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Stärker als der Tod

 

I.

Ein baumlanger Bursche in Holzpantinen, den Dreimaster der Nationalgarde auf dem Kopfe, mit einem langen, schweren Gewehr in der Hand, öffnete Jean Lemercier die Tür. Er drückte sich ungeschickt an die Wand, ließ den kleinen Gelehrten an sich vorbei und blickte von oben herab auf dessen rothaarige Perücke, mit einem Ausdruck, als ob er es unbegreiflich fände, warum man diesem Freunde der Volksfeinde nicht einfach eins mit dem Kolben über den Schädel hauen sollte.

Die mageren, zitternden Beine in braunen, gestopften Strümpfen, trat Jean Lemercier über die Schwelle und erblickte vor sich schmutzige Wände, ein kleines, trübes, vergittertes Fenster, einen Haufen Stroh und zwei menschliche Gestalten, welche sich auf dem Boden, in dem von der noch offenen Türe hereindringenden Lichtstreifen, zu bewegen schienen.

Es war ein gewöhnliches Gefängnis: für Taschendiebe, Trunkenbolde und unvorsichtige Schuldner. Zu anderen Zeiten pfiffen hier Strolche, die den Mut noch nicht verloren hatten, ihre Gassenhauer vor sich hin; eingesperrte, betrunkene Fuhrknechte schliefen da ihre Räusche aus, oder es stocherte irgendein kleiner Krämer tiefsinnig mit dem Finger im Wandverputze, über die Unbeständigkeit des Geschickes im allgemeinen und des Handels im besonderen klagend. Jetzt, in den furchtbaren Tagen der Volksjustiz, hatte sich dieses elende, langweilige Gebäude, das oft von der Gefängnisverwaltung selbst vergessen wurde, in einen Kerker der Revolution verwandelt, aus dem es nur einen Ausweg gab: das Holzgerüst der Guillotine.

Jean Lemercier blieb in der Tür stehen; unwillkürlich fuhr er zusammen, als die schwere eisenbeschlagene Tür sich mit lautem Geräusch hinter ihm schloß, und der Schlüssel, laut hörbar, zweimal umgedreht wurde. Angst überfiel ihn, als ob die Tür für immer sich hinter ihm geschlossen hätte, und sein Herz krampfte sich zusammen, als er Jules Martin in dieser Umgebung erblickte.

Einer der beiden, die auf dem Stroh lagen, richtete sich auf und blickte lange den unerwarteten Besucher an. Im schwachen Schimmer des Lichtes, welches durch das kleine Fenster hoch oben an der Decke hereindrang, erkannte Jean Lemercier das bekannte Gesicht.

Mein Gott! Wie furchtbar, wie traurig es sich verändert hat! ... Von dem lebenslustigen, energischen Jules Martin, dem jungen Gelehrten, der zu den größten Hoffnungen berechtigte, seinem Lieblingsschüler, seinem Stolze, – schien in diesem mageren, erdfarbenen Gesicht, mit den brennenden, schwarz umränderten Augen eines zum Tode Verurteilten, nichts übriggeblieben zu sein.

Er war zerzaust und unrasiert, seine große Höckernase schien leblos in seinem Gesicht zu hängen, der Anzug war zerrissen und mit Kalk beschmutzt; irgend jemand hatte während seiner Gefangennahme mit dem Bajonette nach ihm gestochen und ihm dabei fast den ganzen Mund aufgerissen, seine Wange hatte eine große Wunde, die mit schwarzem, geronnenem Blute verklebt war.

Jean Lemercier stand kummervoll auf der Schwelle, unfähig, auch nur ein Wort zu sprechen. Martin schwieg ebenfalls und blickte seinen alten Lehrer so stumpf und starr an, als ob er ihn nicht erkennen würde, oder wie wenn ihn nichts mehr aus seinem früheren Leben interessieren würde, aus jenem Leben, das so farbenreich, arbeitsam und voll großer Möglichkeiten und weiten Strebens war und das nichts mit diesem Todeskampf, in dem er die letzten drei Tage verbracht hat, zu tun hatte.

»Jules,« brachte der Greis nun mit schwacher Stimme hervor, »mein lieber Jules! ...«

Er hob die Hände hoch und legte sie flach auf die kleine, rothaarige Perücke, seine Knie knickten ein, Tränen flossen ihm unter den runden, komischen Brillengläsern über die Wangen.

An diesen stummen Bewegungen erkannte der Gefangene, daß alle Bemühungen fruchtlos geblieben seien, daß sein Schicksal endgültig beschlossen sei.

Niemand kann jene entsetzlichen und kläglichen Konvulsionen der menschlichen Seele beschreiben, welche die Gefühle und das Denken erschüttern. In der nächsten Minute lag Jean Lemercier, der alte, trockene Gelehrte, im schmutzigen Stroh und betastete mit zitternden Händen zärtlich den Kopf, auf den er und die Wissenschaft so große Hoffnungen gesetzt hatten, und der nun morgen auf den Brettern der blutigen Maschine rollen würde.

Der andere Gefangene erhob sich auf dem Stroh und blickte die beiden mit einer häßlichen Grimasse an.

Es war ein gewöhnlicher Verbrecher, der die großen Tage des Kampfes um die Freiheit benutzt hat, um in einer dunklen Vorstadtgasse einen harmlosen Passanten zu ermorden und zu berauben.

Er hatte kein Glück gehabt: von einer Patrouille der Nationalgarde am Tatort ergriffen, sollte er nun dem zügellosen Pöbel zum Exempel, gemeinsam mit den ideellen Feinden des Volkes und mit den zufälligen Opfern der allgemeinen Verwirrung, auf dem Schafott hingerichtet werden.

Auf dem durch Trunk entstellten und frechen Gesicht des Burschen hatte die Ausschweifung unauslöschlich widerwärtige Spuren hinterlassen. Er wußte, daß er dem Tode nicht entgehen würde, und erwartete ihn mit stumpfsinniger Gleichgültigkeit. Ihm war es einerlei; das Leben hatte ihm nichts anderes als Not, Schmutz und Elend gebracht und verdiente, nicht beweint zu werden.

Hinter der Türe hörte man die schweren Schritte des Postens, der sich die Zeit damit verkürzte, daß er im Takte des kriegerischen Liedchens, das zur Hymne des freigewordenen Volkes geworden war, mit dem Gewehrkolben auf den Boden stieß.

Jean Lemercier saß neben Jules Martin im Stroh, sah auf dessen totenbleiches Gesicht und wischte sich verstohlen die Tränen, die von der Spitze seiner Nase herabtröpfelten.

Gestern saß hier noch ein dritter: ein kleiner, dicker, sehr respektabel gekleideter Bourgeois, der ganz erschlafft war von der entsetzlichen Angst.

Ueberzeugt vom Siege über die Aufrührer, verteidigte er seinerzeit den König und erwartete nicht geringe Vorteile von seiner Treue und Ergebenheit. Als jedoch diese nämlichen Aufrührer Herren von Paris und damit auch über das Leben seiner Einwohner geworden waren, verlor er so sehr die Geistesgegenwart, daß er versäumte, zur rechten Zeit seine Ueberzeugungen zu ändern.

Sein Bruder, der etwas schlauer gewesen war und sich seines Daseins nun unangefochten erfreuen konnte, besuchte ihn am Tage vor seiner Hinrichtung. Sie umarmten sich und weinten während der ganzen Zeit seines Besuches. Der Strolch blickte mit tiefer Verachtung auf sie herab. Er fand es widerwärtig und lächerlich, daß die Menschen so an ihrem Leben hingen, ihren Mut sinken ließen und es nicht fertigbringen konnten, mit etwas Humor zu sterben. Er lachte und freute sich, als man den nassen, jammervoll aussehenden, dicken Mann, dessen Kleider einen üblen Geruch ausströmten, zur Türe schleppte, und als derselbe sich mit weitaufgerissenen, blöden Augen an die Rockschöße der Henker klammerte, als ob sie das Leben selbst wären.

Jetzt erwartete der Gamin, daß auch diese beiden in endlosen Umarmungen Tränen vergießen und klägliche Laute und sinnlose Worte stammeln würden. So etwas einmal ansehen zu müssen, ging noch an, aber das zweitemal ... Mit einer verächtlichen Grimasse drehte er ihnen den Rücken und begann laut zu pfeifen; eben das Liedchen, in dessen Namen ihm ein kurzer Spaziergang mit dem Henker bevorstand.

Er verstummte jedoch schon nach wenigen Augenblicken und lauschte verständnislos auf das Gespräch.

Jean Lemercier mit seinen verweinten, kleinen Augen und Jules Martin blaß, unbeweglich, wie versteinert von der furchtbaren geistigen Anspannung, sprachen weder vom Leben, noch vom Tode, sondern von irgendwelchen Retorten, Temperaturen, Formeln und Elementen.

Es schien sogar, als ob sie sich über etwas stritten, und das war so merkwürdig, daß der Strolch vor Erstaunen den Mund aufriß.

Ja, sie stritten wirklich!

Auf einem Haufen schmutzigen Strohes, im schwachen Schimmer eines Lichtes, das von hoch oben unter der Decke herabfiel, sprachen diese beiden Menschen im letzten Augenblicke ihres irdischen Zusammenseins von dem, womit sie ihr ganzes Leben verbracht hatten, – von der Wissenschaft.

Soviel der Gamin verstehen konnte, beeilte sich Jules Martin, seinem Lehrer die Ergebnisse einiger Experimente mitzuteilen, mit denen er gerade beschäftigt war, als man ihn im Laboratorium verhaftet hatte. Jean Lemercier weinte nicht mehr; gierig sah er auf den Mund des Sprechers und bemühte sich offensichtlich, jedes Wort in sein Gedächtnis einzuprägen und keine Zahl zu vergessen. Das Gesicht Jules Martins war ebenso totenbleich wie vorher, und seine Nase immer noch so wie bei einer Wachspuppe, aber seine Augen blickten scharf und lebendig. In ihnen sah man nicht mehr die Gleichgültigkeit eines Sterbenden, wie während der letzten drei Tage. Diese Gleichgültigkeit hatte ihn während der rührenden Abschiedsszene zwischen den beiden Bourgeois nicht verlassen, auch dann nicht, als der zufällige Kamerad seines Unglücks sich krampfhaft an die Türe klammerte, beißend, winselnd und wie ein Kind die Beine vom Boden hebend, um nicht weitergehen zu müssen, und endlich auf den Armen der Henkersknechte hinausgetragen werden mußte. Sein Gesicht veränderte sich auch dann nicht, als das letzte Geheul verstummte, als man irgendwo hinter der Mauer das Geräusch des fallenden schweren Messers hörte, das in den Führungen der Guillotine herabsauste und die Menge wild aufjauchzen ließ. Martin war jetzt bis zur Unkenntlichkeit verwandelt; in seinen Augen brannte ein unerschütterlicher Wille und die Stimme klang in einer ungewöhnlichen Anspannung aller Geisteskräfte.

Der Gamin wurde ärgerlich; der Mensch hat nur noch ein paar Stunden zu leben und regt sich auf über eine Wissenschaft! Natürlich, er, der Gamin, weiß auch, wie er sterben wird, – sicher nicht schlechter als Jaques, – »die rote Jacke«; er wird dabei ein paar Witze machen und die Umstehenden zum Lachen bringen; seine Kameraden und seine Freundinnen werden gewiß alle da sein ... Seine Witze werden sich in allen Schenken herumreden ... Natürlich, das Leben ist es nicht wert, beweint zu werden, aber was für einen Sinn hat es, sich über irgendeine Wissenschaft noch aufzuregen, mit der die Rechnung jedenfalls für immer abgeschlossen ist? ... Zum Teufel! ... Er streckte sich wieder auf dem Stroh aus und drehte sich entschlossen zur Wand. Er hätte gern laut geflucht, tat es aber aus irgendeinem Grunde nicht und versuchte nicht mehr auf das Gespräch zu hören.

Wahrscheinlich schlief er ein, oder versank in Nachdenken, die laute Stimme Jules Martins jedoch lenkte wieder seine Aufmerksamkeit auf sich.

