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8. Schneeflöckchen.

Schneeflöckchen war eine arme verwandelte Prinzessin, die in der Welt umherflog und Liebe suchte. Sie war ein wunderschönes Kind, schneeweiß und lieblich von Farbe mit himmelblauen Äuglein und blonden Löckchen, und ihr Vater war ein sehr mächtiger König in Indien. Als sie sechs Jahre alt war, da starb ihre Mutter, und sie bekam eine böse Stiefmutter. Diese gebar dem Könige auch zwei Töchter; aber die waren häßlich wie Krähen, und Schneeflöckchen blühete nur noch anmutiger, wenn sie neben diesen beiden stand. Dies ärgerte die Königin, die eine böse Hexe war, und sie sann auf allerlei Tücken, wie sie das schöne Kind verderben könnte, das nun schon zwölf Jahre alt war. Sie mußte sich aber vor dem Könige in acht nehmen, denn er liebte Schneeflöckchen mehr als sein Leben. Gern hätte sie das Kind durch Gift oder Eisen weggeschafft, aber das deuchte ihr zu gefährlich und konnte verraten werden; sie meinte es also sicherer durch Hexerei zu verderben. Und eines Tages, als sie es wusch und ihm ein reines Hemdchen anzog, da schmierte sie es mit einer Salbe ein, sprang dann sehr lebendig um das Kindchen herum und streichelte und herzte es, ward darauf plötzlich zu einer schwarzen Füchsin und beleckte das Kind, das erschrocken dastand, mit ihrer geschwinden Zunge und murmelte die Worte:

Schneeflöckchen, flieg hin!
Fliege durch die Welt hin!
Heute kalt und morgen warm!
Schlaf in keines Mannes Arm,
Der nicht in das fünfte Jahr
Treu dir ohne Wandel war!

Und in demselben Augenblicke, als sie von der Füchsin geleckt worden und die Worte über sie hingemurmelt waren, ward die hübsche, kleine Prinzessin zum Schneeflöckchen. Und die alte Hexe öffnete das Fenster und ließ sie hinausfliegen. Es war aber ein kalter Wintertag, als dies geschah, und die böse Stiefmutter rief ihr höhnend nach: »Fliege nun und friere bis in Ewigkeit! Eher mag ich wieder jung werden wie du, als du einen Mann findest, der einem Schneeflöckchen fünf Jahre bis in die innersten Gedanken treu bleibt.«

Und die süße, kleine Prinzessin Schneeflöckchen flog mit den andern Schneeflocken im kalten Winde umher und fror und zitterte und wimmerte wie die andern. Es fühlte aber, warum es trauerte, denn es hatte die allersüßeste und allerwärmste Seele behalten, obgleich es so jämmerlich verwandelt war, und mußte auch als Schneeflöckchen durch die weite, wüste Welt nach Liebe umherfliegen. Da war ihr denn das traurigste, wenn sie je einmal auf ein hübsches Gesichtchen flog oder an eine schöne Brust sich schmiegte oder auf ein warmes Händchen sich hinabsenkte, daß sie unfreundlich weggeblasen und abgeschüttelt ward, als habe sie nur unangenehmen Frost gebracht wie alle anderen Schneeflocken. So mußte sie immer wieder in die Welt hinein, wann sie gehofft hatte, sich einmal in Liebe auszuruhen, und flog den langen, traurigen Winter umher und lag den gefrornen Bergen und den Steinen und den eisigen Seen an der kalten Brust und weinte und ächzete um Liebe, die sie nirgends fand. Und als es warm ward und die ersten Blümchen ihre Köpfchen aufrichteten und die ersten Vögelein wieder sangen, da durfte sie nicht bleiben an der schönen Sonne, sondern mußte in die Dunkelheit; denn der Winter fing sie ein mit den andern Schneeflocken und sperrte sie alle in den Tiefen und Höhlen der alten Berge ein, daß sie dalägen, bis er wieder auf die Erde emporkäme.

Da lag nun Schneeflöckchen den schönen Frühling und den warmen Sommer und Herbst und verlebte ihre Stunden in Sehnsucht und Traurigkeit; in Sehnsucht, denn alle Erinnerungen waren in ihrem dünnen Schneeleibchen geblieben; in Traurigkeit, denn sie zweifelte, ob sie jemals Liebe finden würde. Da hat sie wehmütige Töne geflüstert und manches traurige Liedlein geächzt, die allein die stummen Felswände gehört haben. Also klang eines der Liedlein, das sie oft schmerzenvoll sang, und das ein tiefer Durchklang ihres Schicksals zu sein schien:

Geister in den dunklen Höhlen,
Geister in der tiefen Nacht,
Habt ihr Liebe, habt ihr Seelen,
Gebt auf meine Klagen acht,
Die ich seufze, die ich weine
In der stummen Einsamkeit,
Ferne von dem Sonnenscheine,
Von des Lebens Lieblichkeit.

