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Doktor Louriers Verbrechen

 

Denn viele Weisheit bringt viel Leiden, und wer das Wissen vermehrt, vergrößert die Trauer.

Ecclesiastices 18.

 

I.

In der außerordentlichen Sitzung der medizinischen Gesellschaft wurde ich feierlich aus der Mitgliederliste gestrichen; ein schweres, gerichtliches Verfahren steht mir bevor; die Zeitungen sind mit den Beschreibungen meines Verbrechens überfüllt; es gibt Leute, die im Namen der Humanität die Guillotine für mich fordern; die Boulevards sind voll von meinen Bildern, den Bildern des größten Verbrechers seiner Zeit. Dem Ostrazismus anheimgefallen, von allen verlassen, im Gefängnis, als ein verruchter Verbrecher verdammt, und Gegenstand der allgemeinen Empörung, bin ich – ein abgetaner Mensch.

Gott sei mein Zeuge, daß die Verachtung der Gesellschaft mich nur wenig betrübt, das Zuchthaus ängstigt mich nicht, der Titel eines Verbrechers rührt mich noch weniger und die Zukunft beunruhigt mich nicht im geringsten.

Ich gehöre zu jenen Menschen, für die es außer dem Gerichte ihres Gewissens kein anderes gibt, die ihre Freuden und Leiden in ihrem eigenen Ich verbergen. Ich kann allein leben. In der Not, in der Verbannung oder im Zuchthaus bleibe ich derselbe Jean Lourier und werde die Welt und die Menschheit ebenso ansehen, wie ich sie angesehen habe als der von allen geachtete, zu den größten Hoffnungen berechtigende, junge Gelehrte, Mitglied vieler wissenschaftlicher Gesellschaften.

Und meine Augen sehen jetzt ebenso scharf wie früher, mein Wille ist noch ebenso unerschütterlich fest, die Pulsschläge meines Herzens haben sich nicht im geringsten beschleunigt, mein Verstand ist noch ebenso klar. Und wenn ich meinen letzten Entschluß gefaßt habe, so hat ihn die Menschheit ebensowenig verschuldet, wie der Stuhl, auf dem ich in diesem Augenblick sitze.

Die Gründe für den Selbstmord, den ich begehen werde, werden wahrscheinlich nur wenigen verständlich sein, und da die Gedanken, die mich erfüllen, tiefer und größer sind, als die Worte, die ich zu sagen vermag, und ich nicht den hundertsten Teil meiner Erlebnisse ausdrücken könnte, so möge derjenige, der Ohren hat, um zu hören, und ein Gehirn, um zu denken, selbst in den Sinn der entsetzlichen Erkenntnis eindringen; sie hat sich mir plötzlich, unerwartet, selbst offenbart; ich aber werde nur von dem mir zur Last gelegten Verbrechen sprechen.

Ich gebe sein Schema wieder, wie es von der Presse fixiert worden ist:

Ich, Doktor Jean Lourier, habe während meiner letzten Reise durch Zentralafrika einen jungen Neger aus einem Kaffernstamm, namens Rasu, mit Gewalt entführt und mit der größten Vorsicht nach Paris gebracht; ich habe ihn in einer, niemandem zugänglichen, abseits gelegenen Orangerie gehalten, in einer streng durchgeführten Einzelhaft, um irgendwelche grausame, unbegreifliche und unmenschliche Experimente mit ihm vorzunehmen. Eines schönen Morgens hängte sich der unglückliche Neger auf, unfähig, die raffinierten Qualen, die ihm Doktor Lourier verursachte, zu ertragen. Da es unmöglich war, den Leichnam in der Wohnung zu lassen, wandte sich der Doktor an seinen Bedienten Joseph, um die Spuren des Verbrechens aus der Welt zu schaffen. Auf diese Weise kam das Verbrechen ans Tageslicht und in die Zeitungen.

Das mag ungefähr stimmen ... Im Interesse der Wahrheit hätten die Reporter noch hinzufügen müssen, daß dieser Bösewicht, Doktor Lourier, gar nicht die Absicht hatte, das von ihm begangene Verbrechen dem Richtspruch der Menschheit vorzuenthalten, und daß der Verrat des Bedienten nur darin bestand, daß er beim Anblick eines nackten, schwarzen Leichnams wie irrsinnig zu schreien begann und so die Aufmerksamkeit der Passanten erweckte, die dann den Polizeikommissar verständigten. Ich hatte den Leichnam aus der Orangerie in das Empfangszimmer gebracht und kleidete mich gerade um, um selbst auf die Polizeipräfektur zu gehen.

Ich hatte nicht die geringste Absicht, meine Tat zu verheimlichen. Ich bedauere nur das Schicksal meines armen Rasu, der mich wie ein Hund liebte ... Ich bin mir der ganzen entsetzlichen Tragweite meines Verbrechens voll bewußt, und sterbe selbst als ein Opfer desselben Experiments, das auch dem armen Neger das Leben kostete.

