniger in unser Haus kommen, ich könnt' nicht anders, ich darf nicht mit ihm reden. Ich thät mir nicht viel daraus machen, wenn mein Bruder auch grob wär', aber wenn er ihn beleidigen thät, und er ist's wohl imstande, daß er ihm vor allen Leuten einen Disrespekt anthut, ich thät mich in den Tod 'nein grämen.«

»Laß jetzt das Trauern,« erwiderte Agnes, »ich sag' ihm doch von all dem kein Wörtle.«

»Warum?«

»Darum, o, du verliebte Dock! Meinst, ich bericht' ihm das, daß er nachher meint, man dürf' den Nordstetter Mädle nur so pfeifen, nachher kommen sie einem nur so nachgesprungen?«

»Das glaubt er gewiß nicht.«

»Ich laß es aber nicht darauf ankommen, jetzt, ich bleib' dabei, ich sag' ihm gar nichts von dir; er muß mit mir davon anfangen. Laß mich nur machen, ich krieg' ihn schon dran. Huididä juh! Und wenn's dann so recht bei ihm pfupfert, will ich sagen: es kann sein, es läßt sich vielleicht möglich machen, ich will die Hedwig dazu überreden, daß ihr vielleicht am Sonntag bei mir zusammenkommet, ich will dann schon sehen, oh man die Biren schütteln kann und wie man mit ihm dran ist.«

»Ja, du kannst's machen, wie du willst, ich kann dich nicht zwingen, aber da . . . bitt' ich mir aus, plagen darfst ihn nicht; Narr, er ist einer von denen Menschen, die sich über alles so viel Gedanken machen, ich hab' das schon gemerkt, und da könnt' er betrübt sein und könnt' nicht schlafen.«

»Das weißt du schon alles? Woher denn?«

»Woher?« sagte Hedwig, »ich denk' halt so, er macht sich so allerlei Gedanken, es geht mir auch oft so.«

»O, du guter Himmel. Sei nur ruhig, ich thu' ihm nichts an Leib und Leben; so ein Lehrer hält so viel Prüfungen sein ganz Leben, jetzt will ich auch einmal eine mit ihm halten, ich will sehen, ob er gescheit ist.«

»Das ist er.«

»Wenn er gut besteht, darf ich ihm einen Kuß geben?«

»Meinetwegen.«

»Mach jetzt kein' so Gesicht, ein' fröhliche Lieb' muß man haben und keine mauderige. Denk nur, am Sonntag hat der Pfarrer gefragt: Wie muß man Gott lieben? und da hab' ich frischweg gesagt: Lustig, und da hat er geschmunzelt und hat eine Pris' genommen und hat gesagt: Das ist recht – du weißt ja, wie er's macht, er sagt zu allem, wenn's nicht ganz blitzdumm ist: das ist recht, aber nachher erklärt er's einem, und da kommt was ganz anders 'raus – da hat er eben gesagt: man muß Gott wie seinen Vater lieben, mit Ehrfurcht, und da hab' ich gesagt: Man kann seinen Vater ja auch lustig lieben, da hat er wetterlich gelacht und hat sein' Dos' verkehrt aufgemacht, daß aller Tabak auf den Boden gefallen ist, und da haben wir alle zusammengelacht;

Alleweil e bisle lustig
Und alleweil e bisle froh,«

so schloß Agnes singend und zog Hedwig hinaus in den Garten, wo sie die ausgebreiteten Linnen in große Falten zusammenzog, um sie ins Haus zu tragen, indem sie dabei erklärte, daß das zu ihrer Aussteuer sei.

Am andern Abend, um die Zeit, da der Lehrer gewöhnlich kam, harrte Agnes vor dem Hause; aber alle ihre Pläne von lustigen Neckereien verflogen, als sie bei der Erwähnung Hedwigs das schmerzliche Zucken in dem Antlitze des Lehrers sah und er ihr seinen Kummer dann treuherzig erzählte. Sie erklärte ihm nun die Parteiungen in der Gemeinde: der Studentle, als Schwiegersohn des ehemaligen unteroffizierlichen Schultheißen, gehörte natürlich zu dessen Partei, die jeden mit dem Buchmaier Vertrauten als offenen Feind ansah; dazu kam, daß der Studentle voll Gift und Galle war, weil auf Betreiben des Buchmaiers der Matthes statt seiner in den Bürgerausschuß gekommen war.

»Es ist ein Kreuz,« schloß Agnes die Auseinandersetzung der Dorfpolitik, »ich hab' mir's so schön ausdenkt, daß wir bei der Kirchweih miteinander auf den Tanz gehen. Wartet aber nur, der Studentle ist mir nicht studiert genug, und der Thaddä muß auch mithelfen und raten.«

Der Lehrer verbat sich dies, Agnes sah ihn groß an, versprach ihm aber doch, er solle Sonntags Hedwig bei ihr sehen; sie wolle sich krank stellen und ihnen zu Gefallen beim schönsten Wetter nicht ausgehen.

In sein Taschenbuch schrieb der Lehrer noch spät am Abend: »Wie leicht ist es, sich rein im Gebiete des Geistes zu halten, sich da eine Welt und einen Himmel aufzubauen; kaum aber nähert man sich dem wirklichen Leben, wird man hineingerissen in den Strudel der Tageszwiste, der grollenden, widerstrebenden Strömungen. Ich wollte mich hineinbegeben in das einige Leben dieses Dorfes, nun stehe ich mitten in der Parteiung, meine tiefsten Herzensneigungen werden mit hinein verschlungen.«

Agnes hielt Wort. Die geheime Zusammenkunft der beiden Liebenden erschloß ihre Herzen um so schneller und rückhaltsloser. Da war an kein Widerstreben mehr zu denken, man hatte sich ja verborgen gesucht und gefunden.

Nach dem ersten Austausch der beiderseitigen Betrübnis erwachte in Hedwig der frische Lebensmut wieder schneller als in dem Lehrer.

»Ist es denn wahr,« fragte sie, »daß Ihr von Lauterbach seid?«

»Allerdings.«

»Ja, warum habt Ihr's denn verleugnen wollen? Das ist ja kein' Schand'!«

»Ich hab' es nie verleugnet.«

»Es ist doch grausam, wie die Leut' lügen können. Da haben sie hier ausgesprengt, Ihr wäret deswegen so allein wie ein verscheucht' Hühnle 'rumgelaufen, weil Ihr gemeint hättet, man foppt Euch, weil Ihr von Lauterbach seid. Und wenn Ihr von Tripstrill wäret, Ihr wäret doch –«

»Nun, was wäre ich?«

»Ein lieber Mensch,« sagte Hedwig, ihm die Augen zuhaltend; er aber umfaßte, küßte und herzte sie und sagte dann endlich:

»Sei nur ruhig, du Liebe, Gute, es wird schon alles noch gut gehen.«

Ohne sich aus seinen Armen zu erheben, sagte Hedwig doch:

»Ihr müsset nicht so sein.«

Der Lehrer aber küßte und herzte sie von neuem, und sie sagte wieder:

»Nun, jetzt schwätzet auch, erzählet mir was; wie ist's Euch denn gangen? Ihr schwätzet ja gar nichts.«

Der Lehrer nahm ihre Hand und drückte sie an seinen Mund; gleich als wollte er jedes Wort darin versiegeln, Hedwig deutete es wenigstens so, denn sie begann abermals:

»Nein, Ihr müsset schwätzen, ich hör' Euch so gern zu, und mein' Ahne sagt's auch als, er hat so herzige Worte; mein' Ahne hat Euch rechtschaffen gern.«

»Sag doch du!« das waren die einzigen Worte, die der Lehrer hervorstammeln konnte.

