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19.

Als ich den Schrei vernahm, wußte ich instinktiv, was geschehen war. In heftiger Erregung stürmte ich daher über den Rasen, schwang mich mit einem mächtigen Satz über das Balkongitter und stand im nächsten Augenblick im Zimmer.

Keine Minute zu früh!

Wie ich geahnt, rang die Baronin im Kampf auf Leben und Tod mit ihrem Gatten. In seiner erhobenen Rechten blitzte ein scharfer Dolch: doch bevor der Schurke zustoßen konnte, hatte ich seinen Arm erfaßt und mit solcher Gewalt zurückgebogen, daß die Gelenke knackten und die Waffe seiner kraftlos gewordenen Hand entglitt. Nun versetzte ich ihm mit der Linken einen wuchtigen Stoß unters Kinn, der ihn gegen die Wand schleuderte, wo er wie ein Sack zu Boden fiel.

Im nächsten Augenblick umschlangen mich zwei zitternde Arme.

»Zum zweitenmal gerettet!« flüsterte die Baronin.

Ehe ich noch die Situation erfaßt und eine Antwort gefunden hatte, öffnete sich die Tür, und Fräulein Harcourt überraschte uns in unserer außergewöhnlichen Stellung. Sie begriff aber sofort, was vorgefallen war. Der Dolch auf dem Teppich, der regungslos daliegende Mann, die bebende Baronin, die mich noch immer umklammert hielt, obgleich ich mich sanft von ihr loszumachen suchte – dies alles sprach deutlicher als Worte.

»Gütiger Himmel!« rief Fräulein Harcourt entsetzt aus, als sie, näher tretend, den Baron erkannte. »Das ist ja – – Ihr Gatte!«

»Ja – mein fluchwürdiger Gatte!« bestätigte die Baronin mich freigebend. »Dies ist nun das zweitemal, daß er mich töten wollte und auch das zweitemal, daß dieser Herr« – sie deutete auf mich – »mir in wunderbarer Weise zu Hilfe kam. Erkennen Sie darin nicht ebenfalls die Hand der Vorsehung und begreifen Sie nicht auch, daß ich ihn im Gefühl der Dankbarkeit und in der Erregung des Augenblicks umarmte und – und – – « Sie stockte in sichtlicher Verwirrung.

»Gewiß, begreife ich es!« nickte Fräulein Harcourt. »Unter solchen Umständen hätte ich wahrscheinlich das gleiche getan. Doch, was ist das für ein schreckliches Ereignis! Ist er tot? Haben Sie ihn getötet, Herr Bracebridge?«

»Nicht ganz«, erwiderte ich mit ingrimmigem Lächeln, »glaube jedoch, er wird in der nächsten Viertelstunde noch nicht fähig sein, wieder auf den Beinen zu stehen.«

»Was soll dann aber geschehen? Sollen wir nicht lieber die Dienerschaft rufen und die Polizei holen lassen?«

»Darüber hat die Frau Baronin zu bestimmen«, entgegnete ich. »Etwas muß allerdings getan werden, denn wenn der Schurke uns jetzt entschlüpft, möchte ihm ein dritter Versuch vielleicht besser gelingen.«

»Wir dürfen ihn natürlich nicht freigeben«, erklärte die Baronin, »nur wünschte ich ihm eine härtere Strafe. Horch! was ist das?« unterbrach sie sich.

Wir lauschten gespannt. Deutlich vernahm man das Knirschen des Sandes unter den heranrollenden Rädern eines Wagens, der vor dem Portale anhielt. Der Wagenschlag wurde geöffnet und hastig zugeworfen. Eilige Schritte näherten sich der Haustür, und gleich darauf ertönte die Klingel.

Einen Augenblick sahen wir uns verwundert an; dann verließ Fräulein Harcourt hastig das Zimmer, um nach der Ursache der Störung zu sehen.

Sie kehrte bald mit zwei Herren zurück. In dem einen erkannte ich meinen Freund, den Kellner aus dem Hotel Scribe in Paris. Das Gesicht des andern, eines breitschultrigen Mannes, der fast so groß war wie ich und einen mächtigen rötlichblonden Vollbart trug, erschien mir auch nicht fremd, obgleich ich mich nicht entsinnen konnte, wo ich es gesehen hatte.

Wie erstaunte ich aber, als sich die Baronin mit einem Freudenruf in die Arme des Pseudokellners warf.

»Gott sei Dank, Karl, daß du gekommen bist!« rief sie aus, und dann verneigte sie sich tief vor dem anderen Herrn.

»Dem Himmel sei Dank, daß wir Sie am Leben finden, gnädige Frau!« sagte dieser, sie warm begrüßend.

»Hier steht mein Retter!« stellte die Baronin mich nun vor. »Karl, Ihr müßt euch kennenlernen. