Per Daniel Amadeus Atterbom
Menschen und Städte
Per Daniel Amadeus Atterbom

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Von Wien nach Breslau

Ich hätte vielleicht noch länger in Wien geschmiert und gemurrt, wenn nicht, während ich mir gerade am stärksten einbildete, die Lungenentzündung zu haben, ein mir bekannter Musiker mit Namen Müller, ein Freund Wähners, mit dem ich einige Male in großer Heiterkeit ungarischen Wein getrunken hatte, ganz plötzlich an der galoppierenden Schwindsucht gestorben wäre. Er war ebenfalls ein Fremdling in dieser Stadt und hatte sich nach seiner Erkrankung in das allgemeine Krankenhaus begeben, seine Verwandten und nächsten Freunde wohnten weit oben in Norddeutschland, und nur bezahlte Personen umstanden sein Totenbett. Dieses Ereignis kam mir als ein so drohendes Beispiel vor, daß ich sofort einen ziemlich teuren Akkord mit einem einäugigen Fuhrmann abschloß und schon zwei Tage darauf aus Wien fuhr. Fürst und Rückert, welche noch ein paar Tage nach mir dort verweilten, frühstückten mit mir in der äußersten Vorstadt, während ich ihnen mein Gedicht über die Kinderballette vorlas; der Abschied fiel mir schwer, besonders von dem vortrefflichen Rückert, mit dem ich nun schon von den Toren Roms an drei Monate und mehr täglich Freud und Leid geteilt hatte.

Es war am 24. Januar 1819, ungefähr 9 Uhr vormittags, als ich Wien verließ; mein Gesellschafter in dem viersitzigen Mietswagen war ein ehrsamer, bleicher und etwas brustkranker Mann, der sich Karl Speil nannte, eine Zeitlang eine Jägermeistereistelle in der Walachei bekleidet, dann das Theoretische der Forstwissenschaft an einer Akademie in der Nachbarschaft Wiens studiert hatte und nun, nach vollendeten Studien und in Erwartung der Beförderung, seine im österreichischen Schlesien wohnenden Eltern besuchen wollte. – Ungeachtet dieser Mann – eine gutmütige und freundliche Natur, aber im übrigen nach allen Richtungen hin beschränkt und prosaisch – mich höchstwahrscheinlich oftmals sehr sonderlich fand, faßte er doch ein so lebhaftes Interesse für mich, daß er mit Tränen in den Augen nach einigen Tagen, als wir uns trennten, von mir Abschied nahm, wobei er die Hoffnung aussprach, mich wiederzusehen, wenn nicht eher, so doch wenigstens im Himmel, wodurch er wiederum mich derart rührte, daß ich fast in Weinen ausbrach, welches ein im Wirtshause anwesender grämlicher Oberstleutnant gewiß für eine große und närrische Kinderei angesehen haben würde. Du kannst Dir indessen wohl vorstellen, daß ich mich in meinem Innern während dieser ganzen Reise, die meine Gesundheit übrigens sehr verbesserte, völlig vereinsamt fühlte. Das Wetter war während der meisten Tage trübe, kühl, neblig, feucht und die umgebende Natur im allgemeinen flach, tot, einförmig. – Ich war nicht mehr in Italien! und das Entzücken, mit dem ich in Kärnten den deutschen Boden wieder begrüßte, war während meines langen Aufenthalts in Wien verraucht. Aber Kärnten ähnelt auch Schweden; die Teile von Mähren und Schlesien hingegen, welche ich durchfuhr, haben weder nordische noch südländische Schönheit aufzuweisen. – Wie ein gutes Omen für den Ausgang meiner neuen Reise sah ich es an, daß ich beim Passieren der hauptstädtischen Barriere nicht von den Zöllnern visitiert wurde. In Wien ist man schlimmer, mehr als irgendwo, den Schikanen dieser Lümmel preisgegeben, und man wird, wenn es ihnen beliebt, sowohl bei der Ein- als Ausfahrt von ihnen untersucht. Bei einer anderen Gelegenheit werde ich Dir von der lächerlichen Stänkerei erzählen, welche ich mit einem Esel dieser Art bei meiner Ankunft in Wien hatte. – Bald hatten wir die beiden größeren Arme der Donau (der kleinste fließt durch die Stadt) passiert, und der stolze, Kaiserfluß präsentierte sich, besonders von der letzten unendlich langen Brücke aus, ungemein stattlich. Nicht weit von dieser lag das berühmte Aspern, wie die ganze Gegend in Nebel gehüllt. Auf allen Seiten immerfort große, ebene Flächen, hier und da mit Winzerhäuschen und winterlich nackten Weinpflanzungen überstreut, schien diese Gegend von der Natur einzig für Throne umstürzende Bataillen geschaffen zu sein. So viel steht aber fest, daß das Erzherzogtum Oesterreich ein sehr fruchtbares Land ist.

Am 25. bei Tagesanbruch waren wir schon innerhalb der mährischen Grenzen und frühstückten in Nikolsburg, der Residenz der fürstlich Dietrichsteinschen Familie, die jedoch gegenwärtig in modern-adeliger Weise immer in der Hauptstadt wohnt. Die alte graue Burg erhob sich mürrisch auf dem Scheitel eines Berges zur Linken. Die kleine Stadt, ziemlich nett, wird im übrigen fast nur von Juden bewohnt; ähnliche Judenstädte gehören in den österreichischen Staaten nicht zu den Seltenheiten. In diesen beiden Tagen war ich beständig von kriegerischen Erinnerungen umgeben; am Vormittage fuhr ich über das Schlachtfeld von Wagram, gegen Abend begrüßte mich das Dorf Austerlitz mit seinem spitzigen Kirchturm, der rechts in geringem Abstand von einigen Waldhöhen auftauchte. Ich reiste auch mitten über das Gefilde der Drei-Kaiser-Schlacht und über den Fluß, der aus dem bei Austerlitz belegenen kleinen See fließt, in welchen die Franzosen damals die Russen jagten. – Vor drei Monaten war ich beim See Trasimene über die noch heutigen Tages »Blutbrücke« (Ponte Sanguinetto) genannte Brücke eines ähnlichen Flusses gefahren, der sich von den Apenninen in den genannten See wälzt, hinsichtlich dessen die Volkstradition sich noch jetzt erinnert, wie er mehrere Tage von Römerblut nach Hannibals Sieg purpurgefärbt war! – Hierbei fiel es mir ein, daß Napoleons Natur eine ungemeine Aehnlichkeit mit Hannibals hat; ich glaube, man hat dies bis jetzt wenig beachtet, obwohl man beide wegen ihres Zuges über die Alpen usw. miteinander verglichen hat, aber das innere, wesentliche, moralische, ja sogar das physische Verwandtschaftsband zwischen diesen beiden Feldherren (als solche ohne Zweifel die beiden größten seit Beginn der Geschichte), das hat man im allgemeinen außer acht gelassen. Auch die Schlußkatastrophen bei Zama und Waterloo glichen einander; nicht bloß war Napoleons und Frankreichs Lage ungefähr dieselbe wie Hannibals und Karthagos, auch alle kundigen und vorurteilslosen Offiziere sagen jetzt über Napoleons Verhalten an seinem Unglückstage dasselbe aus wie die Geschichtsschreiber der Vorzeit über das Hannibals, daß er sich nämlich selber in Genie, Mut, Geistesgegenwart und Tatkraft übertroffen habe, aber – Gott hatte in seinem höheren Kriegsrat beschlossen, daß Hannibal und Napoleon zu kurz kommen sollten; und es steht zugleich fest, daß Wellington und Blücher, welche vortreffliche und in Zahl weit überlegene Truppen kommandierten, durch ihre Vereinigung gewissermaßen Scipios Erbschaft antraten, d. h. die glühendste Bravour mit unerschütterlicher, berechnender Kaltblütigkeit.

Die Namen der mährischen Flüsse klingen ziemlich nordisch, z. B. Swartzawa (Svart-ån), Iglawa (Igl-ån) usw. Das Volk spricht, wenigstens in der Nähe der Landstraßen, überall Deutsch ebenso fließend wie seine eigene slawische Muttersprache; die letztere aber sprechen sie doch am liebsten untereinander. Mein Reisekamerad konnte sich mit ihnen in ihrem eigenen Rotwelsch unterhalten.

Unser nächstes Nachtquartier nahmen wir in Brünn, der Hauptstadt Mährens. Man hatte uns gesagt, daß in demselben Maße wie die Wiener Stadttorobrigkeit die unwiderstehliche Passion hat, alle Menschen zu visitieren, noch dazu mit nicht endenwollender Umständlichkeit, so wäre es derselben Obrigkeit Leidenschaft in Brünn, mit den Reisenden um deren Paß zu zanken und dieselben so lange wie nur irgend möglich auf die Unterschrift warten zu lassen. Aber mich fragte kein Mensch nach Namen oder Paß, nur Herr Karl Speil, der Eingeborne, mußte Rede und Antwort stehen, wer er wäre, und da er entgegnete, er käme von der Forstschule, sah man mich vielleicht ebenfalls für solch einen unschuldigen Schüler an, indem man uns ohne weiteres passieren ließ. Durch eine lange weißschimmernde Reihe von Fabriken, die eine ziemlich große Vorstadt bilden, fuhren wir über ein geräumiges Glacis in die eigentliche Stadt. Diese schien mir bedeutend, volkreich und ziemlich wohlgebaut. Das Wirtshausmädchen bat uns, vor allen Dingen ja nicht das Theater zu versäumen; es sollte heute abend, so sagte sie, eins der schönsten Stücke in der ganzen Welt aufgeführt werden; eine Königin »Semerámis« wäre Hauptperson, und soviel sie sich der näheren Verhältnisse dieser Monarchin entsinnen könne, wäre dieselbe Königin in Polen gewesen. Wir beschlossen, der närrischen Aufforderung Folge zu leisten, und fanden ein Stück langweiliger heroischer Oper, nach Voltaires Semiramis von meinem Wiener Theaterreimer Castelli bearbeitet, von dessen Berühmtheit ich mit jenem Abend Abschied nahm, denn hoffentlich wird dieselbe nicht nördlich über Mährens Grenzen hinausreichen. War das Stück erbärmlich, so war auch das Spiel und der Gesang danach. Eine Merkwürdigkeit wird mir jedoch gleichwohl das Theater in Brünn unvergeßlich machen – das ganze Parterre desselben ruht nämlich auf einem Eiskeller, und da ist es um diese Jahreszeit eine schwierige Pflicht, mährischer Kunstrichter im Theaterfache zu sein. Ich fror erschrecklich an Füßen und Beinen und schwur unzählige Eide in meinem Innern über diese in allen mir bekannten Theaterannalen unerhörte Art der Verbindung von utile dulci. Aber die Leute in Brünn betrachteten die Sache aus einem besonderen Gesichtspunkte; man findet nämlich nichts natürlicher, als daß Biertonnen – die ja einen mit Genie mehr homogenen als heterogenen Stoff enthalten – mitsamt ihren nötigen Eisklumpapparaten unter demselben Boden liegen können, auf welchem eine oftmals durstige Menschheit sich abarbeitet, trockene Medikamente zur moralischen und ästhetischen Veredelung niederzuschlucken. Wir kamen erfroren und unveredelt heim nach unserem Wirtshaus und fanden, was ich schon oft erfahren, daß in ähnlichen Augenblicken ein guter Kalbsbraten und ein paar Flaschen erträglicher Wein besser sind als alle Musik und Poesie auf der ganzen Erde.

