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Elftes Capitel.


War es doch, als wären alle, vielleicht seit langer Zeit nur mühsam im Bann gehaltenen bösen Geister nun auf einmal losgelassen und trieben ihren Spuk. Es mag überall, im Kleinen wie im Großen, da so zugehen, wo die gegebenen Verhältnisse nicht naturgemäß sich gestalten und entwickeln dürfen, sondern wo sie künstlich gefügt, ja verschroben werden.

Eine Familie, in der Liebe nicht das Band ist, das alle Interessen verknüpft, alle Widersprüche ausgleicht, alle Herzen mit einander verbindet, eine Familie, in der sie nicht als Hausgesetz anerkannt wird, dem sich Jeder unterzuordnen hat, in der sie nicht das Licht ist, das alle Finsterniß, alle Dämmerung durchstrahlt, eine solche Familie gleicht immer einem Hause auf unterhöhltem Grunde. Irgend ein Windstoß löst einen Stein, und morsch stürzt es in sich zusammen, denn aller Kitt, aller Mörtel, alle künstlich angebrachten Stützen halten den Bau nicht, dem das Fundament fehlt.

Als Frau Artefeld das Frühstückszimmer verlassen und ihren Sohn seiner Bonne übergeben, begab sie sich in ihr Arbeitscabinet, um dort die am Morgen eingelaufenen Briefe zu lesen, ehe sie sich zu einem abermaligen Besuch des Comptoirs anschickte. Es waren mehrere darunter, deren Aussehen schon ihren Inhalt verrieth: Bitten um Unterstützungen und dergleichen. Sie durchlas sie aufmerksam, legte sie entweder ohne weitere Beachtung fort, oder machte die sie betreffenden Notizen; der letzte der Briefe schien jedoch eigenthümliche Mittheilungen zu enthalten. Sie las ihn wieder und immer wieder.

»Unmöglich, ich glaube kein Wort von alledem,« murmelte sie zwischen den Zähnen, wollte aber eben mit dem Briefe in der Hand das Zimmer verlassen, als Gebhard nach leisem Anklopfen eintrat.

Der alte Mann sah sehr bestürzt aus, er hatte sichtlich eine unangenehme Mittheilung zu machen, war aber so verlegen und ängstlich, daß sie selbst ihn erst dazu ermuthigen mußte. Da platzte er denn mit der fatalen Geschichte heraus. Es war in der Nacht ein Diebstahl verübt worden. Er hatte das Silberzeug wie immer mit auf seine Stube genommen und es einstweilen in seinen Tischkasten gelegt, die Arbeit gleich heut früh vorzunehmen. Als er am Morgen sich dazu anschickte, fehlte das Silber.

»Ich habe es nicht im Augenblick gemeldet,« fügte er hinzu, »ich hoffte, mein alter Kopf wäre vielleicht confus gewesen und ich hätte es irgendwo anders hingelegt, ich dachte auch, es könnte mir einer der anderen Diener einen Streich gespielt haben – aber das ist Alles nicht der Fall. Das Silber ist und bleibt fort. Es muß Jemand unbemerkt in's Haus geschlüpft sein und sich eben so unbemerkt wieder entfernt haben. Es ist nirgends die Spur eines Einbruches, die Diebe haben es so bequem gehabt als nur möglich.«

Frau Artefeld schüttelte den Kopf.

»Wann haben Sie denn den Verlust bemerkt?« fragte sie, nachdem sie zuvor eine scharfe Rüge darüber ausgesprochen, daß Gebhard einen so kostbaren Gegenstand so nachlässig aufbewahrt und nicht gleich unter den gehörigen Verschluß gebracht habe.

»Sowie ich heute aufstand, entdeckte ich den Diebstahl,« sagte er, »er kann nur in der Nacht verübt worden sein.«

»Aber Sie schlafen doch in Ihrer Stube!« unterbrach sie ihn, »haben Sie denn solchen Siebenschläferschlaf, daß man Ihre Stube ausräumen kann, ohne daß Sie es merken?«

Der alte Mann wurde verlegen.

»Ich bitte sehr um Verzeihung,« sagte er endlich, »ich war noch ausgegangen, ich wollte einen Freund sehen, der abreiste, von zwölf bis zwei Uhr war ich nicht da.«

»So,« sagte sie betroffen, »und da haben Sie wahrscheinlich die Thür aufgelassen, daß Jedermann nach Belieben hinaus und hinein konnte.«

»Ich hatte sie zugemacht und den Drücker mitgenommen, auch fand ich sie, als ich wiederkam, verschlossen,« entgegnete er.

Frau Artefeld ging nachdenklich im Zimmer auf und ab. Sie faßte Verdacht gegen den alten Mann. Nicht, daß sie ihn etwa des Diebstahls fähig glaubte, aber daß er mit Dorn Durchstechereien getrieben, daß er den jungen Mann eingelassen, daß er deshalb vielleicht aus seinem Zimmer gegangen und nicht, weil er um Mitternacht einen Freund aufgesucht. Ihr fiel auch die Dame wieder ein, die Dorn gesehen und für Elisabeth gehalten haben wollte. Sie hatte die Erzählung bis jetzt für eine Fabel gehalten und deshalb nicht einmal darnach gefragt, ob einer der weiblichen Dienstboten zu so unschicklicher Zeit das Haus verlassen; sie glaubte nun einmal nicht leicht, daß man ihren Befehlen zuwider zu handeln wagen könne.

»Sagen Sie aufrichtig, Gebhard,« fragte sie ihn plötzlich, »sind Sie allein ausgegangen, oder hat etwa meine Jungfer, oder die meiner Töchter, oder die Wirthschafterin, oder die Bonne Sie begleitet?«

Gebhard dankte dem Himmel im Stillen, daß sie die Frage in dieser Weise stellte.

»Keine einzige von ihnen!« betheuerte er.

»Und Sie haben auch nie bemerkt, daß Eine meiner weiblichen Dienstboten sich solche verstohlene Ausgänge erlaubt?«

»Nie,« versicherte er.

»Ich dachte es wohl,« sagte sie mehr für sich als zu Gebhard, »ich hielt es gleich für einen Vorwand des albernen Menschen, seine Anwesenheit um diese Zeit damit zu beschönigen.«

»Rufen Sie mir den Portier!« befahl sie Gebhard.

Der Gerufene kam. Sie fragte auch diesen aus. Ob, nachdem die Gesellschaft das Haus verlassen, noch etwa einer der Gäste wieder zurückgekehrt sei, ob er dann nicht bemerkt habe, daß Gebhard ausgegangen und wiedergekommen, ob er nicht wisse, ob jener die Thür zugemacht oder nicht. Der Portier sagte zu Allem: Nein.

»Sie lügen!« sagte sie streng, »ich weiß, daß einer der Bekannten meines Mannes in's Haus zurückgekommen ist, weil er seine Brieftasche im Saal vergessen, ich habe ihn selbst gesprochen, Sie müssen ihm doch die Thür aufgemacht haben?«

»Ich lüge nicht« antwortete der Portier ärgerlich über den Vorwurf, »ich habe für Keinen die Thür weder auf- noch zugemacht. Ich öffne, wenn geklingelt wird, auf Diejenigen, die mit Hausschlüsseln gehen und kommen, habe ich nicht aufzupassen.«

»Sie werden doch nicht behaupten, daß der junge Herr, von dem ich spreche, einen Hausschlüssel gehabt hat?« sagte Frau Artefeld.

»Das kann ich nicht wissen, das ist nicht mein Amt,« antwortete der Portier, »ich sage nur, daß ich Keinen gesehen habe.«

»So müssen Sie die Thür offen gelassen haben, Gebhard,« behauptete Frau Artefeld, »und von Ihnen,« wandte sie sich zum Portier, »ist es unverantwortlich, nicht besser Acht zu geben und nicht nachzusehen, wenn Sie die Thür gehen hören, ohne daß es geläutet hat.«

»Da hätte ich viel zu thun und würde wenig Dank von anderer Seite ernten,« entgegnete dieser, trotz Gebhard's warnender Blicke, mit absichtlicher Bosheit; »was würde der Herr sagen, wenn ich jedesmal an der Thür erschiene, sowie er des Nachts ausgeht und wiederkommt.«

Frau Artefeld fuhr zusammen, aber schnell sich fassend, sagte sie:

»Ich werde meinen Mann ersuchen, sich künftig nicht des Hausschlüssels zu bedienen, sondern ohne Rücksicht auf den Schlaf meines Portiers zu läuten. Sie werden allerdings dadurch nicht mehr incommodirt werden, denn Sie haben mir so unhöflich geantwortet, daß ich nicht die Absicht habe, Sie länger in meinem Dienst zu behalten.«

»Ich hatte schon selbst die Absicht zu kündigen,« sagte dieser frech, indem er sich zurückzog, »der Dienst ist mir zu sauer, ich muß zu oft des Nachts heraus. Denn wenn der Herr auch einen Hausschlüssel hat, wird es ihm doch oft so schwer das Schlüsselloch zu finden, daß es mich dauert, ihn so lange stehen zu lassen.«

Frau Artefeld that, als hätte sie das Gesagte nicht gehört oder nicht verstanden, aber sie war leichenblaß geworden, und ihre Stimme hatte eine fast unnatürliche Schärfe als, sie zu Gebhard sagte:

»Ich hoffe, Sie werden mir den seltsamen Besuch, den Sie heute Nacht einem Freunde abgestattet zu haben vorgeben, genügend erklären können. Nicht jetzt, nachher, überlegen Sie sich erst Alles genau. Verdächtig ist die Sache. Belogen will ich nicht werden, das dulde ich von Keinem. Täuschen Sie mich in irgend etwas, so gehen auch Sie, obgleich Sie im Hause sind, so lange ich denken kann.«

Dem alten Diener stürzten die Thränen aus den Augen.