»Du, du, du, du, du,« sagte Hedwig sich niederbeugend und den Kopf schüttelnd, als ob sie mit einem Kinde spielte; der Lehrer blickte sie mit Freudenthränen an, und als sie das bemerkte, sagte sie:

»Warum greinen? Es ist noch nichts verloren, und mein Konstantin soll nur aufpassen, ja, was meint der? Ich will schon sehen, wer Meister wird, ich bin kein Kind mehr.«

Ungeachtet sie so sehr gegen das Weinen gesprochen hatte, flossen doch auch ihr die Thränen aus den Augen, sie trocknete sie aber schnell und fuhr fort:

»Komm, jetzt wollen wir alles vergessen, und was ist denn auch? Wenn's Gott's Willen ist, kriegen wir einander doch. Es ist mir immer, wie wenn alles zu schön g'wesen wär', wenn alles so den geraden Lauf gehabt hätt'. Ich weiß nicht, wie's kommen ist, aber wie ich selben Sonntag, wo man bei meiner Ahne gesessen ist, ums Hauseck 'rumkommen bin, da ist mir's grad' g'wesen, wie wenn mir einer mit einer feurigen Hand ins Gesicht langen thät; nein, noch ganz anders, ich kann's gar nicht sagen wie.«

»Ja, von jenem Augenblicke an liebte ich dich.«

»Nichts davon schwätzen,« sagte Hedwig, mit strahlendem Auge ins Antlitz ihres Geliebten schauend, es war, als scheute sie jedes Wort, da sie nach Art der Bauernmädchen um so weniger das Wort Liebe aussprach, je mehr sie liebte; »von was anderm,« ergänzte sie; sie war es aber auch zufrieden, als sie so schweigend nebeneinander saßen und kein Laut in der Stube vernommen wurde als das Girren der Turteltauben im Käfig und der eintönige Pendelschlag der Schwarzwälder Uhr.

Endlich trat Agnes, die wohlweislich weggegangen war, wieder ein. Hedwig sagte anflehend:

»Mach du, daß er red't, da sitzt er und guckt mich nur an.«

Als im Vorbeigehen ihr Blick in den Spiegel streifte, wendete sie sich schnell ab, sie kam sich ganz wie eine andre Person vor, so fremd war ihr Aussehen.

Der Lehrer saß unbewegt da, wie wenn er mit offenen Augen träumte.

Agnes sang, in der Stube umherhüpfend und mit den Fingern schnalzend:

Und i woaß et, wie's kommen thut,
Wann's Schätzle i seh,
Und da möcht' i gern schwätze,
Und 's will halt et gehn.
Noan, noan und – jo, jo –
Und – i moan, und – i muaß
Ist oft unser ganzer verliebter Diskurs.

Auf den Lehrer zutretend und ihn am Arme schüttelnd, sagte sie:

»Wie? Was? Holz her! aufg'richt't. Z' Lauterbach hab' ich mein'n Strumpf verlor'n.« Tanzend zog sie ihn nun in der Stube umher.

Nun war wieder alles Leben und Freude, Thaddä kam dazu. Im großen Rate wurde der staatskluge Beschluß gefaßt, daß, wenn bis zur Kirchweihe die Konstantinischen Wirren noch nicht ausgeglichen wären, Thaddä mit Hedwig und der Lehrer mit Agnes zum Tanze gehen sollten.

Noch lange saß man traulich beisammen, die Vorfreuden der Zukunft kostend. Endlich forderte Agnes den Lehrer auf, ihr zum Lohne eine Geschichte zu erzählen; die Bitten aller vereinigten sich mit der ihrigen. Dem Lehrer aber stand der Kopf nicht dazu, er wollte nach Hause gehen und ein Buch holen; das wurde aber nicht geduldet, er sollte nur von selber frischweg erzählen.

Gewaltsam seine Gedanken sammelnd, begann er endlich die Geschichte der schönen Magelone. Anfangs sprach er die Worte tonlos, fast ohne zu wissen, daß er sie sprach; er hielt die Hand Hedwigs in der seinen. Nach und nach schloß er die Augen wieder und redete sich ganz in das Zauberland hinein, die Zuhörer hingen mit strahlendem Blicke an seinem Munde, und Hedwig jauchzte innerlich.

Als der Lehrer geendet, faßte ihn Agnes mit beiden Händen am Kopfe, schüttelte ihn und sagte:

»Es ist doch ein ganzer Bursch!« Sich umwendend, fragte sie dann: »darf ich ihm jetzt den Kuß geben, Hedwig?«

»Rechtschaffen.«

Agnes machte schnell Gebrauch von der Erlaubnis, und der Lehrer sagte dann:

»Wir wollen Freunde sein,« und reichte dem Thaddä die Hand.

Als er fortging, begleitete ihn Thaddä und sagte auf der Treppe:

»Herr Lehrer, ich hab' ein' Bitt', ich will Euch auch einen Gefallen thun; ich kann gut lesen, wolltet Ihr mir nicht auch so ein Geschichtenbuch leihen?«

»Recht gern,« sagte der Lehrer, die Hand seines Freundes zum Abschiede drückend. –

Nächst der Umwandlung seines Herzens, oder vielmehr der glücklichen Entfaltung desselben, hatte die Liebe Hedwigs noch einen besonderen Einfluß auf den Lehrerberuf unseres Freundes; denn alles in ihm rang stets nach Einheit.

Er hatte die süßen Worte Hedwigs so freudig aufgenommen, daß er sogar die Form derselben liebgewann. Er gedachte nun den Dialekt zu studieren und ihn beim Unterrichte als Grundlage der Denk- und Sprechweise zu benützen. Er wendete sich deshalb an den alten Lehrer um Schriften im oberschwäbischen Dialekte; dieser holte ihm sein Lieblingsbuch, ja fast sein einziges, und band es ihm auf die Seele; es waren die Dichtungen Sebastian Sailers.

Jetzt erst lernte der Lehrer manche Besonderheit des hieländischen Bauernlebens recht verstehen, er erkannte die Derbheit und die Begierde, sich sogar mit dem Heiligsten und Unnahbaren lustig zu machen.

Die Rolle eines vierschrötigen Dorfschultheißen, die hier ein geistlicher Dichter Gott Vater spielen ließ, befremdete ihn sehr; der alte Lehrer aber erklärte ihm, daß das der Heiligkeit der Religion nichts geschadet habe. »Früher,« sagte er, »wo man noch fromm gewesen ist und nicht bloß maulfromm, da hat man sich schon eher einen Spaß mit Gott erlauben dürfen; jetzt aber verträgt's kein Schnauferle mehr, sonst geht ihnen gleich das Licht aus, drum müssen sie jetzt so heilig thun. Ich hab' als in der Kirch' die lustigste Musik gemacht, wie mir's nur eingefallen ist.«

Unser Freund war indes doch der Ansicht, daß sich auch Religionsspötterei aus dem vorigen Jahrhundert in diese Dichtungen gemischt habe, er behielt das aber für sich und ließ sich von dem Alten erklären, wie diese Stücke früher zur Fastnacht aufgeführt wurden. Besonders ausführlich mußte er sich von dem Alten den Anzug beschreiben lassen, den er einst als Lucifer getragen hatte.

»Die neue Bildung hat dem Volke viel, unendlich viel genommen; was hat sie ihm von wirklichen Freuden dafür gegeben? – – Kann ihm ein Ersatz werden? und wie? . . . .«

Diese Worte finden sich aus der eben genannten Zeit in dem Taschenbuche unseres Freundes. Eine mächtige Bewegung hatte sein ganzes Wesen ergriffen.

Eines Tages kam der Buchmaier zu ihm und forderte ihn auf, bald Ortsbürger zu werden, indem ihm dann die Stelle des verstorbenen Gemeindeschreibers sicher sei. Der Lehrer faßte freudig die breite Hand des Buchmaiers:

»Jetzt,« sagte er, »jetzt könnet Ihr im ganzen Dorf Frieden stiften, ihr müsset meinem Schwa– ich will sagen dem Studentle, zu dieser Stelle verhelfen, er kann sie vollkommen versehen.«

Der Buchmaier lächelte, wollte aber doch nicht darauf eingehen; auf die eindringlichen Reden des Lehrers versprach er endlich, sich aller Einwirkung bei der Wahl zu enthalten.

Der Lehrer eilte, den Stand der Dinge dem Studentle bekannt zu machen; dieser aber that stolz und sagte: er wisse noch nicht, ob er eine solche Stelle annehme; indes dankte er dem Lehrer für seine Freundlichkeit, und so waren gewissermaßen die Vorbedingungen eines Friedens zwischen den beiden Parteien festgestellt.

Die Kirchweihe war gekommen, die beiden Liebespaare gingen verabredetermaßen zum Tanze.

Jetzt stand der Lehrer nicht mehr draußen im Felde, während drinnen im Dorfe alles jubelte und tanzte, er selber war mitten unter dem tollen Lärm; noch aber war er nicht ganz dabei.

Die beiden Tage der Kirchweihe war er fast immer auf dem »Tanzboden«, nur manchmal ging er mit Hedwig und Agnes hinaus ins Feld, um dann neugestärkt wieder zurückzukehren. Oft durchzuckte ihn auch ein tiefer Schmerz, wenn er eines der unreinen Lieder vernehmen mußte; er hätte dann gerne sich und Hedwig die Ohren verstopft. Der Gedanke befestigte sich in ihm, auf die Lieder vor allem seine Wirksamkeit und seinen Einfluß zu üben; er hatte sich die Gunst der jungen Bursche durch die Teilnahme an ihrer Lustbarkeit gewonnen, hieran wollte er nun anknüpfen.

Bis zum Kehraus hatte er zwei Nächte lang ausgehalten, am dritten Tage aber, als die Kirchweih feierlich begraben wurde, konnte er sich nicht dazu bringen, auch dies mitzumachen; er stand vor seinem Hause und sah, wie die Burschen dahinzogen, die Musik mit einem Trauermarsche voraus; dazwischen sang man halb weinerlich:

O Kirwe, bleib au no mai do,
O Kirwe, laß nimmermai no,
Drunten im Flecke
Will d' Kirwe verrecke:
O Kirwe, bleib au no mai do,
O Kirwe, laß nimmermai no.

Ein Schragen, auf dem zerbrochene Flaschen, Gläser, Stuhlbeine lagen, wurde feierlich geleitet, und draußen auf der Hochbux wurden diese Zeichen der Vergnüglichkeit in ein Grab gescharrt, Wein in dasselbe geschüttet und Trauerreden dabei gehalten. –

Trauer und Freude wechselten bald nach der Kirchweihe im Hause Johannesles. Konstantin war zum Gemeindeschreiber erwählt worden, der Lehrer hatte offen um Stimmen für ihn geworben. Nun war der Friede zwischen den Parteien hergestellt, und der Studentle näherte sich dem Lehrer mit Freundschaft; dieser ging in seiner Herzensfreude so weit, daß er dem Studentle das »Du« anbot. Der neu ernannte Gemeindeschreiber ließ nicht nach, man mußte sogleich ins Wirtshaus und nach echter Studentenweise, das Glas in der Hand und die Arme verschlungen, »Smollis« trinken.

Der Studentle war es aber dann auch, der im Familienrate das Wort für den Lehrer nahm und seine Bewerbung um Hedwig nachträglich unterstützte.

Der »Verspruch« der beiden Liebenden wurde nun gefeiert: vor den Augen des Vaters und des Bruders, des alten Schultheißen und des Buchmaiers, den der Lehrer von seiner Seite geladen, reichten sie sich die Hand.

Hedwig ging bald mit ihrem Bräutigam aus der Stube, auf der Hausflur umarmte sie ihn, und nun zum erstenmal sagte sie:

»Ich hab' dich rechtschaffen lieb.«

Dann gingen sie hinab zur Großmutter, die krank im Bette lag; sie knieten an ihrem Bette nieder.

»Er ist jetzt auf ewig mein,« sagte Hedwig, mehr konnte sie nicht vorbringen. Die Großmutter breitete ihre Hände über die beiden Liebenden aus und murmelte leise ein Gebet, dann sagte sie:

»Stehet auf, das ist nichts, so knien; man darf vor niemand knien, als vor Gott. Ich sag's ja, ich bin der Bot', der im Himmel anzeigen muß, daß ihr euch habt. Lehrer, wie heißt denn dein' Mutter? Ich will gleich zu ihr, wenn ich 'naufkomm', und auch zu deinem Vater, und da nehm' ich meinen Hansadam, meine Geschwister und meine Eltern mit und auch meine drei Enkele, wo gestorben sind, und da setzen wir uns zusammen hin und schwätzen von euch und beten für euch, und da muß es euch gut gehen. Hedwig, ich vermach' dir meinen Anhenker, drinnen im Schränkle wirst ihn finden, und da ist auch noch mein Kränzle von meiner Hochzeit dabei; heb's auf, es wird dir Segen bringen, und laß deine Kinder nach der Tauf' dran riechen. Und wenn ihr auch bald nach meinem Tod Hochzeit machet, da müsset ihr doch Musik haben. Höret ihr's? Ihr sollet nicht so lang um mich trauern, und den Siebensprung, den tanzet ihr für mich; ich will auf euch 'runtergucken mit Freuden, und droben feiert die ganz' Familie auch die Hochzeit.«

Die Brautleute suchten ihr die Todesnähe auszureden, sie aber erwiderte:

»Es ist mir allfort, wie wenn mich ebber am Arm zupfen und sagen thät: Jetzt komm, es ist Zeit; es ist aber noch nicht stark genug, es muß noch stärker kommen. Müsset nicht greinen, das ist nichts; warum denn? ich bin gut aufgehoben. Ich dank' unserm Heiland, daß er mich's hat erleben lassen, daß mein' Hedwig einen braven Mann kriegt. Haltet euch nur in Ehren. Hedwig, er ist ein G'studierter, die haben oft Mucken im Kopf, ich weiß das von meiner Schwester her; du mußt Geduld mit ihm haben; denen G'studierten gehen oft ganz andre Sachen im Kopf 'rum, und da lassen sie's am Unrechten 'naus. Lehrer, und du mußt mein' Hedwig, mein' lieb' Hedwig –« Sie konnte nicht weiter reden, das Mädchen lag weinend an ihrem Halse.

Die Großmutter hatte ganz geläufig gesprochen, ihr Husten war vollkommen verschwunden, jetzt aber sank sie ermattet in die Kissen zurück; die Brautleute standen traurigen Antlitzes vor ihr. Endlich erhob sie sich wieder und sagte:

»Hedwig, hol mir des Valentins Christine, sie soll bei mir bleiben; ich sterb' heut noch nicht. Du darfst heut den ganzen Tag nicht mehr zu mir kommen; gehet miteinander und seid recht lustig, versprechet mir's, daß ihr recht lustig sein wollet.«

Der Lehrer ließ Hedwig zurück und holte die uns wohlbekannte Christine. Nun mußten sich die beiden entfernen; aber ihr Herz erzitterte noch immer in Wehmut, bis sie bei des Buchmaiers Agnes gewesen waren, die durch allerlei Munterkeiten ihre Seele erheiterte.