Am Morgen des 26. blieb das Wetter kalt und neblig, auch schneite es ein wenig. Kurz vorher, ehe wir an ein Dorf namens Rauswitz kamen, woselbst wir Kaffee tranken, sahen wir rechts von der Landstraße einen Acker, der dadurch eine historische Berühmtheit erhalten hatte, daß auf ihm einstmals Kaiser Joseph II., da er im Vorbeifahren einen Bauern pflügen sah, aus dem Wagen stieg und zu pflügen versuchte. Er zog auch wirklich eine Furche aufwärts und eine abwärts über das nicht kleine Ackerfeld, und hiernach erhielt der Bauer volle Steuerfreiheit für diesen Fleck Erde, ein Vorteil, den der gegenwärtige Besitzer und alle seine Nachfolger zum ewigen Andenken an Kaiser Josephs Versuch in der Pflügekunst genießen sollen. Ein Kommentar in Stein ist dieser Historie beigegeben, nämlich ein Obelisk, den die Mährische Ackerbau-Gesellschaft dicht an der Landstraße auf jenem Acker errichten und mit einem Gitter einhegen ließ. Er ist mit einer Menge Inschriften bedeckt, im übrigen aber nicht von besonderem Ansehen.

Unser nächstes Nachtquartier war in Proßnitz, woselbst ebenfalls, wie im Mittagshalteplatz Wischau und in den übrigen ähnlichen Kleinstadtlöchern dieses Landes, ein Theater vorhanden ist, obwohl in den meisten nur während des Sommers gespielt wird. Aber ich hatte noch genug an der Probe mährischer Dramatik, die ich in der Hauptstadt gekostet hatte. Wir trafen hier ein gutes Wirtshaus und verbrachten den ganzen Abend im Wohnzimmer der Wirtsleute zusammen mit der Familie, weil uns die Wirtin, eine freundliche, gesprächige und respektable Matrone, besonders gefiel. Sie hatte eine hübsche, völlig erwachsene Tochter und einen kleinen blonden Jungen mit glänzenden dunkelblauen Augen, der den ganzen Abend über, ohne sich um die Spiele und das laute halb deutsche, halb mährische Gespräch einiger im Zimmer anwesender Nachbarskinder zu kümmern, ernsthaft auf und ab ging und auf einer kleinen Flöte Tiroler Melodien spielte (die schönsten von diesen sind nämlich im größeren Teile Deutschlands bekannt). Es war mir angenehm, an Tirol erinnert zu werden; die Innsbrucker Sängerinnen, von denen ich Euch ja etwas in meinem langen Briefe aus Rom geschrieben, stiegen mit vielen anderen Bildern aus Nord und Süd vor meiner Phantasie auf. Unter diesen Betrachtungen war ich mittlerweile schon am Tische placiert, mein Reisekamerad hatte mir einen Teller dampfende Suppe vorgesetzt und mehrere Male mit seiner feinen, etwas matten Stimme zu mir gesagt: »Geruhen Sie, Geehrtester, mit zu essen?« – Ich gehorchte ihm endlich und merkte nun erst, daß noch ein dritter Reisekamerad, eine Frauensperson, welche unser Fuhrmann am Morgen in Brünn aufgenommen hatte, um sie nach Olmütz zu befördern, mit am Tische saß. Sie hatte ein über alle Maßen melancholisches Antlitz, was mir jedoch nichts Neues war, denn sie hatte den ganzen Tag über im Wagen geseufzt und kaum ein Wort gesprochen. Die Sache lag nämlich so: die Frau gehörte in Olmütz zu Hause, und obgleich es von Olmütz bis Brunn (weiter war sie in ihrem ganzen Leben nicht gereist) kaum eine schwedische Tagereise ist, kam ihr diese Fahrt doch so lang vor, daß es ihr schier ungewiß schien, ob sie je das Ende derselben erleben würde. Ich redete ihr zu, guten Mutes zu sein, da sie nun so nahe am Ziele ihrer Wünsche wäre; ich gäbe mich ja auch zufrieden und wäre doch viel schlimmer daran als sie, denn ich hätte noch das ganze Preußen zu durchreisen, ein Meer zu überfahren und das halbe Schweden dazu, ehe ich meine Heimat erreichte. »Ach«, sagte sie, »in Ihrer Stelle stürbe ich schon in der ersten Woche vor Kummer!« Hierüber bekam ich fast Gewissensbisse, weil ich selber nicht mit dem gehörigen Heimweh, wenigstens nicht alle Tage, an meine ferne Heimstätte dachte. Nun wurde sie zutraulich und teilte mir mit, daß der Anblick der spielenden Kinder sie an ein zartes Töchterlein erinnert hätte, das ihre einzige Freude in der Welt gewesen, welches sie aber durch den Tod verloren hätte. Dieses Mädchen hätte ein wunderbar stilles und in sich geschlossenes Wesen gehabt und war so gut und schön wie ein Engel. Ihre tägliche Beschäftigung war das Flechten von Blumenkränzen und ihre höchste Freude, diese Kränze zu tragen. Wenn man mit ihr scherzte, in der Weise, wie dies Frauen gerne mit kleinen Kindern tun, indem sie ihnen von Verlobung, Hochzeit usw. vorplappern, hörte sie schweigend und verwundert zu, aber murmelte doch mitunter vor sich hin, während sie einen ihrer vielen Kränze ins Haar setzte: »Ich bin die Braut.« Fragte man sie, ob sie denn bloß bei der Braut bleiben und nicht auch Frau werden wollte, dann antwortete die kleine Rosenjungfrau stets sehr feierlich: »Ich will nur Braut sein!« Im Alter von sechs Jahren verließ sie das Irdische. – Nicht ohne Rührung hatte ich dieser Erzählung der Mutter zugehört, die mir wie eine liebliche Novelle aus meinem eigenen Kindheitsroman vorkam, denn ich hatte gleichfalls als Kind ein solches Mädchen gekannt, das ein Jahr jünger war als ich und mit sieben Jahren starb. Sie ist noch heutigen Tages das Mädchen, welches mich am meisten in meinem ganzen Leben interessiert hat und der zu Ehren ich in meinem siebzehnten Jahre das kleine Gedicht »Carolina« dichtete, welches mit Verbesserungen versehen im Poetischen Kalender für 1816 steht und dort den Beifall von vielen erhalten hat.