»Gehen Sie,« sagte sie, »ich will Sie erst nachher sprechen.«

In dem Augenblick wurde an die Thür gepocht und einer der anderen Bedienten meldete Herrn Dorn. Einen Augenblick stutzte Frau Artefeld.

»Er soll kommen,« sagte sie dann rasch; »er kommt gerade recht jetzt,« fügte sie leise hinzu, »jetzt bin ich eben in der Stimmung, mit seiner Unverschämtheit für immer fertig zu werden.«

Sie benutzte die paar Augenblicke, die bis zu Dorn's Eintritt verstrichen, um rasch ein Glas Wasser hinunterzustürzen und sich die Stirn mit Eau de Cologne zu benetzen. Sie sah vollkommen gefaßt und ruhig aus, als er eintrat, erwiderte seine tiefe Verbeugung aber kaum mit einem Kopfnicken, nöthigte ihn auch nicht Platz zu nehmen, sondern blieb selbst stehen und fragte nur ganz kurz, was er heut noch von ihr wünsche.

Er schien auf einen solchen Empfang vorbereitet, und ohne sich dadurch aus der Fassung bringen zu lassen, erklärte er sein Kommen durch den Wunsch, sein seltsames und ungehöriges Eindringen in der Nacht noch einmal entschuldigen, ja, so viel es möglich sei, erklären zu dürfen. Er schilderte noch einmal in warmen Worten seine gestrige Gemüthsverfassung, die ihn allein zu der Unbesonnenheit geführt, und noch wärmer werdend, erklärte er seine tiefe, innige Neigung für Elisabeth und bat um deren Hand.

Frau Artefeld nahm von seiner Entschuldigung nicht die mindeste Notiz, sondern wies seine Bewerbung mit der Bemerkung zurück, daß sie über ihrer Tochter Hand schon längst verfügt habe.

»Ihr Herz ist aber mein!« versicherte Dorn.

»Dann werden Sie es ihr gefälligst zurückgeben,« bemerkte sie ruhig.

»Sie werden Ihr eigenes Kind, Sie werden mich nicht unglücklich machen wollen,« bat er.

»Für Elisabeth's Glück will ich eben sorgen,« entgegnete sie, »das Ihre überlasse ich Denen, die sich dafür interessiren.«

»Wenn es aber nicht von dem Elisabeth's zu trennen ist –«

»Ich werde es trennen,« versicherte sie.

Eine Weile schwiegen Beide, dann sagte Dorn:

»Wenn es möglich wäre, Feuer in Eis zu verwandeln, dann, glaube ich, müßte es Ihnen gelingen; aber meine Liebe ist zu tief, zu wahr, sie hält Ihre Abweisung aus, ja, die ungerechte, unbegründete Art derselben ruft mich zum äußersten Widerstande auf. Man verdient doch wenigstens nicht verächtlich behandelt zu werden, wenn man seine höchsten Güter: seine Liebe, seine Ehre, seinen Namen, der Geliebten zu Füßen legen will. Was haben Sie gegen mich einzuwenden?«

»Sehr viel,« erwiderte sie ruhig, »aber das Eine mag Ihnen genügen – ich will Sie nicht zum Schwiegersohn.«

»Gut,« sagte er, durch ihre Kälte immer leidenschaftlicher werdend, »wenn Sie keinen andern Grund haben, diesem werde ich zu trotzen suchen. Ich werde sehen, was Liebe gegen Willkür vermag. Sie können Elisabeth nicht zwingen, wider ihren Willen, wider ihre Neigung zu heirathen. Ich aber schwöre es Ihnen, ich werde Elisabeth nicht loslassen. Ich werde um sie werben, heut und morgen und jeden kommenden Tag, bis Sie nachgeben, oder bis Elisabeth zwischen Ihnen und mir entschieden hat, bis sie weiß, ob sie auf Befehl ihrer Mutter einen Meineid schwören, oder ob sie, derselben ungehorsam, eine Ehe schließen soll, durch die sie Gottes Gesetzen nicht Hohn spricht.«

Frau Artefeld sah den Redenden betroffen an. Die entschlossene Haltung desselben, der tiefe Ernst in seinen Zügen verstärkte nur den Eindruck seiner Worte, und obgleich Frau Artefeld nicht leicht zagte, die Kraft ihres Willens gegen Jedermann zu behaupten, lag doch etwas in Dorn's Art und Weise, was ihr einen Kampf bis auf's äußerste vorherzusagen schien. Sie war aber im Augenblick kampfesmüde, und in diesem Gefühl der Ermattung dachte sie nur hauptsächlich daran, den Gegner um jeden Preis zu beseitigen, ihn wo möglich vor dem Kampfe zu entwaffnen. Das Mittel dazu war ihr gleich.

»Ich werde meine Tochter vor dieser Wahl schützen und Ihnen Zeit und Mühe der Bewerbung ersparen,« sagte sie, »ich werde Ihnen auch weitere Gründe meiner abweisenden Antwort angeben. Ich gebe also meine Tochter keinem Manne, der sich zu nächtlicher Zeit in mein Haus schleicht, der die Ehre des jungen Mädchens, das er zu lieben vorgiebt, in so unverantwortlicher Weise auf's Spiel setzt. Was Sie mir von Ihrer Eifersucht, Ihrem Verdacht erzählen, ist Wahnsinn. Man kann nicht zugleich ein Mädchen lieben und ihm die niedrigste Handlungsweise zutrauen. Eins widerspricht dem Andern. Ich glaube nicht an den Gemüthszustand, durch den Sie Ihr Eindringen entschuldigen wollen, und selbst wenn ich daran glaubte, würde ich ihn nicht als Entschuldigung gelten lassen. Hat Sie die Leidenschaft für meine Tochter zu dem wahnsinnigen Schritt verführt, den Sie vergebens vor mir zu bemänteln streben, wohlan, so sage ich Ihnen, daß ich mein Kind nie einem Manne anvertrauen werde, der einer so unbesonnenen Leidenschaft fähig ist. Denn solche Leidenschaft ist nicht Liebe, sie ist nur das Aufflammen eines niedrigen und vorübergehenden Gefühles. Liebe ist Achtung, und Sie haben es gewagt, meiner Tochter die höchste Mißachtung zu zeigen, die ein Mann einem Mädchen nur immer beweisen kann.«

»Gott weiß es, das lag mir fern!« unterbrach Dorn die Redende. »Ich Elisabeth nicht achten? Auf den Knieen möchte ich liegen vor des Mädchens Unschuld.«

»Aber erst sie verderben, nicht?« höhnte Frau Artefeld. »Ich habe es ja gesehen, was Sie zu thun im Stande sind und wie leicht Elisabeth's Unbefangenheit zu mißbrauchen ist. Nur eine Stunde hatte ich die Augen nicht auf Sie Beide gerichtet und Ihren Einflüsterungen verdankte ich schon den offenen Scandal jenes in einer so unweiblichen leidenschaftlichen Weise gesungenen Liebesliedes!«

»Die Stimme der Wahrheit aus einem reinen Kinderherzen,« unterbrach Dorn die strenge Frau auf's Neue. »Ein Jeder mußte die rührende Gewalt dieses unwillkürlichen Geständnisses empfinden. Wessen Herz selbst rein, beugt eher das Knie vor einer solchen Unbesonnenheit, als daß er sie schmäht.«

»Nun, Sie haben diese Unbesonnenheit mit sehr reinem Herzen angehört,« sagte Frau Artefeld, »das beweist der Schritt, zu dem Sie sich dadurch ermächtigt glaubten, sich nächtlicher Weile in's Haus zu schleichen, sich nicht scheuen, die Domestiken zu bestechen –«

»Das habe ich nicht gethan!« fuhr Dorn heftig auf.

