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Erste Abtheilung.

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Erstes Capitel.


Es war Frühling! Der Wald schmückte sich mit dem ersten Laub, die junge Saat keimte, die Schneeglöckchen trugen den grünen Frühlingsstrauß am weißen Kleide. Im Gebirge schmolz der Schnee, stürzte sich in die überfluthenden Bäche und mit diesen kopfüber in's flache Land, die Frühlingsherrlichkeit zu schauen, zu fördern, oder wohl gar in kindischem Uebermuth zu zerstören. Selbst in die Städte hinein sendete er seine Boten, der herrliche, blüthengekrönte Lenz; und die weit geöffneten Fenster der Häuser, die Grashälmchen, die sich überall zwischen den Pflastersteinen hervordrängten, die Schwalbennester in den Mauerspalten und hier und da der den Straßenlärm übertönende Jubelruf eines gefangenen Vögelchens, dem der Sonnenschein die Stäbe des Käfigs vergoldete, dies Alles bewies, wie willkommen die Botschaft war.

Sind doch die Städter alle mit einander nicht viel besser daran als gefangene Vögel. Der Frühlingsruf dringt an ihr Ohr, in ihr Herz; die Flügel regen sich, die vergessenen Lieder wachen auf und wecken ein Echo in der Seele, aber es hat doch Jeder seinen kleinen Käfig in dem großen von Mauern umschlossenen, Jeder sein Tagewerk, das ihn fesselt, und so sehen sie den lachenden Frühling wohl in den Lüften schweben, erhaschen wohl eine Blume aus seinem Füllhorn, einen Schimmer seines goldenen Fittigs, aber die ganze vollendete Pracht seiner blühenden Herrlichkeit – die schauen nur diejenigen, die ihn auf freiem Felde oder draußen im lauschigen Wald empfangen, oder diejenigen, die dem Staub, dem Rauch, dem Lärm der Städte entfliehen und ihm nachziehen dürfen, hinaus auf die grüne Flur!

Zu diesen letzteren glücklichen Auserwählten gehörte auch Frau Artefeld, die Wittwe des Commerzienraths Artefeld in Breslau, die mit einer ihrem Stande alle Ehre machenden Pünktlichkeit, an die sich jedoch der Frühling wenig kehrte, alljährlich genau um dieselbe Zeit ihr Haus in der Stadt verließ und ihre schöne, von allen Reizen der Natur umgebene und mit aller Herrlichkeit des Luxus geschmückte Villa, eine halbe Meile von Breslau gelegen, bezog, um daselbst bis tief in den Herbst hinein zu verweilen. Freilich war die Huldigung, die sie der schönen Jahreszeit darbrachte, nur eine getheilte, und zwischen der goldenen Morgenstunde, den sonnigen Nachmittagen und den Erquickung und Ruhe bringenden Abenden lag eine geraume Zeit, die sie täglich in der Stadt zubrachte, gefesselt und in Anspruch genommen durch die weit verzweigten Geschäfte des Hauses. Fast so lange, als ihre Gedanken in die Vergangenheit zurückreichten, war ihr Leben in dieser Weise, zwischen Stadt und Land getheilt, verflossen. In ihren Kinderjahren hatten ihre täglichen Fahrten in die Stadt der Schule gegolten, in der sie ihren Unterricht empfing, jetzt war's vielleicht auch nicht viel anders, nur war die Schule eine andere geworden, und sie stand in der Periode des Lebens, in der man zwar fortlernen, dass Gelernte aber zugleich anwenden soll.

Das Handlungshaus hatte einst ihrem Vater gehört, der dessen Entstehung als kleines unbedeutendes Vorstadtgeschäft auf den Urgroßvater zurückführen konnte und die wachsende Blüthe desselben in absteigender Linie mit ebensolchem freudigen Stolz zu betrachten gewohnt war, als etwa ein Landmann auf ein reiches Aehrenfeld schaut, das der Väter und die eigene Mühe und Arbeit einem einst brach liegenden Erdreich abgewann.

Den Stolz hatte die Tochter geerbt, und ebenso, wie an Betriebsamkeit und Arbeit, auch an die Vorzüge des dadurch gewonnenen Reichthums gewöhnt, stützte sich dieser Stolz in vielleicht echt kaufmännischer Weise ebenso auf den Besitz irdischer Güter, als auf den Namen des Hauses, durch den jene vor der Welt vertreten wurden.

Als sie, die einzige Erbin der Reichthümer ihres Vaters, – denn die einzige jüngere Schwester war an einen reichen Kaufmann in Stettin verheirathet worden und ein- für allemal mit einem bestimmten Capital abgefunden – als sie den vermögenslosen Vetter, den ihr Vater zu dem Geschäft wie zu dem Mann seiner Tochter bestimmt und erzogen hatte, heirathete, war die einzige Veränderung, die in ihren bisherigen äußeren Lebensverhältnissen eintrat, die, daß man sie nicht mehr Fräulein, sondern Frau Artefeld nannte und sie sich nur noch mehr als Herrin des Hauses fühlen lernte.

Ihr Vater, dem es ein tiefer Schmerz gewesen, daß der Himmel ihm keinen Sohn geschenkt, und der deshalb fast dem Gedächtniß seiner früh verstorbenen Gattin gegrollt, hatte sich dadurch schadlos zu halten gesucht, daß er seine älteste Tochter wie einen Knaben erzog. Der Unterricht, den sie empfing, die Beschäftigungen, zu denen sie angehalten wurde, gingen weit über die Anforderungen hinaus, die man an das weibliche Geschlecht zu machen pflegt, prägten Wendula's Charakter in eigenthümlicher Weise aus und beförderten zugleich die einseitige Richtung, der zufolge sie, wie der Vater, kaufmännische günstige Erfolge als den Gipfelpunkt irdischen Glückes und diese zu erzielen als würdigste Aufgabe ihres Lebens ansah. Von früher Jugend an mit dem Gange der Handelsgeschäfte vertraut gemacht, in die Interessen derselben eingeweiht, blieb ihre Theilnahme daran durchaus nicht passiv. Sie gewann und übte einen Einfluß auf dieselben, der nach dem Tode des Vaters eigentlich sie zum Chef des Hauses machte und ihrem Manne nicht mehr Theilnahme an der Leitung der äußeren und inneren Angelegenheiten desselben zuwies, als irgend eine kluge, die Herrschaft liebende und auf ihre Macht eifersüchtige Regentin ihrem Prinz-Gemahl an den Regierungsgeschäften einräumt. Freilich begünstigten die Verhältnisse sehr ihre eigenthümliche Geistesrichtung, ja, machten sie gewissermaßen zur Nothwendigkeit.

Ihr verstorbener Mann, hauptsächlich seines Namens und eines günstigen Vorurtheils wegen von ihrem Vater zu ihrem Gemahl und künftigen Herrn der Handlung bestimmt, war nichts weniger als Kaufmann gewesen. Aus Liebe zu der jungen schönen Wendula hatte er sich zwar allen, ihm von dem künftigen Schwiegervater vorgeschriebenen Bedingungen unterworfen, hatte im engen Comptoir geduldig nach frischer Luft und blauem Himmel geschmachtet, hatte sich oft gewaltsam zusammengenommen, wenn die Zahlen vor seinen Augen geflimmert und das eintönige Geräusch der auf dem Papier kratzenden Federn ihm unerträglich geworden war. Daß er der Gefangenschaft entfloh, sobald er die Ketten locker werden fühlte, daß er das Recht, Herr zu sein, in dem Moment aufgab, als der Tod des Schwiegervaters und Principals ihm dasselbe zuwies, aufgab aus Widerwillen gegen die damit verbundene Arbeit und Mühe, war ebenso eine Folge seines passiven Charakters, als es in dem seiner Frau begründet lag, das von ihm verschmähte Scepter nur um so fester in ihren Händen zu halten.

Er genoß sein Leben. Er reiste, ging auf die Jagd, zog Blumen, sammelte Kunstschätze, das alte finstere Haus in der Stadt damit zu schmücken und zu verschönern, und suchte in tausend wechselnden Beschäftigungen und Zerstreuungen den Jugendtraum der Liebe zu vergessen, der längst in einer herben Wirklichkeit untergegangen war. Er blieb der rücksichtsvollste, aufmerksamste Gatte, war der zärtlichste Vater und der liebenswürdigste Mensch, und bewährte die außerordentliche Sanftmuth und Freundlichkeit seines Gemüths am besten in den Jahren der Krankheit und schweren Leiden, die seinem frühen Tode vorangingen. Er war Alles, nur kein männlicher Charakter, ein Mangel, den sie ebenfalls auf Kosten der eigentlichen Natur des Weibes zu ergänzen strebte.

So wurde sie denn der Chef des Hauses, nahm den für ihren Mann bestimmten Platz im Comptoir ein, Vieles leistend und das Geleistete noch um Vieles überschätzend, und sah mit einer Art Verachtung auf den herab, der seinen Beruf in der Welt so wenig auszufüllen verstand. Ihr Buchhalter, ein im Hause alt gewordener Mann, mit den Geschäften vertraut, von erprobter Redlichkeit und seiner Principalin innig ergeben, unterstützte sie treulich in Ausübung ihrer schweren Pflichten, und vielleicht mochte die Welt, die nie sehr geneigt ist, einer Frau männliche Verdienste zuzugestehen, nicht ganz unrecht haben, wenn sie in ihm den eigentlichen Träger und Leiter des Ganzen betrachtete und ihm nur die Klugheit oder Rücksicht zutraute, sich bescheiden auf den zweiten Platz zu stellen, um von da auf die Herrin auf dem ersten zu erhalten. Mochte dem sein, wie ihm, wollte, jedenfalls wurden seine Verdienste anerkannt. Frau Artefeld betrachtete ihn um so mehr als einen Freund, als er bescheiden genug war, nie seine Ansprüche über seine Stellung als Diener zu erheben; sie behandelte ihn mit mehr Achtung als ihren Mann, für dessen Liebhabereien sie eben so wenig Sympathie hatte, als er für den Beruf, dem sie jedes andere Interesse unterordnete.

In Freude und Kummer ging Jeder von ihnen seinen eigenen Weg, und als der Tod dem seinen ein Ziel steckte, wurde der ihre kaum einsamer, obgleich ihr Herz keineswegs dem Gefühl so abgestorben, so wenig liebevoll war, dieses allmähliche Zerreißen des von ihrem Vater geknüpften und durch übernommene Pflichten geheiligten Bandes nicht einigermaßen schmerzhaft zu empfinden.

Der Unvollkommenheit irdischen Looses mußte sie Rechnung tragen so gut wie jeder Staubgeborene, und wenn der Schatten, der ihr Leben verdunkelte, hauptsächlich auf die inneren Räume ihrer Häuslichkeit fiel, so den Kern, das Herz des Familienlebens treffend, so fiel es ihr doch nicht ein, darin eine Weisung des Himmels zu erkennen, der den nach außen strebenden Sinn durch Kummer und Leid an die Stätte zu fesseln versuchte, die mit Freuden zu schmücken sie als eine zu kleinliche Pflicht betrachtete, um der Erfüllung derselben auch nur einen Gedanken zuzuwenden

Die Schiffe, die, mit Gütern beladen, den Namen, auf den sie stolz war, weit hinaustrugen in die Welt und die Schätze des Hauses mehrten, zogen dahin auf dem unsichern Meer wie gefeit vor Sturm und Wellen; die kleine Barke, auf der die Frau und Mutter ihr häusliches Glück eingeschifft, strandete, umgeben vom bergenden Hafen, und nur wenig von ihrer unschätzbaren Ladung blieb vom Untergang verschont.

Ach, sie hatte die Meeresfahrt des Lebens unter falscher Flagge gewagt! Das ist immerhin eine Schuld, und jede Schuld rächt sich an dem, der sie beging, selbst wenn man sie hochmüthig über die Achsel ansieht und sich nicht einmal herabläßt, sie auch nur als Irrthum anzuerkennen.

Wendula hatte als junges, sehr junges Mädchen den Bruder ihres Gatten lieb gehabt, aber jener war der Jüngere, war, wenn auch viel begabter, vielleicht auch liebenswürdiger als dieser, doch leichtsinnig, verschwenderisch, und wurde deshalb von Wendula's Vater sehr gegen den älteren Bruder zurückgesetzt, den der alte Herr nun einmal zu seinem Schwiegersohn ausgewählt hatte und der deshalb auch dazu passen mußte. Durch seine mit der Genauigkeit eines Rechenexempels geordneten Ansichten und Wünsche konnte eine solche Kleinigkeit wie Liebe und Herzenswünsche unmöglich einen Strich ziehen. Deshalb tobte und schalt er auch nicht, als er hinter das Einverständniß der beiden jungen Leute kam, aber er entfernte den Anbeter, und nach einer langen vertraulichen Unterredung mit seiner Tochter, deren Inhalt nie Jemand erfuhr und von deren gewichtigem Einfluß auf ihr Gemüth wie auf ihr Schicksal nur ihr blasses Antlitz und die Veränderung ihres ganzen Wesens Zeugniß ablegte, verlobte er sie mit dem Manne, den er für sie ausgesucht.

Der glückliche Sieger, dessen Herz lange schon für das schöne Mädchen geschlagen, ahnte nichts von der Niederlage seines Bruders. Er war mit dessen Liebeshändeln wie sonstigen Angelegenheiten wenig vertraut, sah nichts Auffallendes in dem plötzlichen Entschluß desselben, sich in einer fernen Stadt selbstständig zu etabliren, und rechnete es seinem Schwiegervater als eine edle That der Großmuth an, daß er ihm nicht nur die Mittel dazu vorgestreckt, sondern auch, wie er unter der Hand gehört, seine nicht unansehnlichen Schulden bezahlt hatte. Herr Artefeld wies jedoch jeden Versuch seines Schwiegersohnes, ihm aus seiner Handlungsweise ein Verdienst zu machen, entschieden ab und stritt sogar gegen die Annahme, daß sein Einschreiten nöthig gewesen, den werdenden Kaufmann von drückenden Verbindlichkeiten, die von Anfang an seinen Credit hätten untergraben müssen, erlöst zu haben. Gestand er auch dem dankbaren jungen Manne die Thatsache zu, daß seine Hülfe es dem Bruder möglich gemacht, sich zu etabliren, so wollte er doch auch nichts von Dank hören und verlangte sogar seines Eidams Schweigen hierüber gegen dessen eigene Frau, eine Verpflichtung, die derselbe einging und auf das gewissenhafteste erfüllte, von tiefer Bewunderung durchglüht für eine Güte, die ihre Wohlthaten zartsinnig selbst vor den nächsten Angehörigen in Schleier gehüllt zu sehen wünscht.

Wendula ahnte also nicht, daß ihres Geliebten Lebensschifflein durch ihres Vaters Gold flott gemacht worden war, und so blieben ihr die Reflexionen erspart, die der Klang dieses Goldes leicht hätte in ihr erwecken können.

Gehorsam ihrem Vater heirathete sie, und die Interessen, um derentwillen sie ihre Liebe aufgegeben, als zu Recht bestehend anerkennend, widmete sie nun auch ihr Leben denselben. Welcher Platz dem Glück der Ehe, dem häuslichen Leben angewiesen wurde, ist bereits angedeutet. Selbst die vier Kinder, die der Himmel ihnen schenkte, vermochten nicht, Innigkeit in dies kalte Nebeneinanderleben zu bringen, und als zwei der Knaben bald nach einander starben, tauschten die Eltern nicht Klagen und Thränen aus.

Sie hatte keine Sympathie für Thränen, und er erschrak vor einem Schmerz, der mit so steinerner Ruhe den Schlägen des Schicksals Stand hielt.

Der Tod der Kinder trennte sie nur noch mehr. Sie suchte in erhöhter Arbeit Vergessen, er fand seinen einzigen und besten Trost in dem Anblick, der Ueberwachung seines ältesten Knaben, des achtjährigen Richard, in dem holden Lächeln, der unschuldigen, ahnungslosen Fröhlichkeit der kleinen Elisabeth, die kaum ihr zweites Lebensjahr überschritten hatte, als die beiden vor ihr geborenen Brüder dahinstarben. Besonders Richard war dem Vater unendlich viel. Der Knabe hatte, wie es schien, ganz die Neigungen seines Vaters geerbt, wenn sich auch in einzelnen kindlichen Zügen eine größere Stetigkeit des Charakters verrieth, eine Grundlage, auf der die Erziehung manches Schöne und Nützliche für die Zukunft hätte aufbauen können.

Aber der Vater erzog nicht nach Grundsätzen, und so lange Richard noch in dem Alter stand, wo er noch nicht für seinen künftigen Beruf in ernster Weise vorgebildet werden konnte, wo das Lernen mehr ein Spiel als eine Nothwendigkeit ist, kümmerte sich die Mutter wenig um den Knaben und war froh, ihn in der Obhut ihres Mannes besser aufgehoben zu wissen, als in der einer gemietheten Kinderfrau oder eines bezahlten Lehrers. Sie hatte so viel zu thun; die Lebhaftigkeit der Kinder störte sie in ihren ernsten Schreibereien und Berechnungen, und obgleich die Kinder ihr keineswegs gleichgültig waren, sie vorsorglich an ihre Zukunft dachte und im Geiste dieselbe bestimmte, so wußte sie doch nichts mit ihnen anzufangen, so lange sie klein waren. Richard langweilte sich auch immer, wenn er im Zimmer der Mutter war, und Elisabeth hatte so oft die Händchen vergeblich nach ihr ausgestreckt, daß ihr kindlicher Instinct sie lehrte, sich an die Bonne oder den Papa zu wenden, wenn sie geliebkost zu werden wünschte.

Das Liebkosen verstand Frau Artefeld nicht. Ihr Herz wußte nichts von jener weichen Zärtlichkeit der Empfindung, die einer Mutter einen so angenehm liebevollen Ton im Umgang mit ihren Kindern verleiht, ohne in thörichte Schwäche auszuarten. Sie war immer ernst und gemessen, nie heftig, aber auch nie sanft. Sie schalt nicht oft, strafte selten, aber dann unerbittlich. Lob spendete sie grundsätzlich nie. Sie wollte ihnen klar machen, daß eine erfüllte Pflicht etwas Selbstverständliches und nicht besonders Lobenswerthes ist. Richard hatte sehr viel Respect vor der Mutter; Elisabeth, je mehr sie heranwuchs, eine um so größere Furcht. Sie wagten selten ein unartiges Wort in der Mutter Gegenwart, dafür hörte sie aber auch nie ihr kindliches Gelächter, war selten Zeuge der Possen und Scherze, die dem Vater eine Wonne, ein Entzücken waren und um derentwillen er nicht jeden Uebermuth als Unart rügte.

Er war fast noch niedergeschlagener als der dem Lernen ziemlich abholde Knabe selbst, als es doch nöthig wurde, denselben in die Schule zu schicken. Zum Trost Beider waren aber die wissenschaftlichen Anforderungen, die man an Richard stellte, eben noch nicht groß, und es blieb Zeit genug für Vater und Sohn, jenen köstlichen Bund zuschließen, in dem die Liebe fast den Unterschied der Jahre ausgleicht und die erfahrene Weisheit oft die Segel streichen muß vor der reizenden, allen Verstand überflügelnden Einfalt eines kindlichen Gemüths.

Mit dem lieben Papa theilte Richard jeden seiner Gedanken, vor ihm kannte er keine Scheu. Er beendete jedes Spiel, ließ auch den liebsten seiner Kameraden stehen und verschloß sein Ohr selbst den Bitten seiner kleinen Elisabeth, hörte er nur die Stimme des Vaters von Weitem. Es waren viele gute Anlagen in dem Knaben. Er hatte einen raschen Verstand, ein warmes, offenes Herz, und in dem früh sich zeigenden Unabhängigkeitssinn lag viel Tüchtigkeit des Charakters. Das Lernen wurde ihm nicht schwer, aber er haßte es, weil es ihn verhinderte, an des Vaters Gartenarbeiten, an seinen reizenden Spaziergängen durch die blühenden Felder und Wälder den früheren Antheil zu nehmen.

»Kann ich denn nicht etwas lernen, was in den Wald gehört?« fragte er oft. Der Vater zuckte seufzend die Achseln. Das künftige Loos des Knaben fiel ihm schwer auf's Herz. Er konnte es sich ja berechnen, wie lange das Kind ihm noch gehören, wie bald und unwiderruflich man es zwingen würde, dem Götzen, den die Mutter anbetete, widerwillig Opfer zu bringen.

Er sollte die Zeit, auf die er den Knaben leider so gar nicht vorbereitet hatte, nicht mehr erleben.

Richard war zwölf Jahre alt, als sein Vater starb, nicht plötzlich, nicht unerwartet, nein, häufig wiederkehrenden Krankheitsanfällen, die in ein Zehrfieber ausarteten, erliegend und eine Leidenszeit durchkämpfend, in der der Knabe ihm weit über seine Jahre Trost und Hülfe gewährt hatte. Vielleicht trug nichts so dazu bei, die scheue Entfernung, in der die Kinder von der Mutter standen, für Richard zu vergrößern, als die scheinbare Kälte, mit der Frau Artefeld die Krankheit ihres Mannes betrachtete, die Fassung, die sie bei seinem Tode zeigte.

Sie war nicht unempfindlich für seine Leiden gewesen, sie hatte kein vorgeschlagenes Mittel, es zu lindern, unversucht gelassen, aber sie blieb in ihrem gewohnten Geleis, sie versäumte keins ihrer Geschäfte, die Interessen des Lebens blieben für sie dieselben und waren unabweisbare Pflicht.

Sie war nur eine seltene Erscheinung im Krankenzimmer, wenn auch dann eine theilnehmende. Sie schickte im Laufe des Tages wohl drei-, viermal und ließ sich Nachricht in's Comptoir bringen, ja sie gestattete, daß Richard aus der Schule fortblieb, weil der Vater seine Gesellschaft wünschte. Das war nun Alles recht freundlich, aber doch nicht das, wonach das geängstigte Herz des Kindes sich sehnte.

Ach, selbst als der Kranke ausgelitten hatte und Richard in dem Gefühl, Alles verloren zu haben, dem heftigsten Schmerz hingegeben, an der Bahre kniete, selbst da verstand sie diese Sehnsucht nicht. Ihr Auge blieb trocken und ihre Stimme unbewegt, als sie Elisabeth gebot, auf ihr Zimmer zu gehen, und dann Richard bei der Hand nahm, ihn aus dem Sterbezimmer zu entfernen.

»Ich bleibe die Nacht bei dem Vater,« sagte er fest, »er könnte doch wieder aufwachen.«

Es war etwas in dem Kinde, das ihr den Widerspruch von den Lippen nahm. Sie beugte sich sogar hastig zu ihm herab und küßte es auf die Stirn, aber ehe Richard sich von seiner Ueberraschung erholte, ehe er seinem Gefühl folgen konnte, das ihn in die Arme der Mutter zog, hatte sie das Zimmer verlassen.

Der Knabe blieb bei dem Todten allein. Vergeblich kam Gebhard, der alte Diener des Hauses, um ihn von der Leiche zu entfernen, vergeblich erschöpfte der Buchhalter Bitten und Ueberredungen, Richard wies sie standhaft zurück. Er empfand kein Grauen vor dem kalten, steinernen Antlitz, nur einen unsaglichen Schmerz, daß die Augen geschlossen blieben, daß die erstorbenen Züge sich nicht wieder belebten. Er saß da neben dem Lager des Todten, mit zitternden Lippen und überfließenden Augen, er hielt die nächtliche Todtenwache, bis die Natur ihr Recht forderte und sich für den gewaltsam verscheuchten Schlaf mit einer Ohnmacht rächte.

Man trug ihn in sein Bett, und für eine lange Zeit raubte ein heftiges Fieber ihm die Besinnung. Er sah nichts klar, erkannte Niemanden, und nur wie eine Vision schwebte beim Erwachen die Gestalt seiner Mutter vor seiner Erinnerung, ruhig und ernst an seinem Bett sitzend, die kalten, strengen Augen streng auf ihn heftend. Daß er sich vor diesen Augen entsetzlich gefürchtet, auch darauf besann er sich wie auf einen undeutlichen Traum.

Frau Artefeld hatte wirklich die Nächte am Krankenlager ihres Sohnes zugebracht, in den Nächten nahm das Comptoir sie ja nicht in Anspruch. Hatte die alte Dorothee, des Buchhalters Schwester, die den Kindern sehr zugethan und jetzt herbeigeeilt war, den Kranken zu pflegen, hatte sie recht, als sie meinte, Frau Artefeld sei nicht nur um den Sohn, nein, sie sei auch um den künftigen Erben der Handlung besorgt gewesen und habe mehr dem letzteren als dem ersten zu Liebe ihren Schlaf geopfert?

Mochte Dorothee nun recht haben oder nicht, jedenfalls war es sehr unvorsichtig, ihren Verdacht in der Krankenstube auszusprechen. Richard hatte die Augen geschlossen und sie glaubte ihn schlafend, als sie den Liebesbeweis seiner Mutter dieser scharfen Kritik unterwarf, aber er schlief nicht, und tief brannten sich die Worte in seine Seele ein.

Als er genesen, fing die Mutter an, sich specieller um seine Erziehung zu bekümmern. Sie übernahm die Aufsicht über ihn, die Leitung seiner Lehrstunden und Beschäftigungen. Sie fand, daß es die höchste Zeit war, und bereute, es nicht früher gethan zu haben. Der Knabe war viel zu selbstständig unter der sanften Zucht seines Vaters geworden. Sie fand ihn übermüthig, eigenwillig, und selbst für seine Jahre sehr unwissend. Das mußte anders werden. Es that vor Allem noth, sein Standesbewußtsein zu wecken, ihm seine Bestimmung für die Zukunft klar zu machen, ihm auseinander zu setzen, welche besonderen Kenntnisse sein künftiger Beruf erfordere und in wie ernster Weise er sich bemühen müsse, sich dieselben anzueignen.

In kurzer, schroffer, unabweislicher Art theilte ihm die Mutter ihren Willen mit und ersparte ihm nicht einen scharfen Tadel über die Mangelhaftigkeit seiner Leistungen und das Unwesentliche seiner bisherigen Beschäftigungen.

Sie nannte alle die Dinge, die sein kindliches Herz bis jetzt beglückt und erfreut, Unsinn, thörichte Spielerei, Liebhabereien eines trägen Geistes, und setzte dadurch den über Alles geliebten Vater, der ihn zu diesen thörichten Spielereien, zu diesem Unsinn angeleitet, in den Augen des Sohnes herab, der, dadurch erbittert und empört, ihre Lehren wie eine ungerechte Schmähung verwarf.

