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15. Ein verlorenes Kind und ein wiedergefundener Vater.

Zu Braunsbach am Kocher, gerade gegenüber von des Märxles Haus, steht eine Linde, dorthin sah man an einem Sommernachmittage eine wandernde Familie ziehen. Der Vater, ein kräftiger Mann mit einem blauen Ueberhemde und einem vielfach eingedrückten grauen Hute, zog an einem Karren, auf dem eine Scherenschleiferbank und einiges Hausgeräte lagen. Ein brauner magerer Hund von mittlerer Größe war neben ihm angespannt. Die Frau half ebenfalls den Karren den Berg hinaufschieben. Die zwei Kinder folgten hinterdrein und trugen zusammengelesenes Holz in ihren Armen. Als man endlich unter der Linde angelangt war, zog der Mann die um seinen Oberleib geschlungene Gurte ab, warf den Hut auf den Boden, fuhr sich mit der Hand über die schweißtriefende Stirne und setzte sich, mit dem Rücken gegen die Linde gelehnt, auf den Boden. Wir erkennen ihn, trotzdem er sich gewaltig verändert hat; es ist Florian mit seiner Familie.

Der Hund hatte sich neben ihm niedergelassen, den Kopf auf beide Vorderfüße gelegt, der Knabe streichelte ihn.

»Laß jetzt den Schlunkel, Friederle,« sagte Florian, »mach, hilf deiner Mutter.«

Der Knabe ging schnell zu seiner Mutter, er wußte, der Vater war böse, da er den Hund Schlunkel nannte; denn Florian kam immer, wenn er übler Laune war, zu dieser Selbstpeinigung, daß er den neben ihm im Joche Eingespannten mit dem Namen dessen benannte, der ihn ins Unglück gestürzt hatte.

Die Mutter hatte indes den Dreifuß und den Kessel vom Wagen genommen, mit dem mitgebrachten Holze Feuer angemacht und Wasser übergestellt.

»Gang, sieh, daß du Grundbirnen kriegst,« sagte sie zu Friederle. Dieser nahm einen Topf und ging auf das weiter oben stehende Haus mit dem rot angestrichenen Gebälk zu.

Ein bejahrter Mann sah gähnend zum Fenster heraus.

»Wollet Ihr nicht so gut sein,« bat Friederle, »und uns Grundbirnen schenken? dur Gott's Wille.«

»Woher bist?« fragte der Mann, der ziemlich satt schien.

»Mein Vater sagt allemal, von dem Land, wo die Leut' auch hungrig sind.«

»Ist der da drunten dein Vater?«

»Ja, machet aber nicht so lang, wenn Ihr mir was geben wollet; unser Holz verbrennt sonst.«

Der Mann kam herab und öffnete die Thüre, die Nachbarn wunderten sich gar sehr, daß der Petermichel einem Bettelkinde sein Haus öffnete.

Friederle kam aber alsbald wieder heraus mit dem Topf voll Kartoffeln und etwas Butterschmalz in einem Schüsselchen.

Nun wurde statt bloßer Kartoffeln ein Brei gemacht, und nachdem alles gegessen hatte, bekam der Hund das Geschirr, um das Uebriggelassene aufzulecken.

Florian erhob sich und ging durch das Dorf mit dem steten Rufe: »Scherrrre schleife aus Parrrrris!« Friederle aber ging von Haus zu Haus, um Arbeit zu holen, er versprach den besten Pariser Schliff. In der That war auch Florian ein Meister in seinem neuen Geschäfte.

Den ganzen Nachmittag stand der Petermichel bei der Scherenschleiferfamilie. Er sah dem gewandten Manne, der so schöne Stückchen pfiff, gerne zu und unterhielt sich auch mit der Frau und den Kindern. Als es Abend wurde, bot er ihnen sogar an, daß sie in seiner Scheune übernachten könnten. Im ganzen Dorfe sagte man: »Das jüngste Gericht kommt, der geizig' Petermichel ist brav geworden.« Und doch wußten die Leute noch nicht alles. Petermichel setzte sich nämlich zu den Fremden in die Scheune und sagte: »Gebet mir euren Buben da, er soll's gut bei mir haben. Wie meinet ihr?« Die Eltern sahen einander an und antworteten nicht, er aber fuhr fort: »Schlafet einmal drüber, ihr könnet euch bis morgen drauf besinnen.«

Florian und Kreszenz sprachen viel hin und her in der Nacht und kamen doch zu keinem rechten Entschlusse. Die Mutter wollte, so wehe es ihr auch that, doch das Kind weggeben, damit es was Rechtes vor sich sehe, ordentlich in die Schule gehen und was lernen könne.

Florian antwortete wenig und betrachtete sein Kind, das, vom Monde überschienen, sorglos schlief und gar lieblich anzusehen war.

»Der wird ein Hauptkerl,« sagte er zuletzt, legte sich auf die andere Seite und schlief ebenfalls.

Es mag vielleicht wunderbar erscheinen, daß Petermichel, der für so geizig gilt, auf einmal so gut wird, daß er ein Landstreicherkind annehmen will; es war indes nicht alles pure Güte an dem Petermichel. Er war allein und kinderlos, hatte seine Aecker verpachtet und lebte von seinem Gelde. Nun hatten ihn aber die Kinder seines Bruders, seine einzigen Erben, beleidigt, und er wollte ihnen durch die Annahme eines fremden Kindes eine Brille auf die Nase setzen; außerdem hatte er allerdings eine unerklärliche Zuneigung zu dem muntern Knaben mit den frischen blauen Augen bekommen.

Kaum war der Tag angebrochen, da stand Petermichel oben auf der Scheune und schaute hinab, ob die Fremden wach seien. Er rief dann:

»Höret, Mann, kommet mit Eurem Weib ein bißle 'raus in mein' Stube, wir wollen jetzt miteinander reden.«

Florian und Kreszenz kamen.

»Nun wie ist's? Habt ihr euch entschlossen?« fragte Michel.

»Ja,« sagte Florian, »ich will's Euch deutsch heraussagen, wir thäten den Buben gern weggeben, heißt das, weil er bei Euch gut aufgehoben wär' und auch was lernen könnt', aber es geht nicht – gelt, Kreszenz, es geht nicht?«

»Ja, warum denn?«

»Weil uns der Bub in unserm Geschäft so nützlich ist, und wir müssen doch auch leben und unser Mädle auch.«

»Hört einmal,« sagte Petermichel, »ich will euch zeigen, daß ich's gut mein', ich geb' euch hundert Gulden, es ist nicht für den Buben, es ist, damit ihr ein andres Geschäft anfangen könnet, einen Geschirrhandel oder so was; hundert Gulden ist ein Wort. Nun, wie ist's?«

Die beiden Eltern sahen einander betrübt an.

»Schwätz du, ich sag' gar nichts; was du thust, Kreszenz, ist mir recht,« sagte Florian.

»Ja, der Bub wird halt nicht wollen; er ist so an uns gewöhnt. Ihr meinet's gut, das ist kein' Frag', aber der Bub kann doch vor Jammer und Heimweh sterben.«

»Ich frag' ihn,« sagte Petermichel, ließ die verblüfften Eltern stehen und ging eilends hinab zu dem Kinde.

Ohne ein Wort zu reden, blieben Florian und Kreszenz bei einander, sie bangten vor jeder Antwort.

Da kam Petermichel mit dem Knaben an der Hand, er winkte den Eltern mit den Augen zu, und Friederle rief:

»Ja, ich bleib' da bei unserm Vetter, er gibt mir ein' Geißel und ein Hottogäule.«

Kreszenz weinte, Florian aber sagte:

»Nun, so wollen wir fort, was einmal sein muß, muß schnell sein.«

Er ging hinab, packte die Sachen zusammen und spannte den Hund an. Der Petermichel brachte ihm das Geld.

Als alles zur Abreise bereit war, küßte Kreszenz nochmals weinend ihren Sohn und sagte: »Sei brav und folg dem Vetter, geh fleißig in die Schul'; kann sein, bis den Winter kommen wir wieder.«

Florian kehrte sich ab, als sein Sohn seine Hand nahm, und zog scharf an, Friederle aber umhalste noch einmal den Hund und nahm zuletzt noch von ihm Abschied.

