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Der kleine Otto

Sie stand auf der Plattform und winkte mit dem Taschentuch; etwas kokett hielt sie es hoch über ihrem Kopfe und bewunderte dabei von unten die feine Biegung ihrer eigenen schwarzbehandschuhten Hand.

Die Fahrgeschwindigkeit des Zuges steigerte sich rasch, und immer schneller schoben sich die Eisenträger des Perrondaches zurück, die weißen Schürzen der Gepäckträger flimmerten vor ihren Augen, Berge von Gepäck, Menschengruppen mit unbekannten, zufälligen Gesichtern, die dem Zuge nachsahen, Männer, die seltsam wie auf einem Fleck mit ihren Beinen tanzten, alles flog jetzt an ihr vorüber. Ganz zuletzt sauste das Häuschen des Weichenstellers metallisch rauschend ungestüm hinterdrein, die Wagenreihen polterten schwer schaukelnd über einige Weichen und verfielen endlich in eine weiche, methodische Gangart: der Zug schien sich mit seiner Bestimmung abgefunden zu haben.

Olga Nikolajewna hielt sich mit ihrer kleinen, kräftigen Hand an dem kalten Messinggriff der Plattform fest und beugte sich weit vor, um noch einmal aus der Ferne den hellbeleuchteten Bahnsteig und die winzigen, an Spielzeug erinnernden Menschen zu sehen, die eilig in den tiefen Schluchten der Treppenausgänge verschwanden. Die Gesichter waren nicht mehr zu erkennen und wahrscheinlich konnte auch sie niemand mehr sehen, aber für alle Fälle winkte Olga Nikolajewna noch einige Male mit dem Taschentuch.

Jetzt rannte dem Zug irgendein endlos langes, an die Erde gepreßtes Gebäude entgegen, mit riesigen, verschlossenen Toren und Gittern an den schmalen Fenstern, und alles andere verschwand hinter diesem Gebäude, wie wenn es nicht gewesen wäre. Dann rollten die Frachtwagen auf Nebengeleisen vorbei und überall schimmerten langweilige, unbegreiflich-geheimnisvolle rote und blaue Flämmchen und hohe, einsame Bogenlampen, die der vorbeieilende Zug geschäftig in weiche, kompakte Masten bläulichen Dampfes einhüllte. Auf einen Augenblick erloschen sie in diesen Wolken, um im nächsten Augenblick wieder emporzutauchen, grelles, kaltes, scheinbar ganz überflüssiges Licht ausstrahlend.

Ein rötlicher Nachthimmel breitete sich jetzt über der großen Stadt aus mit ihren unzähligen, glänzenden Lichtern, Kälte und Weite atmeten die randlosen Felder und nahmen in ihre geheimnisvollen, dunklen Tiefen den unerschütterlich schnell laufenden Zug auf.

Sie ist weggefahren ...

Eine Sekunde lang fühlte sie Heimweh ... Irgend etwas tat ihr leid, sie wünschte sich zurück, es kam ihr unheimlich und einsam vor, als ob sie, das kleine, leichtfertige Weib, zum erstenmal hier in den grenzenlosen Feldern begriffen hätte, wie unendlich weit die Welt sei, und wie leicht man sich in ihren Geheimnissen verlieren könnte.

Während der heiteren Geschäftigkeit des Abschiedes mit Sekt, Blumen, witzigen Trinksprüchen und Komplimenten dachte Olga Nikolajewna fast gar nicht an ihren Mann, nur zuweilen lächelte sie ihm zärtlich und tröstend zu. Und jedesmal begegnete sie seinem traurigen, befangenen Blick, der an den Blick eines großen, guten Hundes erinnerte. Es fühlte sich so angenehm an, daß er, der große, starke und kluge Mann, sie, das luftige, kleine Weibchen so demütig liebte. Sie empfand ein gewisses Schuldgefühl, daß sie sich an einem solchen Tage nicht ihm allein gewidmet, sondern ihn gezwungen hatte, sich fortwährend mit geräuschvollen, uninteressanten und ihm sogar unsympathischen Menschen abzugeben. Gleichzeitig war sie etwas ärgerlich: wäre sie frei, so hätte sie der hübsche Ingenieur Powolozki, von dem sie sich in den letzten Tagen den Hof machen ließ, sicher begleitet. Es wäre sicher sehr interessant und amüsant gewesen. In der letzten Zeit ging es ihr immer öfter durch den Kopf, daß sie sich nicht hätte binden, sich nicht das große, schwere, verpflichtende Gefühl, das ihr fortwährend im Wege stand, hätte aufbürden sollen.

Aber jetzt verschwanden alle anderen Gesichter, und aus der Dunkelheit der schaukelnden Wagenplattform tauchte das eine auf – das traurige, treue, liebe Gesicht ihres Mannes, das sie fragend um etwas anzuflehen schien. Das kleine, heitere Weib begriff jetzt plötzlich mit ihrem ganzen Herzen, wie nahe und teuer er ihr sei. Alles schien ihr jetzt überflüssig und widerwärtig, sie hatte Lust, umzukehren und eine warme Liebesflut erfüllte ihre Brust, so warm, daß Olga Nikolajewna hätte weinen mögen.

Diese Freiheit, nach der sie sich sehnte, müde des ungewohnt ernsten Gefühls und des ruhigen Lebens – sie wollte nichts mehr von dieser Freiheit wissen! ... Auch die Bühne, der Applaus, der Staub der Kulissen, unersättliche, ewig dem einen Ziele zustrebende Verehrer, der glänzende Erfolg – alles reizte sie nicht mehr! ... Alles aufgeben, wieder zu ihm zurückkehren, den lieben, klugen Kopf zwischen ihren Händen halten, seine gütigen Augen küssen, wieder warm werden an seiner starken, breiten Brust und niemals wieder von ihm Weggehen ...

Olga Nikolajewna wußte, daß es nie geschehen würde, daß sie sich niemals entschließen wird, auf die Bühne, auf Geräusch und Glanz, auf die Aufregung bei einer neuen Rolle, auf den Wirrwarr der Proben und auf unerwartete Bekanntschaften zu verzichten ... Aber sie hatte ehrlich Lust, zu weinen.

Zumal sie sich plötzlich vorstellte, daß es sich sehr anziehend ausnehmen würde: sie, ein junges, schönes Weib, in einem breiten, modernen Mantel, weint auf der spärlich beleuchteten Plattform eines Gott weiß wohin rasenden Zuges aus treuer, zärtlicher Liebe zu ihrem Galten.

Olga Nikolajewna lehnte sich einen Augenblick lang an eine kalte Messingstange, seufzte schwer und ging langsam nach dem Coupé. Schwarze, zerzauste Silhouetten seltsamer Bäume tauchten vor den breiten Spiegelscheiben der Gangfenster auf und verschwanden blitzschnell wieder, dunkle Felder bildeten den Hintergrund zu diesen vorbeihuschenden Gespenstern. Es war kalt und unheimlich.

In dem gemütlichen, hellerleuchteten allgemeinen Coupé – sie haßte die langweiligen Damenabteile mit dicken Damen, die sich abends nach Oeffnen sämtlicher Haken, Knöpfe und Verschnürungen gleichsam aufzulösen schienen – saß nur noch ein Fahrgast. Sie bemerkte ihn gleich, als sie mit ihrem Mann und dem Ingenieur Powolozki das Coupé betrat, um den Gepäckträger zu entlassen.

Es war ein junger, ordentlicher, fast zu ordentlicher und adretter Student in einem langen, elegant sitzenden, weiß gefütterten Uniformrock. Sein Kopfhaar war hellblond, das kleine Schnurrbärtchen pedantisch nach oben gebürstet, die Linien seines Gesichts waren außerordentlich fein und zart, der Teint frisch und mädchenhaft.

Er erschien Olga Nikolajewna noch sehr knabenhaft, reizend und naiv. Gleich, als sie ihn zum ersten Male sah, kam ihr der gute Gedanke an einen netten Coupéflirt.

Solche flüchtigen Reiseabenteuer hatte sie gern: sie verpflichteten zu nichts, hatten keine ernsten Konsequenzen, und die sonst so langweiligen Stunden vergingen unbemerkt und amüsant.

Der hauptsächliche Reiz dieser Abenteuer bestand darin, daß sie einen stets mit einem prickelnden Gefühl erfüllen, daß niemand jemals das Vorgefallene erfahren würde, und daß es von ihr allein abhinge, wenn sie Lust verspüren sollte, auch weiter zu gehen, alles zu gewähren, alles zu erleben und – für immer davonzufliegen. Sie ging übrigens nie so weit, aber es gefiel ihr, die tierischen Begierden des Männchens bis zu dem Höhepunkt zu steigern, in dem es zu allem fähig ist, die Besinnung verliert und unter dem Trieb leidet, den auszusprechen es nicht wagt. In einem solchen Zustande erschienen ihr die Männer komisch und interessant zugleich, während ihr eigener Kopf wie bei einem Schwindelanfall in die Runde ging, ganz erfüllt von geheimnisvollen, wahnsinnigen Gedanken. Es war so süß und aufregend, in diesen tiefen Abgrund einen Blick hineinzuwerfen, wie es der schlanken Möwe gefällt, im Fluge die Brust in die Meerestiefe zu tauchen, um mit einem Triumphgeschrei in die windreichen Weiten der blauen, sonnigen Luft emporzutauchen.

Den Studenten irritierte offenbar die unerwartete Nachbarschaft einer jungen, eleganten Frau. Aus den Gesprächen ihrer Begleiter und aus ihren Glückwünschen für die Zukunft wußte er ohne Zweifel, daß sie eine Schauspielerin sei, und saß aus lauter Schüchternheit und Verlegenheit, wie es ihr schien, in der unbequemsten Stellung auf seinem Platz mit unter den Sitz geschobenen Beinen. Auf seinen Knien lag ein Buch, dessen Seiten offensichtlich unter seinen nervösen Fingern litten. Seine Wangen brannten in einem leichten Rot, und er gab sich die größte Mühe, sie nicht zu beachten, während sie mit hochgehobenen Armen die langen Nadeln aus ihrem großen Hute herauszog, dann den Hut abnahm, ihren Mantel aufhing und sich an ihrer Reisetasche zu schaffen machte.

Endlich setzte sich Olga Nikolajewna, ordnete ihr aufgelockertes Haar, sah sich um, holte einige Sachen aus dem Täschchen, legte sie wieder zurück, bis auf ein Buch, das sie sich ebenfalls auf die Knie legte, machte einige Bewegungen, wie eine Katze, die sich endlich zurechtgelegt hat, und beruhigte sich.

Der Student saß wie angewurzelt in derselben unbequemen Haltung und blickte hartnäckig zu dem schwarzen Fenster hinaus, obgleich in der absoluten Dunkelheit wirklich nichts zu sehen war.

Olga Nikolajewna gab sich den Anschein, als ob sie aufmerksam läse, und beobachtete insgeheim ihr Visavis. Seine Angst vor ihr amüsierte sie, sie hatte die größte Lust, ihm die Zunge zu zeigen, seinen korrekten Scheitel in die größte Unordnung zu bringen, oder gar ihre Füße auf seine Knie zu legen, überhaupt, etwas zu tun, das so unmöglich und bizarr sein müßte, daß es ihn in die verzweifeltste Verlegenheit versetzen würde. Diese Wünsche kamen ihr so spontan und stimmten sie so lustig, daß all die traurigen Gedanken sich wie Nebelschwaden verflüchtigten. Sie fühlte sich jetzt warm und behaglich. Beinahe hätte sie ihm gesagt:

– Hören Sie doch auf mit Ihren komischen Verstellungskünsten! ... Ich weiß doch, daß Sie jetzt die größte Lust haben, mich kennen zu lernen und mir ein wenig den Hof zu machen! ... Sind Sie denn wirklich so ein Feigling, daß ich selbst anfangen muß? ...

Statt dessen aber kauerte sie sich zusammen, zog den engen Rock über die schlanken Beine in halbdurchsichtigen seidenen Strümpfen und kleinen Lackschuhen und wendete mit dem ernstesten Gesicht, das ihr zu Gebote stand, eine Seite in ihrem Buche.

Es verstrich eine lange Zeit. Der Zug rollte eilig und in regelmäßigem Takt über die Schienen, als ob ihm selbst sehr viel daran gelegen wäre, die Langeweile dadurch zu verkürzen. Im Gang vor den Abteilen gingen die Schaffner und die Fahrgäste auf und ab, der Rauch einer guten Zigarre zog von da in das Abteil und hinter dem Fenster schien die schwarze Finsternis wie auf einem Fleck zu stehen. Alles zitterte, schaukelte oder klirrte im Wagen und ein seltsam melodischer Ton begleitete rhythmisch das Grollen der schaukelnden Räderpaare, die irgendwo unter dem Wagen ungestüm durch die Entfernung eilten.

Der Student saß immer noch wie früher, mit fast demütig untergeschlagenen Beinen und blickte durch das Fenster. Es war ganz klar, daß er viel zu jung und unerfahren war, um auf die Idee zu kommen, eine ihm gänzlich unbekannte Dame anzusprechen. Es wäre wirklich eine Frechheit gewesen! ...