Aus der süßen Welt verstoßen,
Welche warme Herzen hat,
Mit den Stürmen, mit den Schloßen
Flieg' ich schaurig meinen Pfad;
Zitternd vor den leichten Winden,
Vor der Lüfte Wankelmut,
Kann ich nirgends Ruhe finden.
Ach! Ich armes, junges Blut!

Und mein Seelchen voll von Liebe,
Saus' ich durch die öde Welt,
Welche meine schönsten Triebe
Nur für Winterlügen hält,
Muß dem Stein am Busen frieren
Und dem starren, harten Eis,
Das sich wohl mit Glanz zu zieren,
Aber nicht zu lieben weiß.

Und so kann ich einsam fliegen
Durch die lange Ewigkeit,
Und dies Herz wird nie sich schmiegen
An ein Herz voll Zärtlichkeit;
Wie ich brenne, wie ich glühe,
Keine Seele glaubt es je,
Wenn ich gleich von Flammen sprühe,
Heiß' ich doch der kalte Schnee.

O wo lebt das holde Wesen,
Wenn ihr's wißt, so sagt mir's an,
Welches diesen Zauber lösen,
Diese Liebe kühlen kann?
O wo lebt die seltne Treue,
Welche Stahl und Eisen schmelzt
Und für mich ein kühner Leue
Sich durch Feu'r und Strudel wälzt?

Ach, ihr Elfen! Ach, ihr Zwerge!
Was verkünd' ich euch die Pein?
Ihr seid hart wie eure Berge,
Ihr seid kalt wie euer Stein.
Denn was nie an Menschenherzen
In der süßen Liebe lag,
Ahnet nichts von diesen Schmerzen,
Dieser Sehnsucht, dieser Schmach.

So hatte Schneeflöckchen eine lange, lange, traurige Zeit in den düstern Berghallen gelegen und den stummen Steinen und gefühllosen Wassern und Lüften, die vorbeirauschten, ihr Leid geklagt, da kam der Winter wieder und öffnete die Tore und trieb seine leichtgeflügelten Scharen in die Welt hinaus. Und Schneeflöckchen flog mit den andern aus und mußte wieder nach Liebe durch die Welt umherfliegen; und die leichten Winde kamen und nahmen sie mit und trugen sie über Länder und Meere hin. Einmal lag sie bei diesen Reisen auf dem Gipfel des kalten Kaukasus und seufzete und ächzete jämmerlich in dem bitteren Gefühle ihrer Verlassenheit unter den kalten, lieblosen Gesellen, mit welchen sie leben mußte. Und als Schneeflöckchen hier zum Sterben krank war vor Liebe, da hörte sie unter sich in einer Bergschlucht jemand so jammervoll stöhnen und klagen, daß einem Stein das Herz davon hätte springen können. Und Schneeflöckchen flog auf und flog flugs hin, woher die Stimme tönte. Und sie sah unter einem kahlen Baum, durch dessen wenige falbe Blätter der wintrige Wind heulend pfiff, einen Jüngling stehen, stattlich und reisig von Wuchs und schön von Gestalt. Er stand aber fast nackend da; sein Waffenkleid, sein Panzer und Helm und Schild lagen im Schnee umhergestreut, fein edles Roß stand seitwärts und kratzte Gras unter der Schneekruste hervor und fraß, seine Sporen lagen zerbrochen, sein Wams lag zerrissen neben ihm, in der Rechten hielt er ein blankes Schwert, und seine Haare flogen wild im Winde, und seine Blicke sahen verstört, wie wenn einer in eine Wüste hineinstarrt, und von seinen Lippen ächzeten jammervolle Klagen. Schneeflöckchen legte sich angstvoll und schweigend zu seinen Füßen und dachte bei sich: »Ach, wenn der Mann wehvoll ist wie ich und unglücklich durch Liebessehnsucht, so mag er mich hier zertreten in seiner Verzweiflung, daß ich den letzten Atem von Leben und Bewußtsein verliere! Das sollte mir der süßeste Tod sein.« Er klagte aber also:

»Seid mir willkommen, Orte der Trauer! Ihr wüsten Felsen, kahlen Bäume, du rauhe und finstere Kluft und ihr Winde, die ihr mit dem Schneegestöber dahinpfeift – ihr seid mein Leichengefolge, meine Leichenmusik, wie ich sie liebe. Du bist hin, edle Stärke, worauf ich getrotzt habe, du bist verwelkt, Schönheit, welche Frauen und Jungfrauen gepriesen haben, du hast dich verschmachtet und verblutet, arme, kranke Seele, und sollst hier die Ruhe und den Frieden finden, den die kalte Erde dir nicht geben konnte. O kalte Erde, bald nicht mehr zu kalt, bald ein kühles und stilles Bett dem Starren und Gefühllosen! Komm, treues Schwert, du treuer Freund und Schirmer in so manchen Schlachten und Abenteuern! Tu mir den letzten Dienst! Schneide dieses Herz entzwei, das schon genug zerschnitten ist, dies arme Herz, dem alle Güter und Schätze gegeben waren, nur der einzige höchste Schatz der Liebe nicht! O wenn dieser kalte, häßliche Dornstrauch lieben könnte, ich wollte ihn umarmen, ich wollte ihn an meine Brust, ja in meine Brust hineindrücken, daß sie von seinen hundert Spitzen bluten sollte, und ich wollte jauchzen vor Seligkeit; ja dich dünnen Schnee wollt' ich nehmen, wenn deine Kälte zu Liebe erwärmen könnte, wollte mir die Hände von dir vollballen und dich tragen als meine köstlichste Habe, und Himmel und Erde sollten meinen Schrei hören: Ich bin geliebt! Ich bin glückselig! Ja, eine Otter, eine Kröte wollt' ich umarmen und sie Braut nennen und Zärtling und Liebling. Nein! Nein! Nimmer! Nimmermehr! Komm denn, Schwert! Und komm denn, Tod! Du Retter aus allen Nöten, und mache der elenden Posse ein Ende!« Und er rüstete sich, zuzustoßen.

Und es war dem kleinen Schneeflöckchen wie ein Blitz durch das zärtliche Seelchen gefahren, und sie hob die Flügelchen auf und senkte sich sanft in seine Hand, als sie eben den letzten Stoß tun wollte. Und er fühlte es wie warm, und als brennte ihn etwas. Und er schaute in die Hand und sah Schneeflöckchen daliegen in seiner zarten, gefiederten Gestalt. Und Schneeflöckchen, die eben eine Seele suchte, ward immer wärmer und brannte ihn wirklich. Und erstaunt ließ der Mann das Schwert fallen und sah Schneeflöckchen an, als verstände er das holde Kind, das nicht viel gewichtiger als ein wehendes Lüftchen auf seiner Hand lag, und voll Entzücken rief er: »Was? Was? Ist sie's? Ist sie's? O gnädiger Gott! So will ich leben! Und würd' es eine Ewigkeit, sie soll mir nicht zu lang sein!« Und Schneeflöckchen, das diese Worte hörte, zerrann vor Entzücken und ward ein glänzender Tropfen, der hell in seiner Hand lag und um Liebe zu flehen schien und wie das blaue Himmelsaug' eines Engels aussah. Und der Mann sah das funkelnde Tröpfchen, das immer noch warm in seiner Hand glühete, und lief eilends zu einem Baum, der noch einige frische Blätter hatte, und nahm das grünste Blatt und goß das Tröpfchen da hinein und barg es sorgsam an seinem Leibe. Dann kleidete und waffnete er sich, schwang sich auf sein Roß und ritt im Fluge der nächsten Stadt zu.

Nun muß ich erzählen, wer dieser Mann war, und woher er kam, und was ihm begegnet war.

Er war ein edler Prinz, eines Königs Sohn im Lande Arabien, wo das Gold wächst und die Myrrhen und andere köstliche Kräuter. Er war unter den wunderbarsten Umständen zur Welt geboren und mit so unvergleichlicher Schönheit geschmückt, daß sein Vater, der König, und die Weisen des Landes von seiner frühesten Kindheit an sehr aufmerksam auf ihn waren; denn sie meinten, sein Leben werde gewiß auch von ungewöhnlichen Schicksalen geführt werden. Sie fragten das Los, sie fragten die Sterne viel über ihn, sie spielten mit Rätseln und Wahrsagern um ihn; aber das Los wollte nicht fallen, und die Sterne wollten nicht sprechen, und die Rätsel und Wahrsager wollten kein rechtes Geisterspiel spielen – sie blieben im Dunkeln über seine Zukunft. Aber über sein Herz blieben sie nicht lange dunkel. Der Prinz zeigte von Kind auf eine ungewöhnliche Zartheit und Weichheit des Gemütes, und in seinen großen und schwarzen Augen lag eine Wehmut und Schwärmerei, welche dem alten Könige bange machten, so daß er zu seinen Weisen und Räten wohl zuweilen zu sagen pflegte: »Der Knabe muß strenge erzogen werden und immer unter Menschen und im vollen Getümmel sein; er könnte sonst ein Träumer oder Sternseher werden, welche die schlechtesten Könige sind, oder die Liebe, die verderblichste und gefährlichste aller Leidenschaften, könnte ihn ganz aus der Bahn der Tugend treiben.« Alle Gebärden, alle Bewegungen des Prinzen waren eben so sanft und zart als seine Seele, und sein Stimmchen klang leise und lieblich wie ein Sommerlüftchen, wenn es durch Maiblumen hinspielt. Deswegen ward der Prinz Bisbiglio genannt, welches zu teutsch soviel heißt als Gelispel.