Dann gingen sie hinaus in das Feld; das weiße Huhn folgte ihren Fußstapfen, es war jetzt Herbst, man brauchte es nicht mehr einzusperren. Vom frischen, belebenden Hauche der Natur angeweht, erwachte in den beiden eine hohe, himmlische Freude; um sie her pflückte der Herbst die gelben Blätter, in ihnen aber lebte ein neuer, nie geschauter Frühling.

Andern Tages verlangte die Großmutter nach der letzten Oelung. Der Lehrer nahm dem Meßner den Dienst ab und ging mit der Laterne in der Hand dem Pfarrer voraus; ein großer Teil der Gemeinde blieb an der Thüre stehen und betete, während drinnen Maurita »versehen« wurde. Der einzige Gedanke, der den Lehrer bei dieser Handlung beherrschte, war: Möchten doch die Freidenkenden ebenso zuversichtlich hinübergehen in den Tod. – Mit offenen, glänzenden Augen empfing Maurita das Abendmahl, dann kehrte sie sich nach der Wand zu, sie sprach nicht mehr; und als man nach einer Weile nach ihr umschaute, war sie tot.

Mit stiller, andächtiger Wehmut, ohne lautes Weinen und Wehklagen wurde Maurita begraben. Alles im Dorfe trauerte. Selbst der alte Schmiedjörgli sagte mit ungewohntem Ernste: »Es thut mir von Herzen weh, daß sie tot ist; nun, jetzt kommt's an mich.«

Als der Lehrer von dem Begräbnisse nach Hause, d. h. zu Hedwig kam, umfaßte ihn diese weinend und sagte: »Jetzt bist du mir doppelt nötig, ich hab' kein' Ahne nicht mehr.«

Dem Lehrer ward das Dorf von nun an noch einmal so wert und eigen, er hatte ein neues Leben darin gefunden und einen lieben Toten darin begraben.

So hätten wir denn die gute Maurita bis zum andern Leben und den Lehrer bis zu einem neuen Leben begleitet. Wir können der guten Großmutter nicht in den Himmel nachfolgen und wollen noch eine Weile zusehen, welch ein Leben der Lehrer auf Erden führt.

Im ganzen Dorfe hatte seine Verlobung Jubel und Freude erregt; selbst unter den Kindern, die auf dem Brandplatze spielten, gab es lebhafte Verhandlung, da das eine und das andere seine Verwandtschaft mit Hedwig und hierdurch mit dem Lehrer darthun wollte. Der Johannesle hatte sonst wenig Freunde im Dorfe, aber über das neue Ereignis freute sich alles. Jeder kam dem Lehrer entgegen, gab ihm die Hand und sagte: Ich wünsch' Glück und Segen; jeder wußte etwas Liebes und Gutes von Hedwig zu erzählen. Männer und Frauen, die sonst vielleicht im Leben nicht dazu gekommen wären, so zutraulich mit dem Lehrer zu sprechen, standen jetzt bei ihm wie alte Bekannte. Der Matthes kam zu ihm ins Haus, schüttelte ihm wacker die Hand und sagte:

»Ich war halt doch der, wo's prophezeit hat, daß es so gehen wird; wisset Ihr noch? Ihr hättet mir weiß nicht was schenken mögen, Ihr hättet mir kein' größere Freud' machen können. Wenn der alt' Lehrer stirbt, krieget Ihr auch die zwei Aecker, die er in Nutznießung hat; es sind gute Aecker, und Ihr dürfet mir's nur sagen, ich schaff' Euch gern ein paar Tag drauf.«

Dem Lehrer that diese Zuthunlichkeit der Leute doppelt wohl, er erkannte ihr gutes Herz daraus und fühlte auch, wie er jetzt weit sicherern Boden gewonnen habe, um in das Leben aller dieser Menschen einzugreifen.

Die Menschen sind es nicht mehr gewohnt, daß man aus allgemeiner Liebe sich ihnen naht, ihnen frei und froh ins Auge schaut, sie zu erquicken, zu erfreuen, zu erheben trachtet. Sie wurden schon oft betrogen und getäuscht und meinen nun immer: man müsse etwas Besonderes dabei haben, dahinter müsse etwas stecken; ja, sie erlauben einem nur, sie ohne Scheu zu lieben, wenn man mit ihnen blutsverwandt oder verschwägert ist.

Der Winter kam mit starken Schritten in das Dorf; die Menschen blieben zu Hause und genossen die Früchte ihres Fleißes, die sie bei sich eingesammelt hatten; Dreschen und bisweilen Dünger hinausführen war noch das einzige Geschäft. Als abgedroschen war, herrschte Stille im ganzen Dorfe. Nur hie und da hörte man einen fremden Hausierer durch die Gassen rufen: »Spindla, Weiber, Spindla!« Der Schnee wirbelte, niemand verließ gern die warme Stube. Da schlich am hellen Tage ein böser Geist auf leisen Sohlen durch das Dorf, es war: die Langeweile. Und wen der Geist ansah, der mußte gähnen oder zanken und Händel suchen. Die Zeit der Ruhe war keine Zeit der Erholung, denn die Leute wußten nicht, wie sie das lästige Ungeheuer, die Zeit, totschlagen sollten. Junge Männer und ledige Bursche saßen oft ganze Tage im Wirtshause und kartelten; man schien aber doch an der überlangen Zeit noch nicht genug zu haben, denn man harrte bis zur letzten Minute der Polizeistunde aus. Andere gingen frühe zu Bette und verschliefen ihr Leben, wieder andre wandelten schlechte Wege.

Man sagt: Müßiggang ist aller Laster Anfang; das erste, was daraus hervorgeht, ist Langeweile; da weiß man nicht, wo man sich hinthun soll. Nur arbeitsame Menschen sind aus sich heraus fröhlich, friedfertig und gut, Müßiggänger aber werden zur Trunk- und Spielsucht verleitet, werden ärgerlich, zänkisch, ränkesüchtig und schlecht. Darum hausen in vielen vornehmen Ständen Laster aller Art.

Während nun der größte Teil der Leute im Dorfe nur ein halbes Leben führte, war dem Lehrer ein doppeltes Dasein aufgegangen.

Man hat schon oft gesehen, daß ein Mensch aus einem heftigen Fieber auch körperlich um einige Zoll größer aufstand; so war in unserm Freunde, während er mit fliegenden Pulsen das Leben Hedwigs in sich aufnahm, auch die Erkenntnis des Volkstums schnell, ja fast wunderbar gereift. Wie er einst den »Geistesduft der Schönheit schlürfte«, der über die äußere Natur ausgeströmt ist, und die rohe Benützung den andern überließ, so erkannte er jetzt in einem jeden ein höheres Dasein, er war ihm ein Vertreter des heiligen und ewigen Volksgeistes. Edler, als er sich selbst erschien, erschaute er nun jeden Einzelnen, denn er suchte, erkannte und liebte die reinere Kraft und Weihe in ihm. Er stellte einen jeden höher, als er sich selbst achtete, denn er achtete das höhere Selbst in ihm.

Er stand da als ein Mann, der das innerste Wesen aller um sich her erkannte. Mit mutigem Entschlusse ging er nun daran, sie die »Freuden des Geistes kosten zu lassen«; er war jetzt gereift genug, durch die äußerliche Schale hindurchzudringen.