Bis nach Kochersteinsfeld waren die beiden Eltern miteinander gegangen, ohne ein Wort zu reden, ein jedes machte sich und dem andern Vorwürfe, daß es nicht mehr abgeredet und das Kind so leicht weggegeben habe. Hier wurde nun Halt gemacht, und Florian ließ sich zur Aufheiterung einen Schoppen Wein bringen. Nachdem er getrunken, schob er Kreszenz das Glas hin und sagte: »Trink auch.« Sie setzte das Glas an den Mund, stellte es aber laut aufweinend nieder und sagte: »Ich kann nicht trinken, es ist mir grad, wie wenn ich das Blut von meinem Friederle trinken müßt'!«

»Laß jetzt das Weibergeheul, hätt'st das früher gesagt. Wir wollen einmal drüber schlafen, bis morgen wird's anders sein.«

Gleich als wollten sie sich schnell recht weit von Friederle entfernen, eilten sie nun, ohne anzuhalten, bis Künzelsau. Unterwegs wurde ausgemacht, was man mit dem Gelde anfangen wollte, der Rat Petermichels ward zum Beschluß erhoben.

Andern Tags zog man weiter gen Oehringen; plötzlich aber hielt Florian an und sagte:

»Was meinst, Kreszenz, wenn wir wieder umkehren thäten und den Friederle holen?«

»Ja, ja, ja, komm.«

Schnell war der Karren gewendet, und der Hund sprang an Florian hinauf, als wüßte er, wohin es wieder ginge. Nun aber sagte Kreszenz:

»Ach Jesus im siebenten Himmel. Er wird ihn uns nimmer geben, es fehlt ein ganzer Gulden an dem Geld; das Nachtlager – und ich hab' dem Lisbethle ein Kleidle gekauft.«

»Weiber! Weiber mit eurem Putz!« knirschte Florian, »nun, wir wollen's einmal probieren, fort, zurück, ich hol' meinen Friederle.«

Der Hund bellte vor Freude.

Wieder war Mittag, als unsere Karawane bei der Linde anlangte.

Friederle sprang ihnen entgegen und rief: »Ist schon Winter?«

Die Mutter ging hinaus zum Petermichel, legte das Geld auf den Tisch, bat um Verzeihung, daß ein Gulden fehle, und verlangte ihr Kind wieder.

Der Pfarrer saß eben bei Petermichel und hatte es fast dahin gebracht, daß er sich mit seinen Bruderskindern aussöhnen und dem angenommenen Kinde nur einen kleinen Teil seiner Habe verschreiben wollte.

Als er nun die Frau ansichtig wurde, stand er plötzlich auf und streckte beide Hände empor, er wußte nicht, wie ihm war, aber ihm war ganz fremd zu Mute. Er suchte die Frau zu bereden, ihr Kind doch hier zu lassen, und als er nun auf ihre Stimme aufmerkte, war es ihm, als ob er einen Klang aus alter Zeit vernehme.

Petermichel hatte unterdessen den Florian heraufgerufen. Als dieser eintrat und den Pfarrer erblickte, eilte er auf ihn zu, packte ihn an der Gurgel und rief: »Kerl, ich bin froh, daß ich dich wieder hab'.« Kreszenz und Petermichel wehrten ab, der Pfarrer bat mit stockender Stimme den letztern, daß er weggehe, er habe mit den Leuten was zu reden. Petermichel ging.

»Heißt du Kreszenz?« fragte der Pfarrer die Frau.

»Ja.«

»Mein Kind, mein Kind!« sprach der Pfarrer mit erstickter Stimme und warf sich an ihren Hals.

Eine Zeitlang war Stille in der Stube, die Männer und die Frau weinten. Der Pfarrer fuhr Kreszenz immer mit der Hand über das Gesicht, dann ließ er die beiden schwören, daß sie nie sagen wollten, in welchen Verhältnissen sie zu ihm stünden; er wolle für sie sorgen, ihnen ein Hauswesen einrichten. Kreszenz sollte nur seiner Schwester Kind sein. –

So blieben nun die Landstreicher im Dorfe. Florian handhabte mit großem Fleiß sein ihm treugebliebenes Messer als Metzger.

Die Frau des evangelischen Pfarrers, eine tugendstolze Pietistin, will zwar herausgebracht haben, Kreszenz sei die Tochter und nicht das Schwesterkind des Pfarrers, die Leute aber wollen's nicht glauben.

Der Hund, ein guter Metzgerhund, heißt nicht mehr Schlunkel, sondern führt seinen ehrlichen Namen Bleß. Alle trüben Erinnerungen an die Vergangenheit sind ausgelöscht


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