»Sie haben mir vorige Nacht selbst gesagt, welchen Vorwand Sie für den Portier ausgesonnen hatten,« fuhr Frau Artefeld fort.

»Ich hatte nicht nöthig ihn anzuwenden, ich fand die Thür offen,« behauptete Dorn.

»Sie werden mir erlauben, an Ihren Worten zu zweifeln. Sie verwickeln sich in Widersprüche, wie es alle Die thun, die auf unehrenhaften Handlungen ertappt werden. Das fügt der Himmel so, es kommt dadurch manche in Nacht gehüllte That an den Tag. Sie haben also meinen Portier bestochen, ich fürchte meinen alten Diener auch, Sie haben es, auf die Gefahr hin, von mehr als einem unberufenen Zeugen gesehen zu werden, gewagt, meine Tochter in tiefster Nacht auf ihrem Zimmer überraschen zu wollen, o! Worte drücken es nicht aus, wie nichtswürdig, wie frevelhaft wie unverzeihlich Ihr Vergehen ist. Wissen Sie, was Sie gethan haben? Sie haben die Ehre meines unbescholtenen Namens angetastet. Wahrlich, ich stelle Sie noch tief unter den Dieb, der die von Ihnen offen gelassene Thür benutzte, sich meines Eigenthums zu bemächtigen.«

»Frau Commerzienräthin,« unterbrach Dorn sie mit schwer bekämpfter Entrüstung, »ich habe sehr unrecht gethan, ich weiß es, und im Gefühl dieses Unrechts bin ich geneigt, Ihnen viel harte Worte zu vergeben. Aber mißbrauchen Sie Ihr Recht nicht, es könnte sonst die Waffe gegen Sie selbst kehren. Ich weiß, daß ich in unbesonnener Leidenschaft mit dem gespielt, was mir doch über Alles theuer ist, mit dem Ruf meiner Elisabeth, mit der Ehre des Namens, den sie trägt, Gott ist aber meiner Unbesonnenheit zu Hülfe gekommen. Was ich auch gewagt, Niemand weiß es als Sie. Ich betheuere es noch einmal, auf meine Ehre, keiner der Domestiken hat mich gesehen, nur Sie – nur Ihr Uebermaß des Zornes könnte daher an das Licht ziehen, was sonst Niemand zu erfahren braucht.«

»Meinen Sie? O, was Sie überlegt und weise sind!« höhnte Frau Artefeld, »trotz Ihrer Unbesonnenheit, der ich so viel nachsehen soll. Niemand soll Sie gesehen haben? Täuschen sie sich selbst, oder wollen Sie nur mich täuschen? Daß Sie bemerkt worden sind, bewies mir deutlich soeben die Unverschämtheit meines Portiers, die Verlegenheit meines alten Dieners. Soll ich mich herablassen, Beide zu bestechen, daß sie schweigen, auch dann schweigen, wenn der in dieser Nacht in meinem Hause verübte Diebstahl zu einer Untersuchung, einer gerichtlichen Vernehmung meiner Leute führt, und meinen Sie, daß man einem so erkauften Schweigen trauen dürfte, auch wenn man im Stande wäre, sich dazu herabzulassen?«

»Ist der Verlust, den Sie erlitten, vielleicht durch meine Unvorsichtigkeit erlitten, denn so groß, daß er in diesem Fall nicht lieber stillschweigend getragen werden könnte?« fragte Dorn kalt.

»O ja, arm würde ich dadurch nicht werden,« versetzte Frau Artefeld hochmüthig, »aber es ist nicht meine Art, irgend ein Unrecht schweigend zu dulden, das gleichsam unter meinen Augen verübt wird. Es würde mit der Moral in der Welt schlecht bestellt sein, duldete man aus so engherzigem Egoismus das Unrecht.«

Dorn sah die Frau staunend an. Er verlor das Verständniß für diesen Charakter immer mehr. Er konnte sie nicht für niedrig denkend, konnte sie nicht für schlecht halten, aber all' ihr Recht zerbrach an der liebeleeren, einseitigen Moral, die ihr Denken, ihr Empfinden zu leiten schien.

Dennoch gab er den Kampf noch nicht auf, ja, mit allem Feuer der Liebe wagte er noch einen Sturm auf das gepanzerte Herz der Gegnerin.

»Habe ich Unbill auf Ihr Haupt herabbeschworen,« sagte er sanft, »o so verleihen Sie mir das Recht, die Macht, das Unrecht zu sühnen. Lassen Sie mich Ihren Sohn sein, vertrauen Sie mir Elisabeth's Glück, die Ehre ihres Namens an. Kommen Sie mit unserer Verlobung dem Gerede zuvor, das Sie fürchten, geben Sie meinem späten Verweilen in Ihrem Hause diese vollgültige Erklärung. Jede Verleumdung, jede schmähliche Vermuthung wird an der Thatsache dieser Verlobung scheitern.«

»Jetzt verrathen Sie sich, mein Herr,« unterbrach Frau Artefeld den Redenden, »durch die, verzeihen Sie, ungeschickte Art, in der Sie meine Handlungsweise auf Kosten meiner Moral bestechen wollen, jetzt legen Sie Ihr ganzes Spiel vor meinen Augen bloß. Unbesonnenheit, Leidenschaft, der Wahnsinn der Eifersucht soll es gewesen sein, der Sie zu jenem nächtlichen Besuch veranlaßt? Berechnung war's, schlaue Berechnung. Daß Sie, der Sie nichts sind und nichts haben, nicht die Augen zu einer der ersten Partien Breslaus emporheben durften, wußten Sie wohl, ebenso, daß ich keine von den weichherzigen schwachen Seelen bin, die an gebrochene Herzen glauben und durch Thränen und Seufzer zu bestechen sind. Es galt also andere Hebel in Bewegung zu setzen, als die gewöhnlichen, die auch nur gewöhnliche Seelen rühren.« –

Mit sprachlosem Erstaunen hatte Dorn zugehört. Diese Wendung der Sache war so neu, so überraschend, daß sie ihn einen Augenblick verwirrte, ja, es war ihm fast zu Muthe, als könnte er nichts Anderes thun, als darüber lachen. Aber während des Kampfes seiner Gefühle fiel es wie Schuppen von seinen Augen. Nein, mit dieser Frau war kein Bund zu schließen, die Tochter dieser Mutter war für ihn verloren. Die Beleidigungen, die sie kaltblütig eine nach der andern auf sein Haupt gehäuft, konnte er an ihr nicht rächen, denn sie war eine Frau, und der Mißbrauch, den sie mit ihren weiblichen Vorrechten trieb, hätte ein ähnliches Verfahren seinerseits nicht entschuldigt aber sich ihr auch nur mit einem Schritt nähern, wäre eine tiefe Herabwürdigung gewesen: Nein, Elisabeth war für ihn verloren, und nicht gedemüthigt durch die Anklagen ihrer Mutter, sondern zu dem vollsten Bewußtsein seines Selbstgefühls dadurch emporgehoben, das kalte, harte Gesicht der unerbittlichen Frau vor Augen und den Nachhall ihrer rücksichtslos höhnenden Worte im Herzen, konnte er den Gedanken ertragen, Elisabeth zu verlieren. Nicht um des Paradieses Seligkeit hätte er mit dieser Frau noch etwas zu thun haben mögen. Daß sie die Beschuldigungen glaubte, die sie soeben gegen ihn ausgesprochen, konnte er sich nicht denken, aber daß sie dieselben ersann, um seiner los zu werden, riß die Kluft nur noch tiefer. Die unabweisliche Ueberzeugung, daß ihm hier nur noch ein Weg übrig blieb, gab ihm die nöthige Festigkeit, denselben nun auch ohne Besinnen einzuschlagen.

»Ich empfehle mich Ihnen, Frau Commerzienräthin,« sagte er mit einer gemessenen Verbeugung und im eiskalten Tone. »Sie werden nicht verlangen, daß ich mich gegen Beschuldigungen, von deren Richtigkeit Sie selbst überzeugt sind, auch nur mit einem Wort vertheidige. Eben so wenig strebe ich noch ferner nach dem Vorzug, Sohnesrechte in einer Familie zu erlangen, deren Haupt ein so starkes, unbeugsames ist, daß ihm der eigene Wille höher gilt, als das Glück, die Wohlfahrt, ja die Ehre Anderer. Wollte ich noch ferner den Wunsch hegen, mich Ihren Sohn zu nennen, müßte ich erst aufhören ein Mann zu sein. Ich nehme meine Bitte um die Hand Ihrer Fräulein Tochter zurück. Sie wird für mich immer das Ideal anmuthiger, liebenswürdiger Weiblichkeit bleiben, aber das arme, holde Kind wird den Fluch des Himmels tragen müssen, der die Sünden der Eltern heimsucht an den Kindern. Liebe ohne Selbstachtung wirft den Mann in den Staub. Ich würde mich selbst verachten, ich würde Elisabeth schmähen, näherte ich mich ihr je wieder mit anderen Ansprüchen der Liebe als solchen, die ihr Ziel in den Himmel stellen.«

»Stellen Sie es, wohin Sie wollen, je weiter, desto besser,« entgegnete Frau Artefeld, die, was ihr sonst nie zu begegnen pflegte, einigermaßen durch das Gespräch erhitzt nicht mehr Herr ihres Aergers war, »und seien Sie überzeugt, daß wenn Sie sich selbst verachten wollen, ich dies nur für eine richtigere Selbsterkenntniß halten würde.«

»Frau Commerzienräthin!« rief Dorn heftig.

