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Der Holzklotz

 

I.

Kein Blatt rührte sich ringsherum, und ihrer gab es hier Milliarden, und jedes von ihnen war voll Licht und Wärme. Unter den Füßen rauschten die harten Nadeln der Gräser, die durch die viele Jahre alte, trockene Blattschicht durchgedrungen waren; es ging sich seltsam leicht auf diesem Boden, so, als ob unter ihm starke elastische Federn verborgen lägen. Es roch nach Laub, Moos und nach verfaulten Pilzen. Vorne, hinten, links und rechts, überall war der Wald, – ein grünes Meer von Blättern, Zweigen, Moosen, gewaltigen Stämmen – und ein goldener Regen sprühte allenthalben, scheinbar klingend mit unhörbaren, segnenden Tönen. Ringsherum aber war es still, und diese festlich geheimnisvolle Stille störte nicht das ferne klangvolle Rufen eines Kuckucks, nicht das kaum hörbare Klopfen eines Spechtes, das von tief unten, aus dem im Dickicht verborgenen feuchten Abgrund, heraufkam. Auch das unaufhörliche arbeitsame Summen der unzähligen kriechenden, hüpfenden und fliegenden Insekten, die die Weite zwischen den Bäumen und zwischen den vom Sonnenlicht übergossenen Waldmauern erfüllten, änderte nichts an der Stille.

Kräftiges und wie das Wachstum einer jahrhundertealten Eiche, unbeirrbares Leben herrschte hier, und von jedem winzigen, kaum sichtbaren Käferlein, das geschäftig aus irgendeinem Grunde an dem Grashalm hinaufkroch, wehte das unerschütterliche Wissen von etwas Eigenem, Weisem, Ernstem und durchaus Wichtigem.

Der aus politischen Gründen verbannte Student Werigin, ein noch ganz junger Mensch, mit hageren und breiten Schultern, hinter denen ein dünner Flintenlauf hervorsah, ging in seinen hohen Schaftstiefeln allein im Walde, weit ausholend, alles um sich her mit Aufmerksamkeit betrachtend.

Unter der alten Studentenmütze sah man seine krausen, sehr hellen und harten Haare, die grauen Augen blickten gerade und selbstsicher, aber aus der Art, wie er in das grüne Dickicht sah und wie er sich bemühte, nicht von dem kaum merklichen Pfade, der sich stellenweise ganz in den Gebüschen verlor, abzuweichen, konnte man erkennen, daß er ein im Walde fremder Mann ist, ihn nicht kennt und seine grüne Tiefe unbewußt fürchtet.

Es waren kaum zwei Stunden vergangen, seit er seine Niederlassung verlassen hatte; schätzungsweise wird er kaum mehr als sieben, acht Kilometer zurückgelegt haben, aber es schien ihm, als wenn auf tausend Meilen im Umkreise kein Mensch zu finden sei und daß überall dieser grüne, geheimnisvolle Wald sein Leben lebt, sein eigenes Geheimnis kennt, das so alt ist, wie die Welt.

Am Saum einer großen Lichtung blieb Werigin stehen.

So viel Sonne war hier, und das Gras war dermaßen grün, daß die Augen gleichzeitig froh waren und einen Schmerz empfanden. Aus dem dichten saftigen Grün leuchteten tausende blaue, hellblaue, rote und gelbe Blumen; über ihnen tanzten, trunken vor Sonne und Wärme, weiße Schmetterlinge und oben wölbte sich eine unbeschreibliche Tiefe funkelnden, tauenden Himmels, auf dem blendendweiße, krausköpfige und glückliche Wolken mit vollen Segeln leicht in die Ferne eilten. Der Pfad war in diesem grünen Segen wie untergetaucht, auf der anderen Seite aber erhob sich wieder derselbe schwarzgrüne Wald, schier undurchdringlich, und mit tausenden grüner Augen betrachtete er unheimlich aufmerksam den in seinem Reich so unverschämt eingedrungenen, einsamen Menschen.

– Weiß der Teufel, wo dieser dumme Teich sein soll! – murmelte ärgerlich Werigin, – die Lichtung ist da, aber wo die »knorrige« Eiche ist? ... Alle Eichen sind knorrig!

Er beschloß auszuruhen und sich etwas umzusehen. Ehe er sich auf den Weg machte, hatte er gegessen, aber das schnelle Gehen und die kräftige Waldluft machten ihn wieder hungrig.

– Man muß sich etwas stärken, das Weitere wird sich schon finden! – entschloß er sich.

Das Gras war weich und duftig; Frische umfing seinen erhitzten, muskulösen Körper, und Werigin hatte die größte Lust, lang ausgestreckt auf dem Rücken zu liegen, so daß jeder Atom seines Körpers die Wärme und Frische dieser wunderbaren ursprünglichen Erde in sich aufsaugen konnte.

In dem an seiner Schulter hängenden Sack hatte er gekochte Wurst und Schwarzbrot. Brot war reichlich da und deshalb bemühte er sich nur ganz kleine Stückchen Wurst und sehr viel Brot zu essen, das weich war und wunderbar duftete, aber er brachte es nicht fertig, und die Wurst verschwand nach und nach ganz, sogar mit der Haut, die ihm ganz besonders schmackhaft vorkam.

Dann legte er den Sack beiseite, lehnte die Flinte an einen Baum und streckte sich, seiner ganzen Länge nach, aus. Der Wald verschwand plötzlich, ringsherum erhoben sich die aus der Nähe so seltsam aussehenden Grashalme, und oben dehnte sich das Blau mit erstarrten weißen Wolkenballen darauf. Unten an den Wurzeln sah der Rasen wie ein wilder tropischer Wald aus, und fast auf jedem Grashalm krochen oder saßen mit wichtiger Miene allerlei Käfer. Einer von ihnen, ein dicker, roter, saß ganz oben, am äußersten Ende eines herunterhängenden Grashalms und starrte auf Werigin mit seinen, wie zwei Punkte winzigen, unbegreiflichen, schwarzen Augen. Zuweilen schwebte, wie vom Luftzug getragen, ein weißer Schmetterling über ihn hinweg und erschien von unten durchsichtig und gelb.

Werigin legte sich auf den Rücken, warf Arme und Beine auseinander, als wenn er wirklich möglichst viel Erde berühren wollte, und versank, die Augen schließend, sofort in eine goldig schimmernde Finsternis, die eine leise summende Musik erfüllte. Die Lider der geschlossenen Augen zitterten unter dem warmen Licht, und von den Fußspitzen, den Rücken entlang, bis zum Hinterkopf, breitete sich, den ganzen Körper einhüllend, eine süße, träge Schlaffheit aus, bald verschmelzend mit einem dichten, vibrierenden, wie mit Honig gefüllten Ton, bald sich in einen ganzen Chor klingender, flüsternder Stimmen verstreuend. Zuweilen stimmte jemand, dicht an seinem Ohr, einen ganz besonderen Singsang an, und es schien ihm dann, wie wenn jemand an ihn herangeschlichen wäre, ihn durch die Dichte des Grases aus seinen grünen Waldaugen ansähe, ihm immer wieder ein und dasselbe vorsage, etwas sehr Wichtiges und Ernsthaftes, in seiner unbegreiflichen, nicht menschlichen Sprache.

Werigin öffnete unwillkürlich die Augen, aber niemand war zu sehen: grüne Halme wankten leise auf dem blauen Himmel, und das rote Käferlein betrachtete ihn unausgesetzt mit seinen zwei schwarzen Punkten. Werigin mußte ihm zulächeln: der lustige kleine Käfer hatte ein so geheimnisvolles Aussehen, als ob gerade er sich jedesmal, wenn Werigin die Augen schloß, in einen kleinen Waldgeist verwandele und ihm etwas sagen und beweisen wolle. Werigin wollte ihn mit dem Finger berühren, aber er war zu träge, um seinen Arm zu bewegen, und er schloß wieder die Augen.