So saß er nun oft abends im Wirtshause und las die Zeitung vor; er hatte viel zu berichtigen, denn der Studentle, an den man sich früher gewendet hatte, liebte es, den Leuten die verkehrtesten Dinge aufzubinden.

Ein kleiner Kreis hatte sich um den Lehrer gesammelt, andere saßen an den Tischen und spielten, oft aber horchten sie auch hin nach dem, was der Lehrer vortrug, und mancher Rams ging verloren, mancher legte die Kreide nicht an den bezeichneten Ort und erhielt einen Strich.

Die Männer gewannen nach und nach Zutrauen zu dem Lehrer und sprachen sich unverhohlener aus.

Trotz seiner innigen Liebe ward es unserm Freunde doch schwer, sich ganz in die Weise dieser Menschen zu versetzen.

Es ist leicht gesagt: ich liebe das Volk! Aber jederzeit persönlich bereit sein, auf allerlei Seltsamkeiten einzugehen, ohne sich an oft häßlichen Angewohnheiten und verhärteten Sitten zu stoßen, bald als Freund in beliebige Abschweifungen eingehen, bald als liebende Mutter sich selber keine Ruhe gönnen und mit Wonnelächeln jedem neuen Worte lauschen – dazu gehört eine Selbstentäußerung, ein Hinausgeben der eigenen Persönlichkeit, die nur der echten Liebe möglich ist. Dank der gesunden Erkenntnis, sie war in unserm Freunde.

Eines Abends begann Matthes: »Herr Lehrer, ich muß jetzt dumm fragen, aber warum heißt denn auch die Zeitung: Schwäbischer Merkur und nicht Schwäbischer Merker, so soll's doch heißen, weil er aus alles aufmerkt, oder heißt's auf Hochdeutsch Merkur?«

»Du hast den Alten auf dem Nest gefangen,« sagte der Studentle, »du hast ganz recht, Matthes, die in Stuttgart verstehen nichts. Narr, ich thät an deiner Stelle 'nabgehen und thät's ihnen sagen, du kriegst gewiß das Präme.«

Der Lehrer aber erklärte, daß Merkur der Götterbote und der Gott des Handels im alten Griechenland gewesen sei.

»Ja, wie kommt denn der aber jetzt dazu, schwäbisch zu heißen?« fragte Matthes wieder.

»Das hat man eben so gemacht,« erwiderte der Lehrer; er hatte selber noch nie darüber nachgedacht.

»Ich muß jetzt auch noch was fragen,« begann Hansjörg. »Haben denn die Griechenländer an mehr als an einen Gott geglaubt?«

»Freilich,« erwiderte der Studentle, »der ein' hat gemistet und der ander' gesät, der ein' hat geregnet und der ander' donnert; für ein' jed' Sach' einen besondern Gott oder eine Göttin. Die Griechen haben sogar ihren Göttern erlaubt, daß sie heiraten.«

»Es werden halt Heilige oder Engel gewesen sein,« sagte der Maurer Wendel, »oder so Schutzpatronen; sie müssen doch einen Oberherrn gehabt haben. sonst wär's ja eine Gaukelfuhre, zum Kranklachen so dumm.«

»Du hast den Turm von Babylon auch nicht mitgebaut, Maurer,« bemerkte der Studentle; »freilich haben sie einen Oberherrn gehabt, einen Staatskerl, er hat nur ein eifersüchtig Weib gehabt, die hat ihm viel zu schaffen gemacht. Jetzt sag' du, Lehrer, ob's wahr ist oder nicht, sie glauben mir sonst wieder nichts.«

Der Lehrer sah zu seinem großen Leidwesen, daß er durch das Du seinem Schwager eine Stellung sich gegenüber eingeräumt hatte, die manches Nachteilige brachte; er faßte sich indes schnell wieder und gab den Bauern eine Uebersicht der griechischen Götterlehre. Er erzählte dabei einige Wundergeschichten, die viel Aufmerksamkeit erregten. Es kam ihm selber sonderbar vor, daß er hier in einer von Tabaksrauch erfüllten Schwarzwälder Dorfschenke die griechische Götterschar herbeizog. Alles das hatte der Schwäbische Merkur gethan.

Viele Mühe kostete es, den Bauern auszureden, daß die Griechen doch »blitzdumm« gewesen seien. Er erzählte ihnen von dem frommen und weisen Sokrates und seinem Martertode.

»Dem ist's ja grad gangen wie unserm Heiland,« sagte Kilian von der Froschgasse.

»Allerdings,« erwiderte der Lehrer. »Wer eine neue, heilbringende Wahrheit gradaus an Mann bringen will, der muß dafür ein Kreuz auf sich nehmen.« Der Lehrer seufzte hierbei, er hatte diese Worte nicht ohne Nebenbeziehung gesagt, denn er fühlte wohl, wie schwer ihm die Aufgabe würde, die er sich gestellt.

Als die Männer weggingen, sagte einer zum andern: »Das war doch einmal ein schöner Abend, da lernt man doch was dabei, und die Zeit geht 'rum, man weiß nicht wie.«

Der Lehrer hatte sich vorgenommen, den Bauern etwas aus der griechischen Göttergeschichte vorzulesen; glücklicherweise kam ihm aber am folgenden Abend ein ganz anderes Buch, nämlich eine deutsche Sprichwörtersammlung, in die Hand. Als er nun in die Wirtsstube trat, zog er das Buch aus der Tasche und sagte: »Da will ich euch einmal 'was vorlesen.« Die Leute machten unwillige Gesichter, sie hatten einen tiefen Widerwillen gegen Bücher. Der Matthes gewann am ersten das Wort und sagte:

»Erzählet uns lieber, Herr Lehrer.«

»Ja, ja, erzählen, nicht lesen,« hieß es allgemein.

»Höret nur einmal ein wenig zu,« sagte der Lehrer, »wenn's nicht gefällt, könnt ihr ohne Scheu sagen, ich soll aufhören.«

Immer Pausen machend, begann nun der Lehrer die Sprichwörter zu lesen.

»Ei, das sagt ja der Schmiedjörgli – und das ist ja des Brunnenbasches Red' – das hat die alt' Maurita immer gesagt – und das ist dein Wort, Andres, Michel, Caspar,« so hieß es von allen Seiten. Die Spieler hatten ihre Karten weggelegt und sich den Zuhörern beigesellt, denn manchmal erscholl auch ein lautes Gelächter, wenn ein derber Kernspruch vorkam.

Der Lehrer konnte sich den Triumph nicht versagen, die Frage zu stellen:

»Soll ich weiter lesen?«

»Ja, bis mornemorgen,« hieß es von allen Seiten, und der Kilian von der Froschgaß sagte:

»Das muß ein grundgescheiter Mann gewesen sein, der das Buch gemacht hat, der hat alles gewußt, das war gewiß einer von den alten Weisen.«

»Ja, das sind deine Leut', Kilian,« hieß es aus einer Ecke.

»Seid jetzt still,« hieß es von andern Seiten. »Herr Lehrer, leset weiter.«

So geschah. Manchmal kamen auch Berichtigungen und Zusätze vor, und es that dem Lehrer leid, daß er sie nicht aufschreiben durfte; er scheute dies, denn er fürchtete mit Recht, dadurch die Offenherzigkeit der Leute befangen zu machen. Ein wucheriges Leben war unter allen, eine nie empfundene Freude, hier ihre ganze Weisheit auf einem Haufen wieder zu finden. Auch Streit über die richtige Deutung und die Wahrheit des einen und andern Sprichworts entspann sich unter einzelnen, in welchen sich der Lehrer wohlweislich nicht mischte. Einige bedrängten dann die Streitenden, sie sollten jetzt nur aufhören, andere den Lehrer, er solle nur weiter lesen. So waren alle voll Feuer, und unser Freund fand eine wohlige Genugtuung darin, es entzündet zu haben.

