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(Erzählt von Hinrich Vierk.)
In Gurvitz, eine halbe Meile von Rambin, lebte einmal ein Weber, das war ein sehr armer, aber frommer und gottesfürchtiger Mann; der hatte auch eine recht gute und christliche Ehefrau, und die beiden Leute hatten viele liebe Kinder. Das jüngste und liebste Kind von allen aber war ein kleines Mädchen, welches Christine hieß; das war acht Jahr alt. Das war ein sehr schönes, freundliches und gehorsames Kind und hatte einen recht lieben, dem Himmel zugewendeten Sinn, so daß es mit seinem kindischen Verstände die hohen und himmlischen Dinge sehr geschwind faßte und behielt und nichts lieber lesen hörte als die Bibel und nichts geschwinder auswendig lernte als Lieder aus dem Gesangbuche. Das kleine Christinchen war sonst sehr still und für sich und konnte, wann der Frühling und Sommer da waren, ganze Tage und Wochen im Garten spielen, ohne daß es anderer Gespielen nötig hatte als die Büsche und Blumen und die Vögelein, die in den Zweigen sangen. Mit ihnen lebte, spielte und schwätzelte es, als wären es Menschen gewesen, und kam, sobald die Sonne untergegangen, immer heiter und fröhlich wieder ins Haus, aß ein Butterbrötchen, faltete die Händchen zum Gebet und schlief dann ein.
Nun geschah es, daß das Kind einmal, als es nach seiner Gewohnheit des Abends in die Stube trat, etwas in seinem Schürzchen trug. Sie hielt aber das Schürzchen zu, daß niemand wissen konnte, was sie darin hatte. Und sie ließ Schwestern und Brüder raten, was sie wohl hätte, und die konnten es nicht raten; und sie fragte die Mutter, und die riet es auch nicht. Und als Christinchen lange so rundgefragt hatte, und zuletzt keiner mehr antworten noch raten wollte, rief sie voll Ungeduld: »Nun, so will ich mein Rätsel ausschütten – und da seht!« Und aus ihrer Schürze fiel ein kleines, schneeweißes Küchlein, das sehr schön war und ein niedliches, buntes Büschelchen auf dem Kopf hatte. Und die Mutter verwunderte sich und fragte, woher sie das Küchlein habe. Und Christine antwortete: »Ich weiß nicht, wo das Küchlein hergekommen ist. Es kam im Garten zu mir und hüpfte auf meinen Schoß und hat den ganzen Nachmittag mit mir gespielt; und als ich weggehen wollte, ist es mir nachgelaufen, und da habe ich's in meine Schürze genommen und mitgebracht, denn es wäre wohl jämmerlich, wenn es die Nacht draußen sitzen und frieren sollte, auch könnte ein Wiesel oder Iltis kommen und fressen es auf. Darum, du liebes, liebstes, schneeweißes Küchlein, hab' ich dich mitgenommen!« Und mit diesen Worten nahm sie es wieder vom Boden auf und herzte und küssete es und legte es an ihr Herz. »Und nun sei nur nicht bange! Du sollst es recht gut bei mir haben und die Nacht bei mir schlafen, und wir wollen einander nichts zuleide tun.« Die Mutter aber glaubte ihr nicht recht, als sie das erzählte, und meinte, sie müsse das Küchlein wohl irgendwo bei einem Nachbar aufgegriffen haben, und sie bedeutete Christinchen recht ernstlich, sie solle ihr die reine Wahrheit sagen, wie sie zu dem Küchlein gekommen sei. Aber das Kind blieb bei seiner Aussage und spielte und tändelte fort mit dem Küchlein; und als sie zu Bett ging, legte sie es auf ihre Brust, und das Küchlein breitete seine Flügelchen aus, als wolle es Christinchen damit zudecken und wärmen, und schlief die ganze Nacht auf ihrer Brust.
Und den andern Morgen schickte die Weberin herum bei allen Nachbarn im ganzen Dorfe und ließ umfragen, ob jemand ein schneeweißes Hühnchen mit einem bunten Käppchen verloren hätte. Und die ließen ihr sagen, schneeweiße Hühner und Küchlein hätten sie gar nicht, auch sei keinem ein Küchlein verloren gegangen. Als diese Botschaft zurückkam, hüpfte und jubelte das Kind vor Freuden, daß es sein schneeweißes Küchlein behalten sollte; und die Mutter hatte noch viel größere Freude, denn sie hatte eine rechte Herzensangst gehabt, Christinchen möge das Küchlein irgendwo weggenommen und ihr gar was vorgelogen haben.
Und zwischen den beiden, dem kleinen Mädchen und dem weißen Küchlein, ward eine solche Freundschaft, daß es fast zuviel war, so daß die kleine Dirne nirgend sein konnte, ohne daß das Küchlein mit ihr war, und daß sie nicht einmal so gern als sonst mit der Mutter in die Kirche gehn mochte, weil Schneeweißchen (so nannte sie das Küchlein) dann zu Hause bleiben mußte. Und auch das kleine Schneeweißchen hatte eine unglückliche Zeit, wann Christinchen ihm fehlte, und lief dann unruhig umher und piepte und suchte, als wäre ihm sein Glück weg, und hätte sich oft beinahe die Seele ausgepiept. Sobald es aber Christinchen wiederkommen sah, drehte es sich vor Freuden auf seinen goldgelben Beinchen herum und flackete und flaggete fort und fort mit seinen Flügeln. Gewöhnlich aber waren die beiden beisammen im Garten, wo Christinchen saß und las oder strickte oder auch die Blumen begießen und Unkraut ausjäten mußte. In diesem Garten stand ein altriger Birnbaum, worunter ein großer, breiter Stein lag. Auf dem Stein saß Christinchen nun immer, weil Schneeweißchen sich immer unten an dem Stein hinlegte und in der Erde kratzte und seine kleinen Flügel und Federn mit Staub bewarf. Da konnte man sie immer finden, und die Mutter schalt Christinchen wohl oft, daß sie fast gar nicht mehr auf ihrer grünen Rasenbank saß, die ihr Bruder, ein junger Weberknapp, ihr gemacht hatte. Sie antwortete dann, die Stelle möge Schneeweißchen nicht leiden; wann sie in den Garten gehen, wolle es immer zu dem Stein, und da müsse sie wohl mit, denn wo Schneeweißchen sei, da müsse sie auch sein.
So lebten die beiden miteinander den ganzen Frühling und Sommer als die schönsten Freunde, und Schneeweißchen hatte nichts weiter bedurft als ein paar Brotkrümchen, die Christinchen ihm immer von seinem Brötchen abgegeben; und es hatte auch sie nicht einmal bedurft, denn draußen war im Sommer für ein Hühnchen die Hülle und Fülle zu essen und aufzupicken. Als nun aber der Herbst kam und kein Blatt mehr auf den Bäumen war und der Winter anfing, den Vögeln die Körner zu verschneien, da mußten die beiden kleinen Freunde auch in die Stube ziehen und kamen in große Not. Die Mutter nahm nämlich einen Morgen das kleine Mädchen vor und sagte zu ihr: »Mein liebes Christinchen, du bist ein gehorsames, frommes Kind, und es tut mir darum leid, daß Schneeweißchen von dir muß; aber wir können es nun einmal nicht behalten. Leben will das Hühnchen doch, und Gerste und Brot haben wir nicht übrig. Darum weine nicht und geh hin und zieh dir deinen neuen Sonntagsrock an und nimm dein Hühnchen untern Arm und bring es deiner Frau Patin, der Frau Pastorin in Rambin. Die wird es um deinetwillen hegen und pflegen, und bei ihr wird es bessere Tage haben als in unserm kleinen Häuschen.« Als Christinchen diese Rede hörte, fing sie an, so bitterlich zu schluchzen und zu weinen, daß es der Mutter das Herz hätte brechen mögen, und rief dann: »Nein! Nein! Mutter, ich kann und kann das nicht tun; wenn Schneeweißchen fort muß, mag ich auch nicht länger auf der Welt bleiben und muß sterben. Und warum wollen wir das niedliche Hühnchen nicht behalten, das nun bald groß wird und uns gewiß viele schöne Eier legt?« Und das Kind weinte so sehr und bat die Mutter so flehentlich, daß diese zuletzt sagte: »Nun denn, in Gottes Namen! Du sollst dein Schneeweißchen behalten, und der liebe Gott mag uns bei unsrer Armut noch wohl so viel geben, daß Schneeweißchen ein paar Krümchen mitessen kann.«