Sonderbar träge und unklare Gedanken zogen langsam, endlos durch seinen Kopf.

– Wald, Wald ... – dachte mechanisch Werigin: – am Ende ist wirklich alles – Unsinn, und die Hauptsache, das einzig Wichtige ist – Wald, Erde, Himmel und Sonne! ... Wald! ... Zum Kuckuck, wer spricht denn da eigentlich? ... Hier, ganz nahe, gerade an meinem Ohr, so deutlich! ... Gerade so, als wenn man nur etwas aufmerksamer hinzuhören brauchte, um alles zu verstehen. Das ist dieser verhexte Käfer, der verwandelt sich plötzlich in einen kleinen Waldgeist, in einem komischen roten Frack und erzählt ... Sicher hat er ein kleines, rundes Köpfchen und eine komische, ernsthafte Fratze mit schwarzen, kleinen Augen ... Wald! ... Warum nur denkt jeder Mensch, sobald er in den Wald oder aufs Feld kommt, daß sein Leben ein Irrtum war, und daß es ein glückliches Leben nur in der Natur, in einer einfachen, ungeklügelten Existenz gibt? ... Und jeder weiß doch, daß er hier auch nicht drei Tage aushalten würde! ... Wir verfluchen die Kultur, schimpfen über die Menschen und können nicht ohne sie leben! ... Sonderbar, hier muß irgendein Mißverständnis sein! ... Man fühlt doch so klar, daß das Glück irgendwo hier, ganz nahe sein muß, wenn man aber versucht, seiner habhaft zu werden ... Und wenn es sich auch fangen läßt, festhalten kann man's ja doch nicht, und es langweilt einen, und es zieht uns wieder zu den Menschen in die Städte, in den Kampf! ... Nein, wir haben das Geheimnis dieses einfachen Pflanzendaseins nicht mehr! ... Und dieser komische Waldgeist, der sich stellt, als wäre er ein Käfer, kennt es wahrscheinlich und bemüht sich es mir klarzumachen, nur kann ich es nicht verstehen. Jetzt, wieder! ... Nun, lauter, lauter! ... Nicht so schnell, deutlicher! ... Nein, es nützt nichts! ... Puh, diese Faulheit! ... Könnte auf der Stelle einschlafen! ... Die ganze Sache ist die, daß man glauben muß, daß das alles sehr wichtig ist: wenn die Sonne scheint, wenn das Gras wächst, wenn ein Käfer sitzt ... Und wir? ... Wir denken, daß die Natur nur eine Sommerfrische ist, und wenn wir so einen Käfer ansehen, sind wir überzeugt, daß wir, im Grunde genommen, mit ihm nicht das geringste zu tun hätten! ... Wir sind Egoisten, haben uns nur in unser Menschliches vertieft, und die Natur lassen wir nur so nebenbei ihr Leben fristen! ...

Werigin erinnerte sich plötzlich, wie er einst, als die Revolution in vollem Gange war, in eine Einsiedelei geraten war und einen alten, ehrwürdigen Mönch fragte:

– Auch die Zeitung lesen Sie nicht?

– Nein.

– Haben Sie denn wirklich kein Interesse für das, was in der Welt vorgeht?

– Was soll da vorgehen ... Wir wissen ja, daß die Sonne scheint! – erwiderte unerwartet, selbstbewußt und ruhig der Mönch.

– Und alles andere ist nicht wichtig? – dachte Werigin. – Nein, es ist wichtig! ... Man kann doch nicht ruhig die reine Luft genießen, wenn man weiß, daß die Menschen um einen herum ersticken, hungern, um ihr tägliches Brot kämpfen, für ein erträgliches menschliches Dasein in den Tod gehen! ... Der Mensch hat kein Recht ... Was für ein Recht? ... Was rede ich? ...

Der Käfer machte kein Hehl mehr daraus, daß er nicht ein Käfer, sondern ein kleiner Waldgeist im roten Frack sei; wichtig und pathetisch begann er jetzt etwas vom Proletariat zu reden ... Der Specht trommelte jetzt irgendwo ganz in der Nähe ...

– Ich schlafe! – sagte laut Werigin und öffnete die Augen.

Der Käfer saß immer noch auf seinem Grashalm, das Gras rauschte um ihn herum, die Wolken waren verschwunden, und reines klares Blau sah auf Werigin herab.

– Nein, ich muß gehen, sonst schlafe ich ein! – dachte Werigin und erhob sich, das warme, weiche Lager mit Bedauern verlassend.

Wieder sah er die große Lichtung vor sich, der tropische Wald der Grashalme war mitsamt seinem roten Käfer verschwunden, und Werigin konnte ihn nicht mehr finden. Vor ihm erhob sich wieder die Waldmauer.

– Gehen ... Aber wohin? ... Wo ist diese verdammte knorrige Eiche?

Und im selben Augenblick erblickte Werigin sie: dort, wo die Lichtung in einem scharfen Keil in das Walddickicht einschnitt, hart am Saum stand die untersetzte, ganz mit Moos und Flechten bedeckte, alte Eiche, mit knorrigen Armen, die mit gekrümmten Fingern den grünen Bart um sich herum zu kämmen schien. Ihr dicker Stamm war ganz mit Wunden übersät, durch die Bresche war ihr hohles Innere sichtbar, und Sonnenflecke glitten auf ihr leise auf und nieder.

Werigin warf Tasche und Flinte über die Schulter und schritt leicht und elastisch über die Lichtung. Das Gras reichte bis an seine Knie, und Hunderte grüner Heuschrecken und kleiner farbiger Käfer sprühten um seine Füße nach allen Seiten.

– Wie viel es ihrer gibt! – staunte Werigin, und es war ihm sogar etwas seltsam zumute, daß es so viele winzig kleine Wesen gibt, die, unbekümmert um die Menschen, ohne sich im geringsten für sie zu interessieren und ohne auf sie angewiesen zu sein, ganz für sich allein leben können.

Er ging um die alte Eiche herum, die wie ein uralter zottiger Waldgeist aussah, wählte die Richtung, und vertiefte sich wieder in das Dickicht, auf weichem federndem Laubboden weit ausschreitend. Wahrscheinlich gab es stellenweise Löcher und zu Staub verfaulte Baumstämme unter der Blattschicht, denn der Grund schwankte zuweilen verräterisch unter den Füßen.

Eine graugelbe Schlange glitt mit warnendem Gezisch zur Seite und kroch lange vor seinen Augen, bis sie hinter den Bäumen verschwand ... Ein Geier stürzte unerwartet von den Baumwipfeln, wie ein Stein, in die Tiefe der Schlucht, mit seinen harten Flügeln die Aeste streifend.

 

II.

Bald verdichtete sich der Wald zu einer dichten, schier undurchdringlichen Masse, bald zerstreuten sich seine Stämme, grüne, heitere Waldwiesen bildend; auf einer von ihnen erblickte Werigin endlich eine menschliche Behausung.

Es war eine mit Moos gedeckte Hütte, deren Dach sich direkt auf die Erde stemmte. Unter der grobgezimmerten, niederen Tür hingen girlandenweise sonderbare rote, blaue und weiße Lappen, die der Hütte ein seltsames, wildes Aussehen verliehen.

Die ganze Waldwiese war so mit Blumen übersät, daß man das Gras überhaupt nicht sehen konnte, und ein riesengroßer, buntgemusterter, duftender Teppich breitete sich vor der Hütte aus. Tief summend, schossen die Bienen nach allen Richtungen hin, und es roch stark nach ihrem warmen Honig.

Im ersten Augenblick schien es Werigin, als ob außer Bienen, Blumen und Bäumen niemand da sei, und er wollte schon weiter gehen, als sich etwas Weißes zu rühren und über dem Grase zu erheben begann, so unerwartet, daß er zusammenfuhr.

Untersetzt, zottig, ganz behaart, stand auf der Wiese, mitten unter Blumen, ein Greis.

Sein Gesicht konnte Werigin anfangs gar nicht entdecken, so behaart war es, aber allmählich unterschied er ein dunkelbraunes, faustgroßes Greisengesichtchen, mit grauen, überhängenden Augenbrauen und kleinen, wie Bohrer scharfen Aeuglein. Der Alte hatte etwas Weißes an, das wie ein langes Frauenhemd aussah, mit aufgenähten roten Mustern und Streifen am Saum und Kragen. Seine Füße steckten, trotz der Wärme, in bunten, verzierten Pelzstiefeln, so wie sie die Eingeborenen in Sibirien im Sommer zu tragen pflegen. Die langen, wurzeligen Hände hingen bis unter die Knie herab, und das Haar und der Bart waren weiß, fast gelb, mit grün schimmerndem Widerschein des sonnigen Waldes. Er war dermaßen gebrechlich und buckelig, daß er, wenn er sich zur Erde neigte, sich fast mit seinen Händen auf sie stützte und mit dem Bart die Blumen berührte; er ähnelte einem alten, herausgerissenen Baumstumpf, der sich mit seinen knorrigen, verschlungenen Wurzeln noch an das Erdreich hielt.

Einer unbestimmten Eingebung folgend, trat Werigin nicht auf die Wiese, sondern verlangsamte seine Schritte und blieb unsichtbar am Waldrande unter den Bäumen stehen.

Der Alte tat etwas: es schien, als ob er sich verbeugte, zuweilen tappte er linkisch mit den Füßen, oder er hob seine Arme zum Himmel, oder murmelte etwas vor sich hin – was, konnte man nicht verstehen.

– Zum Teufel, was treibt er da? – dachte Werigin.

Der Alte schien jetzt tanzen zu wollen. Er machte hüpfende Bewegungen, es war ihm sichtlich schwer, seine zitternden Knie zu heben, und er stieß dabei seltsame Worte aus, aus denen Werigin nur das eine zu erkennen vermochte:

– Schau! schau! schau! ...

Der Mund des Alten war so von seinem Schnurrbart überwuchert, daß seine Stimme ganz unheimlich klang, wild und ungereimt auf der blumenübersäten Wiese, unter dem im Sonnenglanz tauenden blauen Aether, tönend.

Werigin begann jetzt zu verstehen, daß er einer ihm unbekannten, religiösen Zeremonie beiwohne. Seine Vermutung bestätigte sich bald: der Greis verschwand plötzlich in seiner Hütte und erschien nach einigen Augenblicken wieder, mühselig ein schweres, grotesk-häßliches hölzernes Ungeheuer herbeischleppend.

Es war ein grobgeschnitzter, primitiv ausgemalter Holzklotz, und als der Alte ihn an der Hüttenwand aufstellte, unterschied Werigin ein unheimliches, kaum angedeutetes, breitknochiges und schlitzäugiges, hölzernes Gesicht, mit einem sehr unangenehmen, halb höhnischen, halb idiotischen Lächeln auf den groben Lippen; auch Arme und Beine hatte er, beide in gleicher Weise ineinander verschränkt.

Dann holte der Alte ein kleines Rindengefäß mit Honig hervor. Er stellte es vor dem Götzen hin, nahm ein dünnes, bemaltes Stäbchen, tauchte es singend und murmelnd in den Honig und berührte damit die hölzernen Lippen. Der Holzklotz lächelte schlau und läppisch. Der Alte erhob jetzt beide Hände mit einem komischen Pathos zum Himmel und begann wieder zu hüpfen und wie ein Betrunkener zu schreien.

Werigin konnte sich vor Lachen kaum halten. Entschlossen trat er aus seinem Versteck und zeigte sich auf der Bildfläche.

Im selben Augenblick geschah etwas Sonderbares, etwas, das Werigin durchaus nicht erwartet hatte: der Waldmensch blieb mit einem Ruck stehen, ließ sein Hölzchen fallen und starrte entsetzt den fremden Mann an. Unwillkürlich blieb auch Werigin stehen, obschon er fortfuhr zu lächeln. Längere Zeit sahen sie sich gegenseitig an und man konnte das Zittern der Knie bei dem Alten sehen. Dann stürzte er wie ein Hase zurück, umfaßte seinen Holzklotz, wollte ihn fortwälzen, aber der Schreck beraubte ihn seiner letzten Kräfte, und er ließ ihn fallen; dann machte er einen Schritt zu Werigin und schrie:

»Geh! ... Was willst du? ... Geh! ... Du darfst nicht! ... Geh! ...«

Er mischte diese russischen Worte mit seltsamen, Werigin unbekannten Lauten, unter denen er das alte »schau, schau« erkannte und noch etwas anderes: »kirmet, kirmet« ... Unentschlossen sah Werigin den Alten an.

»Geh, geh!« schrie der Greis wieder, mit den Füßen stampfend und am ganzen Körper zitternd, halb aus Entsetzen, halb aus Wut. Sein Bart hüpfte auf und nieder, aus seinem Munde spritzte der Speichel, die Haare auf seinem Kopf standen ihm zu Berge.

»Warum denn? ... Alterchen, ich will ja nur ... Wasser trinken ...« stammelte verwirrt Werigin, unwillkürlich zurückweichend und an die Flinte greifend.

Aber der Alte schien irrsinnig geworden zu sein, er hörte nichts. Ganz sonderbar, mit beiden Füßen auf einmal, hüpfte er auf Werigin zu, fuchtelte mit den Armen, spuckte und schrie immer das eine:

»Geh! Schau, schau ... kirmet! Geh! ...«

Werigin begriff endlich, daß er in irgendeinen heiligen Ort geraten war, den Uneingeweihte nicht betreten dürfen, und daß der Alte ihn davonjagen will. Und plötzlich verschwand die durch den verrückten Greis hervorgerufene Angst, und er fand die Situation wieder komisch. Absichtlich drohend machte er einen Schritt auf den Alten zu.

Der Greis verstummte verblüfft und betrachtete mit fassungslosem Entsetzen den Mann, der seine furchtbaren Worte offenbar gar nicht fürchtete. Werigin näherte sich ihm immer mehr und betrachtete neugierig den Götzen. Der Greis fing seinen Blick auf und stürzte plötzlich zu seinem hölzernen Gott, um ihn mit dem eigenen Leibe vor den Blicken unreiner Augen zu decken.

»Was fürchtest du, Alter?« fragte ihn freundschaftlich Werigin und trat noch einen Schritt näher.

Jetzt fiel dem Alten wahrscheinlich das äußerste Mittel ein: rasch packte er seinen Holzklotz, erhob ihn, mit einer für diesen gebrechlichen Greis unbegreiflichen Kraft, über seinen Kopf und schritt gerade auf Werigin zu, unaufhörlich etwas Warnendes und Drohendes ausrufend.

Es war klar, er war fest davon überzeugt, daß sich Werigin fürchten würde und daß, wenn er vor dem Angesicht seines Gottes nicht niederfällt, er durch die wunderbare Kraft tot hinstürzen wird. Der Greis fürchtete offenbar selbst die möglichen Folgen seiner Handlung und bebte am ganzen Körper.