»Ich bin gelangweilt durch Ihre hochtrabenden Reden, machen Sie denselben ein Ende,« fuhr jene, Dorn's Heftigkeit wieder ihre kalte Ruhe entgegensetzend, fort, »Sie sind ein Schauspieler, wenn Sie nicht noch etwas Schlimmeres sind –«

»Was?« fragte Dorn, zitternd vor Wuth.

»Wenn ich das aussprechen wollte, würde ich wenigstens zugleich nach dem Diener klingeln, mein Wort mit der entsprechenden Handlung zu begleiten. Sie werden mich verbinden, wenn Sie mich dessen überheben.«

Dorn fuhr auf wie ein angeschossener Eber. Einen Augenblick tanzte und flimmerte Alles vor seinen Augen, dann aber sagte er, sich gewaltsam zusammennehmend:

»Sie sind zwar keine Dame, die durch ihren Anspruch an Weiblichkeit den Mann entwaffnen könnte, aber Sie sind doch auch kein Mann, den man gleichberechtigt zur Verantwortung zieht, selbst für berechnete Bosheit in Wort und That. Ihr Geschlecht stellt Sie mir gegenüber außerhalb der Verantwortung, die ich von jedem Manne auf Tod und Leben verlangen würde.«

Frau Artefeld lächelte höhnisch. »Das trifft sich ja für Sie sehr gut,« sagte sie.

»Ich werde mich mit meinen gerechten Ansprüchen auf Genugthuung an den wenden, der die Ehre hat, als Ihr Gemahl Ihre Handlungen und Worte zu vertreten,« sagte Dorn kalt.

Frau Artefeld zuckte leicht zusammen, entgegnete aber kein Wort, Dorn verbeugte sich und verließ in ernster Haltung das Zimmer. In diesem Augenblick war es, daß Flora ihm auf dem Corridor begegnete und ihn in das Zimmer ihres Vaters stürzen sah.

Frau Artefeld stand wie gebannt, als er fort war, sie war blaß geworden und fühlte, wie eine Eiseskälte sie durchrieselte, aber der gewaltige Wille der Frau bannte die Schwäche.

»Ich muß so handeln, ich mußte es,« sagte sie. »Er verdient meine Verachtung, ich habe sie ihm gezeigt. Er konnte nicht gründlich genug zurückgewiesen werden. Soll ich mir von Fremden in meine Rechte eingreifen lassen? Ueber meine Kinder habe ich zu bestimmen, nur ich.« –

 

Herr Artefeld war nicht wenig über den Besuch erschrocken, war es noch mehr, als er den Grund desselben erfuhr, denn Dorn, seiner Heftigkeit freien Lauf lassend, erzählte ihm nun den ganzen Vorgang und zog ihn zur Rechenschaft für die ihm widerfahrene Behandlung.

»Aber was wollen Sie von mir, was soll ich thun?«, fragte er in größter Verlegenheit über die leidenschaftliche Hitze des jungen Mannes.

»Sie sollen mir Genugthuung geben für den mir von Ihrer Frau angethanen Schimpf,« verlangte Dorn.

»Aber, lieber Freund, jede, die Sie wollen,« versicherte Artefeld, »ich kann Ihnen jedoch keine bessere geben, als die Erklärung, daß ich die Worte meiner Frau vollständig desavouire.«

»Ich bin in Ihrem Hause beleidigt,« beharrte Dorn, »von Ihrer Frau beleidigt. Als Dame steht sie außerhalb meiner Rache; Sie müssen für sie einstehen, Sie müssen sich mit mir schlagen oder sie zu einem Widerruf, zu einer Abbitte zwingen.«

»Meine Frau zu etwas zwingen!« lächelte Artefeld, »hören Sie, liebster Freund, wenn ich das könnte, dann würde ich eine Probe männlicher Ueberlegenheit abgelegt haben, wie es keine zweite in der Welt giebt.«

Es lag etwas in der Naivetät dieses Geständnisses, was Dorn besänftigte, ihm aber zugleich eine Art Verachtung für den einflößte, der es ihm abgelegt. Artefeld verfolgte seinen Sieg.

»Sie sagen, Sie sind in meinem Hause beleidigt, das Haus ist nicht mein, es gehört meiner Frau; diese ist's, die Sie beleidigt hat, und Sie wenden sich nun an mich, als den Herrn dieser Frau, um Ihnen für sie Genugthuung zu geben. Hier kehrt sich aber das Verhältniß um, denn diese Frau ist zufällig mein Herr. Da ich also alle Vortheile der natürlichen Verhältnisse entbehren muß, werden Sie nicht verlangen, daß ich den größten Nachtheil derselben, die Verpflichtung, für die Thorheit der Frau mit Blut und Leben einzustehen, über mich nehme.«

»O, scherzen wir nicht über diese Sache,« sagte Dorn, indignirt über die niedrige Wendung, durch die Artefeld seinem Zorn entschlüpfen wollte. »Ich gebe es allerdings auf, Sie zum Vertreter Ihrer Frau zu machen; da Sie sich freiwillig noch unter diese stellen, wäre Ihre Genugthuung mir nicht einmal genügend.«

»Legen Sie die scherzhafte Wendung, die ich der Angelegenheit zu geben bemüht war, nicht etwa für Abneigung gegen die Art der geforderten Genugthuung aus, ich bitte darum,« unterbrach ihn Artefeld in gereiztem Tone. »Das Duell ist in unserm Stande nicht gerade gebräuchlich, ich bin nicht zum Schwert erzogen, weiß mit der Pistole nicht umzugehen, würde mich aber vor Keinem scheuen, denn Kugel und Schwert treffen doch nur, wenn Gott es will. Es liegt nur in meiner zu Scherz und Heiterkeit gestimmten Gemüthsart, auch schwere Conflicte wo möglich spielend auszugleichen. Sie sind nicht dazu geneigt, gut, so sprechen wir ernst über die Sache. Gesetzt, wir schlügen uns. Natürlich wird die Geschichte ruchbar, und man geht ihr auf den Grund. Glauben Sie, daß die Welt sich wird mit einem Vorwand täuschen lassen? Die harten Worte meiner Frau bedürfen einer Rechtfertigung und diese führt natürlich an den Vorgang zurück, der Grund dieser Worte gewesen. Wollen Sie den Namen eines unschuldigen Mädchens, das Sie zu lieben vorgeben, in eine so unsaubere Geschichte verwickelt sehen, da Sie doch die Schuld tragen, daß ihr Name überhaupt dabei genannt werden mußte? Ich bin empört über die Behandlung, die Ihnen widerfahren, ich brenne darauf, Ihnen jede Genugthuung zu geben, die Sie verlangen, aber glauben Sie mir, Mäßigung thut hier noth. Ich verlange sie von Ihnen im Namen meiner Tochter, die Sie lieben, deren Mann Sie werden sollen, wenn Sie mir Zeit und Raum zum Handeln lassen.«

Dorn trat mit einer abwehrenden Bewegung zurück. Artefeld fuhr, wieder in seinen leichten Ton übergehend, fort:

»Was kann meine Frau gegen Sie haben? Nichts. Sie wird ärgerlich gewesen sein über das gestohlene Silberzeug! Sie sagten ja wohl, daß ein solcher Diebstahl verübt und daß meine Frau Sie in dem Pathos ihrer Rede sogar noch mit größerer Verachtung gebrandmarkt als den Dieb. Nun, sie wird's bereuen, der kleine Hitzkopf wird's bereuen, und dann schreiben wir ihr die Friedensbedingungen vor.«

»Ich bitte mich dabei aus dem Spiel zu lassen,« sagte Dorn ernst.