Und Schneeweißchen lebte nun in der Stube und auf der Flur und ging nicht einen Augenblick von Christinchen und schlief des Nachts noch immer auf ihrer Brust. Aber das war doch besonders, daß das Hühnchen fast alle Tage in den Garten zu dem Stein lief, wo es sich im Sommer so oft ihr kühles Bett in der Erde aufgekratzt hatte. Als aber Weihnachten vorbei war und die Tage länger wurden, da legte Schneeweißchen ihr erstes Ei, und Christinchen brachte es mit großer Freude ihrer Mutter. Und von dem Tage an hat Schneeweißchen jeden Tag ein Ei, zuweilen auch zwei Eier gelegt, sieben Jahre lang, solang es gelebt hat, und ist ein rechter Schatz für das Haus gewesen. Von Christinchen aber ist das Hühnchen nimmer gewichen, und wenn diese, welche nun auch größer ward, jetzt im Walde den Kühen nachgehen oder auf dem Felde arbeiten mußte, Schneeweißchen ging oder flog immer mit; gewöhnlich aber trug Christinchen es auf dem Arm, wie ein Ritter seinen Falken trägt. Und das ganze Dorf verwunderte sich über die beiden und über ihre sonderbare Freundschaft, und die alten Weiber verwunderten sich auch, steckten die Köpfe zusammen und munkelten untereinander, wenn es nicht ein Huhn wäre und sich nicht treten ließe wie andere Hühner und nicht Eier legte, die ebenso aussehen und schmecken als andre Eier, so möchte man auf seltsame und wunderliche Gedanken kommen.
Aber wenn Schneeweißchen und Christinchen auch nicht mehr soviel im Garten saßen und spielten als die ersten Jahre, wo sie noch jung und klein waren, Schneeweißchen ging doch recht oft zu dem breiten Stein unter dem alten Birnbaum und kratzte dort, und auch Christinchen blieb die Stelle immer lieb wegen der Erinnerung des ersten Sommers, wo Schneeweißchen zu ihr gekommen war.
Und als Schneeweißchen sieben Jahr alt war und Christinchen fünfzehn Jahr und schon ein großes hübsches Mädchen war, da fing Schneeweißchen an zu piepsen und hatte trübe Augen und ließ die Flügel hangen und glucksete so traurig und mochte gar wenig essen. Und Christinchen war sehr betrübt und streichelte und fütterte das liebe Hühnchen auf das zärtlichste und sorglichste. Aber das half nicht; Schneeweißchen lag eines Morgens tot da, und Christinchen fand es neben dem Stein an der Stelle, wo es zu buddeln und sich sein kühles Sommerlager in der Erde zu kratzen pflegte. Und über diesen Todesfall entstand große Trauer im Hause, und da das Hühnchen nun tot war, fing ein jeder an, sein Stück an dem lieben Schneeweißchen zu loben. Christinchen aber weinte sehr und hielt es in seinem Arm und küßte es viel tausendmal und sagte: »O du liebes, liebes Hühnchen! O du trautes und goldnes Hühnchen! O du mein eignes, eigenstes Hühnchen! Gewiß hattest du ein lieberes und treueres Herz, als viele Menschen haben, und darum sollst du auch schön begraben werden, und die feinsten und hübschesten Blümlein sollen auf deinem Grabe blühen.« Und Christinchen und die Mutter sprachen: »Schneeweißchen soll da schlafen, wo es im Garten immer gesessen und gekratzt und sich selbst seine liebste Stelle ausgesucht hat. Denn es ist billig, daß jeder da schlafe, wo es ihm am besten gefällt.«