Die, die mich kennen, wissen, daß ich mein Leben der Wissenschaft geweiht habe, daß ich oft mein Leben riskiert habe, indem ich an die schwierigsten und gefahrvollsten Experimente heranging, mit der einzigen Absicht, die Wahrheit zu erkennen, mit der ich die Welt zu erleuchten hoffte.

Ich habe mir die Syphilis injiziert, um die Wirksamkeit des Präparats von Professor Eguier zu beweisen; ich verbrachte sechs Monate in Golkonda, im ärgsten Pestherde, die riskantesten Untersuchungen und Experimente mit Typhuskulturen ausführend; ich führte einen qualvollen Versuch eines zwölftägigen Hungerns aus; krank an Skorbut, überwinterte ich unter den schwierigsten Verhältnissen im äußersten Norden; mit dem Gewehr in der Hand, am gelben Fieber leidend, leitete ich eine (äußerst gefährliche) Expedition zu den Quellen des Nils; ich habe bewiesen, daß der elektrische Strom von über 2000 Volt für den Menschen ebenso ungefährlich ist, wie das Wehen eines leichten Windes; ruhig nahm ich in dem Sessel Platz, mit dem die Neuyorker Humanisten das Problem der schmerzlosen Hinrichtung gelöst zu haben glaubten ...?

Alles das, im Verein mit einer langjährigen, unermüdlichen Arbeit in den verschiedensten Laboratorien brachte mir die Mitgliedschaft des Pasteurinstituts ein, die Achtung der größten Gelehrten unserer Zeit und sogar eine gewisse Berühmtheit, wenn auch nicht die eines hervorragenden Gelehrten, so doch jedenfalls eines Menschen, der uneigennützig und leidenschaftlich der Wissenschaft ergeben ist.

Alles das ist jetzt natürlich erledigt, und ich erwähne es nicht, um auf die Sentimentalität der öffentlichen Meinung zu spekulieren, sondern nur, um begreiflich zu machen, warum gerade ich logischerweise zu diesem seltsamen, grausamen und schicksalsschweren Versuch kommen mußte.

Der Mensch, der so oft sein eigenes Leben in die Schranke zu werfen sich nicht scheute, der bereit war, es nur aus Liebe zu der Idee, also ganz uneigennützig zu tun (wäre ich z. B. bei meinem Versuch mit dem elektrischen Schafott wie vom Blitz getroffen hingesunken, so hatte ich nicht einmal gewußt, was aus meinem Opfer geworden ist), ich meine, dieser Mensch hätte eine gewisse Berechtigung, wenn nicht das volle Recht, auch das Leben eines anderen Menschen für einen Versuch zu riskieren, da das eigene für einen Versuch dieser Art einfach unverwendbar war.

Ich werde nicht davon sprechen, wie ich auf dem Wege schwierigster Deduktionen zu der Ueberzeugung gelangte, daß dieser Versuch absolut notwendig war, ich will nur bemerken, daß ich, der ich alle meine Kräfte und mein Leben dem Wissen geweiht habe, endlich über die Frage nachdenken mußte: ist wirklich der Pfad des menschlichen Glücks im Wissen zu suchen, diene ich dem Bösen oder dem Guten, zerstöre ich nicht, im Glauben, zu bauen?

Wie viele kluge, an Wissen reiche, völlig aufrichtige und edle Menschen verbringen ihr Leben mit den langwierigsten Untersuchungen, immer neue und neue Geheimnisse der Natur aufdeckend, ohne auch nur ein einziges Mal darüber nachzudenken, wohin sie die Menschheit führen, der sie aus allen Kräften ihrer großen Seele dienen wollen.

Ich selbst, als ich mir das Gift einer furchtbaren Krankheit beibrachte, dachte damals nicht darüber nach, daß ich, wenn ich das Leben der Infizierten, hoffnungslos Kranken rette, gleichzeitig endlose Zeiten des Leidens für ihre Nachkommen schaffe – für alle die Schwachsinnigen, Krüppel und Verbrecher.

Ja, der Wissenschaftler sucht die Erkenntnisse nur, um zu der allernächsten Etappe seines Weges zu gelangen: wenn er einen Explosivstoff entdeckt, kümmert es ihn darum nicht, daß dieser Dynamit mehr menschliche Leiber zerreißen, als Felsen sprengen wird, daß er mehr Haß und Verbrechen erzeugt, als Kraftmaschinen. Ihm ist es nur wichtig, einen weiteren, überflüssigen Schritt auf dem Wege zur ewigen Nacht, die die Menschheit umkreist, zurückzulegen; wohin aber dieser Weg führt, was dann die Menschen am Ende dieses mühseligen Weges erwartet, darüber denkt er nicht nach, und wenn, so bewegen sich seine Gedanken mitten in erhabenen, schönen Allgemeinplätzen – diesen unfaßbaren Göttern der Menschheit, im Namen derer sie seit Millionen von Jahren durch Blut und Tränen watet.