Ein heftiges Ausrufen zweier im Winkel der Stube sitzender Bauern: »Es ist alles eins!« – »Nein! 's ist nicht wahr, außer in einem Falle!« weckte mich aus meiner Träumerei, und durch einen wunderlichen transitus fiel mir dabei der Herausgeber der Allgemeinen Zeitung ein, der sicherlich, wenn er eine Reise durch die österreichischen Staaten machte, alle dortigen Bauern, Gastwirte und Aufwärterinnen für ein dem Teufel verschworenes Geschlecht von Pantheisten halten würde, so oft hört man in Oesterreich obigen Satz als Sprichwort in aller Munde. Die Ursache hierzu ist eine zum Volksliede gewordene komische Arie, ein Lieblingsstück des Leopoldstädter Theaters in Wien, die mit den Worten beginnt: »Es ist alles eins, ob wir Geld haben oder keins!« und von dem tüchtigsten Komiker Wiens, von Schuster (Oesterreichs Hjortsberg), äußerst schön gesungen wird. Die erste Zeile ist nun zu einer Art Volkswitz geworden und wird bei allen Gelegenheiten angewandt, und ein anderes Volkswitzwort, das keineswegs so ganz dumm ist, hat mit dem ersteren die Modifikation gemacht, daß bloß bei einer einzigen Gelegenheit im Leben mit vollem Rechte behauptet werden kann, »daß alles wirklich eins ist«, nämlich bei der allerinnigsten Vereinigung von Mann und Frau. Mein Reisekamerad erklärte mir dies, sonst hätte ich unmöglich begreifen können, warum die Tochter des Hauses, da sie der opponierende Kerl aufforderte, ihre Meinung darüber zu äußern, sich mit einem geheimnisvollen Lächeln errötend wegwandte.

Als Abendlektüre hatten wir den Mährischen Kalender für 1819, ein großes, mit vielen Spalten auf jeder Seite eng bedrucktes Buch in Quart, welches neben dem gewöhnlichen bürgerlichen Almanach eine vollständige Enzyklopädie aus allen Zweigen der Kunst und Wissenschaft für Bürger und Landleute enthält. Reflexionen von Jean Paul, Anekdoten von dem miserablen Hof Ludwigs XIV. und XV. (die also demnach nicht bloß von der »Stockholms-Posten« ausgenutzt werden), gewählte Stücke aus Ossian, Herdersche Paramythien, Berichte über die vorzüglichsten Kunstwerke Michelangelos, französische Zweideutigkeiten, biographische Angaben über Sokrates, ja man kann sagen, alles Denkbare (nämlich etwas von jedem) taucht hier neben ökonomischen und medizinischen Vorschriften vor dem Publikum auf. Ich möchte wohl hören, was ein schwedischer Bauer zu solcher Seelennahrung sagen würde! Und solcher Art sind alle Almanache in Oesterreich, wenigstens alle, die mir zu Gesicht gekommen sind, wobei sie noch mit den wunderlichsten Namen prunken, z. B. »Jurendes, der vaterländische Pilger«. Oesterreich laboriert jetzt mehr denn je an der sogenannten Aufklärungsperiode, die das übrige Deutschland – mit Ausnahme vielleicht von Bayern – glücklich überstanden hat; die Ursache der längeren Ausdehnung der Krankheitskrisis hier ist sicherlich in vieler Hinsicht die abderitische Retroaktion, welche man nach dem Tode Josephs II. von höherem Orte aus gegen die Aufklärung ins Werk setzte, statt die letztere mit Weisheit auf ein vernünftiges Ziel zu lenken; die Neigung aufzuklären ist ohne Zweifel an sich selbst ein gutes Zeichen!