Sie wollte sich nun einmal in Respect setzen, und vergaß, daß der einzig richtige, natürliche Weg dazu die Liebe ist.

Man respectirt Jeden, den man liebt, aber die, vor denen man sein Herz verschließen muß, fürchtet man höchstens.

In Richard kämpfte die Furcht mit dem angeborenen Unabhängigkeitssinn und führte ihn zu Schroffheit und Trotz. Er that nur, was er thun mußte. Strafen lernte er verachten, je mehr er ihnen entwachsen zu sein glaubte, ihren Scheltworten setzte er tiefes Schweigen entgegen, sein frohes, offenes, kindliches Wesen machte sich nur noch außerhalb des Hauses, oder seiner Schwester gegenüber geltend. Frau Artefeld hatte einen schlimmen Stand mit dem Knaben, aber um keinen Preis hätte sie die Leitung desselben aus der Hand gegeben, und vormundschaftliche Einmischungen hatte sie nicht zu befürchten. Nach dem in dem Testamente ihres Mannes ausgesprochenen Wunsche desselben, ein Wunsch, den sie ihm wahrscheinlich dictirt hatte, war sein Bruder zum Vormund ernannt, und da dieser meist im Auslande lebte und sie ihres Einflusses auf ihn sicher war, konnte sie unbesorgt ihre mütterlichen Pflichten in ihrem Sinne ausüben und eine Zwangsherrschaft an die Stelle liebevoller Leitung setzen.

Er muß gehorchen lernen, das war ihr erster Grundsatz und gewiß ein richtiger, nur muß man vor allen Dingen das Befehlen verstehen, muß es verstehen, ein Kind, das schon zu groß und verständig zum blinden Gehorsam ist, zu einem freiwilligen anzuleiten.

Ach, wo waren die schönen Jahre unbewußten, kindlichen Glücks dahin, welche schmerzlichen Erinnerungen hatten sie in Richard's Herzen zurückgelassen, welchen Drang nach Freiheit, welche Sehnsucht nach Liebe in ihm geweckt, nach der Liebe, die sein Vater ihm gezollt, und für die er nirgends, nirgends Ersatz fand. Nicht in der kindlichen Zärtlichkeit der kleinen Elisabeth, nicht in den schüchternen Beweisen von Anhänglichkeit, die der alte Buchhalter, die Gebhard und die übrigen Diener des Hauses ihm gaben, nicht in der allgemeinen Beliebtheit, die er unter seinen Schulkameraden genoß, obgleich er in der Schule jetzt seine besten Stunden verlebte, denn dort sah er wenigstens nicht das strenge Antlitz seiner Mutter.

Es war traurig, wie sie ihn mißverstand. Seine Seele war geschaffen zur Mittheilung, und sie bannte jedes Vertrauen; er haßte den Zwang, und immer ließ sie es ihn fühlen, daß er sich fügen müsse; sie kannte seinen Widerwillen gegen den Kaufmannsstand, der anfänglich vielleicht nichts war, als ein kindliches, unbegründetes Vorurtheil, und fachte diesen Widerwillen nur stärker an, indem sie es als eine unabweisbare Bestimmung aussprach, gerade diesem Stande sein Leben zu widmen.

Das elterliche Haus wurde dem Knaben verhaßt, das Herz preßte sich ihm zusammen, wenn er nur dessen Räume betrat, und er lernte es wie einen Kerker, nicht wie eine Heimath betrachten.

Seltsame Phantasien erwachten in Richard's Seele, noch weit ab von den wirklichen Entschlüssen, aber doch auf dem Wege dahin.

»Kaufmann werde ich nicht,« sagte er oft leise vor sich hin, wenn er zu dem düstern, alten Gebäude aufsah, das seine kindischen Gedanken zum Kerker umschufen.

Eine allmähliche, aber bemerkbare Milderung des gespannten Verhältnisses zwischen Mutter und Sohn trat ein, als ganz unerwartet Philipp Artefeld, Richard's Oheim, in die Heimath zurückkehrte, um sich nach mancher Irrfahrt des Lebens dauernd in Breslau niederzulassen. Seiner durch mancherlei Erfahrungen gewitzigten Menschenkenntniß und seiner weltklugen Gewandtheit gelang es bald, Einfluß auf Mutter und Sohn zu gewinnen.

Seit jenen Jugendjahren, in denen er um das Herz des schönen Mädchens geworben, hatte er Wendula nicht wieder gesehen. Ob sich damals schon in die Huldigung, die er ihrer Jugend und Schönheit dargebracht, der Gedanke an ihren Reichthum gemischt? – – Wer vermöchte es zu entscheiden! Aber als er jetzt die stattliche Frau vor sich stehen sah, sie, für die Jugend und Liebe ein zu flüchtiger, wesenloser Traum gewesen, um unzerstörbare Anmuth über diese Züge zu zaubern, aus denen nur kalte Herrschaft über sich und Andere sprach, trat ihm vielleicht der damals von der Poesie des Lebens überwältigte Gedanke an ihren Reichthum doppelt klar vor die Seele.

Das damals dem Willen des Vaters untergeordnete willenlose Mädchen war jetzt eine reiche, unabhängige Wittwe.

Er selbst war nicht begütert. Er war unstät gewesen im Leben wie im Erwerb, und was ihm sein speculativer Kopf leicht an irdischen Gütern erringen half, das gab er in leichtsinnigem Lebensgenuß eben so rasch wieder aus.

Jetzt jedoch meinte er es mit den jugendlichen Freuden des Lebens abgethan zu haben, jetzt wollte er sich zur Solidität bekehren, und er hatte das Talente das, was er wollte, auch ausführen zu können. Im Besitz eines geachteten Namens, als intelligenter Kopf bekannt und durch seine Schwägerin empfohlen, gelang es ihm bald, als Spediteur Beschäftigung zu finden, um so mehr, als man aus seinem ganzen Auftreten schließen mußte, daß er diese Beschäftigung nicht des Unterhalts wegen, sondern nur um seinen Wohlstand zu mehren, ergriff.

In der That besaß er, nachdem eine einfache, aber solide und gediegene Einrichtung seine Kasse erschöpft, im Augenblick nicht viel mehr, als ein kleines, von seiner verstorbenen Frau seiner einzigen Tochter zugeschriebenes Capital, dessen Zinsen bis zur Mündigkeit derselben ihm zufielen. Aber mehr bedurfte er auch nicht, um seinen Ruf zu begründen. Der Name schon ließ Reichthum bei ihm voraussetzen, und die Eleganz seiner Erscheinung, eine gewisse sorglose Art des Geldausgebens, sein auch auf feineren Lebensgenuß gerichteter Geschmack, der sich im Umgang leicht verrieth, bestätigten diese Voraussetzung, während eine nicht zu leugnende Geschäftskenntniß und Gewandtheit ihm bald das Vertrauen der handeltreibenden Menge zuwandte und ihn somit in den Stand setzte, den Wohlstand, in dessen Besitz man ihn glaubte, wenigstens zu erwerben.

Nur mit seiner Schwägerin besprach er offen seine eigentlichen Verhältnisse und sicherte sich durch die Energie, mit der er sie zu verbessern strebte, ihre Achtung, die ihm jetzt ein eben so theures, unschätzbares Gut zu sein schien, als einst ihre Liebe.

Seine kluge und zarte Zurückhaltung in Bezug auf frühere Verhältnisse blieb nicht ohne Lohn. Frau Artefeld's Wohlwollen wurde ihm zu Theil; seine Unterhaltung gefiel ihr, seine aufopfernde Gefälligkeit, seine unterwürfige Huldigung, seine unbedingte Anerkennung ihres überlegenen Geistes nahmen sie zu seinen Gunsten ein. Es ist nun einmal selten ein Mensch ganz über Bestechlichkeit erhaben, und am wenigsten diejenigen, die in der Werthschätzung der eigenen Person über alle Grenzen eiteln Hochmuths hinausgehen. Sie sind oft der plumpesten Schmeichelei zugänglich. Philipp Artefeld aber schmeichelte fein, denn seine Bewunderung schien die des Verstandes und des Herzens zugleich. Obgleich sie es nie anerkannt haben würde, wußte er sich ihr doch bald unentbehrlich zu machen, und so steigerte ihre Achtung sich allmählich bis zur Freundschaft, um so mehr, als er auch auf Richard's Widerspenstigkeit den wohlthätigsten Einfluß ausübte.

Auf den Knaben hatte sein Erscheinen gleich einen bezaubernden Eindruck gemacht. Nicht, daß er dem geliebten Vater geglichen hätte, im Gegentheil übertraf er denselben an äußerer Schönheit bei Weitem, aber des Vaters Stimme, der freundliche, liebreiche, volle und doch sanfte Ton derselben klang ihm bei den ersten Worten des Oheims entgegen und bürgte ihm für des Vaters Geist. Er schloß sich mit leidenschaftlicher Wärme dem Onkel an und hatte bald sein Herz mit all' seinem Kummer, seiner Erbitterung vor demselben ausgeschüttet.