Am Anfang war das Wort, steht in dem Buch der Bücher geschrieben, und das Wort war Gott! ... Aber es war nicht nur am Anfang, es war immer so, es ist so, und wird immer so sein: dieses geheiligte Wort schiebt das menschliche Gewissen und den Gedanken, mit diesem Wort ersetzt man unfaßbare Geheimnisse, im Namen dieses Wortes geht man in den Tod. Und die Pflicht der Vernunft, ich weiß es, ist nicht die Zeugung neuer Worte, nicht der Trost der Worte, nicht der Betrug mit Worten, möge er noch so schön sein, sondern – die Zerstörung des Wortes. Die Vernunft soll die Maske schöner Worte von dem verfaulten Schädel menschlichen Lebens reißen, sie soll ihn in seiner ganzen, grauenhaften Häßlichkeit der verwirrten, erschrockenen Menschheit zeigen. Dann, wenn alle Vorurteile, erzeugt durch die bezaubernde Wirkung schlau ineinandergeflochtener (schöner) Worte, zerstört sind, wenn die nackte Wahrheit entblößt dastehen wird, wenn der religiöse, ethische und ästhetische Aberglaube in sich zusammenfällt, wenn die Menschen erst begreifen werden, daß dort über den Sternen nichts ist, daß sie schutzlos, einsam in dem tiefsten Kern ihres Wesens sind, – dann werden sie wissen, was sie zu tun haben. Vielleicht werden sie ihr nutzloses Leben zerstören, vielleicht werden sie einig und verschmelzen sich in dem Gedanken einer Brüderschaft der Einsamen, nur sich selbst und untereinander verwandter Wesen, aber mögen sie tun, was sie wollen, es wird immer wahrer und besser sein, als dieser entsetzliche Alpdruck, der sich seit Jahrtausenden hinzieht, qualvoll, grotesk häßlich und widerwärtig.

Das habe ich erkannt, und da mein ganzes Leben dem selbstlosesten Dienste des Wissens geweiht war, im Namen der schönen Worte »Wissenschaft, Fortschritt, Licht, Wohl der Menschheit«, so habe ich selbst meinen eigenen Götzen zu einem Zweikampf aufgefordert, und zwar den Götzen, der mehr wie alle anderen durch das menschliche Wort erschaffen ist.

Im Namen dieses Gottes zerstört man die für die Seligkeit des Menschen erschaffene, große, (reine) selige Unwissenheit, Stein für Stein verschleppt man das ungeheure Gebäude des Unfaßbaren, des in seinen Geheimnissen Herrlichen, das Wunder in eine langweilige, trockene Wirkung eines Naturgesetzes verwandelnd. Und den wunderbaren Leib der Welt bis an seine Knochen entblößend, glauben sie die Menschenwelt zu bereichern, glauben ihr Glück und Ruhe zu bringen.

Ich verfluche jetzt dieses Wissen. Aber um von dem sklavischen Götzendienst zu diesem Fluch zu gelangen, mußte ich einen qualvollen, langen Weg zurücklegen. Der Tod meines armen Negers war das letzte Glied der diesen Weg sich entlangziehenden Kette, und dieser Versuch, ich weiß es selbst, der grausamste Versuch, den der Mensch je erdacht hatte, – war mein letzter Versuch.

 

II.

Meine Wahl fiel auf Rasu ganz zufällig, aus einem nichtigen und sogar etwas heiteren Anlasse.

Es war in Afrika, nachts, als unsere kleine Karawane am Flußufer, auf einer flachen Sandbank, auf die wir unsere Boote hinaufgezogen hatten, das Nachtlager aufschlug.

Die Nacht war dunkel, aber sternenklar. Die Sterne funkelten so hell, daß man hätte denken können, sie wären hier der Erde näher. Ich saß allein auf dem Sande und horchte auf die rätselhaften, immer bedeutungsvoll klingenden Töne der Nacht.

Vor mir lag, matt schimmernd, mit seiner geheimnisvollen Glätte, der Fluß, und die Spiegelungen der Sterne und der dunkle Wald vom gegenüberliegenden Ufer schwankten langsam auf seiner Fläche.

Die Luft bewegte sich nicht, und die wachende Hitze des Tages machte sich fühlbar in einer trockenen, erschöpfenden Schwüle. Aus dem Walde, hinter dem Fluß schickte der Urwald seine unheimlichen Stimmen herüber. Zuweilen unterschied man das Klagen der schwarzen Kröte, das Piepsen irgendeines winzigen Wesens, das wahrscheinlich in die Krallen eines Nachtvogels geraten war, das warnende Pfeifen der Schlangen und lockere Grollen eines hungrigen Raubtieres. Aber alle diese Töne verschmolzen in eine mir ferne, an Rätseln überreiche Musik, die erfüllt war von ihrem eigenen Zweck und von ihren Geheimnissen. Ich hörte ihr zu mit unheimlicher, angespannter Aufmerksamkeit und fühlte mich einsam, umkreist von einem mir feindlichen, ungeheuren und raubgierigen Leben. Ueber mir erhob sich, von unzähligen Lichtern überflutet, der grundlose und randlose Himmel, und gerade über dem Walde, in einer unerreichbaren Höhe vereinigten sich zwei Sterne in eine neue Welt.

Ich kannte die Bahnen dieser stolzen und herrlichen Sterne, ich wußte im voraus, daß sie gerade in dieser Nacht sich nähern würden, und meinem kalten Europäerverstand erschien nichts geheimnisvoll und nichts unbegreiflich in diesem majestätischen Vorgang der Nacht.

Aber in dieser unheimlichen, schwülen Finsternis, im Zauber der dunklen Glätte des Flusses und der Stimmen des Waldes, im Atem der seltsamen, nächtlichen Düfte auf der flachen Sandbank, erregten in mir diese großen Zeichen der Ewigkeit, die in dem grenzenlosen Abgrund der Zeiten eine neue Zahl eingruben, eine leise hoffnungslose Trauer und ein kaum fühlbares, unbewußtes Entsetzen vor der unfaßbaren Ungeheuerlichkeit des Ewigen und Grenzenlosen.

Ich dachte nach über mein Leben und das Leben anderer, ich erinnerte mich all der Wanderungen, all der hastenden Jagd, nach dem einen Ziel: wenigstens einen einzigen Buchstaben zu entziffern in diesem (geheimnisvollen), vor den Augen des Menschen aufgeschlagenen Buch des Alls.

Und nicht zum ersten Male, und nicht einmal besonders schmerzhaft stieg mir jetzt die Frage auf:

– Wozu? ... Hat es auch wirklich einen Zweck? ... Hat es auch nur ein Krümchen Glück oder wenigstens etwas Ruhe gebracht, alles das, was ich so mühselig in der kurzen Spanne Zeit, die ich mein Leben nenne, erreicht habe? ...

Ein kleiner Affe schrie durchdringend im Walde und unwillkürlich stellte man sich seinen kleinen und kraftlosen, menschlichen Körper vor, krampfhaft zuckend in den unüberwindlichen, mitleidslosen Krallen irgendeiner ungeheuren, dunklen Macht, die mit ihren entfalteten, schwarzen Schwingen über dem winzigen, schon erstorbenen Körperchen schwebte.

In dieser Sekunde windet sich das kleine, lebenerfüllte Wesen, nutzlos sich mühend, dem Verhängnis zu entgehen. Dunkle Flügel schweben über ihm und runde, furchtbare Augen leuchten es an. Sie warten, bis die letzten Zuckungen des kleinen, heißen Körperchens vorbei sind, des Körpers, an den in diesem ewig-grünen, mit Licht und Leben erfüllten Walde bald nichts mehr erinnern wird. Sie warten, ohne zu zucken, als ob sie die Todesschreie nicht hörten, die Konvulsionen nicht sehen würden, mitleidslos und rätselhaft wie das Leben selbst.

Und noch einen Augenblick vorher, bevor sich über seinem Kopf die unheildrohenden Flügel schwangen, atmete der arme, kleine Affe friedlich im Traum, ermüdet von dem langen, heißen Tag eines lustigen, grellfarbigen, beweglichen Lebens.

Sein Ende – war ein Augenblick des Entsetzens und der Qual, die er vielleicht nicht einmal erfaßt hat. In den grünen Zweigen nach irgendeiner Nuß hüpfend, oder mit freudigem, durchdringendem Geschrei an dem Schwanz kopfabwärts über der spiegelglatten Fläche der Wasser schaukelnd, dachte das kleine Wesen nicht daran, daß irgendwo, in demselben Walde, in einer dunklen, feuchten Höhle, die gelben, runden, wie blinden Augen drehend, und mechanisch den kurzen, gebogenen Schnabel öffnend und schließend, sein sinnloser, unerbittlicher Tod sitzt.

Ganz unvermittelt, aus einem Leben voll Licht, Freude und Bewegung, geht er durch einen kurzen Augenblick eines unbewußten Kampfes in das Nichts des Todes über. In dasselbe (entsetzliche) schwarze Loch, in das ich, Doktor Lourier, mich während der Jahrzehnte meines Lebens ganz bewußt hineinzwänge, zersetzt von Zweifeln, Hoffnungen, Angst und Müdigkeit. Die wohltätige Unwissenheit des Affen – ist die große Güte der Natur, deren ich, der denkende und leidende Mensch, verlustig gegangen bin.

Früher einmal ersetzte ich diese Unwissenheit mit einem naiven, lächerlichen, aber in seiner Wirkung gewaltigen, Glauben an die Unsterblichkeit, an den Zweck und an die Bestimmung meines Lebens, an den weisen Willen eines Wesens, das stärker war als ich.

Ich selbst habe diesen Glauben getötet, dieses rettende Schild zwischen mir und dem Entsetzen eines Todesurteils, indem ich seine Leere aufgedeckt habe, ihn mit dem Messer eines Anatomen seziert habe, mit der Schärfe meiner mitleidslosen Vernunft.