»Ich kann meine Ansicht nicht ändern, verehrter Herr Professor,« sagte er erregt, »ich habe die letzte Nacht lange darüber nachgedacht ... Ich erinnere mich noch, wie ich einmal zufällig eine Eidechse mit dem Spaten zerschnitten hatte ... Die eine Hälfte, mit dem Kopf und zwei Beinen, lief so schnell fort, daß ich sie nicht finden konnte, und die andere krümmte sich fast eine Stunde lang vor mir auf der Erde ... Sie verstehen, wie lächerlich all die Hypothesen des Abbé Frénoir sein werden, wenn wir ihm beweisen können, daß der Mensch denselben Gesetzen unterworfen ist, wie jedes einfache Tier! ... Ich denke, daß es möglich sein wird! ... Das Zentrum des Bewußtseins liegt ohne Zweifel im Gehirn, und solange es vom Blute gespeist wird, dauert der Denkprozeß fort ... Wir werden den Versuch machen, mein teurer Lehrer! ... Ich werde leichter sterben, wenn ich wissen werde, nicht umsonst gestorben zu sein! ... Sie werden mir helfen! ... Also ... wenn man mich hinführen wird, versuchen Sie es so einzurichten, daß Sie hinter der Guillotine zu stehen kommen, dort, wo der Kopf hinfällt ... Sprechen Sie mit dem Scharfrichter selbst; er beschäftigt sich mit Anatomie und liebt diese Wissenschaft ... Ihr zuliebe wird er bemüht sein, Ihnen zu helfen, alles exakt auszuführen; man wird Sie im letzten Augenblicke nicht stören. Und dann, sobald der Kopf vom Rumpfe abgetrennt ist, packen Sie ihn ... oder wissen Sie, es wäre besser, wenn Sie von Anfang an den Kopf an den Haaren festhalten würden, damit er nicht etwa eine Erschütterung beim Fallen erleidet ... Das ist äußerst wichtig!«

»Ja, ja ... ich verstehe ...« murmelte der Greis.

Den Strolch überlief ein kalter Schauer bei diesen Worten. Er setzte sich aufrecht und blickte die beiden Gelehrten wild an. Jules wandte sich nach ihm um. Sein Blick glitt flüchtig über das verzerrte Gesicht und im nächsten Augenblick sprach er wieder, an seinen Lehrer gewandt, weiter:

»Ja, das ist sehr, sehr wichtig ... Der Stoß kann den ganzen Versuch verderben. Ja, und dann, sobald der Kopf in Ihren Händen ist, rufen Sie meinen Namen, so laut Sie können, es ist ja möglich, daß es mir schwer wird, zu hören ... Sobald ich gehört habe ...«

Die Stimme Jules' senkte sich plötzlich. Der Gamin sah, wie sein Unterkiefer zitterte und tanzte.

»Ich, ich habe vergessen ... mein lieber Professor, daß ich nichts mehr haben werde ... um ein Zeichen zu geben ... meine Hände ...« Ein unbeschreibliches Entsetzen verzerrte sein Gesicht.

»Aaa ... es ist doch furchtbar schwer!« flüsterte Jules und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Mein lieber, lieber Sohn, Jules!« weinte der Greis und seine zitternden Hände streichelten die zerzausten Haare des Verurteilten.

Es war so furchtbar absurd, darüber zu sprechen, wie seine Hände diesen ihm so teuren Kopf halten werden, nachdem ihn das Messer der Guillotine vom Rumpfe abgetrennt haben wird.

Und der Gamin sah, wie die greisenhaften, verkrümmten Finger an den Haaren Jules Martins herabglitten. Er fühlte, wie tief in seiner Seele etwas aufstieg, etwas Widerwärtiges und Entsetzliches. Seine Arme und Beine ergriff plötzlich eine ekelhafte Schwäche, vor seinen Augen wurde es dunkel, und eine unerträgliche Uebelkeit stieg ihm langsam in die Kehle. Es war das Entsetzen vor dem Tode, das plötzlich beim Anblick dieser verkrümmten Finger, die morgen den toten Kopf halten sollten, in ihm wach wurde.

Den toten Kopf! ... Und sein Kopf wird auch tot sein! ...

In panischem Schrecken, in tödlicher Angst, weiß wie Kreide, mit hervortretenden, verglasten Augen, sprang er auf, und im Gefühl, daß er sonst wahnsinnig würde, begann er zu schreien und zu lachen; aus seinem Munde flogen sich überstürzende unflätige Worte.

»Zum Teufel!« schrie er, stampfte mit den Füßen und erhob die Fäuste, »ihr da ... haltet das Maul! Ich habe keine Zeit, euren Blödsinn da anzuhören! ... Ich will schlafen! ... Es ist genug, der Teufel soll euch holen, oder ich werde euch selbst zum Schweigen bringen! ...«

Er stand dicht vor ihnen, zitternd am ganzen Körper, zerzaust, furchtbar und dennoch hilflos, mit tödlichem Entsetzen in den Augen, den Mund weit aufgerissen, bereit, einen schrecklichen Schrei auszustoßen.

Jules Martin erhob den Kopf und blickte ihn verständnislos an. Jean Lemercier aber sagte mild und eindringlich:

»Mein Freund, Sie stören uns! ... Sie verstehen nicht, wie wichtig das ist!«

»Wichtig!« brüllte der Strolch in äußerster Wut, »was schwatzen Sie mir da vor! ... Was geht mich das an? ... Ich will eure Scheußlichkeiten nicht anhören! ... Pack dich von hier, alter Knaster! ... Hirnloser, zerrissener Stiefel! ... Ich sage dir, pack dich, oder ich ...«

»Aber die Wissenschaft ...« murmelte verblüfft Jean Lemercier.

»Zum Teufel mit deiner blödsinnigen Wissenschaft! ... Hinaus! ...«

Hilflos und beschwörend erhob Jean Lemercier seine Hände, als ob er im höchsten Entsetzen sagen wollte:

– Er verflucht die Wissenschaft! ... Die Wissenschaft! ...

Jules Martin wandte dem Strolch sein blasses Gesicht zu.

»Höre, laß uns in Ruhe! Wir tun dir doch nichts! ...«

»Ihr tut mir nichts ... nichts. Ihr ... Ihr ...«

Seine Augen traten förmlich aus dem Kopf, er riß an seinen Haaren und fiel mit dem Gesicht nach unten auf das schmutzige Stroh nieder, irgendetwas vor sich hinmurmelnd; furchtbares Weinen erschütterte seinen Körper.

Ein starker Stoß in die Türe erschreckte sie; der Mann draußen fand, daß diese Todeskandidaten zu viel von dem Rechte der Lebenden Gebrauch machten: zu schreien und zu toben.

Es wurde still. –

Der Strolch schluchzte leise. Von Zeit zu Zeit klagte und fluchte er dem, der ihm dieses unglückliche und elende Leben gegeben hatte; ein Leben, das so sinnlos und fruchtlos verlaufen war und nun zu diesem furchtbaren Ende geführt hatte. Jean Lemercier und Jules Martin neigten die Köpfe zueinander und sprachen flüsternd:

»Mir kam ein Gedanke, Jules ...« sagte der Greis, »du könntest mit den Augen ... Verstehst du, mein Junge? ...«

Die Augen Jules Martins, noch lebendig und gedankenvoll, blitzten freudig auf.

»Mit den Augen? ... Sie denken? ... Ja, ja! Richtig! ... Mit den Augen! ... Nun, also dann, ich ... ich werde dreimal die Augen öffnen und wieder schließen! ...«

»Dreimal? ...«

»Nun ja ... So ...«

Und in dem blassen, fast toten Gesichte Jules Martins hoben und senkten sich dreimal die Lider über den lebendigen, glänzenden Augen.

 

II.

Der Herr Hauptrichter der Stadt Paris köpfte und hängte die Mörder, Räuber, Staatsverräter, gefallene Günstlinge und Volkshelden, – wie Hunde, alle gleich, einen wie den anderen; er stand vor Jean Lemercier und blickte ihm kalt und leidenschaftslos ins Gesicht.

Groß, hager und aufrecht, mit einem kleinen, faltenreichen Gesicht, wie mit Pergamentstaub bestreut, mit winzigen, schwarzen Aeuglein, im Nachthemd und Schlafmütze, erinnerte er an eine riesige ausgetrocknete Motte.

Es war schon spät. Das Zimmer war nur von einer kleinen Oellampe erleuchtet, und der ungeheure Schatten des Henkers mit der schwarzen Nachtmütze breitete sich an der Wand und über die Decke aus, alles in tiefes Dunkel hüllend. In den Ecken war es finster, menschliche Skelette und ausgestopfte Tiere schimmerten kaum erkennbar.

»Womit kann ich dienen?« fragte höflich der Henker.

Jean Lemercier fuhr zusammen.

Womit kann ein Henker dienen? – Aus seinem Munde klang diese alltägliche Frage wie ein Hohn. Jean Lemercier überlegte bei sich, daß dieser Mensch, mit diesen seinen hageren, sehnigen, schon alten Händen seinen Jules kaltblütig töten wird, ob nun ihr furchtbarer Versuch gelingt oder nicht. Bis jetzt war es ihm immer möglich gewesen, diese Vorstellung zu verdrängen. Natürlich, er wußte es sehr gut, daß Jules verurteilt worden war, aber dieser Tod erschien ihm als eine so offensichtliche Absurdität, daß er nicht an ihn glauben konnte. Und erst jetzt, in Gegenwart dieses langen, ausgetrockneten Menschen mit seiner Nachtmütze, der an einen guten, alten Gemüsegärtner erinnerte, welcher das warme Bett verlassen hat, um seine Gemüse vor dem Morgenfrost zu schützen, erst jetzt begriff Jean Lemercier das Furchtbare des Geschehenen in seiner ganzen, unkomplizierten und entsetzlichen Klarheit.

Morgen wird Jules sterben! ... Man wird ihn gebunden und wehrlos, wie ein Tier auf dem Schlachthofe, auf ein Brett legen und ihm den Kopf abhacken! ... Und wie unsinnig, wie entsetzlich widerwärtig das auch wäre, wie sehr es auch den menschlichen Gefühlen, der Vernunft und dem Gewissen widerspräche, – es wird geschehen! ... Das ist ebenso entsetzlich und einfach, wie die Tatsache der Existenz dieses alten Mannes in Unterkleidern und Nachtmütze, der nur dazu lebt, um seine Mitmenschen in den Tod zu befördern! ...

»Womit kann ich dienen?« wiederholte der Henker.

Jean Lemercier schwieg und zitterte am ganzen Körper, von den geflickten Schuhen an bis zu der kleinen, rothaarigen Perücke.

Der Henker machte eine etwas ungeduldige Gebärde.

Das blasse Gesicht Jules Martins erschien vor dem alten Gelehrten und erinnerte ihn daran, daß er nicht das Recht hätte, schwächlich zu sein, da der, der nur diese einzige Nacht noch leben durfte, selbst ihm diesen wichtigen, großen Auftrag anvertraut hatte, – den letzten seines Lebens.

Und dennoch flößte ihm der Henker Entsetzen ein. Es schien ihm, als ob die gelben, verdorrten Hände dieses Menschen einen Blutgeruch ausströmten, daß er gelb und verdorrt sei von den letzten Schreien seiner Opfer.

»Ich komme zu Ihnen, Herr Scharfrichter ...« stammelte Jean Lemercier stotternd und ohne seine eignen Worte zu verstehen, »um ... wegen eines Versuches und ... es ist im Grunde genommen ... es ist außerordentlich wichtig für die Wissenschaft, daß Sie ... vermute ich ...«

»Ich verstehe nichts, Herr!« Der Scharfrichter zuckte die Achseln, und der große Schatten auf der Decke des Zimmers geriet in eine Bewegung, welche in die Zipfelmütze auslief.

Jean Lemercier besann sich.

»Morgen werden Sie wahrscheinlich meinen jungen Freund ... Jules Martin ... hinrichten müssen,« sagte er.

»Jules Martin?« Er runzelte die Stirne, wie wenn er sich auf etwas besinnen wollte.

»Ja, ja ... Jules Martin ...«

»Einen Augenblick, mit wem habe ich die Ehre zu sprechen,« unterbrach ihn der Scharfrichter.

»Ich heiße Jean Lemercier, ich ...«

»Jean Lemercier! ...« rief der Scharfrichter erstaunt aus und zog die grauen Augenbrauen in die Höhe, »Jean Lemercier, der die neue Theorie des Blutkreislaufs aufgestellt hat?«

»Ja, ich bin Jean Lemercier,« wiederholte der Greis mechanisch.

Das Gesicht des Henkers, bis jetzt verschlossen und leidenschaftslos, erstrahlte in einem achtungsvollen Lächeln.

»Ich habe das Glück, Herrn Jean Lemercier zu sehen! ... den berühmten Gelehrten Lemercier!« er wiederholte den Namen einige Male, als ob er sich selbst nicht traute. »Verehrter Herr Professor ... ich bin so glücklich, daß es mir vergönnt ist ... Einen Augenblick!«

Der Henker warf einige Sachen vom Stuhl auf den Boden und lud Jean Lemercier ein, sich zu setzen.

»Womit kann ich dem Herrn Professor dienen?«

Jean Lemercier setzte sich mechanisch. Der lange, hagere Henker, ein Mensch, der andere tötete, stand vor ihm, die Nachtmütze in der Hand, lächelte einschmeichelnd und blickte ihm aufrichtig beglückt in die Augen; der kleine Greis aber in den gestopften Strümpfen, und mit der rot gewordenen Perücke, saß auf dem Stuhl und sah den fortwährend sich verneigenden Henker an, wie ein Professor den aufmerksamen und ehrerbietigen Schüler ansieht.