Eine dumme, knabenhafte Idee schoß Werigin durch den Kopf: als der Alte fast auf zehn Schritte an ihn herangetreten war, riß er die Flinte von der Schulter, legte an und schoß gerade in das tote, hölzerne, idiotisch lächelnde Gesicht des Götzen.

Das Krachen des Schusses betäubte ihn selbst, und im Pulverdampf konnte er nicht sofort erkennen, was aus dem Götzen geworden war. Er sah nur, wie etwas Weißes über das Gras kugelte.

Nachdem sich die Rauchwolke zerstreut hatte, sah er den Alten mit dem Gesicht nach unten, wie tot auf der Erde liegen und drei Schritt von ihm entfernt den Götzen, mit dem Gesicht nach oben, blödsinnig den Himmel anlächelnd, als wenn ihn die ganze Sache überhaupt nichts anginge. Die Kugel spaltete ihm das Ohr ab und einen Teil der Wange, und ein weißer Holzspan stak wie ein Pfeil in ihr.

Werigin glaubte den Greis getötet zu haben. Etwas preßte ihm die Kehle zusammen, und er wollte schon helfend zu ihm stürzen, als der Alte sich zu regen begann.

Er richtete sich mühsam auf allen vieren auf, sein Gewand war ganz beschmutzt, Hände und Kopf zitterten ihm, und irrsinnig, kläglich blickte er um sich. Wahrscheinlich begriff er nicht recht, was eigentlich geschehen war, und glaubte, daß Gott selbst den Frevler niedergeschmettert habe. Aber als er drei Schritte von sich entfernt Werigin erblickte, dem kein Haar gekrümmt zu sein schien, und aus dessen Flintenlauf ein feiner blauer Rauch hervorquoll, konnte sich der Alte vor Entsetzen nicht rühren. Sein kleines Gesicht drückte eine grenzenlose Verzweiflung aus. Hilflos um sich blickend, fand er seinen Holzklotz und stürzte zu ihm.

Werigin sah, wie er sich bemühte, seinen Gott aufzuheben, und wie er zurückprallte, als er das verunstaltete Gesicht wahrgenommen hatte. Einige Sekunden lang lag er auf seinen Knien, ratlos die Wunde berührend, die die Kugel im Holz verursacht hatte. Dann sah er sich nach Werigin um, stöhnte, schlug die Hände zusammen, kroch auf allen vieren weg, sprang dann auf die Füße und lief über die Wiese.

»He, Alter! ... Alter!« rief Werigin, sich schämend.

»Wart' doch, Alter! ...« Aber der Greis lief, als ob er jung wäre, über die Blumen springend, und mit seinen Händen fuchtelnd, wie ein angeschossener Vogel mit feinen Flügeln.

»He, Alter! ...«

Das weiße, wehende Hemd blinkte noch einmal hinter den Bäumen, fiel, sprang auf und verschwand mit einem Sprung im Dickicht.

Werigin senkte die Flinte und sah ihm lange mit einem dunklen Gefühl der Schuld verwirrt nach. Dann trat er unsicher an den Götzen und stieß ihn mit dem Fuß an. Der Gott schwankte und legte sich wieder auf den Rücken. Auf seinem hölzernen, stumpfen Gesicht breitete sich ein spöttisches Lächeln aus, und die schiefen Schlitzaugen starrten mit einem undurchdringlichen Ausdruck den Himmel an.

Werigin zuckte die Achseln, betrachtete eine Weile die still gewordene Waldwiese, spie aus und entfernte sich.

Pfui, wie dumm! – dachte er, ärgerlich über sich selbst, und verschwand ebenfalls im grünen Walddickicht.

 

III.

Als sich der Wald auf dem purpurnen Streifen des Sonnenuntergangs schwarz abzuheben begann, saß Werigin, die wohlig-müden Beine lang ausgestreckt, und trank Tee. Der kranke Schutoff, der mit ihm aus demselben Anlasse nach Sibirien verschickt worden war, lag in einen Mantel gehüllt, trotz der Hitze und Schwüle in der niedrigen Bauernstube frierend auf der Bank. Er hatte die Schwindsucht, und an seinen durchsichtigen Augen, und daran, wie die hellen, weichen Haare auf der nackten Stirne strähnig lagen, konnte man sehen, daß ihm nur noch kurze Zeit zu leben beschieden war.

»Ich freue mich furchtbar, daß du gekommen bist!« sprach er mit schwacher, abreißender Stimme, die immer, mochte er sprechen worüber er wollte, einen sonderbar leuchtend gehobenen Ausdruck behielt.

»Ich bin ja immer und ewig allein! ... Die Kameraden kommen selten: Es ist ja Sommer, kein Mensch hat Lust, mit einem Kranken zu sitzen! ... Es ist auch verständlich. Und ich liege hier immer, denke und erinnere mich an die vergangenen Zeiten ... Mein ganzes Leben habe ich durchgekaut, es wird wohl nichts mehr übriggeblieben sein! Anfangs schien es so viel, aber als ich in den Erinnerungen so recht drin war, war es schon aus! ... Gestern mußte ich den ganzen Tag daran denken, wie die Amme mich zur Konfirmation in die Kirche geführt hatte ... Ich hatte ein rosa Hemdchen an und kleine, lackierte Stulpenstiefel, auf die ich schrecklich stolz war! Dumm und sentimental natürlich, aber wenn es einmal ans Ende geht, sind einem selbst diese Kleinigkeiten unsagbar lieb und rührend ... Meine Amme war eine Soldatenfrau und prophezeite mir immer, daß ich ein General werden und eine reiche Braut heimführen würde ... Und nicht einmal ein General von der Revolution bin ich geworden, als Gemeiner werde ich sterben müssen! ... Auch eine Braut zu finden, hat es mir an Zeit gefehlt ... Einmal verliebte ich mich sogar, aber die Verhaftung durchkreuzte alle Pläne, es wurde nichts daraus! ... Und wirklich, wie sollte ich auch: ich habe einmal aus Langeweile nachgerechnet, es zeigte sich, daß ich genau den vierten Teil meines Lebens im Gefängnis verbracht habe! ...«

Schutoff lächelte schüchtern und weich, und man konnte ihm ansehen, daß gerade der Umstand, daß er ein Viertel seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte, ihn tröstete. Es war etwas reizend Naives in dem kleinen Stolz, mit dem er davon sprach.

Die Feuergarben waren erloschen, die rote Silhouette des Fensters verblaßte nach und nach an der Wand, in der Stube wurde es dunkel, und das Gesicht Schutoffs schimmerte weißlich durch die Schwüle des Raumes.

»Nun, wie fühlst du dich denn eigentlich jetzt?« fragte ihn Werigin, selbst fühlend, wie ungeschickt diese müßige Frage war.

Schutoff lachte.

»Wie soll ich mich fühlen? ... Ich fühle, daß ich sterbe!«

»Ach was ... Dummheiten!« entgegnete Werigin, mit jenem unangenehmen, falschen Ausdruck, mit dem sehr gesunde Menschen Kranke zu trösten pflegen, über deren Schicksal sie sich vollständig im klaren sind. »Wirst dich schon wieder aufrappeln! ... Das Klima ist hier nicht schlechter wie in Jalta ... Paß mal auf, wie du noch springen wirst!«

Schutoff hörte ihm ohne Interesse zu, offenbar nur aus Taktgefühl bemüht, ihm nicht zu zeigen, daß er den Sinn seiner Worte richtig verstehe. Augenscheinlich gewöhnte er sich so sehr an den Gedanken eines baldigen Todes, daß ihn alle diese Tröstungen geradezu langweilten.