Als er am andern Abend wieder kam, waren mehr Bauern als gewöhnlich versammelt; sie fürchteten sich nicht mehr vor einem Buche, sondern umdrängten ihn alle und fragten:

»Habt Ihr wieder so was Schöns wie gestern?«

»Ja,« sagte der Lehrer und zog ein Buch heraus; aber diesmal ging es nicht so leicht ab, es war Unkraut unter dem Weizen; der Studentle hatte ihn gesäet, denn er hatte einen Widerwillen gegen allen aufkommenden Ernst. Mit einigen jungen Burschen, die er gewonnen, saß er an einem Tische, und sie begannen laut zu singen; der Lehrer wußte sich nicht zu helfen. Da sagte der Matthes:

»Hör einmal, Konstantin. schämst du dich nicht – du bist jetzt Gemeindeschreiber –, daß du so Sachen machst?«

»Ich hin für mein Geld da und thu', was ich will,« er widerte der Studentle, »und Vorlesen gehört nicht ins Wirtshaus.«

Ein Murren entstand.

»Still,« rief Matthes, »keine Händel, da ist leicht geholfen. Adlerwirt, ich spring' schnell heim und hol' Holz, und da machen wir Feuer in die obere Stub'. Wer zuhören will, der geht mit 'rauf, und wer nicht will, kann da bleiben.«

»Ich hol' schon,« sagte Thaddä, der diesen Abend auch gekommen war, und machte sich rasch auf den Weg.

In der oberen Stube glühte der Ofen bald, denn Thaddä wollte durch Nachschüren um kein Wort kommen; der Matthes setzte sich neben den Lehrer und putzte ihm das Licht. Der Lehrer las das Goldmacherdorf von Zschokke.

Trotz seines edlen Gehaltes hatte das Buch doch nicht die Wirkung, die der Lehrer wohl mit Recht erwartet hatte; es griff so unmittelbar an das Bauernleben, daß ein jeder seinen Maßstab ohne Scheu an die getroffenen Einrichtungen anlegte.

Es würde zu weit führen, wenn hier alle ausgesprochenen Urteile wiederholt werden sollten. Allemal, wenn der Ausdruck vorkam: »Oswald öffnete seinen Mund und sprach,« lächelte der Buchmaier, denn dieser Bibelton mißfiel ihm sehr. Manche Rede ging spurlos vorüber, manche traf aber auch den Nagel auf den Kopf, so daß die Leute einander ansahen und nickten.

Sonderbar! als zu Ende gelesen war, stellte sich heraus, daß die meisten Leute für das Dorf gegen den Oswald Partei ergriffen hatten. Der Matthes traf zuerst den Grund dieses Widerspruchs, indem er sagte:

»Mir gefällt's nicht, daß der Oswald so allein alles gut machen will und muß.«

»Und ich möcht' sagen,« begann Thaddä, »ich möcht' ihm seinen Federbusch und seinen Stern 'runterreißen; er ist ein braver Kerl, er braucht das nicht.«

»Hast recht,« sagte der Buchmaier, »er spielt überhaupt zu viel den Herrn, und sein Erbprinz da, zu was braucht man den? Aber ich bin dir grad in die Red' gefallen, Andres, du hast was sagen wollen; 'raus mit den wilden Katzen.«

»Ich mein', der Oswald wär' ein Häfelesgucker; daß er so viel vom Kochen versteht, hat mir nicht gefallen.«

»Und ich mein',« sagte Kilian, »die Bauersleut' seien viel zu dumm hingestellt; so arg ist's nicht.«

»Ja, du bist doch auch ein Schriftgelehrter,« sagte Hansjörg. Alles lachte.

»Jetzt mein' Meinung ist,« sagte der Maurer Wendel, »das Dorf ist zuerst viel zu schlecht und nachher viel zu gut; ich kann's nicht recht glauben, daß es an einem Orte so ist.«

»Mich verdrießt am meisten,« sagte der Buchmaier, »daß zuletzt auch noch ausgemacht wird, was man für Kleider tragen darf. Das ist grad wie mit dem Tierquälerverein, das muß man einem jeden selber überlassen. Und einmal hab' ich das Lachen kaum mehr verhalten können, wie der Oswald in seiner Uniform und mit dem Federhut all' die zweiunddreißig Mann einen nach dem andern umarmt; potz Blitz, das ist ein Geschäft!«

Der Lehrer zeigte nun, daß das Buch schon vor vielen Jahren geschrieben sei und alte Zustände behandle, daß es ein edles Buch sei, das viele beherzigenswerte Lehren enthalte. Er bewies, wie sehr nötig noch oft das äußere Ansehen, Geld, Uniform und dergleichen sei, um guten Absichten Eingang zu verschaffen, und schloß, daß man unrecht thue, wegen einzelner Kleinigkeiten so hart über das Ganze herzufahren.

»Davon ist kein' Red',« sagte der Buchmaier. »Wenn ich den Mann, der das Buch geschrieben hat, einmal sehen thät, ich thät den Hut vor ihm ab, lieber als vor dem größten Herrn, und ich thät sagen: du bist ein rechtschaffener Herzmensch, du meinst's recht gut mit uns, so ist's.«

Als man sich endlich zum Fortgehen anschickte, stieß Thaddä den Matthes an und sagte leise:

»Sag's nur jetzt, sonst lauft wieder alles auseinander.«

»Wie meinet ihr, ihr Mannen,« begann Matthes, »wie wär's, wenn der Herr Lehrer so gut sein wollt' und uns jed' Woch' ein paar Abend so vorlesen thät?«

»Ja, das wär' prächtig,« riefen alle.

»Ich bin gern bereit,« sagte der Lehrer; »wir wollen morgen Mittag zusammenkommen, etwa im Schulzimmer; unterdessen kann sich jeder über den Verein besinnen und Vorschläge machen.«

»Ja, so ist's recht,« hieß es allgemein, und man trennte sich mit großem Behagen.

Andern Tages wurde die Versammlung gehalten; sie war stürmisch. Der Lehrer hatte mit dem Buchmaier einen Entwurf der Vereinsordnung aufgesetzt. Ein Punkt nach dem andern wurde verlesen und jedesmal eine Weile innegehalten. Da entstand dann allgemeines Zwiegespräch; man meinte, die Leute hätten alle etwas zu bemerken; aber aufgefordert, ihre Ansichten mitzuteilen, schwiegen sie; nur Matthes, Hansjörg, Kilian und Wendel ergriffen laut das Wort. Ein allgemeiner, furchtbarer Sturm entstand aber, als verlesen wurde:

»So lange die Leseabende dauern, darf während derselben nicht geraucht werden.«

Das allgemeine Murren wollte gar nicht aufhören, bis endlich der Buchmaier das Wort ergriff, indem er dem Lehrer dabei zuwinkte, wie wenn er sagen wollte: »Hab' ich nicht prophezeit? Ich kenn' meine Leut'.« Er begann laut:

»Ich mein', man streicht das Gesetz vom Rauchen ganz weg.«

»Ja, ja,« erscholl es allgemein, wie aus einem Munde. Der Buchmaier aber fuhr fort:

»Wer also das Rauchen nicht lassen kann, der soll in Gott's Namen rauchen; es wird aber dem Lehrer schwer werden, in dem Dampf zu lesen, und wenn er eben aufhören muß, so hört er auf, es kann's ihm keiner verübeln. Aber das wollen wir doch feststellen: wer zu rauchen angefangen hat und die Pfeif' geht ihm aus, der darf sie nimmer anzünden, bis das Lesen aus ist; er kann dieweil schlafen, wenn er die Augen nicht aufhalten kann, aber schnarchen darf keiner.«

Ein schallendes Gelächter entstand, nach welchem der Buchmaier fortfuhr:

»Vom Rauchen thun wir also gar kein Wörtle ins Gesetz, und auch das wollen wir nur so mündlich ausmachen: wenn das Lesen vorbei ist, soll einem jeden ein besonder Licht aufgehen, er soll sich mit einem Papierle sein' Pfeif' anstecken. Ist's so recht oder nicht?«

»Ja, so ist's recht.«

»Und wer schwätzen will, muß die Pfeif' 'rausthun,« rief eine Stimme; man wußte nicht, von wem sie kam; der bescheidene Redner hat sich bis heute nicht entdeckt.