Olga Nikolajewna wurde die Situation allmählich langweilig. Das Buch interessierte sie nicht im geringsten: in der Gegenwart einer halbwegs annehmbaren männlichen Erscheinung konnte sie sich überhaupt nicht mit etwas beschäftigen. An die bevorstehende Saison zu denken – hatte sie keine Lust, Gedanken an ihren Mann machten sie traurig und belästigten obendrein ihre Gewissensruhe. Sie ließ das Buch sinken, sah etwas schielend nach der Uhr, zwischen ihren kleinen, weitgestellten Brüsten. Es war bald zwölf.

»Wissen Sie nicht, wann wir in Kursk sein werden?« fragte sie ihn unverhofft mit absichtlich reservierter Stimme und ohne ihn anzusehen.

Der Student zuckte bei ihren Worten zusammen, drehte sich rasch nach ihr um und wurde etwas rot. Und jetzt bemerkte sie zum ersten Male, aber ohne sich dessen bewußt zu werden, in seinem hübschen, feinen Gesicht etwas Unsympathisches. Aber nur einen Augenblick lang, dieser Eindruck verschwand sofort wieder. Gleichzeitig antwortete er zuvorkommend und höflich:

»Ich glaube um drei ...«

»Und Sie, fahren Sie weit?« fragte wieder die junge Frau und zeigte ihm jetzt ihre schwarzen, etwas schmalen, aber schelmisch funkelnden Augen.

Der Student wurde wieder rot und antwortete mit derselben Zuvorkommenheit und Höflichkeit:

»Nach Charkow.«

Das Gespräch kam in Fluß, und die Langeweile verschwand. Die junge elegante Frau kauerte wohlig in ihrer weichen Ecke, und ihre schelmischen roten Lippen zuckten lächelnd, wie wenn sie sagen wollten:

– Ich weiß schon, wie es weiter werden wird, aber ich werde das, was ich weiß, nicht verraten ... Wollen mal sehen, was Sie für einer sind!

Der Student aber saß etwas vorgebeugt vor ihr, sprach korrekt und leicht, seine Wangen überflog jeden Augenblick jene Röte jünglinghaft zitternden Schamgefühls, mit dem noch ganz junge unverdorbene, aber schnell verliebte Männer mit einer unbekannten, reizenden Frau sprechen.

Sie plauderten zuerst über Moskau, über das Theater, etwas über die moderne Literatur – alles lauter unbedeutende, unwichtige Dinge – ebenso leicht und harmlos, als ob sie nicht zu zweit in einem intimen, gemütlichen Coupé wären, sondern in irgendeinem menschenüberfüllten Salon. Die Stimmung war leicht und heiter, wie sie nur eben sein kann zwischen einer jungen, lebhaften Frau, die Verliebtheit und Anbetung fordert, und einem reinen, feinfühligen Jüngling, der bereit ist, sich mit dem größten Ernst in das erstbeste nette weibliche Gesichtchen zu verlieben.

Während des Gesprächs bemerkte sie, daß er sich wirklich Mühe gab, nur ihr Gesicht anzusehen, um den Blick nicht etwa unversehens über ihre unter der dunklen, weichen Bluse so wollüstig betonten kleinen Brüste gleiten zu lassen, überhaupt um ihre ganze, auf den Diwan weich hingestreckte reizende Gestalt nicht zu bemerken. Das amüsierte sie königlich, und sie konnte sich aus diesem Grunde nicht enthalten, ab und zu, ohne daß es im geringsten notwendig gewesen wäre, ihre Füße, die verführerisch unter dem Kleide hervorlugen wollten, zu verdecken, oder sie hielt eine der kleinen runden Brüste in ihrer weichen Hand, wie wenn sie Herzschmerzen hätte.

Aber die Unterhaltung über die Moskauer Neuigkeiten befriedigte sie nicht mehr, und, wie es zwischen jungen Leuten leicht zu geschehen pflegt, sprachen sie jetzt über die Liebe.

»Und sind Sie jemals verliebt gewesen?« fragte ihn Olga Nikolajewna, und ihre schelmischen Augen schienen zu sagen: wenn nein, so wirst du's eben werden, und wenn ja, so warst du's sicherlich nicht so, wie du es in mich sein wirst, dummer Junge! ...

»Ich? ... Ja ... nein ...« stammelte der junge Mann jetzt ganz verwirrt, aber in diesem Augenblick empfand Olga Nikolajewna zum zweitenmal und wieder ohne sich darüber Rechenschaft ablegen zu können, daß unter der Maske der Verlegenheit etwas Unangenehmes durchsickerte.

»Wie alt sind Sie eigentlich?«

»Ich? ... siebenundzwanzig ...«

»Wirklich?« staunte aufrichtig die junge Frau, sogar ihre Augenbrauen hoben sich auf der glatten, rundlichen Stirn. »Und ich dachte, daß Sie viel jünger sind ...«

»Ja, die meisten schätzen mich auf zwei-, höchstens dreiundzwanzig Jahre ... aber ich bin viel älter.«

»Und Sie waren noch nie verliebt? ... Das ist unmöglich!«

»Und dennoch ist es so!« erwiderte seltsam lächelnd der Student. Olga Nikolajewna bewegte eigensinnig die Schultern.

»Natürlich schwindeln Sie! Sind Sie komisch! ... Wollen wir wetten, daß Sie, ehe wir noch in Ihrem Charkow sein werden, bis über die Ohren in mich verliebt sein werden!«

Sie sah ihm gerade in die Augen und lachte verführerisch und herausfordernd.

»Nein, das wird nicht sein!« antwortete langsam der Student, und sein bisher zartes, fast knabenhaftes Gesicht veränderte sich sonderbar plötzlich. So, daß sie diesmal bewußt die scharfe Aenderung seiner Gesichtszüge wahrnahm und eine unerklärliche Unruhe verspürte: sein Gesicht wurde lang und älter, in den Mundwinkeln zeigten sich greisenhafte Fältchen, der Blick wurde hart und irgendwie unangenehm tief.

»Woher wissen Sie das?« fragte sie, trotzdem immer noch herausfordernd.

»Ich liebe die Frauen nicht ...« antwortete seltsam lächelnd, als ob er sich überwinden müßte, der Student.

»So etwas!« rief die etwas rot werdende Olga Nikolajewna. »Warum denn nicht?«

Er warf ihr einen kurzen Blick zu und senkte die Augen.

»So ...«

»Nein, wirklich ... Das interessiert mich ... ich bin ja ... auch ein Weib ...« lachte Olga Nikolajewna.

»Die Anwesenden sind ausgeschlossen,« antwortete er. Sein Mund verzog sich schief.

»Nun gut ... nehmen wir an, daß es Ausnahmen gibt ... und daß das, was Sie sagen, sich nicht auf mich bezieht ... Aber im allgemeinen?«

Der Student schwieg. Er schwankte offenbar.

»Nun?« forderte launisch Olga Nikolajewna, wie ein Kind, dem man die Erzählung eines schönen Märchens verweigert. »Ich höre.«

Er warf ihr wieder einen kurzen Blick zu, kniff die Augen zusammen und etwas wie Schadenfreude flammte in ihnen auf.

»Ich liebe die Frauen nicht, weil sie egoistisch, verlogen und ausschweifend sind ...«

Olga Nikolajewna lächelte ironisch.

»Und die Männer nicht?«

»Nein ...«

»Nicht egoistisch, nicht verlogen und nicht ausschweifend?«

»Nein, nicht das ... Bei den Männern ist es anders, nicht so widerwärtig ...« erwiderte nach Worten suchend der Student.

Olga Nikolajewna geriet in hitzige Aufregung und wurde sogar rot.

»Was heißt das: anders? ...«

»Sehen Sie, zunächst handelt es sich ja nicht um den Egoismus ... wir sind alle egoistisch – die Männer, wie die Frauen, und unter den Männern gibt es Egoisten plattester, widerwärtigster Art ... Aber der Mann ist nicht immer egoistisch, man kann ihn mit einer Idee so weit bringen, daß er alles vergißt ... Während das Weib immer egoistisch ist, und dabei ist sie es wie ein Tier: plump und eng ... Sie liebt nur ihren Körper, jede Zehe an ihrem Fuße ist ihr kostbar ... Für ihren Körper, um zu erreichen, daß er gefällt – ist sie zu allem bereit, zu jedem Verbrechen, zu jeder Lüge! ... Es gibt ja keine Frau, die dem geliebten Manne nicht untreu werden könnte ... ausgerechnet dem Manne, den sie liebt: der Mann, wenn er seine Frau betrügt, so liebt er sie eben nicht ... aber sie – gerade den, den sie liebt, weil sie will, daß ihr Körper allen gefällt! ... Der Mann braucht seinen Wunsch, eine Frau zu besitzen, nur stark und entschlossen zum Ausdruck zu bringen und das Weib gehört ihm! ...«

»Und die Männer hintergehen die Frauen nicht? Sie wollen sie wohl gar heiligsprechen?« warf Olga Nikolajewna sarkastisch ein.

»Gewiß nicht, aber das ist etwas anderes ... da ist es viel bewußter, bestimmter ...« fuhr der Student immer lebhafter und lebhafter zu sprechen fort, zuletzt – mit offener Heftigkeit, ja Haß in der Stimme: »der Mann wird seiner Frau untreu, wenn er das Weib irgendwie braucht, die Frau aber selbst dann, wenn es ihr nicht den geringsten Genuß, nicht die geringste Freude bereitet ... Untreue des Weibes ist immer dumm, zwecklos und gemein! ... Nicht der eigene Wille, sondern die Preisgabe an eine fremde Lüsternheit reizt sie! ... sie saugt sie in sich auf und wird schmutzig, ordinär ... Und alles nur, weil sie in ihren eigenen Körper verliebt ist und andere zwingen will, ihn zu lieben, nicht um der Liebe willen, sondern aus Eitelkeit! ... Der Mann, der seiner Frau untreu wird, kann nur schlecht eine Komödie spielen, er verrät sich sofort, oder er liebt seine Frau einfach nicht mehr ... Aber das Weib ist, wenn es von dem Geliebten heimkehrt, ganz besonders zärtlich und leidenschaftlich zu ihrem Mann, so, daß der arme Teufel denken könnte: Reineres als ihre Liebe gibt es überhaupt nicht auf dieser Welt! ...«

»Dummheiten!« sagte empört Olga Nikolajewna, aber etwas wurde in ihr unangenehm lebendig, als ob sie etwas Aehnliches erlebt hatte.

»Nein, das ist nicht so ... Und wenn die Frau einem Manne zusetzt, wird er später oder früher immer seine Schuld eingestehen ... Das Weib aber nimmt ihr Geheimnis in den Tod mit. Alles Flehen, alle Drohungen, alle Bitten nützen nichts! ... Und dann, wenn der Mann ein schönes, begabtes und kluges Weib hat, wird er sich, wenn er sie wirklich hintergeht, niemals verzeihen, er wird furchtbar darunter leiden ... Und sie – mag ihr Mann auch ein Genie sein –, hintergeht ihn mit dem ersten besten Trottel, mit einem Kavallerieleutnant, mit dem Kommis aus einem Konfektionsgeschäft, mit einem geschniegelten Ingenieur ...«

»Was Sie für Unsinn reden!« unterbrach ihn Olga Nikolajewna in einer sich steigernden Empörung.

»Das ist kein Unsinn,« sagte ernst und fast traurig der Student, und sein Gesicht überflog ein krankhafter Schatten. »Dem Weibe bedeutet Verstand, hervorragende Fähigkeit, ein edles Herz – nichts ... Sie braucht nur ein leistungsfähiges Männchen ... Sehen Sie doch selbst: der Mann haßt die ausschweifenden Frauenzimmer, und wenn er sie liebt, muß er wenigstens die Illusion ihrer Reinheit haben, das Weib aber wird am meisten von den Lebemännern trivialster Sorte angezogen ...«

Olga Nikolajewna wollte ihn wieder unterbrechen, aber der Student beachtete sie nicht und sprach mit einer sich immer steigernden Wut in der Stimme und in den Augen:

»Wenn der Mann eine Frau verläßt, wird er sich ihrer mit einer gewissen Dankbarkeit erinnern für das Glück, das sie ihm gegeben hat ... selbst in den Fällen, wenn sie ihm im großen und ganzen nur das Leben verdorben hat! Das Weib aber ist wie eine Katze ... kaum ist sie fort von ihm – existiert er nicht mehr für sie! ... Von dem Augenblick an, da sie ihn verläßt, ist er für sie nur ein Esel, ein Schuft, ein Tyrann, bestenfalls ein Dummkopf! Sie wird nur an die scheußlichsten Dinge denken und zu jedem neuen Liebhaber wird sie sagen, daß jener ein Irrtum war, daß sie diesen Kerl nie in ihrem Leben geliebt, daß sie erst jetzt zum ersten Male die Liebe kennen gelernt hätte! ... Aber auch diesen wird sie auf die gemeinste, niedrigste Art betrügen! ... Je gemeiner der Betrug ist – um so besser, denn es bereitet ihr einen Genuß, zu fallen ... sie liebt es, wenn man sie in den Schmutz hineintritt, sie quält, foltert ... Jedes Weib ist käuflich – es handelt sich nur um die Summe! ... Das Weib ist schamloser als der Mann: kein Mann wird die herausfordernden Teile an seinem Körper durch die Art der Kleidung betonen, um mit diesem Hilfsmittel das Weib zu verführen, das ganze Weib aber ist eine sexuelle Provokation! ... Alle Gesten, alle Bewegungen dienen nur dem einen Zweck: die Triebe des Mannes zu reizen! ... Der Mann kann sich über das Erdenniveau erheben, in Ideen aufgehen, eine Gedankenwelt schaffen ... Das Weib aber ist nur ein Erdentier, atmet nur im Schlafzimmer, in der Kinderstube und vor allem im Bett! ... Der Mann hat Freunde unter den Männern, das Weib aber haßt alle ihresgleichen, außer sich selbst: weil sie eben nur für den Trieb des Männchens interessiert ist und die Frauen sie langweilen! ... Diese schmutzige, lüsterne, käufliche und verlogene Kreatur ... Ich hasse die Weiber!« schrie plötzlich der Student, und die Helle, zarte Farbe seiner Haut verdunkelte sich, als ob es ihm an Luft fehlte.

Olga Nikolajewna betrachtete ihn mit einer gewissen Empörung, gepaart mit Neugierde. Er gefiel ihr. Ihr, dem Weibe, verursachten diese Beleidigungen ein prickelnd angenehmes Gefühl, zudem sah er jetzt viel interessanter aus, mit seiner zornbebenden Stimme, seinen haßerfüllten Augen, mit den funkelnden Blitzen in den Pupillen.

»Sie sind ein richtiger kleiner Otto Meininger,« lachte sie etwas unsicher. »Ich würde Sie ›der kleine Otto‹ nennen ... Und alles das ist falsch ... und ... trotzdem werden Sie sich in mich verlieben!« schloß sie unverhofft.

»Nein, das wird nicht sein!« wiederholte er jetzt etwas unnatürlich, als ob er sie reizen wollte.

»Wollen sehen!« lachte herausfordernd Olga Nikolajewna.

»Gut, wir wollen sehen ...« gab unbestimmt der Student zu und zwinkerte wieder unangenehm mit den Augen.

Seltsam, dieser Knabe ärgerte sie plötzlich; dabei fühlte sie eben etwas wie Angst in ihrer Brust wach werden. Sie hatte die größte Lust, das Gespräch abzubrechen und sogar in ein anderes Coupé zu gehen. Aber gerade diese unbegreifliche Angst löste in ihr den unabweisbaren, launischen Wunsch aus, sich durchzusetzen. In diesem Wunsch lag Eigensinn und Herausforderung, die Absicht, ihm zu beweisen, daß sie ihn nicht im geringsten fürchte, und irgendein dunkles, undefinierbares Gefühl. Nicht einmal ein Gefühl, sondern nur die Möglichkeit zu einem solchen, etwas, das sie in diesem Augenblick hätte zum Aeußersten treiben können, wenn es sich herausstellen sollte, daß man diesen Mann wirklich nur sehr schwer in sich verliebt machen könne. Um das zu erreichen, hätte sie alles tun können; sogar sich ihm hinzugeben, hätte sie sich nicht gescheut.

Ihr ganzes Wesen entspannte sich plötzlich in dem einen Gedanken, daß sie außer schwarzen Augen, glänzendem Haar und roten Lippen, noch vieles andere war: sie hatte ja einen nackten, jungen, bräunlich-rosa schimmernden Körper, entzückende kleine steife Brüste, schlanke Beine, weiche, rundliche Arme, alles berückend schön, biegsam und warmblütig, das einen ganz andern noch, als diesen dummen Jungen, um den Verstand hätte bringen können.

Inzwischen geschah mit dem Studenten etwas ganz Merkwürdiges: vor ihren Augen veränderten sich seine Gesichtszüge immer mehr und mehr. Die Mundwinkel zogen sich nach unten, die Backenknochen traten heraus, auf den Wangen zeigten sich rote, fieberhafte Flecke, die Augen blickten sie jetzt frech und offen an. Er war jetzt nicht mehr der ordentliche, naive Knabe, sondern ein ganz anderer – unbegreiflich, greisenhaft und drohend.

»Versuchen Sie's lieber nicht!« preßte er mühsam mit Selbstüberwindung hervor, nachdem er den angesammelten Speichel hörbar verschluckte ...

»Warum denn nicht! ... Wenn ich's nun einmal will,« erwiderte mit klingender Stimme ironisch die junge Frau.

»Weil ... es sehr gefährlich ist ... Viel gefährlicher als Sie denken! ... Sie kennen mich ja gar nicht!« Sehr leise, gleichzeitig fast flehend antwortet der Student und sein Gesicht durchzuckte eine innere, seltsame, qualvolle Konvulsion.

Mit derselben unbegreiflichen, dunklen Angst wieder fühlte Olga Nikolajewna, daß diese Zuckungen bei ihm dauernd seien, daß sein Gesicht in gewissen Momenten immer so zuckte.

Um alles in der Welt wollte sie jetzt aus diesem Coupé oder wenigstens den Schaffner rufen  ... Eine dunkle, weibliche Angst nahm sie ganz gefangen. Einen Augenblick noch, und sie wäre aufgestanden und fortgegangen. Aber, als ob er das erraten hätte, fragte er jetzt ironisch, mit schief verzogenem Munde:

»Aha, jetzt beginnen Sie mich etwas zu fürchten! ...«

Olga Nikolajewna hob stolz ihr Köpfchen in die Höhe und warf ihm einen kurzen, verächtlichen Theaterblick zu.

»Sie? – Ausgezeichnet!« brachte sie etwas nasal hervor. »Es tut mir leid. Sie sind gar nicht so schrecklich, wie Sie sich's denken, Sie sind einfach komisch, lächerlich und naiv, wie ein Knabe! ... Ich fürchte mich nie! ... Merken Sie sich das! ...«

»Das verstehe ich nicht,« sagte mit offener, unheildrohender Ironie der Student. »Wie kann eine Frau, die schwächer ist als der Mann, sich nicht fürchten, wenn ... sie mit ihm allein ist? ...«

»Und was sollte ich fürchten?« fragte sie wieder übertrieben verächtlich.

Der Student schwieg, als ob er etwas Entscheidendes sagen wollte, sich aber nicht dazu entschließen könne.

»Der Zug verursacht ein lautes Geräusch, niemand wird etwas hören ... alle schlafen ... die Tür ist verschließbar ...« sagte leise, nachdenklich, wie zu sich selbst, der Student.

»Und was weiter?« fragte herausfordernd Olga Nikolajewna.

»Man könnte Sie ... vergewaltigen ...« antwortete mit unterstrichener Grobheit der Student. »Das fürchten Sie nicht?«

»Das ist nicht so einfach!« lachte selbstbewußt die junge Frau.

»Na, und wenn?« versetzte der Student mit einer Hartnäckigkeit, als ob er sie so weit haben wollte, wie er es brauchte.

»Ha, ha, ha! ...« lachte Olga Nikolajewna, wie um ihn zu reizen. »Meinetwegen ... Das muß ja sehr amüsant sein! ...«

Sie wurde rot bei diesen Worten, weil sie selbst nicht an sie glaubte. Aber es machte ihr großes Vergnügen, die Männer zuweilen mit sorglosester Frechheit zu verblüffen.

Der Student sah ihr lange schweigend in die Augen. Unter seinem Blick wurde Olga Nikolajewna noch röter und fühlte plötzlich in ihrem ganzen Körper eine unruhige Spannung. Sie fühlte, wie ihr Gesicht und ihr ganzer Körper zu brennen begannen, wie im Kopf sich langsam eine heiße, dunstige Wolke ausbreitete und wie die unmöglichsten, seltsamsten Vorstellungen in ihr auftauchten. Entsetzen und geheimnisvolles Sehnen, das sich noch gar nicht in ihrem Bewußtsein formulieren konnte, stiegen in ihrer Brust auf.

»Amüsant?« fragte gedehnt der Student.

»Ich weiß nicht ...« lachte Olga Nikolajewna wieder ... »Wahrscheinlich!«

»Und wenn ich's täte?« versetzte er rasch und frech.

Olga Nikolajewna fühlte, daß sich das Gespräch jetzt außerhalb der Grenze des Möglichen bewegte und daß jetzt etwas sehr Ernstes, Widerwärtiges und Furchtbares beginnen würde. Sie wollte heftig aufstehen, unterdrückte aber dennoch die Bewegung und blieb auf dem Diwan liegen.

»Das werden Sie nicht,« antwortete sie trocken.

»Warum?« fragte langsam und behutsam, aber mit einem frechen Ausdruck in der Stimme, der Student.

»Das werden Sie nicht!« wiederholte stolz Olga Nikolajewna und setzte verächtlich hinzu: »Uebrigens es geht zu weit. Sie vergessen sich! Diese dumme Unterhaltung muß aufhören!«

Der Student lächelte breit und schadenfroh.

»Nein ... jetzt hören wir nicht auf!«

Olga Nikolajewna warf ihr reizendes Köpfchen wie eine Königin in die Höhe.

»Ich höre auf!«

»Nein.«

»Sie haben kein Recht! ...«

»Ich habe zu allem Recht ...« antwortete hart der Student.

»Nein, Sie haben es nicht ...« wiederholte die junge Frau und fühlte sich ganz hilflos.

»Warum?«

»Weil ich es nicht will!«

»Und ich will,« erwiderte er frech.

»Ich werde Sie nicht anhören!«

»Ich werde Sie dazu zwingen.«

»Ich verlasse das Coupé ...« sagte Olga Nikolajewna und erhob sich vom Diwan.

»Nein, Sie bleiben hier!« schrie der Student und sprang wie eine Katze zur Tür, verriegelte sie und stellte sich vor sie hin.

Olga Nikolajewna blickte ihn mit kühlem Erstaunen an, sie sah ihm aber nicht in die Augen, sondern auf eine beleidigende Art, irgendwie an ihm vorbei, auf das Kinn.

»Ihre Scherze sind taktlos und plump!« sagte sie stolz und mit brennenden Augen. »Lassen Sie mich durch! Sie vergessen sich!«

»Ich lasse Sie nicht durch,« antwortete er durch die Zähne.

»Lassen Sie mich!« schrie die junge Frau und stampfte mit dem Fuß.

Der Student schüttelte verneinend den Kopf.

Ein furchtbarer Zorn packte sie. Noch niemals in ihrem Leben wagte es jemand, sie in dieser Weise zu behandeln. Sie blickte in sein feingeschnittenes, wie versteinertes Gesicht und preßte die Zähne aufeinander. Eine unüberwindliche Lust überkam sie, mit aller Kraft einen Schlag in diese hübsche, freche Physiognomie zu versetzen.

Der Student erriet die leise Bewegung ihrer Hand.

»Nehmen Sie sich in acht!« sagte er drohend, ohne sich vom Fleck zu rühren.

Olga Nikolajewna stand vor ihm und zitterte am ganzen Körper. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Alles erschien ihr jetzt wie ein absurder Alpdruck, und plötzlich fiel ihr ihr Mann ein; unendlich teuer und ihrem Wesen nahe, empfand sie ihn jetzt, und sie wäre bereit, Bühne, Freiheit und Leben zu opfern, nur um ihn in ihrer Nähe zu haben.

»Was unterstehen Sie sich?« preßte sie mit vor Zorn und Angst bebender Stimme hervor. »Wer hat Ihnen das Recht dazu gegeben? ...«

»Sie selbst!« antwortete höhnisch der Student.

Olga Nikolajewna fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoß. In ihren Augen schwammen Nebel; das rosa Gesicht und die unverschämten Augen kreisten vor ihrem Blick, – alles wurde zu einem einzigen, ihrem Wesen verhaßten rosa Fleck. Fast besinnungslos hob sie rasch ausholend die kleine Faust.

Im selben Augenblick wurden ihre Arme wie mit eisernen Zangen gepackt, irgendeine furchtbare Kraft warf sie zurück und mit aufgelösten Haaren, kläglich, aber immer noch hübsch, auf den Diwan. Der Student drückte sie rücklings nieder, umklammerte ihre Hände, nahm ihr jede Möglichkeit, sich zu wehren, und brachte sein verändertes Gesicht nahe, ganz nahe an ihren brennenden, mit seinen erschreckten Augen seltsam schönen Kopf.

Eine Minute lang schwiegen sie und sahen sich gegenseitig wild in die Augen, und etwas Furchtbares spannte sich zwischen diesen männlichen und weiblichen Augen aus.

»Lassen Sie mich!« brachte das junge Weib heiser hervor und machte eine verzweifelte Bewegung, sich von ihm zu befreien.

Beinahe hätte sie sich ihm entwunden, aber er bezwang sie wieder und drückte sie noch gewaltsamer nieder.

Sie sah ihm einen Augenblick lang mit von Haß entstellten Gesichtszügen in die Augen.

»Idiot!« sagte sie plötzlich und lachte höhnisch, ihm gerade ins Gesicht.

In demselben Augenblick verdunkelten sich seine Augen, sein ganzes Gesicht durchzuckte eine furchtbare Wut, und kurz ausholend schlug er sie hart auf die Wange.