»Ach was! ...« winkte er ihm schwach ab. »Warum auch nicht ... Wenn man sterben soll, stirbt man eben!«

Jemand trat jetzt in die Stube und machte sich in der dunklen Ecke zu schaffen. Man sah nur seinen hohen, schwarzen Schatten.

»Soll ich Licht machen?« fragte von dort eine tiefe dumpfe Stimme.

»Bitte, Fjodor Iwanytsch! Wirklich, warum sitzen wir in dieser Finsternis!«

Durch die kleinen Fenster schaute, wie im Herbst, nur noch ein blaßgrünlicher Lichtstreifen herein.

Man hörte ein Streichholz anzünden, das Lampenglas an den Schirm anklingen, ein zitterndes, blaues, gelb werdendes Flämmchen erleuchtete jetzt den Raum.

»So, das wird besser sein, als das Blinde-Kuh-Spiel vorhin!«

Die Lampe brannte allmählich heller, und bei ihrem Schein sah jetzt Werigin einen ungewöhnlich großen, alten Mann, in einer schwarzen Weste mit Hornknöpfen, in Hemdsärmeln, mit einem langen, grauen Bart und dichten überhängenden Brauen, unter denen spitze, schwarze Augen hervorlugten. Werigin mußte bei seinem Anblick an den Alten im Walde denken.

»Und Sie, Fjodor Iwanytsch, trinken doch auch Tee mit uns?« lud ihn Schutoff ein.

»Ich trink' wohl!« antwortete dumpf, wie durch ein Kissen, der Alte. »Sind Sie auch einer von denen?« fragte er Werigin, ihn unter seinen Augenbüschen durchdringend fixierend, während er von ihm das dicke Glas entgegennahm und den Tee in die Untertasse goß.

»Ja, auch einer von denen!«

»So–o ...« brummte, wie es Werigin schien, mißbilligend der Alte, während er den Tee in der Untertasse, die er hoch in seinen gespreizten Fingern hielt, anblies. Dann biß er krachend ein Stückchen Zucker ab, leerte schlürfend seine Untertasse und begann sie sofort wieder zu füllen, das heiße Glas ruhig in seinen borkigen Fingern haltend.

Während Werigin ihm das zweite Glas füllte, saß der Alte gerade aufrecht auf seiner Bank und betrachtete forschend den Gast.

»Warum sehen Sie mich so an?« fragte Werigin.

»So ... Sie hätten das nicht tun sollen, nicht schön, das!« sagte rauh der Alte.

»Was?« wunderte sich Werigin.

»Das!« brummte unverständlich der Alte und machte sich wieder an seinen Tee.

Werigin erriet jetzt, daß der Alte den Vorfall im Walde meinte, und wurde etwas rot.

»Woher wissen Sie das?« fragte er mit einem feindlichen Ton in der Stimme.

»Also weiß ich's ... Eine Elster hat es mir auf ihrem Schwanz zugetragen!« antwortete er rätselhaft.

»Was ist los?« fragte Schutoff neugierig.

Werigin hatte keine Lust zu erzählen, aber er konnte es nicht vermeiden, und er erzählte ihm den Vorfall im Walde.

»Ja, so ...« sagte der Alte, als Werigin wieder schwieg. »Und im großen und ganzen haben Sie sehr, sehr schlecht gehandelt. Ich kenne diesen kleinen Alten: hier hatten sich in alten Zeiten die ersten Ansiedler niedergelassen ... das Leben damals war bös, nicht so wie heute, da sind sie eben Heiden geworden, haben ihren rechtmäßigen Glauben verloren und sich einen Götzen angeschafft ... So leben sie also als Götzendiener. Aber Schlechtes hört man nicht von ihnen ... Sie leben gut, wie sich's gehört.«

Die Stimme des Alten war dumpf – der Bart störte – aber seine Worte fielen gewichtig und sogar feierlich, es war etwas an das Herrschen Gewohntes, etwas Machtvolles in ihnen.

»Ich verstehe das so, daß eine Mischung vor sich gegangen ist: den Christus haben sie zwar vergessen, aber ihr Leben ist christlich geblieben, christlicher als der Lebenswandel mancher Christen von heute. Schnaps trinken sie nicht, Uebles tun sie keinem, Diebstahl kommt bei ihnen nicht vor ... die Sittlichkeit ist bei ihnen hoch angeschrieben und ihre Sitten sind durchaus wünschenswert. Von uns halten sie sich nicht fern, nein, nur ihren Götzen dürfen sie keinen von uns sehen lassen. So ein Gesetz haben sie also ... Und jener Alte gilt bei ihnen als ihr Haupt-Schaman, oder so ... Ein durchaus rechtschaffener Mann, dieser Alte. Und was bei ihnen jetzt vorgeht – ist nicht zu sagen! ... Und was für Folgen das haben kann, das weiß man nicht. Ich will Ihnen nur sagen, daß Sie sich einen anderen Rückweg wählen müssen. Bleiben Sie ein oder zwei Tage hier, bis dahin kommt mein Aeltester zurück, ich werde ihm ansagen, daß er Sie begleitet.«

»Fju!« pfiff selbstbewußt Werigin und warf einen Blick in die Ecke, in der seine Flinte lehnte. Er ärgerte sich, daß der Alte ihm gewissermaßen die Leviten las, und zwar gerade deshalb, weil er sich selbst seines häßlichen, knabenhaften Streiches schämte.

Der Alte schüttelte den Kopf, aber er sagte nichts und begann wieder zu trinken.

Schutoff sah ihn beunruhigt an.

»Weißt du, du solltest wirklich hier bleiben, warte doch ab!« sagte er aufgeregt.

»Ach was!« erwiderte prahlend Werigin, gerade deshalb, weil es ihm selbst etwas unheimlich wurde und weil er sich schämte, es einzugestehen.

In der Stube war es stickig und dunkel. Die Lampe brannte trübe; auf der Holzwand krochen und verschwanden flüchtige Schatten, die der aus dem Samowar aufsteigende Dampf verursachte.

»Gar nicht schön!« wiederholte der Alte vor sich hin.

»Warum denn,« begann Werigin, gereizt durch seinen zurechtweisenden Ton, »Sie sind doch wahrscheinlich sehr religiös und müßten demnach meine Handlung gutheißen: ich habe ja dem Götzendienst hier ein Ende gemacht! ... Die heiligen Väter taten es auch nicht anders! ...«

Der Alte schielte nach ihm hin, damit andeutend, daß er die Ironie verstünde.

»Ihrer Handlungsweise sind die heiligen Väter kein Vorbild!« sagte er mißbilligend. »Auch was die heiligen Väter taten, war nicht immer gut.«

»Also Ihrer Ansicht nach sollte man den Aberglauben nicht bekämpfen? Mögen die Leute ihren Holzklötzen dienen, soviel sie wollen?« fragte spöttisch Werigin.

Der Alte schwieg eine Weile.

»Jeder Mensch hat seinen Holzklotz!« entgegnete er belehrend. »Nicht das ist die Hauptsache, wem der Mensch dient, sondern wie er dient – darum handelt sich's ... Ihnen und mir steht es schlecht an, den Leuten ihren Glauben auszutreiben! ... Du solltest deinen Glauben kennen, Herr, und an den fremden nicht rühren. Halte dich beim Guten und du wirst dem Herrn ein wohlgefälliger Diener sein. Nicht im Tempel, sondern im Geiste!« schloß feierlich und ausdrucksvoll der Alte und erhob zur Bekräftigung seiner Worte den krummen, borkigen Finger.

»Ein Holzklotz ist aber kein Geist!« erwiderte Werigin, ohne sich in die Worte des Alten vertieft zu haben.