Der Oheim hörte ihn freundlich und geduldig an, nahm aber doch die Mutter gegen die unkindlichen Anklagen Richard's in Schutz, schalt ihn seines trotzigen Benehmens halber und versicherte ihn, daß er mit seinem thörichten Widerspruch nichts ausrichten würde, als die Liebe der Mutter und seine Stellung in der Welt zu verscherzen.

»Die Mutter hat mich noch nie lieb gehabt, und eine Stellung in der Welt werde ich mir schon selbst erringen,« antwortete Richard mit allem Trotz, aller Zuversicht seiner fünfzehn Jahre.

»So?« verhöhnte ihn der Onkel, »das ist wohl so leicht ohne einen Groschen Geld? Ich versuche es nun schon länger als zwanzig Jahre, komme wohl von einer Stellung in die andere, aber zum ordentlichen Ausruhen, Besitzen und Genießen nie.«

»Ich bin aber reich,« wandte Richard ein.

»Wenn Deine Mutter will, bist Du so arm wie eine Kirchenmaus, denn das Vermögen gehört ihr, und sie kann Dich bis auf ein Pflichttheil enterben,« versicherte der Onkel, »und sie wird es wollen, wenn Du Dich weigerst, die Handlung fortzuführen. Daran hängt nun einmal ihr ganzes Herz. Der Kaufmannsstolz auf die Firma ist ihr vom Vater eingeimpft, sie kann nicht los von dem Stolz.«

»Und sie wird doch los müssen,« versicherte Richard, »denn ich übernehme die Handlung nicht, und auf Elisabeth wird sie dieselbe doch nicht übertragen können?«

»Nein, aber auf Elisabeth's Mann,« fiel der Onkel ein, »oder,« fuhr er, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, fort, »sie kann auch wohl selbst noch wieder heirathen. Sie ist noch jung genug dazu; der Himmel kann ihr noch Söhne schenken, und dann gieb nur vollends Dein Recht an ihr Vermögen, an ihr Herz auf!«

Richard machte eine abweisende Geberde.

»Onkel,« sagte er, »wenn das einträte, wenn sie im Stande wäre, wieder zu heirathen, wenn sie mich enterbte um nachgeborener Söhne willen, wäre es von ihr eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, und von dem Manne, der es zuließe, eine Schurkerei!«

Der Onkel biß sich auf die Lippen, er schien sich zu ärgern über die leidenschaftliche Sprache des Knaben, denn das Blut stieg ihm in's Gesicht, er nahm sich aber zusammen und sagte freundlich:

»Nun, so treibe sie nicht in diese Ungerechtigkeit hinein, sondern sichere Dir durch kindliche Nachgiebigkeit den Besitz ihres Herzens.«

»Ich habe es noch nie besessen und mache mir auch nichts mehr daraus,« beharrte Richard auf seinem Trotz.

»Junge, denkst Du denn nicht an das vierte Gebot!« zürnte der Onkel.

Richard brach in leidenschaftliche Thränen aus.

»Ich habe den« Vater lieb gehabt,« schluchzte er, »ich möchte die Mutter auch lieben, weiß Gott, ich möchte es, ich liebe sie auch, aber sie will es nicht. Zittern soll ich vor ihr, aber nicht sie lieben. Ich habe nie vor ihr sprechen dürfen, wie ich es meinte, und lügen mag ich nicht ihr zu Gefallen.«

»Lügen sollst Du auch nicht,« unterbrach ihn der Onkel, »aber nachgeben und Dich schicken lernen sollst Du. Jeder Mensch muß sich schicken können, zuerst in die Eltern, dann in die Verhältnisse, in die Welt. Wer immer seine Meinung ausposaunt, ist ein Narr, denn er verräth zugleich alle seine Schwächen, und auf den Schwächen des Einen steigt der Andere empor. Das ist nur menschlich. Beharre jetzt auf Deiner Meinung, nicht Kaufmann werden zu wollen, reize und befestige dadurch den Widerstand Deiner Mutter, und Du beugst zugleich Deinen Rücken vor Deinem Nachfolger und bist noch unliebenswürdig dazu. Der Unliebenswürdige aber hat immer unrecht und verscheucht alle Bundesgenossen. Die glatte Seite kehre nach außen, mein Sohn, und gewinne Dir durch sie die Herzen, deren Willen Du zu unterjochen gedenkst.«

Richard sah betroffen auf. Die Lehre schien ihm zweideutig.

»Dein Vater zeigte immer die glatte Seite,« fuhr der Onkel fort.

»Er hatte keine rauhe,« unterbrach ihn Richard hastig, »aber,« setzte er niedergeschlagen hinzu, »was hat's ihm denn der Mutter gegenüber geholfen! Er war die Liebenswürdigkeit selbst, und sie hat ihn doch nicht lieb gehabt, so wenig wie sie mich und Elisabeth lieb hat. Wir haben sie immer nur gestört,« fuhr er fort, während der Onkel mit großen Schritten im Zimmer auf und ab ging, »wir sollten immer nur still sein, wenn wir bei ihr waren, und das war so langweilig. Ach, und gescholten hat sie uns! Wenn Du's nur einmal gehört hättest, Onkel! Ich hätte ihr nie um den Hals fallen und um Verzeihung bitten können, wie ich es that, wenn der Vater erzürnt war, denn ich fühlte immer, so strenge, so harte Worte hatte, ich nicht verdient! Aber vertheidigen durfte man sich ja auch nicht, wenn man auch durch ein Wort beweisen konnte, daß man nichts Unrechtes gewollt. Wenn Deine Flora von ihrer verstorbenen Mutter erzählt, Onkel, so klingt das ganz anders. Ich habe sie schon oft bitten wollen darüber zu schweigen, denn es drückt mir und der armen Elisabeth das Herz ab, aber es hört sich doch wieder gar so hübsch an, es klingt uns fast wie ein Märchen, und da lassen wir es uns doch immer wieder erzählen. Ach, wenn die Mutter uns lieb haben könnte!«

»Sie hat Euch lieb, sie hat eben nur ihre Manier dabei, jedes Thierchen hat sein Manierchen!« sagte der Onkel, setzte aber, als er bemerkte, daß sein unangebrachter Scherz den Knaben verletzte, ernsthaft hinzu: »Sie hat Dich doch treulich gepflegt, als Du nach des Vaters Tode krank darniederlagst, sie haben es mir erzählt, die Leute, wie sie Nacht für Nacht an Deinem Lager gewacht, trotz der anstrengenden Geschäfte des Tages. Sie ist eine bewundernswerth kräftige und thätige Frau, Deine Mutter!«

Richard verzog spöttisch das Gesicht.

»Sie wachte an meinem Bette nicht für mich, sondern für die Firma,« sagte er leise; »heute, wo sie weiß, daß ich nicht Kaufmann werden will, würde sie es vielleicht nicht tun.«

»Was hast Du gegen den Kaufmannsstand?« fragte der Onkel, kurz über den bittern Spott in Richard's Bemerkung hinweggehend.

»Nichts,« entgegnete dieser, »ich habe nur für mich keine Neigung zu demselben, ja, ich habe eigentlich ein Grauen davor. Der Vater hat immer gesagt, man müsse keinen Beruf ergreifen, den man nicht lieb haben könne, ich habe aber keine Lust und keinen Verstand zum Kaufmann Ich habe es mir oft überlegt, ob ich meinen Widerwillen nicht bezwingen könnte, aber es geht nicht. Die Mutter sollte mir ein Stück Land kaufen und mich darauf arbeiten lassen, dazu hätte ich Herz und Kopf, zum Kaufmann schon deshalb nicht, weil ich doch nie etwas Anderes sein würde, als der erste Commis meiner Mutter.«

»Ist Dir das despectirlich?« unterbrach ihn der Onkel.

»Auf die Dauer ja!« antwortete Richard, »denn je älter ich würde, um so despectirlicher würde es mir sein, nie eine eigene Meinung haben zu dürfen. Ich bin noch nicht so weit heruntergebracht wie die kleine Elisabeth, das furchtsame Ding, die nicht zu widersprechen wagen würde, und wenn die Mutter auch behauptete, die Sonne ginge im Wasser auf und spiegelte sich am Himmel.«

»Ich fürchte, Du bist sehr hochmüthig,« bemerkte der Onkel, »und daher allein stammt Deine Weigerung, Dich in den Willen Deiner Mutter zu fügen. Der Gedanke an den ersten Commis ist's, der Dir im Kopfe herumspukt, Du möchtest gleich den Herrn spielen. Wer aber Herr sein will, muß auch dienen können«

Richard lächelte.

»Des Vaters erster und auch letzter Commis hätte ich schon sein mögen,« sagte er, »denn ich weiß schon, hätte der Vater gesagt: es ist so, und ich: es ist anders, nun, so hätten wir hin und her darüber gesprochen und es wohl herausgefunden, wer recht gehabt, und ich würde meinen Vater wahrlich nicht weniger respectirt haben, wenn ich auch einmal etwas besser gewußt als er. Die Mutter erlaubt es aber nicht, daß Einer etwas besser weiß als sie, und da fällt's Einem just gerade recht oft ein, daß man selber nicht so dumm ist, und daß der liebe Gott uns zu Menschen und nicht zu Puppen gemacht hat.«

»Du hast, wie es scheint, schon viel über Menschenrechte nachgedacht,« bemerkte der Onkel mit leichtem Spott.