Als Prinz Bisbiglio vier Jahre alt geworden war, tat der König, sein Vater, ihn nicht in die Einsamkeit zu einem Weisen, wie die Könige im Morgenlande zu tun pflegen, die da glauben, im Getümmel der Hauptstadt und im Glanze und der Üppigkeit des Hoflagers könne schwerlich jemand zur strengen Tugend gezogen und geübt werden, sondern er schickte ihn zu einem alten, grauen Kriegsmann, der mit einer reisigen Kriegsschar immer auf der Warte lag und der Grenzen hütete. Da sollte er wie ein Krieger erzogen werden, nichts sehen als Rosse und Waffen, nichts hören als Waffenklang und Trompeten und Pfeifen, kein anderes Lager kennen als ein hartes Soldatenbett und keine andre Flur und Au als die Tummelplätze und Übungsplätze, worauf Menschen und Pferde auch kein Gräschen grünen ließen. Künste sollte er nicht lernen, denn der König fürchtete, die Künste würden ihn zu weich machen und ihm die strenge Arbeit verleiden, welche die beste Kunst für den ist, der als Mann Männern befehlen soll. Der Prinz lebte in diesem Lager zehn Jahre und ward ein vollkommener Kriegsmann, in allen Waffen geübt, ein Meister, die Rosse zu tummeln und die Lanze zu werfen; außerdem war er schlank und reisig von Leibe und für sein Alter sehr stark.

In seinem fünfzehnten Jahre lies; der Vater ihn zurückkommen an seinen Hof und freute sich des schönen Jünglings und seiner weisen Erziehung. Aber was half sie ihm? Was die Natur in den Menschen gesäet hat, das muß früher oder später einmal Wurzel treiben; es ist unvertilgbar wie das Leben und läßt sich mit dem Leben selbst nur ausrotten. Prinz Bisbiglio hatte nun in zehn Jahren nichts gesehen als rauhe und eiserne Männer des Kriegs und Lanzen, Bogen und Säbel, er hatte in keine Sterne geguckt, auf keine Nachtigallen gelauscht, in keinem Tanze sich mit umgeschwungen; doch waren so viele Sterne und Nachtigallen und Tänze in seiner Seele, daß sie von allem eisernen Lärm und eisernen Übungen nicht unterdrückt werden konnten. Ja, sie wurden in ihm nur lebendiger, je mehr sie in das tiefste Innere seines Gemütes zurückgedrängt wurden. Bisbiglio war ein Kind der Sehnsucht und Liebe, und mitten in dem Feldlager unter den harten und rauhen Kriegern hatte sein unbewußtes Herz immer nach Liebe gelechzet; sie hatte er aus allen Winken und Blicken, aus allen Liedern und Märchen gesogen, die auch von ganz etwas anderem klangen, ja aus jedem leisesten Worte, das nur so lose vor ihn: gesprochen war; sein eignes Herz hatte ihm früh genug diesen bunten Himmel mit allen seinen Sternen und Nachtigallen geöffnet. So allmächtig ist der angeborne Trieb.

Bisbiglio stand jetzt in der Blüte der Jahre, wo die Phantasie am lebendigsten ist; er sehnte sich hinaus in die weite, schöne Welt, damit er ihre Schönheit und Herrlichkeit erkundete, und ging zu seinem Vater, dem Könige, und bat ihn, daß er ihn ziehen lasse, wie andere Prinzen ausziehen und sich durch fürstliche und ritterliche Abenteuer einen Namen machen. Der Vater erlaubte es ihm gerne, denn er dachte: »Dieser ist ein fester Jüngling, unter Eisen und Waffen erzogen; den werden die girrenden Tauben der Liebe und die schmeichelnden Sirenen der Zärtlichkeit nicht von der Heldenbahn ablocken.« Aber Bisbiglio meinte es anders, als seine Worte vor dem Vater klangen: er wollte keine anderen Abenteuer als Abenteuer der Liebe, er wollte auf die Liebe ausreiten, er wollte so lange suchen in der weiten Welt, bis er die Liebe fände, die er sich von jeher als das höchste und seltenste Gut gedacht hatte. Er hatte nämlich in dem Feldlager am Euphrat oft das Märchen erzählen gehört von dem persischen Prinzen Sospirio, der zwanzig Jahre nach der Liebe durch die ganze Welt umhertrabte und sie endlich in einem schneeweißen Dornröschen fand, das mitten in der Wüste Afrikas verborgen und einsam blühete. Dies waren die hohen und geheimnisvollen Sterne, nach welchen Bisbiglio frühe guckte, dies waren die süßen Nachtigallen, die ihm selbst da sangen, wo Streitrosse um ihn wieherten und Speere auf Schilden zersprangen; von wundervollen Abenteuern, von Kämpfen mit Riesen und Drachen, von Verwandlungen und Bezauberungen hatte er Tag und Nacht geträumt, aber nicht bloß um ritterliche und königliche Scherze und Spiele, nein, alles um Liebe und immer um Liebe.