»Holzklotz! ... Und du, Herrchen, woran glaubst du?« fragte plötzlich ganz offen mißbilligend der Greis und blickte Werigin scharf an.

Werigin lachte.

»Ich glaube an die Menschheit, Alter!«

»An die Menschheit?« wiederholte, wie es schien, nachdenklich Fjodor Iwanowitsch. »An die Menschheit! ... Und glaubst du stark, deiner Meinung nach?«

»Wird wohl stark sein, wenn ich hierher geraten bin!«

»So! Und woher weißt du, daß dein Glaube der rechte ist?«

»Ich denke!«

»Denk nicht, sondern sprich, wie du es verstehst! Da sind, sagen wir, ich, und Wassily Wassiliewitsch, und jener Alte dort, und unser Ortsvorsteher – alles lauter Menschen, könnte man sagen. Glaubst du also auch an uns vier?«

»Nun, warum das? ... Ich glaube, Alter, an die Idee der Menschheit!« lächelte nachsichtig Werigin.

»Wie?« Fjodor Iwanowitsch schien ihn nicht verstanden zu haben und neigte das Ohr zu ihm, aus dem ein grauer Haarbusch hervorsah.

»An alle Menschen zusammen glaube ich!« erklärte lachend Werigin.

»Nein, Herr, du redest nichts Rechtes!« sagte der Alte kopfschüttelnd. »An jeden Menschen kannst du nicht glauben, denn der Mensch ist sterblich und in seinem irdischen Dasein sogar durchaus nichtig. So müßtest du auch an die Ziege glauben! ... Du glaubst so, wie wir alle glauben: an die Wahrheit und an das Gute ... An die Wahrheit und an das Gute im Menschen glaubst du, und so kommt es, daß der Mensch für dich – derselbe Holzklotz ist.«

»Wie?« fragte seinerseits Werigin.

»Neulich ist ein Missionar zu uns gekommen,« fuhr der Alte fort, seine Frage scheinbar nicht beachtend, »er rief die Leute zusammen, holte einen Haufen Bücher hervor, und nun ging's los: wir bekreuzten uns nicht so, wie sich's gehört, wir beteten nicht so, wie es rechtgläubige Christen tun müßten, wir führten also ein Gott nicht wohlgefälliges Leben und seien demnach der ewigen Höllenqual ausgeliefert! ... Ein Gesicht aber hatte der Mann – wie ein Kupferkessel ... Ein heiliger Mann! ... ›Und du, wie bekreuzest du dich, wenn du die Menschen verdammst?‹ frage ich ... ›Wie bringst du unsrem Gott vor den Heiligenbildern deine Gebete dar, wenn du nach Schnaps stinkst?‹ ... Natürlich ist er bös geworden, hat geschimpft und ist schließlich davongefahren! ... Gelacht haben die Leute hier ... Aber mir ist nicht zum Lachen! ... Nicht dem Gott dient der Mensch, sondern seinem Glauben ... Bauen sich die Leute eine Kirche, und beten sie an, im Leben aber haben sie nichts von Gott! ... Nur ihre Hände und ihre Zungen beten! ... Wozu dient so ein Glaube, mag er auch der allerrichtigste sein? Zu nichts! ... Und jener Alte, den du gekränkt hast, und vielleicht seines Glaubens beraubt, er hat seinem Götzen uneigennützig und erhaben gedient! ... Gott gebe dir, daß du mit deiner Menschheit so umgehst, wie er mit seinem Holzklotz! ... Und warum hast du einem Menschen Böses getan, wenn du an die Menschheit glaubst? ...«

»Zum Teufel, wußte ich denn das!« fuhr Werigin auf und begann in seiner Verlegenheit eine Zigarette an der Lampe anzurauchen, sich den Anschein gebend, als ob seine ganze Aufmerksamkeit davon in Anspruch genommen würde.

»Nichts – Teufel!« erwiderte mißbilligend der Alte. »Du mußt es wissen, daß jeder seinen Holzklotz hat, und daß kein Glaube vor dem anderen einen Vorzug hat ... Gott hat ja niemand gesehen! ... Vielleicht war ihm der Holzklotz lieber als manche Kirchen! ... Hast du Gott befragt, welcher Glaube ihm der liebste ist! ... Vor ihm ist jeder Glaube gleich, dem Menschen aber tut jener Glaube gut, der ihm das Böse nimmt. Durch deinen Holzklotz hindurch solltest du zu Gott aufsehen, und der Holzklotz wird kein Holzklotz mehr sein! ... So ist es, und du – denk nach. Ich aber, werde jetzt gehen ... Allerschönsten Dank für die Bewirtung!«

Er drehte sein Glas um, legte das kleine Zuckerrestchen zu oberst auf den Boden und erhob sich.

»Ein großer Philosoph sind Sie!« sagte spöttisch Werigin.

»Philosoph!« wiederholte mit Bitterkeit der Greis und schüttelte hoffnungslos den Kopf. »Nichts für ungut!«

Er ging hinaus, sich tief bückend in der niedrigen Türe.

Werigin und Schutoff schwiegen lange. Die dumpfe Stimme schien in dem Zimmer geblieben zu sein und ihr Gemüt zu belasten.

»Der Alte ist interessant!« sagte endlich Werigin, nur um etwas zu sagen.

»Und er ist klug!« belebte sich Schutoff. »Ich unterhalte mich sehr gern mit ihm ... Es ist etwas Kraftvolles in ihm!«

»Ja–a ...« gab Werigin ungern zu, da er sich darüber ärgerte, daß er bei dem Alten so schlecht abgeschnitten hatte.

»Und bei uns geht alles drunter und drüber!« bemerkte nach kurzem Schweigen Schutoff, offenbar durch das Kraftvolle des Alten darauf gebracht. »Alle beschimpfen sich, alle sind miteinander verzankt, alle Programme sind über den Haufen geworfen ... Das Spiel ist verspielt, jetzt markten sie darüber, wer die Schuld hat und wer nicht! Schrecklich! ... Und wozu der ganze Streit? Alle sind schuld! ... Das bereitwillige Bis-zu-Ende-gehen hat eben den meisten gefehlt ... Und im Grunde: man kann ja auch nicht von allen Heldenmut verlangen!«

»Nun, du hast, scheint's, genug Heldenmut gezeigt!« bemerkte Werigin unwillkürlich zärtlich, die dünnen, kranken Haare und die klaren Augen betrachtend.

»Was ist das für ein Heldenmut!« sagte hoffnungslos abwinkend Schutoff. »Daß sie mir die Brust zerschlagen haben, das ist Zufall!«

»Ein netter Zufall!« lachte Werigin und seine Augen wurden feucht.

Schutoff wurde aufgeregt.

»Nein, wirklich ...« sagte er, vermutlich in der Absicht, das Thema zu wechseln, »das wäre alles nicht so schlimm, schlimm ist nur, daß man hier wie ein Futtertrog herumliegt, während dort jeder Mensch kostbar ist!«

»Für dich ist's genug! ... Du hast auch so schon viel getan!«

»Was habe ich denn getan? Wo ist's zu sehen, was ich fertiggebracht habe? ... Ja, wenn du willst, ich weiß natürlich selbst, daß man von mir jetzt nichts mehr verlangen kann, aber mir wird nicht leichter durch diese Erkenntnis! Wenn Kameraden zu mir kommen und zu erzählen anfangen, Zeitungen lesen ... entsetzlich, was dort alles geschieht! ... Und man kann sich nicht rühren, nicht vom Fleck ... hier liegen, husten, auf den Tod warten! ...«

»Jetzt kommst du schon wieder mit deinem Tode!« unterbrach ihn etwas taktlos Werigin.