Am 27. morgens reisten wir sehr zeitig ab, nachdem ich zu meiner größten Freude meinen Forstkandidaten wieder lebend aus dem Bette steigen sah; der Mann hatte mich mitten in der Nacht durch seinen heftigen Stickhusten sehr erschreckt. Zwischen Brünn und Olmütz hören die Weinpflanzungen auf; wie kalt und erfroren dieselben auch um diese Jahreszeit aussahen, sie hatten mich doch bis hierher wie die letzten Seufzer des Abschiedsgrusses Hesperiens begleitet: nun kam es mir vor, als hätte eine mütterlich milde Natur mir für immer den Rücken gewandt und ich reiste jetzt, selber frierend, einer ewigen Kälte entgegen. Von allen Nordländern haben gewißlich keine ihr Arkadien, keine das gelobte Land ihrer Träume so nahe wie die Bewohner von Olmütz; für sie beginnt es schon in einer Entfernung von 6–7 schwedischen Meilen, nämlich bei Brünn; dahin machen sie zur Weinreife – so berichtete mir meine weibliche Gesellschafterin – Lustfahrten und lassen sich einige Tage in der Welt der Phantasie frei gehen, worauf sie wieder zur Wirklichkeit, d. h. nach Olmütz, zurückkehren. Du weißt wahrscheinlich, daß diese Stadt eine Festung ist, aber daß diese unüberwindlich ist, darfst Du keineswegs glauben, da viele Tatsachen das Gegenteil beweisen; doch gehört erstere Annahme zum österreichischen Volksglauben. Mein Reisekamerad, der selbst in vollem Ernste glaubte, daß keine sterbliche Macht Olmütz einnehmen könne, merkte an meinen Mienen, daß ich das Aussehen der Festung gerade nicht für so gefährlich fand, deshalb erzählte er mir, um mir mehr Respekt einzuflößen, daß auf der Seite, von welcher wir kamen, die ganze Gegend im weiten Umkreise von den Wällen unterminiert wäre und jeden Augenblick mit der ganzen darauf befindlichen Feindesmacht in die Luft gesprengt werden könnte, wohingegen auf der entgegengesetzten Seite alles in einem Augenblicke unter Wasser zu setzen wäre: ergo. – Ich wollte den guten Mann in seinem patriotischen Glauben nicht stören, indem ich ihm mitteilte, wie mir bei dieser Gelegenheit das auf einer Höhe bei Neapel höchst malerisch gelegene Kastell St. Elmo einfiele, von welchem die Bewohner Neapels keine geringere Meinung hegen, und der possierliche Zank, den ich deswegen mit einem Neapolitaner hatte, der noch weit prahlerischer mit der jungfräulichen Uneinnehmbarkeit dieses Kastells aufschnitt. Ich fragte ihn nämlich, ob es nicht trotz jener Uneinnehmbarkeit ein in der neapolitanischen Geschichte ganz alltägliches Vorkommen sei, daß jedes fremde Kriegsheer, welches die Grenzen des Königreiches überschritte, binnen acht Tagen sowohl Reich wie Hauptstadt beherrsche, worauf das olympisch-drohende Kastell sich stets herabzulassen pflege, um Kapitulation nachzusuchen? »Ja«, erwiderte der Patriot mit unerschütterlichem Nationalstolz, »aber freiwillig?«