Aber bin ich nicht eben dadurch einem Kinde sehr ähnlich geworden, dem Kinde, das das unterhaltende, kurzweilige Spielzeug zerbricht, nur um sich zu überzeugen, daß nichts daran sei, um es aus dem Fenster zu werfen, und um mit ihm noch eine Freude seines kleinen Lebens zu verlieren.

Meine Gedanken kreisten immer noch um das Todesjammern des kleinen Affen, das schon längst in der, wie früher mit tausend Stimmen klingenden, Dichte des tropischen Waldes verstummt war.

Das komische kleine Gesichtchen, mit den dummen, neugierigen Augen, erschien vor mir in der Finsternis der Nacht, über der Glätte des schlafenden Flusses. Es sah mich forschend und traurig an, als ob es mich um etwas befragen wollte.

Aus irgendeinem Grunde erinnerte ich mich plötzlich, wie meine Mutter, bei uns auf dem Pachthofe, wo ich als sorgenloses Kind herumlief, siegesgewiß mit ihren Holzschuhen klappernd, die Hühner schlachtete. Schon damals staunte ich beim Anblick des sorgenlos glucksenden Huhnes, das, mit unglaublich wichtiger Miene, nach winzigen, lebendigen Würmern suchte und sie verschlang, während die Mutter, mit einem langen Küchenmesser in der Hand, die Schürze hochgesteckt, schon aus der Küche kam, um es zu holen. Diese Henne, nach Futter suchend, den Sand um sich werfend und die heranfliegenden Sperlinge verscheuchend, war überzeugt, daß die ganze Welt, die Sonne, die Wärme, Erde und Würmer nur für sie da seien: nur, damit ihr Hühnerleben voller werde. Und der Tod näherte sich mit dem Messer in der Hand und dachte über seine eigenen, einem Hühnergehirn unvorstellbaren und unbegreiflichen, Angelegenheiten. Und ich stellte mir vor, wenn man dem ganzen Hühnerhofe, den Schafen und Ochsen, von dem Messer erzählen würde, von den Flammen der Küchenherde, von den Tellern, auf denen man morgen ihre steifen, verunstalteten Glieder vertilgen würde, was für eine Panik, was für ein Entsetzen und Wahnsinn würde unter ihnen ausbrechen! ... Die Ochsen würden brüllen, würden mit ihren Hörnern die festen Zäune erschüttern, die Schafe würden hilflos umherspringen und kläglich blöken, die Hühner und Gänse würden durch die Luft schwirren, den ganzen Hof mit fliegenden Daunen füllend. Und alles würde laufen, schreien, brüllen, gegen Türen und Mauern rennen. Aber sie wissen es nicht, und die Sonne scheint, die Henne kratzt die Erde auf, der Hahn stolziert würdig umher, schläfrig und gutmütig Wiederkäuen die Kühe, friedlich blöken die Schafe ... ein Leben, froh und einfach, erfüllt ihre Welt.

In sumpfigen Gegenden, bei untergehender, feierlich in die Abendschatten versinkender Sonne kreisten zuweilen Hunderte von Mücken mit Siegergeschrei um mich herum: Da ist er! Hierher! ... Und mit eingedrungenem Stachel, sich langsam mit meinem Blute füllend, so, daß sich der kleine durchsichtige Bauch, sich rundend, senkte, erstarb die Mücke in höchster Seligkeit, fühlend, wie in allen Fibern ihres Wesens das Leben pulsierte. Doch, ein Klaps mit der Hand, und sie fällt mit zerrissenem Leib, hilflos mit den Flügeln zitternd, zu Boden, ohne jemals zu verstehen, was eigentlich geschehen war.

Es lebe das glückliche, nicht wissende, nicht denkende Tierreich. In ihm ist nur Lebensfreude, kein Todesentsetzen, und deshalb gibt es auch nicht jene furchtbare Zwecklosigkeit, jene Leere, die seit Tausenden von Jahren die Freude im Herzen des Menschen erstickt und ihn zu einer unsagbaren, seelischen Pein verurteilt.

Und angesichts dieses geheimnisvollen Flimmerns zweier, sich verschmelzender, Weltkörper, horchend aus das unaufhörliche Summen der Waldstimmen über der dunklen Wasserebene, mußte ich mich immer wieder fragen:

– Aber warum denn diese unerfüllbare Gier nach Wissen, dieses unzerstörbare, qualvolle Streben, immer tiefer, in die Tiefe der Finsternis? ... Warum haben wir uns weder mit dem Glücke tierischer Blindheit, noch mit dem naiven Glauben eines Wilden begnügt, der sogar die Finsternis des Todes mit Gestalten ewigen Lichtes und der Güte bevölkert hatte? ... War es wirklich nur ein Fehler, ein Hohn des Satans, der unter dem wunderherrlichen Körper ein furchtbares Skelett, voll übelriechender, ekelhafter Eingeweide, aufdeckte. Ist es wirklich wahr, daß der Mensch glücklicher sein würde, wenn die ganze Hülle des herrlichen Lebensgeheimnisses weggezerrt worden ist und des Lebens seelenlose und blinde Mechanik in ihrer ganzen Nacktheit dasteht? ...