»Nachgedacht habe ich über Vieles, woran Andere meines Alters nicht zu denken haben,« erwiderte Richard traurig.

»Nun, und was ist das Resultat Deines Nachdenkens?« fragte der Onkel, »was denkst Du zu thun, wenn Du bei dem Entschlusse stehen bleibst, nicht Kaufmann werden zu wollen?«

»Das wird sich finden,« entgegnete Richard ruhig.

»Noch ist die Zeit nicht da, noch habe ich nicht jede Hoffnung aufgegeben, die Mutter durch Festigkeit meinen Wünschen günstig zu stimmen. Vielleicht kannst Du mir auch helfen, Onkel, wo nicht, nun, so werde ich beweisen, daß ich weiß, was ich will, und daß ich nichts wollen werde, was ich nicht ausführen kann. Blind in die weite Welt laufen werde ich nicht.«

Der Onkel, betroffen von der ruhigen Energie des fünfzehnjährigen Knaben, betrachtete ihn einen Augenblick aufmerksam, als wollte er in seinen Zügen nach einer Bürgschaft für seine Worte forschen. Er wendete sich befriedigt ab. »Der Junge wird seinen Weg gehen, und dieser Weg durchkreuzt den deinen nicht,« war das Resultat seiner Forschung. Er konnte also dreist etwas für ihn thun.

»Willst Du es versuchen, Deine Mutter zu Deinen Gunsten zu stimmen,« sagte er nach einer Weile, »so will ich Dir gern dabei helfen, so gut ich es vermag. Aber dann laß die streitige Angelegenheit jetzt auf sich beruhen und sträube Dich nicht, diejenigen Dinge zu lernen, die sie von Dir verlangt. Sie werden Dir auch in anderen Verhältnissen keinen Schaden bringen. Lebe ihr zu Willen so gut Du kannst, erwirb Dir ihr Vertrauen und ihre gute Meinung, ehe Du verlangst, daß die Deine maßgebend für sie sein soll. Sei klug und habe öfter unrecht gegen sie, es wird Dir dann leichter werden, zuletzt recht zu behalten. Ehrlich währt am längsten, sagt ein Sprichwort, und ich will es nicht etwa zu Schanden gemacht wissen, aber Klugheit beutet auch eine kurze Zeit aus, und das Leben ist nachher immer noch lang genug, sich mit der Ehrlichkeit abzufinden, wenn man erst seine Zwecke erreicht hat. Nimm's nicht buchstäblich, mein Junge,« fuhr er in treuherzigem Tone fort, als er Richard's verblüffte Miene sah, »ich meine nur, daß unangebrachte Ehrlichkeit leicht mit der Thür in's Haus fällt. Darum warte Deine Zeit ab, und so viel in meinen Kräften steht, will ich Dir helfen.«

»In einem Jahre werde ich eingesegnet, bis dahin will ich warten,« erklärte Richard entschieden und reichte dem Onkel zur Bekräftigung die Hand.

Ganz befriedigt schied er nicht von seinem Rathgeber und Vertrauten, und der Enthusiasmus, mit dem er zu ihm geeilt, war abgekühlt, er wußte selbst nicht warum, er wußte nur, daß der Onkel doch nicht ganz so war, nicht ganz so dachte wie der Vater, wenn er auch dessen Stimme hatte. Dennoch wirkte diese Stimme immer wieder auf sein Herz, und im Verein mit dem wahrhaft liebenswürdigen Wesen des Onkels brachte sie den leisen Verdacht zum Schweigen, als sei das, was jener die glatte Seite nannte, auch so glatt, daß in wichtigen Fällen manche nicht gar zu schwere, moralische Bedenklichkeit leicht daran niedergleiten könnte. Der Verdacht war jedoch noch zu form-, noch zu grundlos, um das junge Herz Richard's dem zu verschließen, durch dessen Einfluß die niederdrückenden häuslichen Verhältnisse sich wirklich viel freundlicher zu gestalten anfingen.

Der Oheim brachte fast jeden Abend im Hause seiner Schwägerin zu, und seiner Gewandtheit, wie seiner unablässig guten Laune gelang es, die verschlossene Frau der Schweigsamkeit zu entreißen, die sie sich ihrem Manne gegenüber angewöhnt hatte. Ihre merkantilen Interessen theilend, brachte er sie allmählich dahin, auch an den seinen, mehr aus der Welt und dem Leben geschöpften Theil zu nehmen. Er hatte viel gesehen, viel gelernt und. sprach gut. Sie mußte finden, daß die Abende in seiner Gesellschaft angenehmer vergingen, als wenn sie dieselben allein mit den Kindern zubrachte.

Ebenso war die täppische kleine Flora, wenn auch in Richard's Alter und also um sechs Jahre älter als Elisabeth, doch eine prächtige Gesellschafterin und Freundin für alle Beide. Das sanfte, fröhliche Mädchen war gerade kindlich genug für die Eine und verständig genug für den Andern. Von ihrem Vater eben so freundlich und liebreich behandelt, als durch die Liebe ihrer verstorbenen Mutter verwöhnt, hatte nichts ihr offenes Zutrauen zu der Welt und den Menschen getrübt. Sie kannte nur bescheidene, nicht scheue Zurückhaltung. Es fiel ihr gar nicht ein, sich vor der gestrengen Tante zu fürchten. Sie würde sich, sans compairison, auch vor dem Teufel nicht gefürchtet haben, und zwar deshalb, weil sie ihn wahrscheinlich nie erkannt hätte. Ihre Unbefangenheit besiegte auch einigermaßen Elisabeth's schüchterne Zurückhaltung, entriß Richard der finstern Verschlossenheit, die er sonst in Gegenwart seiner Mutter beobachtet hatte, und entlockte durch ihre gutmüthiges Zudringlichkeit selbst dieser zuweilen eine freundliche Erwiderung ungewohnter Liebkosungen.

Dieser unerwartete Sonnenschein, der plötzlich das finstere Haus belebte, wirkte somit nach jeder Richtung günstig, und während er Elisabeth's Herz für Onkel und Cousine, von denen er ausging, begeisterte, wirkte er auf's günstigste auf Richard, der sich nach Kräften bemühte, die liebenswürdige Seite seines Gemüths herauszukehren und zwar ohne Verrath an der Ehrlichkeit.

Von seiner Zukunft sprach er gar nicht, äußerte auch keinen Widerwillen gegen den ihm bestimmten Beruf, strengte sich aber sichtlich an, seinen Studien auf's ernstlichste obzuliegen und manche Versäumniß der vergangenen Jahre nachzuholen. Vielleicht hatte der Onkel auch in Beziehung auf ihn seinen Einfluß bei der Mutter geltend gemacht, sie sprach nicht mehr in so abweisendem Tone mit ihm, ja, sie widmete seinem sichtlichen Fleiß sogar einige Lobsprüche, die schon der Seltenheit wegen in ihrem Munde freundlich klangen.

Richard war glückselig. Die Hoffnung breitete ihre glänzenden Flügel vor ihm aus, die bisher so düster vor ihm liegende Zukunft zu erhellen. Er war so wenig verwöhnt. Der schwache Strahl der Güte in den Augen seiner Mutter deutete für ihn auf eine Fülle künftigen Sonnenlichts. Er war nun eben fünfzehn Jahre. Er hoffte also, während die Mutter überzeugt war, endlich seinen starren Trotz gebrochen zu haben, und sich zu der Consequenz gratulirte, mit der sie so lange streng gewesen, bis er sich überzeugt hatte, daß ihr Uebergewicht anerkannt werden müsse.

Dem Knaben kam es aber vor, als wäre seit dem Tode des Vaters nie ein Jahr in so raschem Fluge vorübergerauscht als das Jahr, das seiner Einsegnung voranging. – –

 

Die schöne, feierliche Handlung war vorüber. Mit tiefem Ernste war sie begangen worden. Seit Jahren hatten die Lippen der Mutter einmal wieder die Stirn des Sohnes berührt, und als er, leicht erhebend, die ungewohnte Liebkosung empfing, da zuckte ein Gefühl durch seine Seele, der Freude wie dem Schmerz gleich nah verwandt.

Elisabeth und Flora hatten Ströme Thränen geweint, ein friedlich beseligender Ernst beherrschte die Gemüther auch für die Dauer des Tages und verlieh dem stillen Familienfeste die schönste Weihe. Ehe sich der kleine Kreis am Abend trennte, übergab Herr Artefeld dem Neffen eine prachtvoll eingebundene Taschenbibel zur Erinnerung an den gemeinsam verlebten wichtigen Tag, und wie von einem unwillkürlichen Impuls getrieben, reichte Richard sie seiner Mutter mit der Bitte, ihm einige einweihende Worte auf das Titelblatt zu schreiben.