Eine fernere Beschlußnahme machte noch viel Hin- und Herreden, nämlich über den Ort der Zusammenkunft. Da fast samtliche Gemeinderäte anwesend waren, wurde das große Vorzimmer im Rathause dazu bestimmt, denn der Lehrer hatte aus richtigem Takte gegen die Erwählung des Schulzimmers Einsprache gethan.

Auf den Vorschlag Hansjörgs wurde festgesetzt: daß jeder, der wolle, seinen Schoppen Bier vor sich haben dürfe, aber nicht mehr. Dieser Vorschlag gewann dem Hansjörg so viel Gunst, daß er nebst Kilian und Matthes in den Ausschuß des Lesevereins gewählt wurde.

Noch gar viele Schwierigkeiten waren zu überwinden, bis der Verein im regelmäßigen Gange war; aber eine Schar Begeisterter hatte sich um den Lehrer gebildet, die ihm in allem beistand, wozu besonders Matthes und Thaddä gehörten. Es war dem Thaddä nur leid, daß er nicht eine recht schwere Arbeit für den Lehrer thun konnte, er wäre gern für ihn ins Feuer gelaufen. – Dagegen hatte der Verein auch zwei heftige Feinde an dem Adlerwirt und dem Studentle. Jener sah seine Wirtschaft beeinträchtigt und schimpfte sehr auf den Lehrer, der, seitdem er Bräutigam geworden, auch nicht mehr bei ihm, sondern bei seinem Schwiegervater in Kost war; der Studentle aber witterte in allem Frömmelei, er sagte offen: sein Schwager sei ein Betbruder, er wolle die Leute nur kirren; man werde schon sehen, wo das hinausgehe.

Gleichwie oft eine Staatsregierung die Demagogen zu Beamten macht und so für sich gewinnt, so machte der Lehrer den Studentle zum abwechselnden Vorleser. Nun, da er eine Rolle spielte, die seinem Stolze schmeichelte, ward er zum eifrigsten Anhänger des Vereins.

So lernte der Lehrer nach und nach die Menschen verstehen und lenken.

Den alten Lehrer und den jüdischen Lehrer suchte unser Freund ebenfalls für den Verein zu gewinnen; ersterer aber war nicht dazu geneigt, um so eifriger und selbstthätiger aber der letztere. Auch mehrere Juden, die als Ackerbauern und Handwerker stets zu Hause waren, nahmen lebhaften Anteil.

Die Auswahl der Bücher war schwierig. Unser Freund merkte bald, daß das Belehrende oder unmittelbar sittliche Zwecke Verfolgende nicht ausschließlich vorherrschen dürfe. Ohne daher die Sache zur bloßen Unterhaltung zu erniedrigen, wurden Abschnitte aus der Limpurger Chronik, Gedichte von Gleim, das Leben Schubarts, Mosers, Franklins &c. vorgelesen. Besonders viel Freude machte auch die Geschichte von Paul und Virginie und Wallensteins Lager, dem einige Abschnitte aus dem Simplizissimus beigefügt wurden. Am meisten aber horchte alles auf, als der Lehrer, der Studentle und der jüdische Lehrer »Hedwig, die Banditenbraut, von Körner« lasen; das Abenteuerliche, Salbungsvolle griff tief ein. Als das Stück zu Ende gelesen war, fragte Matthes: »Wie ist es denn mit den Räubern im Keller gegangen? Sind sie verbrannt, oder hat man sie gerichtet?«

Der Lehrer mußte über diese teilnehmende Frage lachen, er wußte aber keine Antwort; vielleicht ist einer der Leser so gut und läßt ihm eine zukommen.

Mitunter wurden auch die alten Volksbücher gelesen, und besonders die Schildbürger erregten großen Jubel.

Allgemeine Bemerkungen in sein Taschenbuch einzutragen, dazu hatte der Lehrer nur selten Zeit und Stimmung; was er dachte, gab er sogleich den Männern preis, und was er dachte und fühlte, offenbarte er Hedwig, und es war ihm genug, es so ausgesprochen zu haben. Dennoch finden wir einige Bemerkungen in den früher angezogenen Blättern:

»Wenn ich diese Blätter ansehe, ist es mir oft, als war ich früher ein sonderbarer Egoist; ich habe die Welt nur in mich aufzunehmen, nicht mich an sie hinauszugeben getrachtet. Was ist all' die eigensüchtige Verfeinerung der Gefühle gegen einen einzigen Gedankenfunken, in eine fremde Seele geworfen? Das ist tausendmal mehr wert als alle noch so sinnreich schwelgerischen Betrachtungen. Es ist gut und war wohl nötig, daß ich diese hinter mir habe . . . .«

»Wie gar leicht ist es, groß, vornehm und gelehrt zu erscheinen, wenn man sich vom Volke zurückzieht, sich einen besondern Palast des Wissens und Denkens auferbaut, eine Burg auf hoher Bergesspitze, fern von den Thalbewohnern. Steigt man aber herab zu den Menschen in den Niederungen, lebt man mit ihnen und für sie, da erfährt man's oft, wie man bisweilen die einfachsten Dinge nicht weiß, die besten Gedanken nicht ahnt. Ich habe einmal gelesen, daß es Fürsten gibt, die sich dem Volke nie oder nur selten zeigen; da ist es freilich leicht, sich mit Majestät zu umhüllen.«

»Es ist tief bezeichnend und wohl sinnbildlich, daß die Schriftsprache Wort und Begriff Bauer noch nicht bestimmt zu deklinieren weiß: der Bauer, des Bauern und – des Bauers.«

»Wie der Atem der Erde und des Meeres aus den höhern Regionen wieder als erfrischender und befruchtender Regen herniederträufelt, so kann und muß auch der Volksgeist, sein Denken und Fühlen aus der höheren Region des Schriftentums wieder herabgelenkt werden in seinen Ursprung, das Volksgemüt.«