Und in diesem Augenblick fiel mein Blick auf den kleinen Neger, der drei Schritte von mir unbeweglich hockte und mit der Andacht eines Wilden die niegesehene, majestätische Erscheinung am Himmel betrachtete.

Sein kugelrundes Krausköpfchen erhob sich zum Himmel und bei dem schwachen Schimmer der Sterne blitzten kaum merklich seine großen naiven Augen.

Es war schon spät. Ich wollte nach der Uhr sehen und nahm eine kleine elektrische Laterne aus der Tasche. Mit einer langsamen, blasierten Bewegung drückte ich auf den Knopf und ein schwaches, geheimnisvolles Flämmchen bahnte sich mit einem bläulichen Strahl durch die Finsternis.

Ich hörte das Knirschen des Sandes unter dem bestürzten Rasu. Dem kleinen Neger quollen die schwarzen Augen förmlich aus dem Kopf und er betrachtete sprachlos mich und das geheimnisvolle kalte Licht, dessen Strahl still über meine Finger, über meinen Anzug und über den Ufersand glitt.

Irgendein unklares Gefühl veranlaßte mich, die Lampe zurückzulassen und mich zu entfernen. Das bläuliche Licht blieb auf dem Sande liegen, kleine Steinchen und Schilfstückchen beleuchtend.

Ich beobachtete Rasu aufmerksam von weitem. Der kleine Neger saß unbeweglich der Lampe gegenüber und schaute sie wie verzaubert an.

Wenn Rasu erschrocken davongelaufen wäre, oder wenn er, wie viele Neger, in einen Zustand sinnlosen Entzückens, sich in wilden Sprüngen und Schreien äußernd, verfallen wäre, hätte ich wahrscheinlich meine Lampe ruhig weggenommen und wäre mit meinen Gedanken und Zweifeln davongegangen. Aber der arme Rasu tat es nicht. Er saß lange und beobachtete, ob das Licht ausgehen oder aufflammen würde. Aber das Licht strahlte kalt und gleichmäßig weiter, wie ein riesengroßer, auf dem Sande eingeschlafener Leuchtkäfer, der vergessen hatte, seine kleine, phosphoreszierende Laterne auszulöschen.

Rasu blickte um sich, wie wenn er nach einer Erklärung dieses seltsamen Rätsels suchen würde. Seine von dem Licht geblendeten Augen konnten mich nicht sehen.

Endlich bewegte er sich und schlich langsam, auf allen vieren, zu der Laterne. Eine Minute lang konnte ich sein, von unten erleuchtetes, schwarzes Gesicht, mit den glänzenden, groß gewordenen Pupillen, sehen. Dann streckte er seine an die Pfote eines Affen erinnernde Hand aus und berührte vorsichtig die Lampe. Er berührte sie kurz und zog die Hand schnell wieder zurück.

Der Lichtstrahl verschob sich auf der Erde und fuhr fort, ebenso gleichmäßig und geräuschlos zu brennen und das bestürzte, angespannte, von einem plötzlich aufgetauchten Gedanken erfüllte, komische schwarze Gesichtchen zu beleuchten.

 

III.

Es kostete mir eine ungeheure Mühe, meinen Plan auszuführen. Ich begann damit, daß ich mit allen möglichen Mitteln, mit Hilfe eines Revolvers, eines Projektionsapparats, eines Grammophons und einer kleinen elektrischen Batterie, die Aufmerksamkeit Rasus zu fassen und ihn von meinen übernatürlichen Fähigkeiten zu überzeugen suchte. Ich gestehe, daß ich mich zuweilen selbst über die Primitivität meiner Kunststücke schämte, es waren lauter Dinge, die ein kleines Kind von Europa kaum mehr interessieren würden. Ganz unwillkürlich erwartete ich immer, von ihm ausgelacht zu werden, aber seine ursprüngliche Naivität, seine wilde Seele, die durch die Geheimnisse der ihn umgebenden Natur zu der Aufnahme des Phantastischsten und Unwahrscheinlichsten vorbereitet war, sah in allen meinen Kunststücken gerade das, was ich brauchte. Er betrachtete mich mit einem Blick, in dem Angst, Verehrung und Neugier sich mischten.

Ich beherrschte seine Sprache, aber während ich meine Kunststücke aufführte, stieß ich befehlende Ausrufe in meiner Sprache aus, die dem armen kleinen Neger natürlich als Zauberformeln vorkamen.