So war er in die Welt ausgezogen und zog nun schon in das vierte Jahr so um und hatte mit sehnlichen Schmerzen die Liebe gesucht, aber immer noch nicht gefunden. Abenteuer hatte er genug gefunden, Kämpfe genug bestanden, schöne Frauen und Jungfrauen, Prinzessinnen und Königinnen, Amazonen und Sirenen, wunderbare Blumen und Vögel genug gesehen, einige auch geliebt; aber ach, die Liebe hatte er nicht gefunden, die himmlische, immer in einem blühende, glühende, fühlende, spielende, lebende, schwebende, singende, klingende, jauchzende Liebe. Er war schön, jung und tapfer, er hatte alles Schönste und Lieblichste angezogen, wie der Magnet das Eisen anzieht, er war auch zärtlich geliebt worden; aber ach, nach wenigen Tagen, oft nach wenigen Sekunden hatte er immer den Mangel gefühlt und wieder ausreiten müssen, damit er die rechte Liebe fände, welche er suchte. So war es ihm vor einem Monat eben wieder ergangen. In Damaskus hatte er des Königs Tochter gesehen, schön wie eine Rose, schlank wie eine Lilie und lieblich wie ein Veilchen im stillen Tale, und sie hatte ihn über ihr Leben lieb gewonnen, und er sie wieder. Aber bald hatte der unglückliche Prinz wieder reiten müssen, fühlend, sie sei nicht die Liebe, die er suchte, und nun hatte er verzweifelt, sie je zu finden, und war hinaufgeritten bis in das wilde, verschneite Gebirg, bis in den höchsten Kaukasus hinein, und da hatte ihn das süße Schneeflöckchen am Leben erhalten.

Als der Prinz zu der Stadt gekommen war, ritt er vor das Haus eines Juweliers und kaufte sich ein Fläschchen aus lauterem Diamant und goß sein funkelndes Tröpfchen, sein Schneeflöckchen da hinein und versiegelte das Fläschchen und steckte es zu sich und sprach: »Du wirst noch wohl einmal eine Prinzessin werden, wie Dornröschen in der Wüste geworden ist, und wenn du es nimmer wirst, ich bin der glücklichste aller Menschen, solange ich nur diese Flammen fühle.« Er hatte sich nämlich ein Säckchen über dem Herzen gemacht; darein steckte er das Fläschchen, und er fühlte es bis in sein Herz, und es war ihm wie ein sanftes Prickeln, das er um die ganze Welt nicht hätte missen wollen. Er ritt aber immer lustig fort durch die weite Welt. Denn daß das Tröpfchen verwandelt werden mußte, und daß es so nicht bleiben konnte, das ahndete ihn; das wußte er auch, daß er vor der Erfüllung seines Schicksals nicht nach Hause reiten durfte. Und Schneeflöckchen saß als ein kleines Tröpfchen in dem diamantenen Fläschchen und war die allerglückseligste, denn sie fühlte, daß sie geliebt war; aber doch zitterte sie oft bei sich und dachte: »Fünf Jahre, wie lange! Wie lange! Und wird er die Proben bestehen? Es ist wohl süß, so auf seinem Herzen zu ruhen; aber wieviel süßer wäre es, ihn mit menschlichen Armen umfangen und an dies Herz drücken!« Und sie bebte vor Wonne bei dem Gedanken und zugleich vor Furcht, daß sie ihn verlieren könnte.

Und drei Jahre war der Prinz Bisbiglio mit ihr durch die Welt geritten, und sie waren ihm verschwunden wie drei Tage. Da kam die Zeit harter Proben, die er noch bestehen mußte, ehe ihr Schicksal erfüllt werden konnte.