»Was soll man machen, wenn er auf einen stündlich wartet! ... Du mußt nicht denken ...« versicherte plötzlich eilig Schutoff, durch die Aufregung sogar rot werdend, »vor dem Tode habe ich keine Angst ... wirklich nicht ... und ich jammere durchaus nicht! – Ich betrachte ihn wie ein Faktum, ganz objektiv ... Was bedeutet Tod? ... Früher oder später muß man doch sterben. Es tut mir nur leid, daß ich den Sieg nicht erleben werde! ... Zuweilen denke ich: der jetzige Zustand wird vorübergehen, eine neue Welle wird sich erheben, es wird wieder Kampf geben ... man wird leiden und siegen, und du wirst nicht mehr unter ihnen sein ... traurig! ... Und was für ein Glück muß es sein, den Sieg seiner Idee verwirklicht zu sehen! ... Höre, sag' ganz offen, ganz ehrlich, glaubst du daran, daß wir am Ende siegen werden?« fragte in höchster Aufregung Schutoff und richtete sich dabei sogar auf.

Werigin sah in die hellen, weitgeöffneten Augen, in denen die leidenschaftliche Frage brannte, und er fand es geradezu sonderbar ... drei Tage hat der Mensch noch zu leben und er spricht – wir werden siegen! ... Was geht ihn das an?

»Natürlich werden wir siegen!« sagte er, unwillkürlich die Augen senkend.

Schutoff blieb aufgerichtet, auf den Ellenbogen gestützt, liegen. Er sah nicht auf Werigin, sondern irgendwohin höher, über den Kopf des Kameraden hinweg, und seine, vom nahen Tode durchsichtigen Augen schienen in der Ferne einen Siegeszug zu erblicken, den Strahlenglanz einer neuen Sonne.

Dann überkam ihn plötzlich eine Mattigkeit, und er fiel zurück. Schweiß trat auf seine Stirn und die dünnen, weichen Haare verklebten sich zu dünnen, flachen Strähnen.

Werigin saß vornübergebeugt und betrachtete anscheinend aufmerksam seine Stiefel. Aus irgendeinem Grunde konnte er Schutoff nicht ansehen. Diese leidenschaftliche, todesschwere Verzücktheit schnitt ihm schmerzlich ins Herz.

 

IV.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Werigin an der bekannten Waldwiese anlangte, aber die Baumwipfel waren schon hell und die Luft klar. Die Morgenfrische verjüngte und die Beine schritten so leicht und willig dahin, als ob es ihnen selbst Vergnügen bereitete, die Schwere eines jungen, kräftigen Körpers zu tragen.

Unten, unter den Bäumen, war das Gras noch bleich vom Tau, und die kleinen Wiesen erschienen wie mit Reif überdeckt. Das Gras war schwer und naß, und kaum war Werigin in den Wald getreten, als seine Stiefel schon glänzten, als wenn sie gewaschen worden wären, und die Knie seiner Beinkleider hatten dunkle, nasse Flecken bekommen.

Von den gestrigen Gesprächen blieb der Eindruck von etwas Krankhaftem und Schwerem, und man mochte an einem so reinen, frohen Morgen nicht über sie nachdenken. Unter der Einwirkung dieser Reinheit, des Lichts und der Leichtigkeit, hätte Werigin beinahe die Warnung des alten Fjodor Iwanytsch vergessen, trotzdem er und Schutoff ihm vor seinem Weggehen dringend anrieten, nicht allein zu gehen. Das Bleiben bedeutete aber das endgültige Eingeständnis, daß er eine Dummheit gemacht hätte und jetzt ihre Folgen fürchtete. Anfangs war Werigin auf seiner Hut, ließ die Flinte nicht aus der Hand und spähte sorgsam durch die Zweige, hinter jeden Busch. Aber im Walde war es still und leer, etwas Verdächtiges konnte man nirgends entdecken, und seine Vorsicht verminderte sich allmählich. Er war jetzt ganz ohne Sorge, und als die heilige Waldwiese durch die Stämme zu schimmern begann und das Dach der bekannten Hütte sich zeigte, fühlte Werigin nichts außer Neugierde.

Zuerst fiel ihm die sonderbare Leere und Schweigsamkeit der Waldwiese auf: die Blumen hielten unter der Schwere reichlichen Taues ihre Köpfchen gesenkt und standen unbeweglich, wie schlafend über dem Grün; die Bienen, die wahrscheinlich noch in ihren warmen Stöcken schliefen, waren nicht zu sehen; die bunten Lappen unter dem Dach waren feucht und hingen wie nasse Fetzen; die Türe der Hütte war weit offen und das Loch war unheimlich schwarz, wie der Eingang in ein Grabgewölbe. Ringsherum war niemand zu sehen.

Wie das erstemal stand Werigin eine Zeitlang unter den Bäumen am Waldessaum und trat dann hervor. Er erwartete unwillkürlich, daß der weiße Alte von irgendwoher wieder auftauchen, ihn anschreien und anspucken würde. Seltsam, er hätte sich sogar darüber gefreut. Aber Leere und Schweigen herrschten ringsherum, und die bleichen Bäume standen trauernd am Waldesrand.

»He, Alter!« rief Werigin, ohne zu wissen weshalb, nur seinem unheimlichen Einsamkeitsbewußtsein folgend.

»A–a–lter!«

Etwas klapperte, rauschte und knackte über seinem Kopf. Werigin sah sich schnell um und faßte an die Flinte. Aber es war nur ein aufgewachter Rabe. Er klapperte mit seinen über Nacht feucht gewordenen Flügeln und flog plump und schwer unten am Waldsaum entlang.

– Wo steckt er? – dachte Werigin.

Er trat an die Hütte und blickte vorsichtig hinein. Feuchte, verschimmelte Kellerluft wehte ihm entgegen. Werigin schlug absichtlich mit dem Kolben an den Türpfosten, aber es regte sich niemand. Erst nachdem er aufmerksam hingesehen hatte, erblickte er plötzlich in der Finsternis zwei grüne, leuchtende Punkte, die sich unruhig in der dunkelsten Ecke bewegten. Unwillkürlich richtete Werigin den Flintenlauf in die Dunkelheit. Die leuchtenden Punkte zuckten. Er trat zwei Schritte zurück, und etwas Wolligrotes huschte an seinen Füßen vorbei. Ein großer Fuchs, den roten, buschigen Schwanz weit von sich gestreckt, galoppierte über die Wiese und verschwand im nächsten Augenblick hinter den Sträuchern.

»Daß dich! ...« hatte Werigin gerade noch Zeit auszurufen, und nahm den Fuchs aufs Korn, aber es war schon zu spät.

Ihm kam der Gedanke, daß der Fuchs nicht aus Zufall hier hineingeraten wäre.

– Er wird doch nicht tot sein? – dachte Werigin, vergessend, daß der Fuchs einen Leichnam nicht anrührt.

»He, Alter!« rief er wieder laut.

Es blieb alles still, und immer heller wurde es ringsherum. Auf den Wipfeln der Bäume brannten schon rosafarbene Flammen, und bald hier, bald dort erklangen schüchtern die ersten Vogelstimmen.

Sich bückend betrat Werigin die Hütte und fand, nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, auf der Erde blutige Daunen und Federn. Er verstand jetzt, daß die Hütte verlassen war.

»Teufel!« fluchte, seiner Gewohnheit nach, mit unklaren, unangenehmen Gefühlen Werigin und trat hinaus.