Nachdem, wir an zwei in dem trüben Wetter recht traurig aussehenden Kirchhöfen vorbeigefahren waren, von denen der erste dem Militär gehörte – welches selbst im Tode seinen Rang und seinen Esprit de Corps wahren will – kamen wir an einem lächerlichen Puppenobelisk und an einem ehrwürdigen altdeutschen Rathause vorüber, die beide auf dem großen Marktplatze liegen, der von teils altmodischen, teils aufgeputzten Gebäuden umgeben ist, und fuhren in unser auf demselben Platze befindliches Gasthaus, woselbst ich mich vor allen Dingen rasieren ließ, um während der übrigen Reise keine mir möglichenfalls begegnenden Schönheiten abzuschrecken; auch fiel mir mit »Behagen« ein, daß es gerade Frühstückszeit war. Nachdem ich mich sonach mit einem Glase Rum und einigen belegten Butterbroten gestärkt hatte (NB. ich habe heute früh den ersten Teil von Oehlenschlägers Reise gelesen, den Steffens mir geliehen hat, und fange an, mir etwas von seiner Manier anzueignen), ging ich hinaus, um die Merkwürdigkeit zu sehen, deren Aufsuchen mich die wenigste Mühe kosten würde, denn ich brauchte bloß 20 Schritte nach der Nase geradeaus zu gehen, um auf ein großes und sehr künstliches Uhrwerk zu stoßen, das sich außerhalb an der Mauer des alten Rathauses befindet. Dieses wirklich sinnreiche Uhrwerk, ist eine Art dramatischer Zusammensetzung einer ganzen Menge größerer und kleinerer Uhren mit vielen handelnden Personen wie Ritter, Engel usw. in Lebensgröße, die zur Belohnung für treue Erfüllung ihnen aufgegebener Aufträge unter den zierlichen architektonischen Ornamenten einen Platz gefunden haben. Jetzt stehen aber die Gestalten still, und nur eine einzige Uhr, eine von den kleineren, episodischen, geht noch. Seit langer Zeit hat man große Geldsummen angewandt, um das Ganze wieder in Gang zu bringen, jedoch vergebens; jetzt sind zwei als mechanische Genies bekannte Offiziere mit dieser Arbeit beschäftigt, doch wagt man nicht auf Erfolg zu hoffen, weil eine besonderliche Art Fluch, und zwar mit vollem Recht, auf dem alten tiefsinnigen Kunstwerke ruht. Es hat dieses nämlich seine eigene Volkssage, welche folgendermaßen lautet: Der Erfinder des Kunstwerkes war ein Jüngling, welcher in der Freude seines Herzens, nachdem die Arbeit fertig war, sich äußerte: »So, nun habe ich meine Lehrjungenprobe gemacht! nun werde ich mein Gesellenstück in Brünn und mein Meisterstück in Wien machen!« Der Magistrat jedoch, welcher nicht wollte, daß irgendeine Stadt in der Welt mit Olmütz die Ehre des Besitzes eines gleichen Kunstwerks teilen, viel weniger aber ein noch weit künstlicheres bekommen sollte, beging die niederträchtige Grausamkeit, den jungen Künstler seines Augenlichts zu berauben und ihn dann für immer einzukerkern. Da bat der Unglückliche einstmals mit völlig ergebener Miene, daß es ihm vergönnt sein möchte, da ihm das Schicksal versagt habe, in anderen Städten sinnreichere Ideen auszuführen, das Andenken, welches er seiner Vaterstadt geschenkt, wenigstens so fehlerfrei zu hinterlassen, wie ihm dies mit seinen geringen Kräften noch möglich wäre; er entsänne sich nämlich, daß im innern Mechanismus seiner Arbeit eine Einrichtung wäre, durch welche die Uhr bald in solche Unordnung geraten würde, daß derselben niemand mehr abhelfen könnte und auf diese Weise die Stadt wie er selber, der Erfinder, um die erstrebte Ehre käme; man möchte ihm deshalb auf einige Augenblicke erlauben, die letzte Hand an das Werk zu legen, dessen Zusammenhang in allen einzelnen Teilen noch vor seinem inneren Auge gegenwärtig wäre. Man war einfältig genug, ihm zu trauen, führte ihn zu seinem Kunstwerk – hastig drückte er auf eine kaum bemerkbare Feder, und von dem Augenblicke an blieb die Uhr stehen bis auf den heutigen Tag. In dieser Stadt setzten wir unsere elegische Witwe ab und fuhren hinaus durch ein wimmelndes Volksgedränge, welches sich darauf freute, am Nachmittage um 3 Uhr zuzugaffen, wie der Fürsterzbischof von Olmütz begraben werden sollte; dieser Ehrengreis (man lobte ihn sehr) war einige Tage vorher plötzlich in Wien verstorben. Vor Sternberg, einer kleinen, nur von Webern bewohnten Stadt, nahm das Land ein bewaldeteres Aussehen an. Die Häuser sahen sauber aus, wie überhaupt in den kleinen Städten hier herum, aber die Menschen desto jämmerlicher. Ein Weber ist die idealische Natur des Schneiderlebens. Hier im Wirtshause fiel die schon geschilderte pathetische Abschiedsszene zwischen mir und Herrn Karl Speil vor; er war eine frommgesinnte und ehrliche Seele. Ich speiste zu Mittag in Gesellschaft eines Arztes und ein paar mürrischer Offiziere, wozu ich noch ein heftiges Kopfweh von der grausamen Hitze des Wirtszimmers bekam. Der Wirt war ein kurioser Mann mit ziegelrotem Antlitz, einem grasgrünen Streifen auf der Nase, mager und grauäugig; er ging beständig schweigend in grünem Rock und gelben Lederhosen auf und nieder im Saal und spielte lauter Adagios auf einer ungestimmten Violine.

Nunmehr und während des noch bevorstehenden Teiles des Weges saß ich ganz vereinsamt in meinem viersitzigen Verdeckwagen und fuhr einen Hügel aufwärts, der gleich hinter Sternberg beginnt und vielleicht der breiteste ist, welcher mir je auf meinen Reisen vorgekommen; der Weg über ihn ist nicht weniger als eine ganze deutsche Meile lang. Ein geräuschvolles und mit Pelzmützen geschmücktes Gewimmel von Bauern mit allerlei Fuhrwerk bedeckte schnaufend, klatschend und durcheinanderschwatzend diese endlose Höhe; eine Reihe strebte hinter mir her nach oben, eine andere, noch zahlreichere bemühte sich, mir entgegenkommend, abwärts zu gelangen; als ich den höchsten Punkt erreicht hatte, wurde mir gleichwohl das Vergnügen vereitelt, diese ganze Reihe mit einem einzigen Blicke zu übersehen, weil mittlerweile ein Nebel, der sich schon früh am Nachmittage gezeigt hatte, die schneebedeckte Gegend während meiner langsamen Auffahrt ganz einhüllte, so daß sich mein Gesichtskreis nur bis auf wenige Schritte von meinem Wagen erstreckte. In der Abenddämmerung, durch welche hier und da ein schwaches Licht aus dem Fenster der zerstreut liegenden Heidehütten blinkte, hatte ich nunmehr genugsam Zeit und Lust, so vereinsamt wie ich nur sein konnte, mich allerhand elegisch gestimmten Phantasien hinzugeben. Ein paar Irrlichter oder vielleicht wandernde Personen mit Leuchten zeigten sich nicht weit vom Wege und machten die Pferde scheuen; mir wurde zu Mut, als ob ich selber solch ein Irrlicht wäre und die Bestimmung hätte, durch die Nacht des Menschenlebens gaukelnd über die Erde zu huschen, um mit der Morgenwacht und dem Hahnenschrei zu verlöschen wie alle anderen Spukgestalten.