Die erste Probe war diese:

Er ritt einem Hause vorbei, das in Flammen stand. Da zweifelte er in sich: »Wenn sie, die meine Liebste ist, für dies Tröpfchen nun ein Mensch wäre, und du lägest in den Flammen, sollte sie wohl hineinspringen und dich herausholen?« Und wie er den bösen Gedanken kaum gedacht hatte, da fühlte er sein Gläschen mit unwiderstehlicher Gewalt heraufspringen, daß es ihm Hemd und Wams zerriß und den eisernen Panzer spaltete. Und wie ein Blitz flog es in die Flammen, und er sah das Fläschchen drinnen springen, und das helle Tröpfchen weinte und ächzete in der feurigen Not, und bald erblickte er es nur noch als eine trübere Flamme. Da erfaßte ihn unnennbare Seelenangst, und er warf sich von dem Pferde in das Feuer und griff sich das Flämmchen heraus und barg es in seiner Hand. Und das Flämmchen brannte ihm ein tiefes Loch in die Hand; dann ward es wieder zum Tröpfchen. Er ritt aber eilends in die nächste Stadt und kaufte sich wieder ein diamantenes Fläschchen, worin er es einfing und wieder an seine alte Stelle legte. In den Flammen hatte er sich das Haar versengt und die Wangen verbrannt, und das Loch in seiner Hand war sehr tief. Und er mußte große Schmerzen leiden und wohl drei Wochen krank liegen, ehe er genas. Da trauerte er viel über seinen Unglauben; aber Schneeflöckchen war voll Freuden, daß er ihr so treu nachgesprungen war in das Feuer; aber über seine Schmerzen weinte sie innerlich. Und er merkte es wohl, denn es deuchte ihm oft, wie es in der Flasche ächzete, wiewohl er eigentlich nichts hörte.

Dies war die zweite Probe:

Er ritt über eine hohe Brücke, welche über ein reißendes Wasser führte, das der Tigris heißt. Da sah er das Nest eines Eisvogels auf dem Strome schwimmen, und die Mutter saß auf dem Neste und fütterte die Jungen. Und er sprach bei dem Anblicke innig bewegt: »O welche Liebe! Haben Menschen wohl solche Treue? Wahrlich, wenn der Strudel diese kleine Brut untertauchte, die Mutter tauchte ihnen nach und stürbe oder holte sie herauf.« Und Schneeflöckchen auf seinem Herzen fühlte, was er drinnen bewegte, und mußte ihm in der Seelenangst wieder Rock und Panzer sprengen, und klingend flog das Fläschchen gegen einen Stein, und das Tröpfchen goß sich in den Strom und zischte leise, als wenn man heißes Wasser in kaltes gießt, und floß mit den reißenden Wellen dahin. Und der Prinz stürzte sich wie ein Blitz ihm nach in den Strom und kämpfte mit dem Strudel und tauchte sich auf und ab und rang mit Tod und Leben und füllte seine Hände mit allen Wassern, bis er das zischende Tröpflein wiedergefunden hatte, das er wie eine brennende Kohle in der Hand fühlte. Dann schwamm er ans Land und sank erschöpft hin; das Tröpfchen aber hatte ihm wieder ein Loch gebrannt. Und als er wieder zu sich kam, war er zerschellt an allen Gliedern von den Felsen, woran er sich zerstoßen hatte, und die Wunde in der Hand schmerzte, aber seine Seele jauchzete in Wonne. Und Schneeflöckchen war auch in Entzücken über seine tapfere Treue. In der nächsten Stadt aber fing er sein Tröpfchen wieder ein, legte sein Fläschchen aufs Herz und ritt weiter.

Dies war die dritte und letzte Probe:

Der Prinz trabte mit seinem Schneeflöckchen eines Morgens durch einen hohen Bergwald; da ward er eines gewaltigen Reiters gewahr, der auf einem weißen Hengst ritt und so hoch war, daß sein Haupt über die Spitzen der Eichen und Buchen ragte. Er hielt eine Lanze, die einem Mastbaum gleich in den Lüften schwankte, und fällte diese fürchterliche Wehr, als er des Prinzen ansichtig ward. Dieser Riese (denn das war er), hatte ein häßliches und verrunzeltes altes Weib hinter sich auf, das ihn mit ihren dürren Armen umklammert hielt. Er führte sie wider Willen mit sich kraft eines Gelübdes, das er getan hatte, und dachte sie auf den ersten besten, den er treffen würde, abzuladen. Als er den Prinzen Bisbiglio erblickte, rief er mit lauter Stimme, daß alle Berge und Klüfte widerhalleten, als hätten hundert Donnerwetter zugleich die himmlischen Kartaunen gelöst: »Halt, mein Knäblein! Ich habe hier etwas für dich. Du bist jung und kannst einen Schatz gebrauchen, der meinen Jahren schon beschwerlich wird. Nimm diese Dame hintenauf und schwöre mir, daß du sie ritterlich halten und einen jeden, der dir begegnet, zum Kampf auf Leben und Tod fordern willst, wenn er nicht bekennen will, daß sie die allerschönste Prinzessin sei, die je die Sonne beschienen hat. Auf diese Bedingung lass' ich dich hier frei vorüberreiten, sonst wird deine Mutter bald einen Toten begraben.« »Das geschieht nimmer, du Trotziger, solange noch ein Tropfen Blut in mir warm ist,« rief Bisbiglio, von Zorn entbrannt; »wehre dich, du Prahler! Ich schlage auf dich.« Und mit diesen Worten sprang er aus dem Sattel und ließ sein Roß laufen. Denn er begriff wohl, daß er gegen den Riesen und dessen Koloß von Pferd nicht rennen konnte, und daß die Gewandtheit und Geschmeidigkeit gegen die Übermacht helfen mußte. Und der Riese, der sich schämte, schlechter zu sein als der Jüngling, sprang auch vom Pferde, und sie warfen beide die Lanzen weg und griffen zu den Schwertern.