»Wie Sie wollen, Sie unversöhnlicher Mensch,« lachte Artefeld; machte aber, als er Dorn's unbewegliche Miene sah, gleichfalls ein ernstes Gesicht und sagte wehmüthig: »Ach, zu scherzen ist über die Sache nicht, wenn auch mein Temperament immer wieder mit mir durchgeht. Also im Ernst,bestimmen Sie über mich. Aus Rücksicht auf meine Tochter darf ich Ihnen nicht die geforderte Genugthuung versagen, und eben so wenig habe ich ein Recht, von Ihnen Rücksicht für Elisabeth zu verlangen.«

»O doch, doch!« rief Dorn feurig aus, »ihr muß jedes Opfer gebracht werden! O Elisabeth!« fuhr er ergriffen fort, »ist es mir schon nicht vergönnt, Dich glücklich zu machen, so will ich doch, so weit es in meiner Macht steht, wenigstens jedes Weh von Deinem unschuldigen Haupt abwenden.«

»Sie sind ein edler junger Mann,« sagte Artefeld, gerührt ihm die Hand hinreichend. Jener nahm sie nicht.

»Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen,« sagte er kalt und verließ das Zimmer.

 

Sowie Dorn hinausgegangen war, verriegelte Artefeld die Thür hinter ihm und eilte auf seinen Schreibtisch zu, dessen eines Fach er aufschloß. Das Erste, was sich seinen Blicken zeigte, war das vermißte Silberzeug.

»Verdammt!« fluchte er, »da ist's wahrhaftig! Da bin ich wieder in eine hübsche Geschichte hineingerathen. Sind denn alle Teufel jetzt los, – jetzt, wo ich meine Czarin durchaus guter Laune haben muß! Das verwünschte Silberzeug!«

Nicht ganz seiner Sinne mächtig, als er am gestrigen Abend nach Hause kam, ja, ihrer weniger mächtig als sonst in ähnlichen Fällen, da er, je mehr er sich dem Leben ergab, für das er seine Freiheit verkauft hatte, der Vorsicht mehr und mehr vergaß, war er, statt gleich die Treppe zu finden, erst in das unmittelbar neben derselben liegende Bedientenzimmer gerathen. Des Geldes in so dringender Weise bedürftig, daß er sich kaum von der schlechtesten Art, sich dasselbe zu verschaffen, fern halten konnte, fiel ihm das Silberzeug lockend in die Augen. Es war eben nur eine Vorspiegelung seiner trunkenen Sinne, daß das Silber ihm ja eben so gut gehöre, als seiner Frau, daß er es versetzen, verkaufen könne, wenn er wolle. Und zum Teufel, er wolle es! Mit diesem Gedanken raffte er es zusammen und nahm es mit in seine Stube.

Leider brachte ihm der Morgen mit der Besinnung nicht zugleich die volle Erinnerung zurück, erst bei Dorn's Mittheilung kehrte sie ihm wieder, wenn auch nur wie ein wüster Traum. Er konnte sich im Augenblick nicht gleich darauf besinnen, ob er das Silber wirklich gesehen und genommen, ob er nur davon geträumt habe. Aber da lag es vor ihm, ihn in Verwirrung und Aerger zu stürzen. Was war jetzt damit zu thun? Seinem erfinderischen Kopf fehlte es jedoch nicht an einem Auswege. Er nahm sich vor, seiner Frau ganz ruhig zu erzählen, daß er gestern verschiedene Male nach Gebhard geklingelt, ohne daß dieser gekommen, daß er dann selbst hinuntergegangen sei, ihn zu holen, das Zimmer leer gefunden, den Tischkasten offen und das Silberzeug in demselben bemerkt habe, – daß es ihm bedenklich erschienen sei, es so offen liegen zu lassen, daß er es deshalb und zugleich, um Gebhard durch den Schreck für seine Nachlässigkeit zu strafen, mit heraufgenommen, heute früh aber vergessen habe, es zeitig zu sagen. Damit war die Sache erklärt.

Mit dieser fertigen Lüge im Kopf ging er zu seiner Frau hinüber, unterwegs vor sich hin brummend:

»Sie zu belügen schadet nichts, sie will doch einmal belogen werden!«

Er fand Flora bei seiner Frau. Das Mädchen hatte eben Gebhard gesprochen und von ihm die Angelegenheit mit dem Diebstahl erfahren, so weit sie ihm bekannt war, ja, sie hatte ihm durch eifriges Fragen herausgepreßt, daß er seinen nächtlichen Ausgang eingestanden, jedoch weder Richard's noch ihres Namens dabei erwähnt, daß aber noch eine weitere Untersuchung der Sache bevorstehe.

»Seien Sie aber ganz ruhig,« versicherte der treue Mensch, »ich sage nicht, weshalb und mit wem ich ausgegangen bin, ich bleibe dabei, es ist ein Freund von mir abgereist. Sie sollen nicht Schelte darum bekommen, denn wenn die Madame schilt, ist sie zu schlimm!«

Natürlich ging Flora sogleich selbst zur Mutter und erzählte ihr ihre Betheiligung bei dem Vorgange, versicherte, daß sie Gebhard zu dem Unternehmen verleitet, und bat sie, alle Verantwortung auf sie zu übertragen. Sie hatte eben angefangen, als ihr Vater eintrat und so das Geständniß mit anhörte.

»Ich bin eine sehr glückliche Frau und Mutter,« sagte Frau Artefeld, als Flora geendet hatte, »ich werde von allen Seiten belogen und betrogen! Von wem wußtest Du, daß Richard in der Stadt war?«

»Von Herrn Richter,« antwortete Flora schüchtern.

»Natürlich, ich hätte nicht zu fragen brauchen,« spottete Frau Artefeld, »sei so gut und klingle einmal,« herrschte sie dann ihrem Manne zu. Er gehorchte bereitwillig.

»Herr Richter soll zu mir kommen,« sagte sie zu dem eintretenden Bedienten.

Einige Minuten vergingen in schweigender Erwartung.

Herr Artefeld trommelte wieder mit den Fingern auf dem Tisch, nahm sie aber augenblicklich, seiner Frau freundlich zulächelnd, herunter, als er den ungeduldigen Blick derselben sah, Flora stand mit gerötheten Wangen, ängstliche Besorgniß in den Zügen neben ihrer Mutter, die, nachlässig zurückgelehnt, in dem Lehnstuhl am Fenster saß. Den Hut in der Hand, wie es im Hause Styl war, trat Herr Richter ein.

»Herr Richter,« sagte Frau Artefeld, mit unbeschreiblichem Hochmuth, der bei ihr immer die Stelle der Würde vertrat, auf ihn herabsehend, »ich finde, daß Sie neben anderen nicht für mich passenden Eigenschaften auch die haben, daß Sie nicht reinen Mund halten können. Solche Diener kann ich nicht brauchen! An einem Manne ist nichts so unerträglich als Klatscherei. Suchen Sie sich einen Dienst, in dem eine Frau Base und nicht ein verschwiegenes Werkzeug seines Herrn gesucht wird.«

»Klatscherei! Frau Base!« wiederholte Herr Richter. Ein weiteres Wort brachte er nicht hervor, aber sein Gesicht drückte so viel Zorn aus, als es diesem Inbegriff aller Gutmüthigkeit nur möglich war. »Klatscherei? Ich klatschen – klatschen – I da soll doch!« – er unterbrach sich rasch, aber als müsse er durchaus noch einen thatsächlichen Beweis geben, wie ihn die eben erfahrene, rücksichtslose Behandlung beleidige, nahm er plötzlich seinen Hut, stülpte ihn sich heftig vor den Augen seiner erstaunten Herrin auf den Kopf und verließ das Zimmer, ohne sie nur eines Grußes zu würdigen.

Flora stürzte ihm nach.

»Aller guten Dinge sind drei, – nun komme ich an die Reihe,« dachte Artefeld, »sehen wir zu, ob wir sie nicht sanft stimmen können.«

»Du hast Verdruß gehabt, mein Engel,« sagte er im einschmeichelndsten Tone, dessen er nur fähig war, »Du hättest es mir überlassen sollen, den albernen Menschen abzufertigen. Aber was ist das mit Richard? Verstand ich meine kleine Flora recht, so hat der ungerathene Schlingel Dich wieder beunruhigt?«

»Solltest Du das nicht gewußt haben?« bemerkte sie spöttisch. »Du und Flora, Ihr pflegt doch sonst keine Geheimnisse vor einander zu haben. Wovon unterhaltet Ihr Euch denn in den langen Conferenzen, die Ihr täglich zusammen habt, wenn nicht jeder Vorfall in und außer dem Hause den Stoff dazu hergiebt?«

 

Es war Flora's Gewohnheit, jeden Morgen eine Stunde bei ihrem Vater zuzubringen; sie hatte sie angenommen, seitdem seine zweite Heirath, der Eintritt in eine neue Häuslichkeit, die Tochter natürlich, wenigstens scheinbar, mehr in den Hintergrund gestellt und sie des bisherigen Vorrechtes beraubt hatte, die Hauptperson in der Umgebung ihres Vaters zu sein. Flora's demüthigem und kindlichem Sinne war es nie eingefallen, in dieser Veränderung eine Beeinträchtigung ihrer Rechte zu sehen, ja, sie würde sie vielleicht nie bemerkt haben, wenn Frau Artefeld es verstanden hätte, Mittelpunkt des ganzen Familienkreises zu sein, eine Stellung, die sie allerdings beanspruchte, aber in so verkehrter Weise, daß sie gerade in das Gegentheil umschlug. Frau Artefeld war wenigstens nie in der Mitte, um zu verbinden, sondern nur, um zu trennen und jeden Einzelnen direct von sich abhängig zu machen. So stand sie isolirt und isolirte alle Anderen, weil sie mit Keinem ging und Keinen an sich vorbeiließ.