Nach diesen schwermütigen Betrachtungen wurde ich noch obendrein von meinem Fuhrmann genötigt, den Tag mit einem Nachtquartier der schlechtesten Art zu schließen, nämlich in einem faulen Nest namens Hof, woselbst das verödete und abenteuerliche Aussehen meines Schlafzimmers (es war das einzige im ganzen Hause, welches von menschlichen Menschen benutzt werden konnte, aber die Möbel stammten aus dem 16. und 17. Jahrhundert) völlig der Ahnung entsprach, welche mich hinsichtlich der zu überstehenden Nacht beim Betreten der verräucherten, elenden Wirtshausstube befiel und keineswegs durch den Hausknecht zerstreut wurde, der mir die Stiefel abzog und dabei bedenklich fragte: »Ob es mir recht wäre, allein zu schlafen, da es mit dem Zimmer seine eigene Bewandtnis habe.« – Es widerfuhr mir jedoch kein anderes Abenteuer, als daß ich eine höchst unruhige und schlaflose Nacht hatte, woran ich wohl selber schuld war, indem ich unverständiger Weise kurz vor dem Zubettgehen mehrere Tassen Kaffee leerte, um mich zu erwärmen, und dabei in Hammarskölds Kunstvorlesungen (welches Buch mir Berggren in Wien zurückgelassen hatte und das ich nun als Reiselektüre benutzte) die wunderlich unrichtige, unbillige und seichte Vorlesung über deutsche Kunst las. Wahrhaftig, ich begreife nicht, wie ein sonst so vernünftiger Mann (wie Hammarsköld doch trotz seiner flügelmannsartigen Schriftstellermanier und seiner halb französischen barbarischen Schreibart ist) etwas Derartiges über die deutsche Nation und deren Geschichte zusammenschreiben konnte. – – –

Seit Mitte Februar hat dieser ungewöhnlich lange, aber gleichwohl seiner ursprünglichen Anlage nach noch nicht fertige Brief unter meinen Papieren gelegen, doch habe ich mich nun entschlossen, Dir lieber das Fragment zu senden, als Dich vielleicht noch einige Wochen auf den Rest warten zu lassen. Den letzteren, der den Schluß meiner Reise nach Breslau und eine Beschreibung meines dortigen Aufenthaltes geben soll, werde ich Dir mit Gottes Hilfe von Berlin schicken, wohin ich am 5. oder 6. Mai abreisen werde. Ich wünsche nur, daß Du meine Berichte nicht allzu langweilig und kernlos finden mögest. Schenkt mir Gott in Berlin hellere Tage, einen schmerzenfreieren Magen und ein weniger leidendes Nervensystem, dann verspreche ich ein paar Briefe über lauter italienische Stoffe und schmeichle mir, damit meinen Uppsaliensischen Freunden und Freundinnen keinen unbedeutenden Genuß zu bereiten. Durch Frau von Helvig weißt Du vermutlich schon längst, daß ich in Breslau beim Oberst und Chef des schlesischen Generalstabes Karl von der Gröben wohnte; Du entsinnst Dich gewiß noch dieses ritterlichen, liebenswürdigen Offiziers vom Winter zwischen 1812 und 1813 her, zu welcher Zeit er sich in Stockholm aufhielt. Er ist sich vollkommen gleichgeblieben, nur mit dem Unterschiede, daß er ein wenig älter aussieht und glücklicher ist als damals. Er hat eine seiner würdige Gattin (eine Tochter des bekannten Generals Dörnberg) und lebt mit dieser sowie mit ein paar kleinen, schönen Kindern in einer so himmlischen Glückseligkeit, daß ich nicht leugnen kann, wie mir beim Anblick derselben oft Auge und Mund gewässert hat. Sie heißt Selma und ist ein vollkommener Engel, sieht auch wie ein solcher aus. Diese beiden Freunde haben mich mit unwiderstehlichen Banden von Woche zu Woche in Breslau zurückgehalten, noch dazu vereint mit der Macht eines anderen Paars, nämlich Steffens und seiner vortrefflichen Frau, welch letztere zwar nicht ein Engel, aber doch eins der vorzüglichsten Frauenzimmer der Welt ist. Sie hat in hohem Grade sowohl Anmut als Würde, einen festen Charakter, einen hellen Verstand, eine ausgezeichnete intellektuelle Bildung, eine klassische Singstimme – kurz gesagt: sie ist ein Frauenzimmer, mit dem zusammenzusein es die Mühe lohnt. Das will etwas sagen, denn man kann es nicht von vielen sagen.

Seit dem 21. April lebe ich hier in Pöppelwitz auf dem Lande am Strande des Oderstromes, woselbst sich Gröben ein hübsches Landhaus mit einem kleinen Baumgarten gemietet hat. Die Bäume und die Wiesen sind hier nun seit drei Wochen grün, die Blumen schießen überall hervor, und vor allen Fenstern stehen Obstbäume im schönsten roten und weißen Blumenflor. Indessen, da dem nordischen Frühlings- und Sommerklima niemals recht zu trauen ist, so haben auch wir nun fast seit acht Tagen tüchtig inmitten unserer idyllischen Welt gefroren. Die Nachtigallen, welche vorher so sangen, daß man seine eigenen Gedanken nicht hören konnte, sind während dieser Kühle ziemlich schweigsam geworden und scheinen nicht mehr zu wissen, in welcher Jahreszeit sie leben. Bisweilen gehe ich des Nachmittags nach Breslau, um Steffens zu besuchen, bleibe die Nacht bei ihm und wandre am Morgen über grünende Wiesen zurück. Der Strich um Breslau ist flach, doch nicht gänzlich baumlos; hier bei Pöppelwitz z.B. ist ein hübscher Eichwald. Das Aussehen der Erde ist fruchtbar und nicht unangenehm. In der Ferne erheben sich die gewaltigen Berge, welche den romantischen Gegenden Schlesiens angehören. Mit Steffens, seiner Frau und vierzehnjährigen Tochter sowie mit einigen Offizieren aus Steffens Freundschaft habe ich vor, so Gott will, übermorgen dorthin zu reisen.