»Aha, Idiot? ... Da hast du's ... Canaille!« murmelte er mit erstickter Stimme.

Die junge Frau stieß einen kurzen, sonderbar krankhaft klingenden Schrei aus, warf ihren Kopf gegen die Lehne und verlor fast die Besinnung, aber plötzlich fühlte sie, wie er, einen ihrer Arme mit dem Knie niederdrückend, mit der jetzt freigewordenen Hand etwas an ihrem Kleide zwischen ihren Beinen vornahm.

Mit wildem Entsetzen, fassungslos und kläglich, ganz unähnlich der eleganten, lebenslustigen Frau, die mit ihrem kleinen Batisttaschentuch so kokett von der Plattform des Wagens gewinkt hatte, warf und wand sich Olga Nikolajewna auf dem Diwan, mit über das Gesicht gefallenen schwarzen Haarflechten und begann plötzlich zu schreien. Im selben Augenblick hielt ihr die Hand des Studenten den Mund zu, schmerzhaft und brutal das ganze Gesicht verzerrend. Sie sah ihm gerade in die Augen mit einem Blick voll furchtbarer Wut, voll Entsetzen und Schmerz, sie röchelte und versuchte, sich ganz mit Speichel bedeckend, in die Hand zu beißen, die sich auf ihren Mund preßte.

Es gelang ihr, das weiche Fleisch der Innenfläche zu erfassen, und sie biß wie ein kleines, gehetztes Tier mit aller Kraft zu.

Das Gesicht des Studenten wurde weiß vor Schmerz, aber er ließ nicht los und entfernte die Hand nicht, sondern fuhr fort, etwas mit ihren Kleidern an den Beinen zu machen. Und plötzlich überkam Olga Nikolajewna eine sonderbare, brennende heiße Empfindung, die durch Schmerz und durch Entsetzen, Scham und Haß hindurchdrang und sich mit ihnen zu einem furchtbaren Alpdruck, zu einem glühenden, wogenden Nebel verschmolz.

Sie dachte, daß sie irrsinnig würde. Plump und grausam fuhr er fort, ihr wollüstige Schmerzen zu bereiten. Und plötzlich entspannten sich die Muskeln an ihren Kiefern, ihre Zähne ließen die Hand des Studenten langsam los, ihre Augen verloren den Glanz und füllten sich mit einer seltsamen Feuchtigkeit, der Körper zitterte und fiel kraftlos in sich zusammen. Jetzt entfernte er seine Hand und preßte ungestüm seine feuchten, naßheißen Lippen an ihren nassen, geschwollenen Mund. Ihr Körper krampfte sich noch einmal zusammen und erstarb. Diesmal verlor sie das Bewußtsein.

Durch den feurigen Nebel und den sonderbaren, betäubenden Lärm fühlte sie, wie er etwas Unbegreifliches an ihr vornahm, wodurch der ganze Körper in wilde Zuckungen geriet und sich in einer qualvollen, unerträglichen Luft zu winden begann.

Ganz aus der Ferne hörte sie seine seltsame Stimme:

»Nun, ist es amüsant? ... Ja? ... Amüsant? ... Canaille! ...«

Und er schlug sie wieder hart und schmerzhaft auf die Wange. Schlug sie, riß an den schwarzen, verwirrten Haaren und schlug sie noch einmal.

Olga Nikolajewna zitterte furchtsam, wie ein Kind, schloß die Augen und begann zu weinen.

Aber den ganzen Körper durchzuckten immer noch unerträgliche (süße) Qualen; er hätte mit ihr alles anstellen können, ohne daß sie auch nur ein Glied zu rühren vermocht hätte. Und sonderbar: wie in einer wahnsinnigen Ekstase genoß sie diese Schläge, sie wollte sie immer wieder fühlen, wollte, daß er sie mißhandelte, die Kleider zerriß, sie wollte nackt auf den Boden geworfen und mit Füßen getreten werden.

Nur flüchtig tauchte der Gedanke auf, daß sie irrsinnig geworden, oder, daß das Ganze nur ein wüster Traum wäre.

Ich muß mich besinnen, wach werden! ... Entsetzlich! ... dachte sie im Fieberwahn.

Einige Minuten lang dauerte der sonderbare Zustand eines traumverlorenen Vergessens, in dem sie nichts außer dem scharfen, ihr ganzes Wesen erschütternden Lustgefühl verspürte. Plötzlich ließ er sie los.

Sie öffnete langsam die Augen. Am ganzen Körper wie zerschlagen und immer noch von seinen eisernen Armen auf den Diwan niedergedrückt, – konnte sie sich mit keinem Gliede rühren.

»Und ihn, deinen Mann, liebst du ihn?« fragte er mit grenzenlosem Haß durch die Zähne, ihr unverwandt in die Augen blickend.

Sie sah ihn wild und verständnislos an, ohne seine Frage begreifen zu können.

»Liebst du ihn? ... Na ... Liebst du ihn? ... sprich!« schrie er heiser und erhob drohend die Hand.

Olga Nikolajewna schloß furchtsam und kläglich die Augen.

»Na?«

»Ja ... ich liebe ihn ...« murmelte sie demütig mit geschwollenen Lippen.

»Sehr?«

»Ja ...« flüsterte sie kaum hörbar mit irrsinnigen, entstellten Zügen.

»Wirst du ihm das sagen? ... Das, von vorhin? ... Wirst du? ... Sprich, oder ...«

Er machte eine Bewegung und sie antwortete schnell:

»Nein ...‹

Der Student lachte heiser und seltsam.

»Das kann ich mir denken! ... Verfluchte Kreatur! ...«

Er sprach ein gemeines, unflätiges Wort aus.

Olga Nikolajewna durchfuhr es wie ein Ruck, und sie schloß wieder die Augen.

»Du! ... Mir in die Augen sehen ... na!« schrie er wild und riß sie an den Haaren.

Olga Nikolajewnas sich öffnende Augen waren voll Entsetzen und schwammen in Tränen.

»Alle seid ihr so! ... Alle liebt ihr nur einen und könnt euch nicht ruhig verhalten, wenn ein ... in eure Nähe kommt,« sagte ruhig und sogar mit einer gewissen Trauer in der Stimme der Student.

»Sprich, wievielmal hast du ihn betrogen? ... Nun!«

»Einmal ...« antwortete sie demütig, wie hypnotisiert.

»Mit diesem Ingenieur, der im Coupé war? ... Ja? ...«

»Nein, mit einem anderen ...« antwortete kaum hörbar Olga Nikolajewna.

»Aha, mit einem anderen! ... Nur einmal? ... Warum denn so wenig?« lachte höhnend der Student.