»Ja, Sie können einen ungeheuren Dienst erweisen ... nicht mir, aber der Wissenschaft!« sagte er und erhob bedeutungsvoll den Finger. »Jules Martin, der Verurteilte ...«

»Verzeihen Sie,« unterbrach ihn der Scharfrichter mit einem unwillkürlichen Zittern in der Stimme, »Jules Martin, ist es nicht derselbe, der ...«

»Derselbe!« sagte Jean Lemercier leise.

Die Augen des Henkers drückten Entsetzen aus, er neigte den Kopf.

Es trat eine gedrückte Stille ein.

»Aber wie denn?« murmelte schüchtern der Scharfrichter.

»Ein Irrtum! Ein entsetzlicher Irrtum! ... Eine Denunziation ... Man fand bei ihm die Briefe des Abbé Frénoir ... Sie begreifen, daß Jules Martin weit entfernt war von jeder Politik ... Diese Briefe waren die Briefe eines Gelehrten an den andern, unabhängig von ihren politischen Ueberzeugungen. Aber eine Korrespondenz mit einem Emigranten ... einem Feinde des Volkes! ... Ich habe es ihnen bewiesen, ich bat, ich beschwor sie ... sie hörten mich nicht an! ... Und jetzt! ...«

Die Stimme des Alten riß jäh ab, er griff sich mit den Händen an den Kopf und wiegte den Oberkörper hin und her, als ob er unerträgliche Schmerzen hätte. Der Scharfrichter blickte ihn ratlos an.

Plötzlich riß Jean Lemercier seine rote Perücke mit einer verzweifelten Geste vom Kopfe und warf sie auf die Erde. Sein Schädel, ohne ein einziges Haar, an ein rosa Ei erinnernd, wurde so unerwartet sichtbar, daß der Henker einen Schritt zurückwich.

Jean Lemercier bedeckte die Glatze mit den Händen und jammerte laut und verzweifelt.

»Ja, derselbe! ... Jules Martin! ... Ein klarer, großer Kopf ... und was für ein Herz, wenn Sie wüßten! ... Wie er der Wissenschaft ergeben war, welche Möglichkeiten in ihm verborgen lagen! ... Und diese Dummköpfe glauben, daß sie für die Freiheit der Menschen kämpfen, und wollen ihn töten! ... In seinem Kopfe ist mehr Freiheit als in all ihren Konventen und Kommunen! ... Ich habe ihnen vorgeschlagen, Jules Martin lebenslänglich einkerkern zu lassen und ihm Gelegenheit zu geben, weiter für die Wissenschaft zu arbeiten ... sie haben es abgelehnt! ... Elende, blinde Narren. Sie brauchen den Kopf Jules Martins, um mit ihrer Freiheit triumphieren zu können! ... Für alle Wohltaten der Freiheit wird ihnen die Menschheit diesen Tod nicht verzeihen! ... Wie ein blutiger Fleck wird er durch alle ihre Fahnen sickern, alle ihre Ideale werden von diesem Blute durchtränkt sein! ... Barbaren, Blinde, Kretins! ... Sie haben Archimedes ermordet, sie haben Sokrates vergiftet! ... Dieser Pöbel! ...«

Aus dem Munde des Henkers hallten die Worte wie ein Echo wider.

Endlich beruhigte sich Jean Lemercier und fing an zu weinen.

Der Henker stand hochaufgerichtet vor ihm und ähnelte jetzt noch mehr einer ungeheuren, vertrockneten Motte. Plötzlich verzog sich sein Gesicht, und ein Gedanke leuchtete in seinen Augen.

»Verehrter Herr Professor ... und wenn ich ... wenn ich mich weigerte?« brachte er unsicher hervor.

Freude erleuchtete auf einen Augenblick das Gesicht Jean Lemerciers, im nächsten Augenblicke aber drückte es eine noch größere Verzweiflung aus wie vorher.

»O nein, nein! ... Dann ist alles verloren! Bei allem, was Ihnen heilig ist, weigern Sie sich nicht!«

Der Henker trat erstaunt zurück.

Jean Lemercier ergriff seine Hand.

»Denken Sie doch daran, wenn Sie sich weigern, wird man einen anderen finden ... oder er wird einfach erschossen werden! O nein! Gerade Sie müssen es tun! ... Gerade Sie!«

»Aber ich verstehe dann nicht ...« murmelte der Scharfrichter.

Jean Lemercier stand auf, und dem Henker kam es vor, daß der kleine Gelehrte, der ihm kaum bis zur Schulter reichte, nun plötzlich um einen ganzen Kopf gewachsen war.

»Hören Sie mich an, Herr Scharfrichter,« sagte er feierlich, »Sie allein können den letzten Wunsch des unglücklichen Jules Martin erfüllen, einen Wunsch, der die Wissenschaft um einen Versuch von ungeheurer Wichtigkeit bereichern wird, der seinen Namen unsterblich machen und der vielleicht alle unsere Begriffe über das Wesen des Lebens umstoßen wird! ... In Ihrer Macht liegt es, den Tod meines armen Jules nicht so furchtbar sinnlos werden zu lassen ... Sie werden ihm einen süßen Trost bringen: im letzten Augenblicke zu wissen, daß er, der sein ganzes Leben lang so leidenschaftlich und uneigennützig der Wissenschaft ergeben war, auch noch mit seinem Tode ihrem siegreichen Vorgehen in die Zukunft und zur Wahrheit dienen wird! ...«

Die Augen Jean Lemerciers leuchteten fanatisch durch die runden Brillengläser.

»Welcher Triumph! Und jene wollen nichts davon wissen, daß sie einen großen Gelehrten töten, auf den die Wissenschaft ihre besten Hoffnungen gesetzt hat! Und es geht sie die ganze Wissenschaft überhaupt nichts mehr an, wenn die Interessen ihrer armseligen, bürgerlichen Existenz nur im geringsten berührt werden! Sie töten einen großen Gelehrten, nur damit die Schuster, Weber, Apotheker und Krämer eine kräftigere Brühe zum Mittagessen haben! Sie können die Gelehrten töten, aber die Wissenschaft ist unsterblich! Sie wird leuchten in den dunklen Tiefen der Ewigkeit, wenn von ihrem armseligen Frankreich nicht einmal ein elendes Häufchen Staub übrig sein wird, an welchem die Historiker ihre Ameisenrevolutionen und Umwälzungen nachforschen können! Und selbst dort, wo, wie es scheinen könnte, der Tod triumphiert, wo der Kopf des Begabtesten unter den Gelehrten fällt – macht die Wissenschaft nur einen Schritt weiter! ... Und sterbend auf dem Schafotte wird Jules Martin mehr für die Menschheit leisten, als alle seine Henker zusammengenommen!«

Der Scharfrichter senkte die Augen.