Ich mußte seinen Willen unterwerfen, und um das zu erreichen, wandte ich folgendes Mittel an: nachts, auf einer Lichtung, die vom Lager weit entfernt lag, erzeugte ich mit Hilfe eines Projektionsapparats den Schatten eines großen Negers, der mit der hölzernen Stimme eines Grammophons dem auf die Knie gefallenen Neger befahl, allen Wünschen des weißen Mannes nachzukommen.

Jetzt richtete sich mein ganzes Bestreben darauf, ihn von den Seinen fernzuhalten und ihn am Verkehr mit anderen Weißen zu verhindern, die ihn über meine übernatürliche Kraft aufklären, oder durch irgendeinen Zufall der göttlichen Kraft, die ich in den Augen Rasus besaß, teilhaftig werden könnten.

Und endlich, nach Ueberwindung unzähliger, mühseliger Schwierigkeiten, selbst von meiner Idee unsagbar erschöpft, brachte ich Rasu nach Paris und quartierte ihn in einer alten Orangerie eines Hauses ein, das ich zu diesem Zweck am Rande der Stadt gemietet hatte.

Jeden Tag erfand ich etwas Neues, indem ich mir die Hilfsmittel der modernen Wissenschaften zunutze machte, und ich umgab meinen kleinen Gefangenen mit Wundern, die seinen schwachen Verstand vollständig verwirrten.

Auf mein Wort hin wurde Licht, krachte der Donner und fuhr der Blitz hernieder. Auch regnete es, wenn ich es wollte. Auf mein Wort hin erschienen schattenhafte Menschen, sprachen mit Rasu und verschwanden wie Rauch. Die Naschhaftigkeit des kleinen Negers kennend, verbot ich ihm, von den Früchten zu essen, die ich in seiner Gegenwart in einen Korb legte, und ging weg, um, zurückgekehrt, zu sehen, wie der kleine Rasu, zitternd wie Espenlaub, im äußersten Winkel, mit dem Ausdruck des Schmerzes und Entsetzens auf seinem schwarzen Gesichtchen, hockte: durch das schöne Aussehen der Früchte verführt, streckte er, in der Ueberzeugung, daß ich nicht da sei, seine Pfote zum Korbe aus und sprang heulend zurück, getroffen durch den Schlag einer elektrischen Batterie.

Die Krone aller meiner Wunder, deren Sinn nur mir allein bekannt war und die auf einen anderen Menschen den Eindruck zweckloser Scherze hervorrufen könnten, war folgendes:

Einmal bemerkte ich, daß Rasu Heimweh bekam. Ihm fehlten seine Palmen, die Flüsse, das Kreischen der Papageien und der Affen, ihm fehlte der blaue Himmel, seine schwarzen Landsleute und die wogenden Schilfufer ... Ich fragte ihn aus, und auf mein Wort hin erschienen an der Wand die Schilfhütten der Neger, ein breiter, von der Sonne beschienener Fluß, Hunderte von Affen, in den Zweigen hüpfend, ein träges Nilpferd, schnaufend im Sumpfe, die Wildnis eines tropischen Waldes und Krokodile, die langsam auf eine Sandbank krochen.

Rasu drückte sein Entzücken in so wilden Sprüngen und Grimassen aus, daß er mir sogar leid tat.

Und endlich gelangte ich zu dem, was ich zu erreichen suchte: Rasu machte mich zum Gott seiner kleinen, abgeschlossenen, für ihn unfaßbaren Welt. Ich beobachtete ihn oft durch eine unsichtbare Oeffnung in der Wand der Orangerie. Einmal bot sich mir ein ganz merkwürdiges Schauspiel dar: der arme, kleine Rasu lag aus den Knien vor einem kleinen, aus Steinen zusammengefügten Altar, auf dem mein Porträt stand, das eine wunderbare Kraft vor seinen Augen auf ein Brettchen hingezaubert hatte; er rieb seine Handflächen aneinander und betete.

Er sang, und in den Worten dieses seltsam wilden Gesanges hörte ich meinen Namen, der sich, mit göttlichen Attributen versehen, öfters wiederholte. Er sang von der mir innewohnenden furchtbaren Kraft, von den Geheimnissen, die ich beherrschte, von meiner Allwissenheit, die mir die Gewalt über jede seiner kleinsten Bewegungen gestatte, von meiner Macht über die ganze sichtbare Welt, die mein Wort erzeuge und wieder verschwinden lasse.

Es war eine ganze Religion, und wirklich, sie war ebenso überzeugend, wie jede andere Religion unserer Welt! ... Ich wurde als Gott erklärt und der kleine Verstand des Negers bediente sich meines Namens, um mit seiner Hilfe all die geheimnisvollen Erscheinungen der ihn umgebenden Welt zu erklären. Alles kam von mir und kehrte zu mir zurück, ich war der Anfang vom All und alles war aus mir hervorgegangen.

Von diesem Augenblick an sah ich, daß alle Zweifel und Aengste bei Rasu verschwunden waren, auch das Heimweh blieb aus. Seine kleine Welt war erfüllt, da sich eine Kraft gefunden hatte, die die seine bei weitem übertraf und die ihn zu seinem eigenen Wohl leitete, die vergeben und strafen konnte, die für ihn dachte.