»Gewiß war mancher der berühmten griechischen Helden nicht gebildeter, so was man eigentlich gebildet nennt, als mein Hansjörg, Kilian, Matthes, Thaddä, Wendel und viele andere, von dem Buchmaier gar nicht zu reden; aber durch die öffentlichen Staats- und Rechtsverhältnisse, durch das öffentliche Kunstleben, durch den Gottesdienst, der aus dem innersten Kern des Volkslebens hervorgegangen, war eine Masse von Gedanken, Gefühlen, Anschauungen und zarten Regungen in der Luft. Die Leute lernten und hörten nicht wie wir bloß biblische Geschichten, Erzählungen von Menschen, die in ganz andern Verhältnissen gelebt und keinen unmittelbaren Vergleich zulassen. Sie hörten von Vorfahren, die ähnlich gelebt wie sie selber, so und so gehandelt, so und so gedacht; einzelne Aussprüche und Anekdoten erbten sich fort von Geschlecht zu Geschlecht; alles das ging ihnen nahe, und wo es drauf und dran kam, waren die Nachkommen Helden und großsinnige Menschen wie ihre Vorfahren. Uns aber ist die Geschichte eines fremden verlorenen Volkes, des jüdischen, die heilige geworden, nicht die Geschichte unserer Nation . . . . Die Griechen kannten ihren Homer auswendig, er gab ihnen Sprüche und Bilder, die auf ihr Leben paßten; wir Deutschen haben noch keinen, der uns ganz das wäre; Schiller ist nicht für die ganze Nation in allen Bildungsschichten. Wir haben aber eine Nationalweisheit in den Sprichwörtern, die sich unabhängig vom Alten und Neuen Testament gebildet hat. Wir haben das Nationalgemüt in schönster Fassung im Volksliede; das hatten die Griechen nicht.«

Bald nach der Stiftung des Lesevereins hatte der Lehrer auch einen Gesangverein aufgebracht; außer einigen jungen Männern hatten sich fast alle ledigen Burschen hiezu versammelt. Der Adlerwirt ward hiedurch versöhnt, denn der Gesangverein wurde in seine obere Stube verlegt. Obgleich unser Freund das Ganze im stillen leitete, überließ er doch die sichtbare Regierung dem alten Lehrer, der zu diesem Zwecke trefflich zu verwenden war. Klugerweise wurden hauptsächlich Volkslieder eingeübt. Die Leute freuten sich gar sehr, ihr Eigentum hier verschönert in seiner Vollständigkeit wieder zu erlangen, denn fast niemand im Dorfe kannte mehr von einem Liede alle »Gesätze«. Nach und nach wurden auch einige neue Lieder gelernt, sehr behutsam, aber nichts desto minder nachdrücklich Ton- und Taktübungen gehalten und sogar die Noten einstudiert. Wie bei dem Leseverein der Gegenkampf des Studentle, so war hier die Anmaßung des Jörgli zu überwinden, denn dieser wollte als berühmter Sänger sich geltend machen und die Hauptperson spielen; dabei aber verhöhnte er jede taktmäßige Einübung. Es gelang nicht, den Jörgli ganz zu gewinnen, er schied aus, und der Verein drohte zu zerfallen. Die guten Folgen desselben hatten sich schon offenbar kund gegeben; viele gemeine, unzüchtige Lieder wurden von den besseren verdrängt, wenn auch vorerst nicht, weil diese besser, sondern weil sie neu waren. So gewannen doch Worte und Klänge aus reineren Regionen Raum und weckten manchen zarteren Wiederhall in den Gemütern.

Nun aber sprengte der Jörgli überall aus, der Lehrer wolle den großen Leuten Kinderlieder einlernen; es sei eine Schande für einen erwachsenen Menschen, solche zu singen; er gewann bald ziemlichen Anhang, und wenn auch noch einige dem Vereine treu blieben, so waren das doch nur wenige. Der Thaddä wollte den Jörgli tüchtig durchprügeln, der Buchmaier aber fand ein gelinderes Mittel zur Aufrechterhaltung des Vereins. Er lud nämlich den Pfarrer und alle bisherigen Mitglieder des Vereins mit Ausnahme des Jörgli zum Nachtessen am Sylvesterabend bei sich ein, dadurch gewann alles wieder neues Leben.

Der Pfarrer hatte den Lehrer in seinen Bestrebungen ganz gewähren lassen, denn er war keiner von jenen, die alles in ihrer Hand haben und von sich ausgehen lassen wollen.

Am Sylvesterabend war nun großer Jubel beim Buchmaier, man trank, sang und scherzte.

»Herr Lehrer,« sagte der Buchmaier einmal, »wenn Ihr geheiratet habt, müsset Ihr auch einen Mädchengesangverein stiften.«

»Junge Weiber dürfen aber auch dabei sein,« rief Agnes.

»Ja, da müsset Ihr aber in einem Trumm fort singen lassen, sonst schwätzen sie dem Teufel ein Ohr weg.«

Manches Hoch wurde ausgebracht. Sonst ganz blöde Burschen wagten es hier vor Pfarrer, Lehrer und Schultheiß ein öffentliches Wort zu sprechen.

Zuletzt ergriff Thaddä das Glas und rief:

»Unser Herr Lehrer soll leben
Und sein' Hedwig daneben!«

Hoch! und abermals Hoch ertönte, es wollte fast gar nicht enden.

Mit Hedwig lebte der Lehrer im innigsten Verständnisse; sie leistete seinen Bildungsbestrebungen willig Folge, da er es nicht mehr darauf abgesehen hatte, ihre Natur umzumodeln, sondern nur, sie frei zu entwickeln. Anfangs erging es dem Lehrer bei Hedwig sonderbar. Wenn er ihre Seele auf allgemeine Gedanken und Ansichten hinlenken wollte, machte er bei allem große Vorreden und Einleitungen; er sagte: so und so meine er es, und sie solle ihn recht verstehen. Da sagte einst Hedwig: »Hör' mal, wenn du mir was zu denken gibst oder sonst 'was anbringen willst, sag's doch grad 'raus, mach' kein so Schmierale drum 'rum, ich will dir nachher schon sagen, ob ich's versteh', oder ob ich's nicht mag.« Der Lehrer that dieses letzte Bruchstück seines vereinsamten, bloß innerlichen Lebens ab und lebte froh und gemeinsam mit Hedwig.

Selbst auf die Schule verbreitete sich bald der neu erwachte Geist des Lehrers. Er knüpfte seine Erzählungen und Beispiele geschickt an die nächste Umgebung an; emsig sammelte er an einer Geschichte des Dorfes, um sie künftig zum Anknüpfungspunkt und zur Veranschaulichung der Geschichte des Vaterlandes zu benutzen.

Manche kluge Leute wollen zwar behaupten, der Eifer des Lehrers werde bald erlahmen, wir aber dürfen vertrauensvoll das Beste hoffen.

Der Frühling nahte, die Glocken wanderten nach Rom, um dort die Geschichte des Dorfes zu berichten, es ist gewiß, daß sie von dem vergangenen Winter weniger Sünden zu berichten hatten.

Ostern war vorüber, und nun war der Tag der Hochzeit da; er war auf den Jahrestag festgesetzt, an welchem der Lehrer zuerst in das Dorf gekommen war. Am Vorabende ging Hedwig zu dem alten Lehrer und bat ihn, morgen auch ein recht schönes Vorspiel zu machen, da er die Orgel in der Kirche zu spielen hatte. Der alte Mann lachte in sich hinein und sagte: »Ja, du wirst dich freuen.«

Am andern Tag ging es mit Musik zur Kirche. Hedwig gleichgeschmückt mit ihrer Gespiele, der Agnes, der Lehrer ebenso mit einem Strauße geziert, wie sein Gespiele, der Thaddä; der Buchmaier, der Johannesle und der jüdische Lehrer hinter ihnen. – Als alles versammelt war, begann der alte Lehrer das Vorspiel. Auf dem Antlitze eines jeden schwebte ein Lächeln, denn der alte Spaßmacher hatte den Lauterbacher Hopser sehr geschickt in das Vorspiel verwebt. Gleich darauf begann der Gesangverein in würdiger Haltung das schöne Lied:

»Heilig ist der Herr &c.«

Mit freudigem Ernste wurde das Ehebündnis geschlossen. – Es sei gesegnet.


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