Flora fühlte die Entfremdung, die dadurch zwischen ihr und ihrem Vater eintreten mußte, instinctmäßig heraus; es war eine ganz unwillkürliche Hülfe dagegen, nach der sie griff, als sie die Morgenstunde, in der sie ihn meist allein auf seinem Zimmer wußte, für sich in Anspruch nahm und mit ihm theilte, wie sie in früheren Zeiten jede Stunde mit ihm getheilt hatte, die er zu Hause zubrachte. So wurden diese kleinen vertraulichen Zusammenkünfte tägliche Gewohnheit, und Flora ließ sich auch dann nicht davon abbringen, als sie sah, daß ihre Mutter sich daran ärgerte. So oft wie möglich von jener darin gestört, oder deshalb bespöttelt, ja sogar durch gelegentliche Bemerkungen geärgert, die dahin zielten, ihr den Glauben beizubringen, als mache sie sich ihrem Vater lästig, ließ sie sich doch nicht von ihm verdrängen, und er rechnete glücklicher Weise die Liebe für seine Tochter nicht zu den Opfern, die er dem Egoismus, der Herrschsucht seiner Frau und den Vortheilen seiner neuen Lage zu bringen habe. Die versteckten Vorwürfe, die ihm deshalb zu Theil wurden, parirte er bald durch Scherze, bald durch zärtliche Versicherungen, und wußte es immer so zu drehen, daß seine Gefälligkeit gegen Flora nur den Anschein eines Ersatzes hatte, den er ihr mitleidig für den Verlust zu Theil werden ließ, den sie durch seine Heirath an seinem Herzen erlitten.

Für Flora war diese Morgenstunde mit dem Vater eine Bedingung ihres Glückes; er nahm sie, vor der Frau wenigstens, völlig bedeutungslos auch heute.

»Sie hat mir nichts von Richard erzählt,« sagte er, »oder ich habe es nicht beachtet, das kleine Ding schwatzt so viel, ich kann nicht immer zuhören, wenn ich es mir auch nicht merken lasse.«

»Ich weiß nicht, wozu diese Schonung dienen soll,« bemerkte Frau Artefeld, »ich würde sie doch fortschicken, wenn sie mir lästig wäre.«

»Soll ich sie kränken?« fragte Philipp. »Soll ich sie mehr noch als nöthig ist fühlen lassen, daß sie nicht mehr die herrschende Gewalt in meinem Herzen ist? Man kann nicht zween Herren dienen, heißt es, ach, ich möchte beinah behaupten, man kann nicht zwei Personen zugleich lieben. Die eine kommt immer zu kurz dabei.«

»O,« unterbrach ihn seine Frau mit so gewaltsam ausbrechender Bitterkeit, daß er sie erschrocken ansah, »heute nur keine Schmeichelei, heute nur kein Wort, was mich auf den Gedanken bringen könnte, Du redetest mit zwei Zungen, Du zeigtest zwei Gesichter.«

»Wie kommst Du darauf?« fragte er verwundert, mit der Miene gekränkter Unschuld ihr in's Gesicht sehend, und als sie mit der Antwort zögerte, fuhr er schmerzlich fort: »Du mußt einen sehr heftigen Verdruß heute gehabt haben, daß Du, die Du die Gerechtigkeit selbst bist, so ungerecht sein kannst. Du hättest ihn lieber mit mir theilen sollen. Ich werde aber Den zur Rechenschaft ziehen, der Dich Dir selbst so unähnlich gemacht hat.«

»Du hast Dir also nichts vorzuwerfen, gar nichts?« fragte sie, »Du lebst also nicht hinter meinem Rücken, wie es einem Manne, in Deinen Jahren und Verhältnissen nicht ziemt, Du hast nicht außer den Cirkeln in meinem Hause, in denen Bildung, Anstand und feine Sitte heimisch sind, die, wie es sich gehört, nicht der Nacht auf Kosten des Tages die Stunden rauben, Deine lockeren Gesellschaften, aus denen Du erst mit Tagesanbruch, Gott weiß in welchem Zustande heimkehrst? Deine Reizbarkeit, die ich schon seit längerer Zeit bemerkt und die mich besorgt um Deine Gesundheit machte, ist also nicht Folge schlafloser, in Trunkenheit hingebrachter Nächte, Du hast also keine Schulden, deren Bezahlung Du mir gelegentlich abzuschmeicheln gedenkst, und die alten Freunde, um derentwillen ich Dir zuvorkommender Weise gestattet habe, ein paarmal wöchentlich außer dem Hause zu speisen, sind nicht bloß alte, damenscheue Junggesellen, sondern alte und junge leichtsinnige Schufte, die Dein Jahrgeld mit verzehren und Dich in dem wüsten Treiben unterstützen, das aller Ehrbarkeit und Moral spottet und mich dem Mitleid, dem Gelächter, meinen Namen der Schmach preisgiebt? Ich, die ich den Tag über arbeite, mehr wie die ärmste Tagelöhnerfrau, habe nicht gewußt, daß ich auch des Nachts wach sein müsse, mein Haus vor Unsitte zu schützen, ich, in meinem blinden Vertrauen zu Deiner Rechtschaffenheit, habe mich begnügt, Deinen Müßiggang nur zu beklagen, ohne das Sprichwort zu bedenken: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Sage mir nur, wie Du es machst, so anständig und gesittet, so liebevoll und unterwürfig zu scheinen und von alledem nichts zu sein?«

Frau Artefeld hatte mit einer ihr sonst nicht eigenen Leidenschaftlichkeit gesprochen, die nur zu gut bewies, wie ihr Herz bei dem Gesagten betheiligt war, wie sie diesmal nicht nur ihre Würde, wie sie das zu wahren hatte, was eigentlich der Ursprung aller Würde sein soll. Vielleicht war es ihre Bewegung und die Auslegung, die ihr tiefblickender, geschickter Gemahl für dieselbe fand, die ihm nach dem ersten Schreck seine Haltung wiedergab. Ohne den Blick von ihr zu wenden, ohne nur einmal die Farbe zu wechseln, ließ er sie aussprechen, so ruhig und kalt ihr gegenüberstehend, als berührten ihre Worte ihn so wenig, wie die murmelnde Quelle die Spitze des Eichbaumes, an dessen Fuß sie wellenspritzend vorüberfließt.

»Du hast Herrn Richter soeben wegen Klatscherei entlassen,« sagte er in sehr ernstem Tone, »und zwar nur, weil er meiner Tochter eine Nachricht mitgetheilt, die zwar von allgemeinem Interesse für die Familie, also auch für sie sein muß, sonst aber Keinen weder angreifen, noch kränken, noch überhaupt ein Uebles zufügen konnte und wenigstens volle Wahrheit enthielt. Ich habe Dir ganz recht gegeben, denn er hatte wider Dein Verbot gehandelt, hatte sich überhaupt einer Indiscretion schuldig gemacht. Wie wirst Du denn aber die Frau Base bestrafen, die in ihrer Klatscherei bösartige Lügen nicht scheut, ja, wie hast Du es nur eigentlich gemacht, sie anzuhören?«

Seine Ruhe machte Frau Artefeld stutzig, seine letzte Frage beschämte sie vielleicht; seine ganze Haltung war so ernst, seine Miene so sanft und doch so gekränkt, daß zum ersten Mal in ihrem Leben die Möglichkeit einfiel, sie könne unrecht haben.

»Worte hätte ich vielleicht nicht angehört,« sagte sie nach einigem Besinnen, »aber das Blatt Papier, das Einem Verleumdung oder Wahrheit vermittelt, legt man nicht leicht ungelesen aus der Hand. Lies!«

Sie reichte ihm einen Brief hin, den er ruhig und aufmerksam durchlas. Er enthielt so ziemlich alles das, was seine Frau ihm vor wenigen Minuten vorgeworfen, enthielt eine Zusammenstellung aller möglichen bösen Gerüchte, ohne jedoch für eins eine bestimmte Gewähr aufzustellen, machte seiner Frau den bittern Vorwurf, um seinetwillen, der doch nur ihr Geld geheirathet und deshalb gegen Richard intriguirt, diesen aus dem Hause entfernt zu haben, gab ihr schuld, daß sie abermals um eines solchen Sünders willen den Sohn verstoßen und sein Recht einem nachgeborenen Liebling aufopfere.