Und Mutter und Tochter gingen hin und wollten an dem Stein grade auf der Stelle, wo sie Schneeweißchen tot gefunden hatten, für sie ihr kleines Grab graben. Und als sie ein bißchen gegraben hatten, stieß Christinchen auf etwas Hartes und sprach: »Was ist das, Mutter?« Und die Mutter traf auch mit dem Spaten darauf und räumte die Erde weg. Und sie erblickten ein Kästchen und gruben nun vorsichtig an beiden Seiten die Erde weg und huben das Kästchen heraus, das aus Eichenholz und unten schon angefault war. Und die Mutter hob das Kästchen neugierig auf und fühlte, es war sehr schwer, und rief voll Freuden: »Wie? Wenn es ein Schatz wäre, o du mein lieber Gott! Wenn es ein Schatz wäre, so hätte dein Schneeweißchen es dir bestimmt! Warum es da nur immer so viel gekratzt und sich eingebuddelt haben mag?« Und sie setzten das Kästchen hin und machten das Grab zurecht und schütteten Rosen und Lilien und grüne Kräuter hinein und legten Schneeweißchen sanft drauf und beschütteten sie wieder mit Blumen; dann deckten sie es mit Erde zu und pflanzten Rosen und Violen umher, und Christinchen hat das Grab jeden Tag mit Tränen und mit Wasser begossen.
Was ist aber in dem Kästchen gewesen? Der alte Weber mußte lange arbeiten, bis er es aufbrechen konnte, denn es war sehr fest vernagelt. Und als sie es mit vieler Mühe erbrochen hatten, siehe, da steckte in dem Kästchen noch wieder ein kleineres Kästchen, und das war mit Blech beschlagen und machte dem Alten noch mehr zu schaffen. Aber was ist auch herausgekommen? Die schönsten und blanksten holländischen Dukaten, zehntausend Stück. Man kann denken, welch Erstaunen und welche Freude im Hause war, und wie die Leute sich verwunderten und Gott dankten, der ihre Armut auf eine so wunderbare Weise in Reichtum verwandeln wollte. Und die Mutter sagte zu dem Vater: »Nun, Vater, hab' ich nicht recht gehabt? Du hast mich immer ausgelacht, wenn ich dir sagte, es müsse mit Christinchen und Schneeweißchen etwas Besonderes auf sich haben und eine Heimlichkeit, die wir nicht verstehen, dabei sein. Und siehe, nun wird die blanke Heimlichkeit von der Sonne beschienen!« Und als sie sich genug verwundert und gefreut hatten, sagte der Vater zu Christinchen: »Eigentlich, mein liebes Christinchen, ist dies alles dein, und Schneeweißchen ist als ein unbekannter und seltener Gast zu dir gekommen und hat sieben Jahre bei dir gewohnt, damit sie dir deinen Brautschatz wiese; und du hast ja auch den Schatz gefunden und zuerst gesprochen: Schneeweißchen muß an der Stelle begraben werden, wo es gestorben ist, und wo es bei seinem Leben immer so gern saß. Und nun, Christinchen, bist du ein reiches Mädchen, und kein Graf ist zu gut, sich mit den zehntausend Dukaten zu vermählen.« Christinchen aber sagte: »Was sprecht Ihr da, Vater? Es soll uns allen gehören, und ich will haben, daß Ihr und die Mutter und die Geschwister jedes seinen gleichen Teil davon bekommen sollen.« Und so ist es auch geschehen, denn Christinchen hat es durchaus so gewollt; und sie war nun doch reich genug.
Und die frommen Leute haben fest geglaubt, Schneeweißchen sei ein lieber, unschuldiger Geist oder gar ein von Gott gesandtes, weißes Engelchen vom Himmel gewesen, das Christinchens Jugend behüten und bewahren und sie alle glücklich machen sollte. Und es hat auch fast so ausgesehen. In den vorigen Zeiten, worüber wir jetzt lachen, haben sich viele solche Geschichten begeben, wovon die alten Leute in meiner Kindheit noch zu sagen wußten; nun aber hört man dergleichen gar nicht mehr, und keiner erlebt es, und das kommt wohl daher, weil sie nicht mehr daran glauben.