Sie lächelte zu dem Verlangen, das ihrer Gemüthsrichtung so wenig entsprach, erfüllte es aber augenblicklich, gab ihm dann das Buch zurück und sagte mit bedeutungsvollem Blick:

»Lies es auf Deinem Zimmer, mein Sohn, und beherzige es.«

Mit zitternder Erwartung schlug Richard das Buch auf, sobald er die Thür seines Gemachs hinter sich geschlossen hatte, aber dann ließ er es seinen Händen entgleiten, und die Bibel mit einer Geberde, halb des Unwillens, halb des Schmerzes zusammenschlagend, sagte er leise:

»Es hilft Alles nichts, sie hat doch kein Herz für mich.«

Die Worte, die sie ihm eingeschrieben, zerschnitten mit schneidendem Mißton seine durch die Feier des Tages so harmonisch gestimmte Seele. Auf ein Wort des Segens hatte er gehofft und eine Drohung verhöhnte seine Erwartung. Die Mutter hatte den Spruch gewählt:

Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder.

 

Etwa vierzehn Tage darauf kam Richard athemlos zu seinem Oheim gestürzt. Er war außer sich, seine Stirn glühte, während Frostschauer seinen Körper zu durchbeben schienen.

»Es ist Alles vorbei, Alles!« stöhnte er, »die Mutter ist so hart wie ein Fels. Ich habe mir einmal so recht ein Herz gefaßt,« fuhr er nach einer Pause fort, »ich habe mich gar nicht an die scharfen, kalten Blicke gekehrt, die alles Vertrauen aus der Seele scheuchen und vor denen man immer dasteht wie ein der Strafe harrender Schulknabe, ich habe gesprochen, als sei es der Vater und nicht sie, die mir zuhörte. Ich habe ihr ganz ernst und fest erklärt, daß es mich unglücklich machen würde, beharrte sie darauf, mich für die Handlung zu bestimmen, ich habe, auf Wünsche und Neigung verzichtend, ihr die Wahl meines künftigen Berufs, mit Ausnahme dieses Einen, anheimgestellt, ich habe sie gebeten, beschworen –«

»Und sie?« fiel der Onkel ein.

»O,« sagte Richard bitter, »sie liebt Nichts aus der Welt als das alte Schild über der Thür mit dem in Goldschrift prunkenden Namen. Lieber würde sie uns Alle zu Grabe tragen sehen, als das Schild von der Thür reißen. Sage, Onkel, könnten wir denn nicht viel glücklicher sein, wenn die Mutter nichts wäre, als eine schlichte Frau, als unsere Mutter, wenn wir uns mit dem begnügten, was wir haben, wenn sie sich von den Geschäften zurückzöge, die ihren Geist so erfüllen, daß sie nicht einmal Zeit hat, ihre nächsten Angehörigen lieb zu haben? Wir sind ja reich genug, wozu denn noch mehr Schätze sammeln! Dem Namen könnte ich Ehre machen auch in jedem andern Verhältniß. Es würde nicht aus jedem Glück, jedem Lebensanspruch ein Rechenexempel gemacht, und wir könnten ein so glückliches Familienleben führen, wie es bisher nie in diesem Hause heimisch war. Das habe ich ihr Alles gesagt, aber sie nannte es mit mitleidigem Lächeln den närrischen Traum eines Müßiggängers. – Müßig gehen will ich wahrlich nicht,« fuhr er, seinen Ton zu noch größerer Heftigkeit steigernd, fort, »ich will nur nicht da arbeiten, wo die Arbeit mir keine Befriedigung bringt. Der Vater hat nicht Kaufmann sein können, und ich will es auch nicht.«

»Aber ich bitte Dich, Richard, was soll daraus werden, wenn keiner von Euch nachgiebt?«

»Was daraus werden soll?« wiederholte jener bitter. »Was kümmert's mich! Wenn ich nur nicht Kaufmann werde, alles Andere ist mir gleich.«

Der Onkel schüttelte den Kopf, setzte ihm aber in ruhiger, klarer Weise seine Ansicht auseinander. Er gab ihm gern die Berechtigung zu, eine Abneigung vor dem ihm bestimmten Berufe empfinden zu dürfen, ebenso wie man es Keinem als ein Unrecht anrechnen dürfe, wolle er nicht Soldat oder nicht Landmann oder nicht Gelehrter werden; aber er verwies ihm die Uebertreibung, mit der er einen an sich ehrenwerthen Stand, eine auch in moralischer Weise belohnende Thätigkeit um seiner Abneigung willen herabsetzte.

Er pries ihm alle Vortheile der günstigen äußeren Lage, die ihn einst erwarte, fügte er sich dem Willen seiner Mutter, er beleuchtete die Vorzüge des Kaufmannsstandes von allen Seiten, den jungen Mann für denselben einzunehmen, aber wie klar, verständig, überzeugend er auch sprach, sein steter Refrain: Es ist ein ehrenwerther Stand, machte dieselbe Wirkung wie das classische: Und Brutus ist ein ehrenwerther Mann. Als Onkel Philipp seine Beredsamkeit erschöpft, seine Verherrlichung des Kaufmannsstandes beendet hatte, fühlte Richard einen Stachel in der Seele, der ihn zu nur noch größerem Widerwillen reizte, ihn zu einem Kampfe auf Leben und Tod angespornt haben würde, wäre der Feind ein faßbarer gewesen.

»Es ist vergebens, mir zuzureden, Onkel,« sagte er bestimmt, »ich kann nicht Kaufmann werden. Das Einzige, was zu thun, ist, zu versuchen, ob sich die Mutter nicht mit meinem Entschlusse versöhnen läßt, wenn sie sieht, daß es mir Ernst damit ist.«

»Gut, so laß mich versuchen, was ich thun kann,« sagte der Onkel. »Bleibe hier, ich gehe zu Deiner Mutter, Flora mag Dich einstweilen unterhalten.« Er ging, er fand seine Schwägerin nicht allein, der Buchhalter war bei ihr.

»Herr König mag bleiben, ich habe noch Weiteres mit ihm zu sprechen,« sagte sie auf Philipp's Bitte um eine Unterredung, »ich kann mir denken, weshalb Du kommst, er ist aber mein alter Freund, und vor ihm braucht aus der leidigen Angelegenheit kein Geheimniß gemacht zu werden. Was ist's also, giebt der Trotzkopf nach?«

Und wieder ließ Herr Artefeld eine Rede vom Stapel, eine kluge, verständige, kunstvolle Rede. Er tadelte Richard und nahm ihn dennoch liebevoll in Schutz, tausend Entschuldigungen für seine Fehler findend und tausend unbekannte Vortrefflichkeiten an's Licht ziehend. Er gab der Mutter recht; sie hatte über den Sohn zu bestimmen, sie mußte besser wissen als er, was ihm noth that, der Junge sah seinen eigenen Vortheil nicht ein, aber, lautete hier wieder der Refrain:

»Ich fürchte, in dieser Angelegenheit wirst Du nachgeben müssen. Er ist zu starr in seiner Abneigung gegen den Kaufmannsstand, er ist es zu seinem Schaden. Er wird es vielleicht bereuen und, wenn ihm bessere Erkenntniß gekommen ist, nachgeben. Jetzt aber mußt Du es thun. Du mußt hier schon Deine mütterliche Autorität zum Opfer bringen, Du kannst ihn nicht aufs Aeußerste treiben wollen, den stürmischen Trotzkopf. Laß ihm also seinen Willen. Was liegt auch daran, ob er einmal über Dich triumphirt, die Kinder wachsen Einem über den Kopf, es ist einmal nicht anders!«

Herr König hörte entsetzt der Rede zu. Vergebens machte er ihm Zeichen über Zeichen zu schweigen oder etwas Anderes zu sagen; in dem gutmüthigen Eifer, Mutter und Sohn zu versöhnen, bemerkte Philipp die Geberdensprache des alten Mannes nicht, und wie Herr König nachher seiner Schwester erzählte, fuhr er fort mit seinem unglückseligen: »Du mußt nachgeben, diesmal mußt Du es,« das Feuer zu schüren, bis der Brand unlöschbar war.

Frau Artefeld ließ ihren Schwager ruhig ausreden, dann sagte sie freundlich, denn zu ihm sprach sie immer freundlich:

»Du meinst es gut, Philipp, mit mir wie mit Richard, und ich danke Dir dafür, aber Du mußt Dich hier nicht einmischen, Niemand muß es thun,« fügte sie mit einem Seitenblick auf Herrn König hinzu. »Ich weiß sehr gut, was ich zu thun habe, und werde es thun. Wollte ich mich an die Drohungen eines ungestümen Burschen, der vollständig von mir abhängt, nichts ist und nichts kann ohne mich, kehren, ich wäre sehr thöricht. Hat Dich Richard geschickt mit dem Auftrage, daß ich nun nachgeben müsse, so thut es mir nur leid, daß Du Dich zu einer so unnützen Botschaft hergegeben hast. Du bist mir jedenfalls willkommener, wenn Du als Freund und Gast zu mir kommst, als wenn Du den Vermittler zwischen mir und meinen Kindern spielen willst. Du spielst ihn noch dazu ein wenig ungeschickt, mein Freund,« fuhr sie lächelnd fort, »Du hättest sonst nicht nach einer so stumpfen Waffe gegriffen, wie das mir entgegengeschleuderte Muß ist. Ich muß nicht, lieber Philipp, und werde es Dir beweisen. Sage Richard, es bleibe bei dem, was ich ihm als meine letzte Willensmeinung mitgetheilt. Entweder entschließt er sich, sogleich in das Comptoir einzutreten und künftig Herr eines kolossalen Vermögens zu sein, oder er geht seiner Wege und ich ziehe meine Hand von ihm ab. Elisabeth wird dann meine Erbin, und ihr künftiger Mann, den ich mir schon passend zu diesem Zwecke aussuchen werde, führt die Handlung unter der alten Firma fort. Morgen erwarte ich seine Entscheidung.«

Das war Alles, was Philipp Artefeld ausgerichtet hatte. Er war ganz trostlos, als er dem Neffen den Bescheid brachte.

»Mein armer, armer Junge!« sagte er, »mein Gott, was soll aus Dir werden, so jung, so unerfahren wie Du bist!«

Ein Strahl selbstbewußter Kraft blitzte in den braunen Augen des Knaben auf, und seine Brust hob sich, aber dann machte sich wieder das ganze schwere Gewicht der jetzt unvermeidlichen Entscheidung über Wohl und Weh des ganzen Lebens geltend, und ein Schatten von Traurigkeit, der den flammenden Blick verdunkelte, begleitete den leisen Seufzer, der sich des Knaben Brust entrang. Auf einmal fragte er hastig:

»Onkel, weißt Du, was die Mutter mir in Deine Bibel geschrieben hat?«

Jener verneinte. Richard nannte ihm den Spruch.

»Meinst Du, daß sie das thun kann?« fragte er dann feierlich.

»Was thun? Dir fluchen? Gott bewahre mich, das glaube ich nimmermehr!« rief der Onkel lebhaft aus. »Das kommt im Leben nicht vor, das geschieht nur in mittelalterlichen Romanen. Auch ist hier im schlimmsten Falle kein Grund zu einer so unnatürlichen Barbarei.«

»Das mein' ich auch,« sagte Richard sichtlich erleichtert, »und nun lebe wohl, Onkel, und habe Dank für Deine Güte. Lebe wohl, Flora! Ich werde Euch heute nicht mehr sehen, auch wenn Ihr auf die Villa kommt. Ich verlasse mein Zimmer nicht.«

»Der arme Narr!« murmelte der Onkel, als er ihn die Straße entlang stürmen sah, »es ist wahrhaftig eine schlimme Geschichte, obgleich sie für mich gut ausschlagen kann. Ich habe das Meinige gethan! Uneigennütziger kann man nicht handeln, und am Ende ist sich Jeder selbst der Nächste.«

»Papa, bist Du auch böse auf Richard?« fragte Flora, das leise mit sich selbst Sprechen desselben für einen Ausbruch von Verdrießlichkeit haltend.

»Ich? O bewahre!« rief jener und setzte mit einem sonderbaren Auflachen hinzu: »Der Junge ist dumm, er weiß nicht, was Reichthum bedeutet. Der Reichthum ist aber keine Seifenblase, das sage ich Dir, mein Kind.«

»Bei uns am Ende doch,« scherzte Flora. »Du hast schon oft gesagt: Jetzt bin ich reich, aber es hat nie lange gedauert.«

»Wenn ich es aber je wieder werden sollte, will ich sorgen, daß ich's bleibe,« versicherte er ernsthaft.

Als Richard nach Hause kam, ging er geradenwegs nach« seinem Zimmer. Es fiel ihm nicht auf; daß Gebhard ihm folgte; erst als er die Klinke der Thür in der Hand hatte, bemerkte er, daß er nicht allein war, ja, fiel ihm die verlegene Miene des alten Mannes auf.

»Nun, was giebt's, Gebhard?« fragte er freundlich. Jener zögerte mit der Antwort; endlich den ungeduldigen Blick Richard's bemerkend, sagte er ängstlich:

»Ich habe den Befehl, hinter dem jungen Herrn abzuschließen.«

»Was fällt Dir ein, ich bin ein erwachsener Mensch!« brauste Richard auf.

»Die Frau Commerzienräthin haben es so befohlen; thu' ich es nicht, bin ich morgen aus dem Dienst,« sagte der Diener.

Richard rieb sich die Stirn.

»Wahrhaftig, ich hatte es vergessen,« sagte er, »die Mama hatte es mir heute verboten auszugehen, und ich hatte es doch gethan! So schließe ja zu, damit es nicht wieder geschieht. Ich weiß schon, Du thust es nicht gern, alter Freund, Dir mache ich keinen Vorwurf;« und ihm die Hand reichend, ging er in sein Zimmer und schob den Riegel von innen vor, während der Diener seufzend den Schlüssel im Schloß umdrehte.

 

Am nächsten Morgen war Richard fort. Wenige zurückgelassene Zeilen theilten der Mutter seinen Entschluß mit. Er wies eine gesicherte, ja glänzende Zukunft von sich, er zerriß die Familienbande, die ihn an das Vaterhaus knüpften, um seine Selbstständigkeit zu retten, um in dem Kampfe mit dem Leben ein Mann zu werden.

Ein Trotz bis auf's Aeußerste oder das unabweisliche Bewußtsein einer Kraft, die sich zu bewähren strebt, durchathmete die Zeilen und wurde nur verstärkt durch die Art seiner Entweichung. Nur das Unentbehrlichste seiner Kleidungsstücke und die Bibel des Onkels hatte er mitgenommen. Sollte man es ihm als Verachtung früheren Besitzes deuten? Wollte er nur zeigen, daß er das Leben von Grund aus anfangen, daß er Alles sich selber, nichts dem Hause verdanken wolle, das ihn verstieß? –

Die Mutter sah in seinem Brief und Benehmen nur Trotz und Verachtung. Sie wollte nichts davon hören, daß Nachforschungen nach ihm angestellt würden. Nicht sie, er hatte das Band zerrissen, das die Natur zwar knüpft, dem aber nur die Liebe wahre Bedeutung und unzerstörbare Dauer verleiht; an ihm war es, das Zerrissene wieder zusammenzufügen. Geschah es nicht, so hörte er auf, für sie zu existiren. Noch aber glaubte sie sichtlich nur an einen Kinderstreich, dem bald die Reue folgen würde, und wies jede Bitte, ihm nachforschen und ihn zurückbringen zu dürfen, mit den kurzen Worten ab:

»Er wird schon von selbst kommen, mir ist nicht bange.«

Aber er kam nicht, und sie hörte wenigstens auf zu sagen, daß sie es noch erwarte. Sie verbot es überhaupt, über ihn zu sprechen. Keiner durfte in ihrer Gegenwart seinen Namen nennen. Nur im Verborgenen flossen ihm die Thränen der beiden Mädchen nach, nur in Gedanken widmete ihm der Onkel zuweilen ein mitleidiges Bedauern, und nur der alte Buchhalter wagte es mitunter, auf den Zorn seiner ihm besonders gütig gesinnten Prinzipalin hin, von dem jungen Herrn zu sprechen, als sei es eine ausgemachte Sache, daß er einst zurückkehren und seine Rechte in Anspruch nehmen werde, aus ihrem Schweigen die Hoffnung schöpfend, daß sie im Stillen seine Meinung theile.

So fehlte denn dem von allen Vorzügen des Reichthums geschmückten Leben, des Reichthums, der so zahllose Genüsse möglich macht, so viel äußeres Ansehen und eine so angenehme Unabhängigkeit begründet, so fehlte auch ihm der Schatten nicht, wenn auch Niemand es erfuhr und berechnen konnte, ob und wie tief er die stolze Lebenszuversicht der scheinbar ungebeugten Frau verdunkelte.

 

Der Frühling, der eben wieder einmal über die nach ihm schmachtende Erde hinzog, Stadt und Land zu neuem Leben erweckte und seine Lockung auch in das finstere Haus hineinrief, in dem man mehr auf den Klang des Goldes, als auf die silbernen Töne der ersten befiederten Sänger zu lauschen gewohnt war, der Frühling war nun schon der zweite, der seit Richard's Entweichen Blüthen, Gesang, Jubel und Freude brachte, aber – keine Nachricht von ihm. Ob seine strenge Mutter noch immer nicht den Glauben an seine Rückkehr verloren hatte? –

Suchen wir sie auf ihrem Landsitze auf, mit dem sie, alter Gewohnheit folgend, an dem Tage, der nach dem Kalender Frühlingsanfang bezeichnet, ihre städtische Wohnung vertauscht und somit Gelegenheit gehabt hatte, das allmähliche Erwachen der Natur zu belauschen und Zeuge zu sein des glänzenden Sieges, den der Lenz über den Winter erfochten.


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