Er traute dieser Stille nicht; er ging, die Flinte immer noch schußbereit in der Hand, um die Hütte herum und gelangte an einen kleinen mit Reisig abgesteckten Bienengarten. Ein Bild völliger Zerstörung überraschte ihn hier: vier grobgezimmerte Bienenstöcke lagen umgeworfen auf der Seite, ihre Deckel waren weit weggerollt, und auf der Erde lagen die zerdrückten Honigwaben mit in sie hineingedrückten, toten Bienen. Einige lebende saßen im völligen Stumpfsinn auf den Zweigen der Umfriedung und schienen in stummer Verzweiflung, gleichgültig zu allem anderen in der Welt, die Vernichtung ihrer Heimstätte zu betrachten. Eine oder zwei von ihnen erhoben sich schwer von ihren Plätzen und versuchten mit drohendem Summen Werigin zu überfallen, aber es fehlte ihnen die Kraft und das Bewußtsein einer Einheitlichkeit, sie beruhigten sich bald und ließen sich ebenso stumpf nieder, hier und dort, wie es gerade kam.

Werigin verließ den Bienengarten, immer noch im unklaren über die Bedeutung dieser sonderbaren Zerstörung, warf einen Blick in die dunkle Hütte, machte eine Bewegung mit der Hand, wie wenn er etwas abschütteln wollte, und ging weiter.

In der kleinen abseits gelegenen Mulde, in der sich seit Frühjahr noch etwas rostiges Wasser befand, das von schwarzem Sumpf umgeben war, erblickte er etwas, das er nicht unterscheiden konnte, das ihm aber Herzklopfen verursachte. Werigin trat an den Sumpf. Mit furchtbarer Deutlichkeit stellte er sich vor, wie der Leichnam des Alten, der die Vernichtung seines naiven und festen Glaubens nicht überleben konnte, vor ihm liegen würde.

Aber es war nur der Holzklotz mit der durch die Kugel abgespaltenen Wange. Er mußte vermutlich mit einer bedeutenden Kraftaufwendung in den Sumpf geworfen worden sein, aber mit schwarzem Kot bespritzt, lächelte sein Gesicht trotzdem immer noch schlau und läppisch zugleich.

Werigin betrachtete ihn mit einem sonderbaren, schweren Gefühl. Er schämte sich, es tat ihm etwas leid, und etwas, das mehr war, als Scham und Mitleid, regte sich noch ganz unbewußt in seiner Seele.

Er wäre hier wahrscheinlich noch lange gestanden, wenn nicht irgendein Ton ihn veranlaßt hätte sich schnell umzudrehen ... Seltsam, wie im Traum, erschien auf seiner Netzhaut die Silhouette eines Pferdes mit einem Reiter zwischen Baumstämmen, aber als Werigin sich umsah, konnte er nichts entdecken, nur der blaßgrüne Wald schaute ihn schweigsam an.

Er hielt es für ausgeschlossen, daß man so schnell verschwinden könne, und ärgerte sich über seine Aengstlichkeit.

Er schüttelte unzufrieden den Kopf, warf die Flinte über die Schulter und setzte unwillkürlich mit größeren Schritten seinen Weg fort.

 

V.

Heiteres, goldiges Licht überflutete schon alle Bäume, und der Tau funkelte mit Tausenden von Diamanten, als Werigin, der nachdenklich dahinschritt, plötzlich stehenblieb.

Mit schüchternen und kleinen Sprüngen hüpfte stolpernd ein grauer Hase vor ihm. Seine endlos langen nervös zuckenden Ohren lagen ihm auf dem Rücken, das kurze Schwänzchen stand von dem ungeschickt hochgehobenen Hinterteil ab, und es hatte den Anschein, als ob dieser Hase sonst nicht auf allen vieren zu gehen pflegte.

Werigin griff unwillkürlich nach der Flinte, aber etwas hielt ihn zurück und mit angehaltenem Atem, unbeweglich stehend, beobachtete er das lustige Tierchen.

In der Mitte der Lichtung angelangt, setzte sich der Hase behutsam aufrecht, die langen Ohren nach oben gespitzt, und drückte die kurzen Vorderpfoten an den dicken, weißlichen Bauch. Sekundenlang schien er zu horchen, die Ohren kaum merklich bewegend. Werigin konnte sehen, wie sein zartes Näschen witternd zitterte, nach verdächtigen Gerüchen suchend. Aber Werigin stand unterm Winde.

Unzählige Vogelstimmen erfüllten jetzt klingend und trillernd die Luft. Blätter und Gräser schimmerten golden im Licht. Der Himmel war klar und rein – kein Wölkchen!

Der Hase bewegte sich jetzt. Er hatte sich wahrscheinlich überzeugt, daß nichts da wäre, das ihm gefährlich werden könnte. Seine gespannte Haltung wurde lässig bequem, er streckte sein Bäuchlein komfortabel vor und zwinkerte vor Vergnügen mit den Augen, dann streckte er sich wieder, hob die Vorderpfoten und fuchtelte mit ihnen komisch in der Luft; jetzt machte er einen Sprung, überschlug sich, lag eine Sekunde lang ausgestreckt auf dem Rasen, sprang wieder auf und kugelte wie ein Rad durch das Gras.

Es war so grün, so licht, so froh ringsherum. Der Hase sprang, als wenn er verrückt geworden wäre, hüpfte, fuchtelte mit den Pfoten und überschlug sich. Sein ganzes bißchen Vernunft schien er verloren zu haben aus Freude über den strahlenden Morgen und über das Gefühl seiner Sicherheit.

Werigin hätte beinahe laut aufgelacht bei diesem Anblick. Das arme, harmlose, das am meisten schutzlose Tier war zugleich komisch und kläglich in seiner naiven, ausgelassenen Freude und ahnte nicht, daß der Tod einige Schritte entfernt auf ihn wartete.

Der Hase hielt plötzlich inne, setzte sich aufrecht und erstarb, sich plötzlich in eine Verkörperung des Schreckens verwandelnd. Die Ohren gespitzt, ängstlich äugend, und das Näschen fein zitternd ... Aber offenbar hatte er nichts Verdächtiges bemerken können, er senkte die Pfoten auf den Bauch, ließ das eine Ohr fallen und erstarb in glückseliger Betrachtung des grünen Waldes, des blauen Himmels und der strahlenden Sonne.

Ein lauter Büchsenknall rollte schallend durch den Wald. Werigin hatte die Empfindung, als ob ihm jemand einen kräftigen Schlag mit einem Stock auf den Hinterkopf versetzt hätte. Und ohne mehr sehen zu können, wie der Hase mit einem verzweifelten Sprung in den Büschen verschwand, warf er die Arme hoch und fiel schwer vornüber ins Gras.

Längere Zeit blieb es still. Die Sonne schien Werigin gerade auf den Hinterkopf, und auf dem zerdrückten Rasen daneben zeigte sich etwas Graues und Rotes.

Die Büsche bewegten sich und ein sonderbares schmaläugiges, wie hölzernes, ausdrucksloses Gesicht erschien über dem Grün; behutsam, nach Katzenart auftretend, näherte sich ein gelbgesichtiger Mann dem Toten. In seinen Händen rauchte noch eine lange, altertümliche Büchse. Er warf Werigin einen scheinbar gleichgültigen Blick zu, stieß den Leichnam mit dem Fuße an und begann ruhig und aufmerksam seine Büchse zu laden.

Dann warf er einen prüfenden Blick in die Runde, hob die Flinte des Getöteten auf, trat hinter den Busch zurück und erschien nach einigen Augenblicken mit einem kleinen, zottigen Pferd. Er warf sich geschickt in den Sattel und verschwand leise, wie ein Wolf, zwischen den. Stämmen.

1911.


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