Jean Lemercier besann sich.

»Ja, ja ...« murmelte er, »ich habe mich unglücklich ausgedrückt ... Sie, natürlich ...«

Der Scharfrichter lächelte bitter.

»Nehmen Sie Ihre Worte nicht zurück, Herr Professor! Ja, ich bin ein armseliger Henker, ich töte! Dieses Handwerk vermachte mir mein Vater, der es von seinem Vater übernommen hatte! Meine Hände triefen von Blut, aber nicht ich töte, Herr Professor! ... Nein, nicht ich! Dummheit und Brutalität töten, gegen die ich nicht kämpfen kann! Sie gaben mir das Beil in die Hände, doch wenn unter meinem Beil einer ihrer Köpfe fällt, so sage ich in meinem Herzen: Mach' es gut, Henker! Bedauere nicht diese stumpfsinnigen, bösartigen und neidischen Bestien! Sie selbst wollen es so! ... Denjenigen achten sie am höchsten, der sie schlägt! Es ist nur gerecht, wenn sie an ihrem eigenen Halse die ganze Last ihres Stumpfsinnes und ihrer Brutalität spüren! ... Nicht ich bin der Henker, sie selbst sind ihre eigenen Richter und Henker! ... Ich muß es gut machen ... Jeder Kopf, der auf den blutigen Brettern rollt, schreit zum Himmel, und es wird eine Zeit kommen, wo sie Entsetzen packen wird vor ihren eigenen Taten. Das Entsetzen wird sie packen, und meine müden Arme werden dann das Henkerbeil fallen lassen. Doch ich werde sie zum Himmel erheben und bitter klagen: Herr Gott, sieh, was sie aus mir gemacht haben! ... Meine Hände sind blutig, und die Menschen verfluchen mich; ich bin das Entsetzen, bin die Pest des menschlichen Geschlechtes! ... Aber wer ist es, der aus mir einen Henker gemacht hat? ... Habe ich etwa für mich geköpft und gehängt? Und Gott wird mir verzeihen! ... er wird die furchtbare Sünde von mir nehmen und sie jenen auferlegen, die bösartig sind und feige, die nicht einmal selbst mit eigenen Händen töten können, die das Beil in die Hände des Henkers legten! ... Gott wird richten! ... Aber sprechen Sie, Herr Professor, was soll ich tun? ... Ich bin ein bescheidener Henker, der die Sünden der ganzen Welt tragen muß, der von dem Blute durchtränkt ist, mit dem man die Gesichter und Hände der stolzen Wohltäter, der Verteidiger der Menschheit und ihrer Helden, beschmieren müßte! Ich bin kein berühmter Gelehrter, wie Sie, ich beuge mich vor Ihnen, aber auch ich habe hart und unablässig an dem gearbeitet, an dem Sie groß geworden sind! Sagen Sie mir, was ich tun soll, und ich werde es ausführen, im Namen der Vernunft und der Wissenschaft; gesegnet seien diese heiligen Worte! ...«

Jean Lemercier blickte den alten Henker erstaunt an.

Sein Herz wurde weit und bebte.

»Ja, das ist es, was stärker ist als der Tod, stärker als alles! Unwiderstehlich und unbeirrbar ist das Streben zum Wissen in der menschlichen Seele, nichts kann diese gewaltige Bewegung hemmen, die wie das Seziermesser eines Forschers früher oder später alle Geheimnisse der Welt bloßlegen wird! ... In den dunkelsten Winkeln, wo, wie es scheint, nichts als Entsetzen, nichts als das Abscheulichste herrscht, glimmt noch ein Funke, der in großen Seelen mächtig auflodert. Das Licht leuchtet, die Finsternis kann seine Strahlen nicht ersticken!«

Der alte Gelehrte drückte die Hand des Scharfrichters.

Die Oellampe brannte trübe; zwei unbewegliche Schatten, ungeheuer und schwarz, schienen aufmerksam zu horchen, wie der gelehrte Alte dem Henker das beabsichtigte Experiment erklärte. Und nur zuweilen, wenn der Henker andächtig über den Mut und über die Schönheit der Heldentat staunte, richtete sich einer der Schatten über die ganze Zimmerdecke auf und erhob die langen, schwarzen Hände.

Es war schon weit nach Mitternacht, als der Henker den Gelehrten mit tiefen Verbeugungen bis zur Türe seines einsamen Häuschens begleitete. Ueber Paris stand der Vollmond, leuchtend wie ein blankes Schild. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße schienen die Häuser wie mit gehämmertem Silber überzogen, und verzaubert vom Lichte des Mondes bargen sie geheimnisvoll und schweigsam hinter dunklen Fenstern die Geschehnisse unbekannten, menschlichen Lebens.

»Also, Herr Professor, fragen Sie im Gefängnisse, wenn Sie dort sind, nach dem ersten Scharfrichter. Denken Sie daran, daß Sie noch bevor es Tag ist, dort sein müssen, – ich werde jetzt schon hingehen ... man muß das Messer richten, nach allem sehen. Ich verstehe, der Hieb muß wirken wie ein Blitz ... je sauberer, desto besser!«

Jean Lemercier, ganz vom Mondlicht übergossen, warf einen lächerlichen, kurzen Schatten auf das weiße Pflaster. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Enthusiasmus war entflogen, Angst und Verzweiflung preßten ihm das Herz zusammen. Zeitweise schien es ihm, als ob es eine Blasphemie wäre, während der letzten Augenblicke Jules Martins an irgendein Experiment zu denken ... Die Wissenschaft erblaßte vor seinen Augen. Er wurde schwach.

»Stumpft ...« murmelte er, »stumpft es sich denn ab?«

»Was wollen Sie, verehrter Herr Professor! Jeden Tag! ...« sagte mit einer furchtbaren Einfachheit, wie um sich zu entschuldigen, der Henker und zuckte die Achseln: »Entsetzliche Zeiten!«

 

III.

Es war noch früh, die niedrigen Strahlen der Morgensonne blendeten die Augen, funkelten wie Sterne, blitzten an den Scheiben der Fenster, und auf den blanken, feuchten Dachziegeln schufen sie allenthalben eine fröhliche, schreiende Buntheit.