Der Sinn des Lebens war gefunden und von nun an war alles, was ihn umgab, erfüllt von diesem Sinn. Er wurde zum Pächter seiner Welt, zu der damals noch zwei Bewohner hinzukamen: ein ganz kleiner Affe aus den Pyrenäen und ein grüner Papagei, den ich in Montmartre bei einer alten Frau um vier Franken gekauft hatte. Ueber diese beiden Lebewesen ward er als Herr eingesetzt, er ging mit ihnen als solcher um; im übrigen füllte er seine Tage mit Singen, Tanzen und Beten aus. Alles gehörte ihm, aber sein Wille war über ihm, und er erfüllte streng die kirchlichen Gebräuche, die ich ihm beigebracht hatte.

Als es so weit war, glaubte ich, endlich weiter gehen zu dürfen. Schritt für Schritt begann ich, mich mitleidslos aller göttlichen Vorzüge beraubend, Rasu alle meine Kunststücke zu erklären und die von mir selbst und seiner Phantasie erschaffene übernatürliche Welt zu zerstören. Gierige Neugierde leuchtete anfangs aus seinem Gesicht. Mit wilden Sprüngen, mit dem Entzücken eines an die Geheimnisse der Menschenwelt rührenden Schwarzen, begegnete er jeder meiner Erklärungen und führte selbst zu hunderten Malen die ihm beigebrachten Kunststücke aus.

Aber mit jedem Tage leerte sich seine Welt: die Geheimnisse enthüllten sich, alles wurde einfach, gewöhnlich und langweilig. Nach und nach blieb er von den Experimenten zurück und sah gelangweilt zu, wenn ich sie wiederholte. Tagelang irrte er in seiner kleinen Welt herum, nach einer neuen Nahrung für seine untätige Wißbegierde suchend. Ich bemerkte schwache Versuche, die ihm gezogenen Grenzen seiner kleinen Welt zu überschreiten. Aber ich beobachtete ihn unausgesetzt und es gelang dem armen Neger nicht.

Endlich hatte er alles von mir erfahren, außer dem einen: den Sinn meines Experimentes, folglich auch den Zweck seiner Haft, den Zweck und Sinn seines ganzen Lebens. Er setzte mir mit Fragen zu, aber ich beobachtete tiefes Schweigen darüber, und die Qual zeigte sich immer öfter auf seinem klugen, schwarzen Gesichtchen.

Und endlich kam auch der Tag der Katastrophe: aus dem Institut zurückgekehrt, fand ich den Altar zerstört, mein Porträt verbrannt, den Affen und Papagei tot. Rasu zerstörte seine Welt, seinen Glauben, da er den Sinn des Lebens verloren hatte, und da er die zwecklose von seinem Gesichtspunkte aus sinnlose und elende Existenz eines Menschen, der alles weiß und den nichts um ihn herum mehr interessieren kann und der dem größten Geheimnis, dem Geheimnis des eigenen Lebens zustrebt, nicht mehr weiterführen mochte.

Ich versuchte mit ihm zu sprechen, aber er blieb teilnahmslos sitzen, schweigsam und untätig, mit dem Ausdruck der Schwermut auf seinem Gesicht.

An jenem Tage aber, an dem alles zu Ende war, fand ich seinen Leichnam, kläglich langgestreckt, hängend an der Angel der verschlossenen Tür.

 

IV.

Das ist alles.

Rasu starb als erster, als zweiter sterbe ich selbst. Ich weiß jetzt, daß ich nicht der Sache des Lebens, sondern der der Zerstörung diene, daß ich im Dienste des Wissens die Hüllen von der geheimnisvollen (herrlichen) Welt herunterreiße, die Menschheit zu der Oede sinnloser und mechanischer Leere verurteile, in der ihr eigenes Leben ziellos und kläglich, wie ein vom Sturm dahingetragenes Stäubchen, wird.

Ich weiß nicht, ob man mich verstehen wird, es ist so wichtig für mich. Sterbend fühle ich, daß ich den wichtigsten, den entscheidendsten Schritt getan habe ...

Hier endet das Manuskript des Doktors Jean Lourier, der sich in seiner Kammer mit Zyankali vergiftet hatte. Auf dem Manuskript befindet sich ein Stempel der Staatsanwaltschaft und folgende, ich weiß nicht von wem herrührende, Bemerkung:

»Dies hat entweder der Wahnsinn oder die Dummheit geschrieben.«

Die Handschrift dieser Randbemerkung unterscheidet sich scharf von den feinen, nervösen, wie zersplitterten Schriftzügen Louriers: sie ist groß, eng und trocken, wie die Handschrift eines Menschen, der fest davon überzeugt ist, daß er weiß, was er tut und spricht. Diese Handschrift ist übrigens sehr trivial und ähnelt hunderttausend anderen.

Heilige Berge 1912


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