»Hast wohl keinen Mut gehabt? ...«

Olga Nikolajewna begann wieder zu weinen. Der Student sah sie lange an, und eine grausame, rachsüchtige Wollust verzerrte sein Gesicht!

»Warum weinst du denn? War es etwa nicht ›amüsant‹!« höhnte er.

»Und hast du ihm gesagt, daß du ihn betrogen hast? ... Hast du ihm das nicht gesagt? ... Weiß er, daß das Weib, das er mehr als das Leben liebt, ihn betrogen, sich einem anderen hingegeben hat? ... Weiß er das? Wirst du wohl sprechen!«

»Nein ...« flüsterte Olga Nikolajewna.

»Hat er einen Verdacht? ... Ist er eifersüchtig? ... Flehte er dich nicht an, die Wahrheit zu sagen? Versprach er nicht Verzeihung? ... Rede! ...«

»Ja ...«

»Und du hast ihn beruhigt? ...«

»Ja ...«

»Das kann ich mir vorstellen! ... Du warst ja, als du aus dem Bett des anderen nach Hause kamst, zärtlich und verliebt in ihn wie noch nie! ... Hast ihn geküßt und umarmt, warst ganz besonders leidenschaftlich und hingebend! ... Ja? ... Und dann setztest du ihn an ein und denselben Tisch mit dem Kerl? ... Alle wußten das, alle, außer ihm ... Alle seid ihr so! ...«

Er bebte am ganzen Körper und biß so stark die Zähne zusammen, daß rote Flecke auf seinen Wangen hervortraten.

»Und niemals wird er es wissen, niemals! ...«

Er sprach es mit einer grenzenlosen Qual aus.

»Und du dachtest dir, daß ich ein naiver Knabe bin, daß man sich mit mir angenehme und ungefährliche Kunststückchen erlauben kann? ... Immer denkt ihr so! ... Du liebst ja deinen Mann ... was wolltest du also von mir? Warum läßt du mich nicht in Ruhe? ... Uh ... gemeine Hure! Körper und Seele sind bei euch die Geilheit! Feige, niederträchtige Geilheit! Man kann euch schlagen und küssen zu gleicher Zeit! ... Ich hasse euch! ... Hübsche, verlogene Fleischmassen! ... Kein Erbarmen, keine Güte, nichts wie Lüsternheit und Lüge! ... Sprich, willst du mich haben? ... Jetzt, gleich ... willst du? ... Na ... sprich doch! ... Willst du? ...«

»Ja ...« sagte Olga Nikolajewna. Sie fühlte, daß es so sein müßte, wollte, daß es schnell geschähe ... Etwas versteckt Wollüstiges reckte und dehnte sich in ihrem zerschlagenen, durch schmerzende Lust erregten Körper. Der Gedanke an das, was jetzt kommen würde, erfüllte sie mit Entsetzen und zitternder Lust.

»Du willst also? ...«

»Sie werden mich nachher verachten ...« murmelte sie blödsinnig und kläglich.

»Ist es dir denn jetzt nicht einerlei? ...«

»Nun gut! ...«

Olga Nikolajewna streckte sich ergeben und kraftlos auf dem Polster. Sie fühlte schon seine Nähe, zitterte aus Scham, Angst und wunschvoller Sehnsucht, in höchster Wollust der Schmach und des Märtyrertums. Plötzlich packte sie eine eiserne, unabwehrbare Hand an der Kehle und würgte sie so, daß sie erstickend sich mit dem ganzen Körper in die Luft warf.

»Willst du? Willst du?« wiederholte immer wieder der Student und preßte in einer furchtbaren, traumverlorenen Verzückung ihren zarten, dünnen Hals.

Tödliche, tierische Angst packte sie. Mit wild hervorquellenden Augen warf sie Arme und Beine um sich. Eine Sekunde lang tauchten in ihrem Gehirn unsagbar schreckliche Gedanken auf. Das Gesicht ihres Mannes, weit in der Ferne ... die Bühne ... das junge, sorgenlose Leben ... alles was hätte sein können und nicht sein wird, zog blitzschnell an ihr vorüber. Furchtbare Beklemmung preßte ihr Herz zusammen. Entsetzen durchdrang ihren Körper, erschütterte das Gehirn und nahm ihr den Verstand. Sie krümmte sich, wand sich im Krampf unter seiner Hand. Die Augäpfel quollen aus dem Kopf, auf den Lippen zeigten sich rosafarbene Bläschen. Es war nichts mehr an ihr, das an die frühere, reizende Frau erinnert hätte. Sie war die nasse, widerwärtige Maus in den Krallen einer Katze.

»Du willst also?« hörte sie noch eine ganz fremde, ferne Stimme und seltsam wollüstige Gestalten in einem trüben, undurchdringlichen Nebel nahmen von ihr Besitz. Weiße, trübe Flüssigkeit drang in ihr Gehirn, alles wankte, kreiste, schwamm umher, füllte sich mit rotem, feurigem Blut, und den letzten Schimmer ihres erloschenen Bewußtseins überwältigte sie in dem Gedanken:

– Ich will nicht sterben ... Hilfe! ... –

Der Student deckte sie mit dem Plaid zu, hob die auf den Boden gefallenen hübschen Schildpattkämme auf, legte sie mit pedantischer Akkuratesse auf das Tischchen, holte seinen kleinen, gelben Koffer mit der vernickelten Schließe aus dem Netz und öffnete leise die Tür.

Im Gang war es leer und finster, wie immer spät nachts. Der Zug rollte wie ehedem, unermüdlich, schwer polternd, schaukelnd mit seinem ganzen, großen, klirrenden Leib. In den Laternen bewegten sich leise die Flammen und seltsame Schatten wanderten in dem leeren, schmalen Gang. Jemand schnarchte in der Dienstabteilung und schwere, stickige Luft drang durch die angelehnte Tür. In die Wagenfenster drang die schwarze, blinde Finsternis.

Der Student schritt ohne sich umzusehen, die gelbe Handtasche in der Hand, zur Gangtür, trat auf die Plattform – dieselbe, auf der drei Stunden früher die reizende, kleine, lachende Frau mit ihrem Taschentuch winkte – stand einen Augenblick lang über dem dunklen vorbeifliegenden Raum, sprang in das tiefe Dunkel und verschwand irgendwo unten, schon weit hinter dem eilenden Zug.

Und in dem gemütlichen, hellerleuchteten Coupé lag das kleine Weib unter dem warmen Plaid, mit nach einwärts gekrümmten Händen, die wie die Füße eines toten Vogels aussahen, und befleckte den samtenen Polsterhang mit dem aus dem Mundwinkel herabrieselnden, rötlichen Blut.


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