Nicht nur der Platz selbst, sondern auch alle seine einmündenden Straßen, waren übervoll von Menschen.

Ein ohrenbetäubendes Pfeifen, Lachen und Schreien wogte über der Menschenmasse, irgendwo sang man komische Couplets, die eben erst auf hervorragende Männer des Umsturzes und auf gefallene Machthaber, welche ihr Leben nur durch schleunige Flucht retten konnten, gemacht worden waren. Bald hier, bald dort entstanden Schlägereien wegen der Plätze, von denen aus man etwa am besten die Guillotine sehen könnte, die einsam über den Köpfen ragte. Gekünsteltes, erschrecktes Gekreisch und aufgeregtes Lachen hallten aus dem dichtesten Menschenknäuel und zeigten, daß dort Männer und Weiber zusammengedrängt standen. Pfiffe, grobe Scherze, unflätige Bemerkungen, Schimpfworte prallten in der Luft aneinander. Der Lärm und die Enge erhitzten die Stimmung; zuweilen begann die Menge zu brüllen vor Ungeduld, wie das Publikum im Theater, den Beginn der Vorstellung fordernd.

Die Strahlen der Sonne brannten immer heißer, die Morgenkühle wich allmählich der Hitze, und der wogende Menschenhaufen um das Schafott herum begann einen erstickenden, faulenden Geruch auszuströmen, den Geruch von schmutzigen Kleidern, von Staub und von menschlichem Schweiß.

Es war ein furchtbarer, schneidender Kontrast zwischen dem klaren, blauen Himmel, schimmernd im Glanze der Sonnenstrahlen und zwischen diesen frechen, verwilderten und schmutzigen Menschen. Und als Jean Lemercier bleich und zitternd von dem Gerüst der Guillotine aus diese Tausende menschlicher Gesichter erblickte, die mit vorgestreckten Hälsen und dem Ausdruck brutaler, leichtfertiger Neugierde nach oben starrten, empfand er Widerwillen darüber, daß er – auch ein Mensch sei.

Uebrigens war auch dieser ekelhafte Menschenknäuel, in seiner Buntheit und Bewegung, übergossen von dem strahlenden Lichte der Sonne, schön ... merkwürdig, absurd, wie ein Hohn des Satans erschien er Jean Lemercier! ...

In jenen Tagen zeigte Paris ein merkwürdiges Bild: man erblickte durchschossene Mauern, zertrümmerte Fenster, aufgerissenes Straßenpflaster; auf den Boulevards baumelten hilflos durchschossene Baumäste; aufgeregte, wilde Menschenmassen wälzten sich von einem Stadtviertel in das andere; allenthalben glänzten Bajonette und Lanzen, und aus entfernteren Vororten hörte man zeitweise das dumpfe Grollen der Kanonen und das Geknatter der Gewehrschüsse. Doch ungeachtet alles dessen waren die Menschen fröhlich und geräuschvoll erregt. Das Leben schien für sie jeden Wert verloren zu haben, und in der exaltierten Masse der Pariser konnte man die Glücklichen von den Unglücklichen nicht mehr unterscheiden: oft erblickte man bei den Siegern finstere, haltlose Gesichter, und die Besiegten lachten und rissen Witze, als ob sie sich über sich selbst lustig machen wollten.

Hinrichtungen kamen täglich vor, man war daran gewöhnt; aber dennoch fanden sich die Massen immer wieder ein, um gierig und erregt jedesmal von neuem den Anblick zu genießen, wie die blutige Maschine arbeitete. Indessen begannen die Haufen der Straßengaffer unzufrieden auseinanderzugehen, wenn der Verurteilte stumpfsinnig, wie ein Tier auf dem Schlachthofe, allzu ruhig starb. Man wollte, daß er schrie, heulte und sich aus den Händen der Henker zu befreien versuchte; es gefiel, wenn er mit einigen frechen Witzen starb, mit einem Fluche auf Gott und Menschen; es erregte, wenn das schwere Beil auf einen entblößten, zarten Frauenhals niederfiel ... der Tod an sich konnte sie jetzt weder befriedigen noch interessieren: es mußte etwas Besonderes, Scharfes sein, und dunkle, unbegreifliche Instinkte brannten immer stärker und tiefer.

»Wie furchtbar! ... Welche Schmach für die Menschheit!« flüsterte Jean Lemercier mit einem bitteren Ekelgefühl.

Und die Sonne leuchtete, das Volk lärmte, brüllte, lachte und schimpfte, die Dächer der Häuser und die Fenster waren übersät mit Menschenköpfen, mit Neugierigen; von den nassen Brettern des Schafottes stieg ein leichter Dampf auf, und langsam fielen die Tropfen des farbig gewordenen Morgentaues auf die schwarze, durchtränkte Erde. Die Henker liefen geschäftig auf dem Gerüste hin und her, wie Schauspieler vor der Aufführung.

Niemand betrachtete den kleinen Greis mit seinen gestopften, braunen Strümpfen und seiner rothaarigen Perücke, welcher im Schatten der furchtbaren Maschine zitternd am Gerüst stand. Straßenjungen schrien und pfiffen, Kuchenverkäufer schlängelten sich geschickt durch die Menge und boten ihre Waren aus, aufgeputzte Frauenzimmer lächelten galanten Herren zu. Diese Hinrichtungen im Namen der Freiheit galten als Volksfeste, an denen alle, außer den Verurteilten selbst, eine sonntagsmäßige sorgenlose Miene zur Schau trugen.

In dieser Umgebung starb Jules Martin.

Er kam als zweiter, nachdem der durch das Entsetzen verunstaltete Kopf des Strolches in den Korb gefallen war.

Der Arme starb gar nicht so, wie er es erwartet und gewollt hatte. Er brachte keinen einzigen Witz zustande, seine zuckenden, bläulichen Lippen konnten keinen einzigen Ton hervorbringen; er zitterte am ganzen Körper, wie bei einer furchtbaren Kälte. Seine Kumpane aus den Schenken waren enttäuscht. Die Henkersknechte trugen ihn auf den Händen heraus und schoben ihn wie ein schweres Bündel in die Schneidemaschine. Noch einen Augenblick drehten sich seine hervorquellenden Augen, wie um von der Sonne, dem Menschenhaufen und dem blauen Himmel Abschied zu nehmen, dann rollte sein Kopf schon hüpfend über die Bretter. Es war zu Ende mit diesem Feigling, und Jules Martin erschien in der niedrigen Tür des Gefängnisses.