Der Brief enthielt fast eben so viel Feindseliges gegen Frau Artefeld wie gegen ihren Mann, und verrieth in Styl und Handschrift eine äußerst ungeübte Feder.

»Anonym,« sagte Philipp Artefeld, als er mit der Lectüre zu Ende, »auf anonyme Zuschriften giebt es nur eine Antwort.«

Er zerriß das Blatt und warf es zu Boden. Er hatte das Alles sehr ruhig gesagt und gethan, plötzlich übermannte ihn aber das Gefühl.

»O Wendula!« brach er los, »das hast Du glauben können?!«

Ihm stunden die Augen voll Thränen.

Sie sah ihn starr an, sie war nicht weniger erschüttert als er.

»Nein, so falsch kann Keiner sein, daß er sogar Thränen heuchelt,« sagte sie.

»Gewiß nicht,« versicherte er.

Sie hatte immer noch den Blick auf ihn gerichtet, als wollte sie ihm in die Seele schauen.

»Ich habe schon so viel Undank erfahren,« sagte sie halb bitter, halb schmerzlich bewegt, »von Dir könnte ich ihn nicht ertragen!«

Er stürzte ihr zu Füßen.

»Undank, von mir? Mein Leben möchte ich hingeben, Dir für mein Glück zu danken!« rief er feurig.

»Sie war bezwungen, sie hob ihn vom Boden auf, sie litt seine feurige Umarmung mit so weicher Hingebung, als sei sie noch die sechszehnjährige Wendula und höre zum ersten Mal das Geständniß seiner Liebe. Sie sagte sogar: »Verzeihe mir,« ein Wort, das sie bis jetzt selbst dem Himmel kaum zugeflüstert. Jetzt, nun sie ihm Glauben geschenkt, wollte Philipp Punkt für Punkt die Verleumdungen widerlegen, aber sie litt es nicht; er erklärte sich bereit, aus der Gesellschaft auszutreten, die ihn wöchentlich ein paarmal aus dem Hause entferne, nicht, weil er im geringsten zugeben könnte, daß die in dem Briefe bezeichneten Mitglieder nicht Ehrenmänner seien, sondern nur, weil ihm nichts auf der Welt Vergnügen mache, was ihr Mißfallen errege – sie lächelte geschmeichelt, wies aber das Opfer zurück, ja, sie erinnerte sich sogar freundlicher Weise, daß heute einer der zu den Zusammenkünften bestimmten Tage sei, und bestand darauf, daß er hingehen solle.

Genug, die eheliche Scene endete in vollkommener Harmonie. Mit der Courtoisie eines Ritters küßte er ihr die Hand, als sie ihn bat, sie nun allein zu lassen, und in den strengen Augen der kalten, schroffen Frau leuchteten tausend Jugenderinnerungen auf, als sie seiner forteilenden Gestalt mit den Blicken folgte.

Als die geschlossene Thür sie trennte, brach sie in Thränen aus, er – wischte sich den Schweiß von der Stirn und eilte auf sein Zimmer. Aber Ruhe schien heute Keinem beschieden, dort empfing ihn Flora, tausend Bittschriften in dem beredten, gutmüthigen Gesicht. Diesmal hätte er sie wirklich gern hinausgeworfen.

»Nur schnell, schnell, sage was Du willst,« drängte er, »ich habe nicht eine Minute Zeit.«

»Papa,« sagte sie, »ich habe doch durch Deine Güte mein eigenes kleines Vermögen?«

»Kind, Du bist mündig, meine Güte hat nichts damit zu thun,« wies er sie ungeduldig zurück.

»Gut, gut, es ist also mein,« fuhr sie fort, »aber Du mußt mir doch rathen, wenn ich es anders und zwar besser anlegen will, als wie bisher in Staatspapieren.«

»Willst Du speculiren?« fragte er, halb und halb belustigt.

»Ach, ich will nur ehrlich sagen, was ich will,« brach sie los. »Herr Richter kommt durch meine Schuld um seine Stellung. Er ist brodlos und hat vier Kinder. Er ist ein alter Mensch, oder wenigstens kein junger mehr, ist selbstständig gewesen und soll sich nun wie ein Lehrling behandeln lassen. Du hast heute erst gesagt, ein kleines Capital könne ihm aufhelfen und der, der es ihm gäbe, würde nichts verlieren. Nun denke ich, das meine würde gerade hinreichen. Ich will's daranwagen, Papa! Die ganze Familie kann glücklich werden, und im schlimmsten Fall kann ich ja nur Geld verlieren. Darf ich ihm helfen?«

Sie sah ihn flehend an. Sie konnte die Empfindungen nicht verstehen, nicht deuten, die sich auf seinem Gesicht malten. Er ließ sie nicht lange in Ungewißheit.

»Herr Richter ist ein ehrlicher Kauz, vom Kopf bis zur Zehe, geschwind, gieb ihm das Geld und laß ihn machen, daß er fortkommt!«

Flora stürzte ihrem Vater um den Hals, dann eilte sie jubelnd fort. Er athmete tief auf.

»Eine Versuchung weniger,« murmelte er. »Gottlob! Es kann Keiner recht für sich einstehen, ich hätte mich am Ende noch an ihrem Eigenthum vergriffen. Pfui, solch' malhonnetter Kerl hätte ich um keinen Preis sein mögen! Mein Kind berauben, pfui!«

 

Als Flora Herrn Richter, nachdem er auf so herabsetzende Weise seinen Abschied erhalten, nachgeeilt, holte sie ihn mit Mühe an der Treppe ein. Der Zorn hatte seine Schritte verdoppelt, ebenso wie er sein Ohr ihrem Ruf verschlossen.

Erst als sie dicht neben ihm stand und seinen Arm ergriff, sah und hörte er sie.

»O Gott, sind Sie denn so sehr böse auf mich, daß Sie mich gar nicht einmal anhören wollen?« sagte sie ängstlich, begnügte sich aber mit der Antwort, die ihr aus jedem Zuge seines ehrlichen Gesichtes entgegenleuchtete, und zog ihn, ohne auf seinen anfänglichen Widerstand zu achten, mit sich fort in ihr Zimmer hinein.

»So, jetzt verzeihen Sie mir erst, und dann sagen Sie mir, was Sie weiter zu thun gedenken.«

»Zu verzeihen habe ich Ihnen nichts, Sie haben keine Schuld,« versetzte Herr Richter. »Sie sind das beste Herzchen von der Welt, daß Ihr unschuldiger Verrath meine Verabschiedung herbeigeführt, ist nur Zufall. Gott verzeih mir's, aber die Frau Prinzipalin lauerte schon lange auf mich, wie die Katz' auf die Maus. Ich hab's ihr all' lang' angesehen. Aber ich bin nicht die Maus, die sich zu Tode beißen läßt, ich will behandelt sein wie ein anständiger Mensch. Hab' ich ihr Geld genommen, so hab' ich auch dafür gearbeitet. Aber ich hätte nie hierher kommen, ich hätt's an den Bedingungen merken sollen, daß hier kein Grund und Boden für meine Füße war. Eine Frau, eine Mutter will sie sein und trennt einen armen Familienvater von seinen trautsten Kinderchen! Seelenkäuferei war's, und ich alter Thor ließ mich durch das ansehnliche Gehalt locken, weil ich glaubte, um so eher wieder mir mein Haus bauen zu können. Sehen Sie, Fräulein Florchen, ich hatte es mir schon berechnet, wie lange ich sparen mußte, um so viel zusammen zu bekommen, wieder einen selbstständigen Handel beginnen zu können; das kleinste Krämergeschäft wär' mir recht gewesen. Brod und Salz hätt' ich essen wollen und arbeiten von früh bis spät, hätten mir nur die goldenen Lichter wieder dazu geleuchtet, die der liebe Herrgott in den trautsten Gesichtern meiner Margellen angezündet und ohne die mir immer ist, als tappe ich im Finstern umher und stieße mit meinem dicken Kopf überall an scharfe Ecken. Sehen Sie, Fräulein Florchen, Sie können es nicht wissen, was es heißt, mit dem Dach über seinem Kopf auch seine Familie aufgeben zu müssen, aber hier, Ihre Frau Mutter, die mußte es sich denken können. Aber die ist eine Rabenmutter, die stößt ja die eigene Brut aus dem Nest!«

»Gehen Sie denn nun zu Ihren Kindern zurück?« fragte Flora, ein wenig ängstlich über die Aufregung des Mannes und mit einem Entschluß kämpfend, den sie nur nicht auf eigene Verantwortung auszuführen wagte.