Breslau ist eine ansehnliche Stadt, nicht schön, aber mit Kirchen und Häusern von merkwürdig altertümlichem Aussehen. Das Schlechteste darinnen und darum umher ist der Menschenschlag, der aus einer Mischung von Deutschen, Wenden und Polacken besteht und weder richtig das eine noch das andere ist. Während meiner Reise nach Berlin werde ich wohl einige Tage in Ziebingen bei Tieck verweilen, im Falle er nicht allzu krank ist. Ich weiß, daß ein Wechsel von meinen schwedischen Freunden meiner in Berlin harrt. Gott segne Euch alle dafür! Vermutlich ist diesem Wechsel der Brief von Dir beigefügt, dessen Frau Silfverstolpe in ihrem letzten Schreiben erwähnte; denn ich habe ihn noch nicht erhalten. Vielleicht liegt er bei Frau Helvig oder irgendeinem anderen Kommittenten in Verwahrung. Seitdem sich nun Steffens einigermaßen von den Turnstreitigkeiten losgerissen hat, welche ganz Deutschland in zwei sich heftig befehdende Parteien gespalten und Steffens aus seiner philosophischen Ruhe gerissen haben, ist er munter und arbeitet eifrig am anderen Teile seiner Karikaturen. (Schaffe Dir doch einen kleineren vortrefflichen Auszug seiner – in diesem Werke dargestellten – politischen Theorie an, der »Die gute Sache« von Heinrich Steffens betitelt ist). Uebrigens hat er vielerlei Entwürfe zu großen philosophischen und physikalischen Arbeiten im Kopfe und hat mir darüber die interessantesten Aufschlüsse gegeben. Fast jede Unterredung mit ihm belehrt wie eine Vorlesung, und Du hast vermutlich längst aus seiner Schreibart geahnt, daß die Natur ihn eigentlich mehr zum Redner als zum Verfasser bestimmt hat. Immer lebhaft, inspiriert, leicht gerührt, witzig und elektrisch, der redlichste Mensch, der herzlichste Freund, ist er mir unendlich lieb, und ich bin nicht wenig stolz darauf, auch in seinem Herzen einen ansehnlichen Platz gewonnen zu haben. Hagen, der vortrefflich Schwedisch kann und sich nach einer Reise nach Skandinavien sehnt, ist ein freudiger, flinker und tüchtiger Arbeiter im Nordlandserz, ein grundehrlicher, ungekünstelter Mann und ein lustiger Kneipbruder. Wir sind oft beisammen und recht gute Freunde. Ueber Wallmarks verrücktes Gedicht in Monumentum Pacis hat er aus Herzensgrunde gelacht; ich sah dasselbe bei ihm zum ersten Male und mußte es ihm erklären, aber verstand es selbst nicht recht, da wirklich keine Grammatik und auch kein Sinn darin liegt. Hagen hat von demselben jedoch ins Blaue hinein eine deutsche Uebersetzung gemacht, die hinten im Monument abgedruckt steht. Er gibt eine neue Auflage des Nibelungenliedes heraus, sowohl vom Urtext wie von seiner eigenen Uebersetzung. Er hat in seinem Wesen viel Aehnlichkeit mit Gumaelius und ist in Gemüt und Gestalt jugendlich wie ein Student. Büsching ist mehr rauh und trocken, aber doch ein freundlicher und gefälliger Mann. Er kann Dänisch, aber noch nicht Schwedisch. – Steffens Geburtstag fällt auf den 2. Mai und wird wohl bei unserer Bergreise gefeiert werden. – Ein langer Brief, den ich vor einiger Zeit von Schelling erhielt, wird Dir gewiß viel Vergnügen machen. Ebenso geschmeichelt wie ich über den ganzen Brief, fühlte sich Steffens über ein paar Zeilen in demselben, die seiner mit Worten des Lobes erwähnten. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, welche Zaubermacht Schellings Persönlichkeit auf alle ausübt, die ihm nahekommen. Ueber ihn, gleichwie über Shakespeares Brutus, kann die Natur auch eines Tages sich erheben und ausrufen: Das war ein Mann!

Seit drei Monaten habe ich selten einen Tag mit richtig guter Gesundheit gehabt. Das infam langsame, trübe, ewig regnerische Zwischending von Winter und Frühling hat mich sehr geplagt. Wenn ich nur erst wieder anfange zu reisen, wird mir dadurch vielleicht geholfen. In jedem Falle, wenn nicht Lunge und Leber ernstlich leiden, werde ich noch ein ziemlich hohes Alter erreichen, da ein gewisses Gleichgewicht von Uebeln in meinem physischen System vorzuherrschen scheint. Voltaire glaubte länger als 50 Jahre lang, daß der Tod täglich an seine Tür klopfen würde, und trotzdem erreichte er die höchste Grenze des gewöhnlichen Menschenalters. Da ich nun einmal Schriftsteller geworden bin, wünsche ich bloß, wenigstens so lange zu leben, um ein oder das andere gute Buch in Vers oder Prosa machen zu können (um mich Leopoldisch auszudrücken). Eine andere Freude kann ich für meine Zukunft nicht mehr erwarten. – Friedrich II. hat ganz recht in einem Briefe, ich weiß nicht, ob an Voltaire oder d'Alembert, darin er sagt, es schiene ihm, als ob uns die Natur eher zu Postillonen als zu Philosophen bestimmt hätte.


 << zurück weiter >>