Die Sonne schien ihm plötzlich voll ins Gesicht und blendete ihn, er wankte, und der Menschenhaufen wieherte und brüllte vor Freude laut auf, Flüche, Ermunterungen und Drohungen überschütteten ihn von allen Seiten, aber er schien von dem Ganzen nichts zu hören. In dem grauen Gesicht hing die große Nase leblos, bedeckt mit kaltem Schweiß. Lange Strohhalme staken komisch in dem zerzausten Haar.

Jean Lemercier begegnete ihm mit den Augen voller Tränen und wußte nicht, ob ihn sein armer Jules erkannt hatte.

War auch in Martin das wilde, tierische Entsetzen, in dem eben erst der unglückliche Strolch starb? ... Wohl kaum! ... Es gibt etwas Größeres als das Entsetzen: es ist der Tod der Seele. Und es schien, als ob die Seele Jules Martins schon gestorben wäre.

Der Henker beeilte sich.

Es war eine kurze, wilde Geschäftigkeit: irgend jemand packte Jules Martin an den Schultern und versetzte ihm einen Stoß, daß er auf die Knie fiel, und ehe er begreifen konnte, was er tun sollte, lag schon sein Kopf auf dem halbrunden Ausschnitte des Bretts, und hoch oben über ihm glänzte hellblau die Schneide des Messers. In diesem Augenblick, als ein anderes Brett sich niedersenkte und seinen Hals in einem Holzring einschloß, der noch ganz naß von dem Blute seines Vorgängers war, fühlte er, wie zwei kalte, feuchte Hände seinen Kopf packten.

Jules Martin öffnete die Augen und erblickte verkehrt über sich das Gesicht Jean Lemerciers.

»Jules, mein lieber Knabe, Jules ... sei mutig ...« murmelte der Greis mit zitternden Lippen.

Ein leuchtender Strahl des klaren Bewußtseins durchbrach die Starrheit des Todeskampfes: Jules Martin besann sich plötzlich auf alles.

Scharf und klar wurden seine Augen, die rissigen blauen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er konnte nichts mehr von der Menschenmasse sehen und hörte nur irgendwo aus der Ferne das dumpfe Brausen, das ihn an das Tosen des Meeres erinnerte. Er sah nur den blauen Himmel, die hohen Pfosten des Gerüstes und das leidensvolle Greisengesicht, auf dem die Tränen unaufhaltsam flossen, und das qualvoll zuckte.

Der Henker gab ein Zeichen.

Hoch oben rollte und dröhnte etwas und endete in einem kurzen Aufschlag, der Körper Jules Martins glitt aus dem Holzblock und begann fein und schnell zu vibrieren ... Ein breiter, schwarzer Blutstrahl quoll aus dem Halsstummel des Körpers über die Bretter, wie aus einer umgefallenen Flasche.

Aber anstatt wie gewöhnlich der Menge den Kopf des Hingerichteten zu zeigen, stand der alte Henker unbeweglich, gebeugt an seiner Maschine und blickte aufmerksam nach unten. Die ungeduldige Menschenmenge begann zu brüllen und forderte den Epilog des beendeten Schauspiels. Nur die Zunächststehenden sahen, wie der abgehackte Kopf von einem kleinen Greise gehalten wurde. Jean Lemercier hatte nicht gesehen, wie das Messer sich in das lebendige Fleisch einschnitt: in jenem Augenblick schloß er unwillkürlich die Augen und verlor scheinbar ganz die Besinnung. Dennoch hörte er das dumpfe Rollen eines fallenden schweren Gewichtes, das plötzlich mit einem stumpfen Aufschlag verstummte. Er fühlte, wie der Kopf merkwürdig leicht in seinen Händen wurde. Er riß gewaltsam die Augen auf, im letzten Zweifel an der Unmöglichkeit des Geschehenen, und erblickte etwas Rundes, Blutiges in seinen Händen, das einem menschlichen Kopfe gar nicht ähnlich war. Jean Lemercier schrie auf und hätte den Kopf fallen gelassen, wenn ihn nicht irgendeine feste Hand im letzten Augenblick ergriffen hätte; und die trockene, laute Stimme des Scharfrichters schrie fast verzweifelt:

»Jules Martin, hören Sie mich? ... Erinnern Sie sich? ... Jules Martin! ...«

Plötzlich erbebten alle, der Greis, der sich an den Pfosten der Maschine stützen mußte, um nicht zu fallen, die Neugierigen, die sich herangedrängt hatten, und selbst der Scharfrichter.

In dem toten Gesicht öffneten sich langsam, ganz langsam die Augenlider ... die blauen Lippen, aus denen das Blut fein herausrieselte, bewegten sich, ohne einen Ton von sich zu geben, nur das Blut rann schneller ... Die toten, aber völlig bewußten Augen drehten sich etwas in den Augenhöhlen, wendeten sich nach der Richtung des Henkers und zeigten einen Ausdruck, der an Erstaunen erinnerte.

»Jules! ... ich bin es! ... Jules! ...« schrie wie wahnsinnig Jean Lemercier.

Die Augenlider des toten Kopfes senkten sich langsam, dann öffneten sie sich wieder und zeigten die Augen, groß und sehend. Das Entsetzen des Todes, stumm und erschütternd, sprach aus ihnen. Dumpfes Stöhnen entrang sich den Kehlen der Umstehenden ... Die Augen schlossen sich wieder.

»Jules, Jules!« klang die greisenhafte Stimme durch die eingetretene Stille, einsam und kläglich, und preßte die Herzen der stummen Zuschauer zusammen.

Die Lider des toten Kopfes zitterten. Das Blut rann an den Händen des Henkers herab und das Gesicht überzog sich schnell und gleichmäßig mit einem wächsernen, blauen Schatten.

»Jules! ... Jules! ...«

Die Lider fuhren fort zu zittern.

»Nein ... es ist zu Ende ...« sagte, wie es Jean Lemercier schien, aus weiter Ferne, der Henker.

Aber die Lider begannen sich wieder zu öffnen ... sie zitterten immer stärker und stärker. Trübe zeigte sich das Weiße vom Auge ... Das rechte Augenlid erstarb und blieb unbeweglich, das linke fuhr fort, sich zu heben ... Bis zur Hälfte war die Pupille sichtbar, schon vom Schatten des Todes überzogen, noch einmal zuckte das Augenlid und erstarrte für immer über dem toten, halbgeöffneten Auge.

Rostoff-Donn 1912.


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