»Ach,« sagte er niedergeschlagen, »ich muß mir ja nun erst wieder eine Stelle suchen, und es wird mich eben nicht empfehlen, daß man mich in einem so geachteten Hause so plötzlich entläßt. Das ist auch etwas, was die bedenken sollten, die über Untergebene zu verfügen haben, daß sie durch ein zu rasches Gericht oft Ehr' und Reputation eines Unschuldigen zu Grunde richten oder in einem unverziehenen Fehler oft den Keim zu einer künftigen Schuld entwickeln. Weil mir das Herz überlief und ich der Schwester erzählte, daß ich ihren Bruder gesehen, darum nennt man mich Frau Base, spricht von Klatscherei und jagt mich fort, als hätte ich einen geheimen Schatz veruntreut. Wenn ich nun nicht solch' gutmüthiger Kerl wär', oder vielmehr, wenn ich nicht wüßte, daß Unrecht leiden unserm Herrgott besser gefällt als Unrecht thun, ei, da könnte ich ja hingehen und die Frau Base in Wirklichkeit spielen und eine Veruntreuung begehen an den Geheimnissen des Hauses, die – aber pfui! ich will nichts gesagt haben. Gott helfe mir, aber wahr ist's, Fräulein Florchen, manch armer Teufel ist schon dadurch zum armen Schächer geworden, daß man ihm durch Ungerechtigkeit oder Härte die Galle in's Blut oder Verzweiflung in's Herz trieb. Gottchen, Gottchen, es ist recht schwer, anderer Leute Brod essen, wenn man schon das eigene gekostet hat!«

»Sie sollen es auch nicht mehr,« unterbrach ihn Flora, »es muß Rath geschafft werden, ich weiß schon etwas für Sie, bleiben Sie nur einen Augenblick hier, ich komme gleich wieder.«

Sie eilte auf die Thür zu –«

»Halt, halt, Kindchen!« rief er, sie zurückhaltend, »legen Sie nicht etwa eine Fürbitte für mich ein. Ihr guter Will' ist Goldes werth und jedes Wort von Ihnen eine Perl', ein Diamant, aber von Ihrer Frau Mutter nehm' ich nichts an. Ich will nicht im Haus bleiben. Sehen Sie, ich bin nicht der Mann, der sich den Stuhl vor die Thür setzen läßt.«

»Sie sollen auch nicht im Hause, Sie sollen nur fünf Minuten in meiner Stube bleiben,« bat Flora, »und damit Ihnen die Zeit nicht lang wird und Sie nicht auf trotzige Gedanken kommen, lesen Sie das hier. Das mein Lieblingslied, wenn man das gelesen hat, ist Einem zu Muth, als wäre man schon aus aller Trübsal heraus.« Sie schlug hastig ein Lied in ihrem Gesangbuch auf und reichte es ihm hin.

»Befiehl Du Deine Wege und was Dein Herze kränkt« – las er.

»Sie englisches Seelchen!« sagte er gerührt, nahm das Buch und setzte sich ganz gehorsam auf den Platz, den sie ihm bezeichnete, das herrliche Lied zu lesen.

Während dessen holte sie von ihrem Vater die Erlaubniß zur Ausführung des Planes, den sie, ersonnen hatte, dem armen Manne gründlich zu helfen. Mit strahlendem Gesicht trat sie wieder in ihr Zimmer.

»Ich bin eine recht gewinnsüchtige Person,« sagte sie, halb lachend und doch in jener freudigen Erregung, der die Thränen eben so nahe sind. »Da habe ich ein kleines Capital von meiner verstorbenen Mutter, das habe ich, seit mein Vater wieder geheirathet hat, selbst verwalten müssen, meine jetzige Mutter wollte es so, damit ich lernen sollte mit Geld umzugehen. Sehen Sie, ich habe nun weiter gar nichts damit gethan, als zur Zeit die Coupons abgeschnitten und, da ich doch nicht alle die Zinsen verbrauchen konnte, manchmal ein Papier mehr gekauft. Aber immer nur möglichst sichere, ohne Rücksicht auf die Höhe der Zinsen, wie die Mutter es bestimmte. Nun möchte ich aber gern einmal damit speculiren. Und da sollen Sie das Geld nehmen und ihr Geschäft damit beginnen und im Stillen denken, es heißt nun: Richter und Flora in Compagnie, und dann muß es doch mein Name schon in Flor bringen, denke ich, und Sie wie ich werden dabei gewinnen.«

Herr Richter konnte kein Wort hervorbringen. Die tiefste Rührung leuchtete aus seinen Augen, aber er schüttelte mit dem Kopfe, als wollte er sagen: das geht nicht, bei Gott, es geht nicht!

»Der Vater sagte heute früh erst,« fuhr Flora fort, »Sie wären ein tüchtiger Kaufmann, das geringste Capital könnte Ihnen helfen, ist denn-das meine zu klein?« Sie nannte schüchtern die Summe.

»O Sie Goldherzchen, Sie!« sagte er jetzt stammelnd, »kein Pfund ist zu klein, ein getreuer Arbeiter kann's mit Gottes Hülfe erhalten oder verzehnfachen auch, aber das geht nicht, ich kann Ihr Eigenthum nicht auf's Spiel setzen.«

»Haben Sie kein Vertrauen zu unserer Firma?« fragte sie.

»Ihr Name wäre ein Segensspruch dabei, aber Gott könnte ja Unglück schicken, und dann wären auch Sie arm,« wandte er ein.

»Aber wenn er Glück schickte, hätten Ihre Kinder den Vater wieder!« rief sie lebhaft aus, »und er wird Glück schicken, ich weiß, er wird es!«

»Sie haben Ihre Eltern, Sie dürfen nicht über das Geld verfügen, von Ihrer Mutter mag ich auch nicht so viel Gunst, wie in der Erlaubniß liegen würde, daß Sie mich unterstützen dürfen.«

»Ich bin mündig und das Geld ist mein,« sagte sie bestimmt. »Die Mutter hat gar nichts dabei zu sagen, und sie wird es nicht einmal erfahren. Ohne meines Vaters Erlaubniß würde ich Ihnen das Anerbieten gar nicht gemacht haben, aber er ist vollständig damit einverstanden. Das Geld gehörte meiner verstorbenen Mutter; nehmen Sie es an, sie sendet es Ihnen von oben. Sehen Sie da das Bild meiner Mutter, wollen Sie dem gütigen, liebevollen Wesen, das Ihnen aus jenem Antlitz entgegenleuchtet, nicht einen Dank schuldig sein? Sie müssen es nehmen, Sie wären ein Rabenvater, wenn Sie es nicht thäten, ich könnte Sie wirklich nicht mehr achten. Ihre armen Kinder haben keine Mutter, sollen sie auch den Vater entbehren, weil der zu hochmüthig ist, von einem armen Mädchen eine kleine Hülfe anzunehmen?«

»Hochmüthig! – ich – Gottchen, Gottchen!« stammelte Richter, »ich könnt' eben so gut gegen die Engel im Himmel hochmüthig sein, als gegen Sie.«

»So ist's also abgemacht, so nehmen Sie's?« jubelte Flora.

Er ergriff ihre Hand, er drückte sie zwischen den seinen, er sah fast mit Andacht in ihr strahlendes Gesicht.

»Gott segne Sie! Gott vergelt's Ihnen! Meine Kinder sollen für Sie beten!« schluchzte er fast hervor.

Flora war glückselig; es fehlte nicht viel, so wäre sie in ihrer Freude dem Manne um den Hals gefallen. Sie eilte nun, die betreffenden Papiere zu holen, aber Richter war nicht zu bewegen, mehr als die Hälfte der angebotenen Summe anzunehmen. Sie mußte ihm hierin nachgeben, mußte es sich auch gefallen lassen, daß er ihr eine schriftliche Bescheinigung ausstellte, obgleich sie mit all' der unnützen Großmuth und der gewöhnlichen Geschäftsunkenntniß junger Mädchen diese Formalität sehr überflüssig fand.

Dann trennten sie sich mit der Verabredung, vor Richter's Abreise noch einmal bei Dorothee König zusammen zu kommen.

 

So war denn Flora's Horizont vollständig klar und auch der Frau Artefeld's nach der letzten gewitterschwülen Scene mit ihrem Manne so ziemlich aufgeklärt, als der bereitstehende Wagen die Familie aufnahm, sie nach der Villa hinauszufahren, wo sie, wenn auch mit dem beginnenden Herbst in ihre Stadtwohnung zurückgekehrt, doch an besonders schönen Tagen die Nachmittage zuzubringen pflegten. Sie speisten dann früher als gewöhnlich und nur en famille, oder nahmen das Mittagsmahl, wie es heute der Fall war, in der Villa ein. Das kleine Diner verging heiterer, als man nach den Ereignissen des Morgens hätte glauben sollen, nur Elisabeth vermochte es nicht, sich aus ihrer gedrückten Stimmung zu erheben, obgleich Flora sich alle Mühe gab, sie aufzuheitern, und selbst Frau Artefeld freundlicher als sonst sie in das Gespräch zu ziehen suchte.


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