Und es entstand nun einer der schönsten und seltensten Kämpfe, die je in einer Rennbahn gesehen worden. Die Erde erzitterte, wann der Riese seinen Fuß bewegte, und Felsen schienen unter jedem seiner Hiebe bersten zu müssen. Leicht wie der geflügelte Wind sprang der Prinz einher, wich und bog sich jedem Streiche und Stoße aus und schlüpfte geschickt unter der Langsamkeit und Schwere des Riesen hin. So hatten sie lange gekämpft, und schon rieselte des Riesen Blut aus mancher Öffnung, aber es waren seichte Wunden. Der Prinz war aber noch ganz und spielte in leichter Beweglichkeit mit seinen leichten Waffen um das Ungeheuer herum. Als der Riese sich nun von seinem eigenen Blute erröten sah, da ergrimmte er in seiner Seele und rief: »Genug! O schon zuviel! Nicht länger soll diese Mücke mit dem Löwen spielen!« Und er holte einen gewaltigen Hieb aus, wodurch er den Prinzen wie eine Rübe in zwei Stücken zu spalten meinte. Doch der Hieb glitt vom Helm ab, nahm aber den ganzen Schild mit und die Hälfte des Panzers, und der Prinz fühlte die Spitze des Eisens bis an sein Herz dringen. In dieser äußersten Not nahm auch er seine letzten Kräfte zusammen und stieß sein Schwert, so lang es war, in des Riesen Brust, daß das lange Scheusal fluchend und röchelnd hinstürzte.

Man kann sich Schneeflöckchens Angst denken bei diesem fürchterlichen Streit und wie sie in ihrem Fläschchen zitterte und bebte, wenn der Riese in seinen Waffen daherrasselte und sie die Stöße klingen und die Hiebe durch die Luft sausen hörte. Als sie aber die rote Flut den Panzer des Prinzen hinabrieseln sah, da konnte sie es nicht länger aushalten in ihrem Kerker, sprengte das Fläschchen und mischte sich mit dem Blute, das wie ein purpurner Strom am Boden floß. Und o Wunder über alle Wunder! In demselben Augenblicke, wie sie von dem Blute ganz umflossen war, stand die allerschönste Jungfrau da: Schneeflöckchen war wieder ein Mensch geworden.

Der Prinz hatte sich so erschöpft und verblutet, daß er in Ohnmacht hingesunken war. Schneeflöckchen warf sich mit tausend Tränen auf ihn, riß ihm den Panzer auf und trocknete das Blut seiner Wunde mit ihren schönen, langen, blonden Locken ab; sie beweinte ihn fast schon wie einen Toten. Als sie so über ihm lag und klagte und schluchzete, siehe, da schlug der Prinz die Augen auf und atmete wieder und sah sein allerliebstes, süßestes Kind, um welche er nun so manches Jahr in der Welt herumgeritten war. Und es war ihm bei dem Anblicke, als ob neue Kräfte sich durch alle seine Adern gössen und er neu geboren wäre, und er fühlte seine Wunde nicht mehr, noch wie das Blut herabrieselte, sondern sah nur das liebliche Schneeflöckchen und küßte und herzte sie. Sie aber schnitt ihr Hemdchen inzwei, wo es ihr um das Herz lag, und legte das auf die Wunde, und das Blut ward gleich gestillt. Die Wunde war wohl tief, aber nicht tödlich, was sie leicht hätte werden können, wenn sie einen Zoll tiefer gedrungen wäre; denn der Riese hatte gerade auf sein Herz getroffen.

Dieser aber lag wirklich tot da und sollte nimmer wieder aufstehen. Sie betrachteten nun seine ungeheuere Lanze und seine gewaltigen Waffen, die ein gewöhnlicher Mann gar nicht von der Erde aufheben konnte, und ließen ihn da liegen; das alte, garstige Weib aber, um welches der blutige Span entstanden war, ließen sie in Frieden gehen, wohin sie wollte. Der Prinz aber nahm zum Andenken dieses Streits mit dem Riesen nichts weiter mit als den großen weißen Hengst, worauf der Unhold geritten war, und sein Schwert. Als sie das Schwert von der Erde aufnahmen und näher betrachteten, sahen sie ein neues Wunder: die Spitze war zusammengeflossen, wie Eisen geschieht, das in die Kohlenglut gelegt wird, damit es dem Schmiede wieder weich werde. Und als Schneeflöckchen dies sah, funkelten ihr die Äuglein vor Entzücken, und die hellen Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie drückte den Prinzen mit einer Gewalt an ihre Brust, als wolle sie in eins mit ihm zusammenrinnen, und rief: »O du allertreueste und an Liebe unüberwindlichste Seele! So ist dein Herzblut so heiß von Liebe, daß das Eisen des Riesen daran geschmolzen ist und nicht hat eindringen können? So habe ich nun dieses warme Herz, wovon mir so oft geträumt hat in bitterer Trauer während meiner traurigen Verwandlung? Nun sehe ich, daß alles erfüllt ist, was meine Stiefmutter, die böse Hexe, einst gemurmelt hat, als sie mich aus dem Fenster fliegen ließ!« Und sie erzählte dem Prinzen nun die Geschichte ihrer Verwandelung, und wie jämmerlich sie zwei Winter als Schneeflöckchen habe umherfliegen müssen, bis sie in seiner Hand zum Tropfen geworden sei.

Der Tag, an welchem dieser Kampf mit dem Riesen stand, war genau der letzte Tag des fünften Jahres seit dem Tage, wo Schneeflöckchen den verzweifelten Prinzen Bisbiglio in der öden Waldschlucht des Kaukasus gefunden hatte. Und da beide sahen, daß das Schicksal alles mit ihnen erfüllt hatte, und da sie sich herzlich sehnten, die treueste und unvergleichlichste Liebe durch eine Hochzeit zu krönen, so ritten sie nun nicht weiter durch die Welt auf Abenteuer (denn sie hatten ja das allerschönste Abenteuer erlebt), sondern sie nahmen den gradesten Weg nach dem Schlosse, in welchem der alte König von Arabien, des Prinzen Bisbiglio Vater, wohnte. Und sie sind dort glücklich angekommen, und der Prinz hat dem Könige alles getreulich erzählt, wie es sich mit ihm begeben hatte. Und der alte Herr hat nun wohl gesehen, wieviel es mit der Weisheit der Erziehung seines Sohnes auf sich gehabt hat; aber er hat sich alle seine wunderlichen Abenteuer gern gefallen lassen, da er ihm eine solche Schnur Schwiegertochter. ins Haus gebracht hat; denn Schneeflöckchen war so freundlich und schön, daß sie nicht allein ihm und allen Menschen, sondern allen Engeln im Himmel gefiel.

Und als der alte König sich genug gefreut hatte und die Hochzeit gewesen war, da machten Bisbiglio und Schneeflöckchen sich auf und zogen zu dem alten Könige in Indien. Und Schneeflöckchen erzählte ihm ihre ganze Geschichte, wie die Stiefmutter zur Füchsin geworden war und gesungen hatte: » Schneeflöckchen, flieg hin! Fliege durch die Welt hin!« und wie sie dann ein Schneeflöckchen geworden und aus dem Fenster gelassen wäre und so mehr als sechs traurige Jahre in der Verwandlung habe leben müssen. Und der König, ihr Vater, ist so zornig geworden, daß er die alte Hexe hat an einen Pferdeschweif binden und zu Tode schleifen lassen. Auch hat er nun von ihren häßlichen Töchtern, die sie ihm geboren, nichts mehr wissen wollen, sondern hat sie hoch gen Norden hinauf in die Berglande Indiens geschickt und hat sie geringen Männern zu Frauen gegeben. Schneeflöckchen ist Königin von Indien geworden nach seinem Tode, und Indien und Arabien sind so ein Königreich geworden. Ein zärtlicheres und treueres Ehepaar ist aber auf der Welt nie gesehen worden als der treue Prinz Bisbiglio und seine süße Prinzessin Schneeflöckchen, so daß sie wegen ihrer Zärtlichkeit und Treue noch bis diesen Tag im ganzen Morgenlande in Fabeln und Liedern erzählt und gesungen werden. Sie haben auch die allerschönsten und lieblichsten Kinder gehabt, die auch Herzen gehabt haben, sich aller Anmut und Schönheit des Himmels und der Erde zu freuen, und die ihren Eltern an Freundlichkeit und Milde gleich gewesen sind.



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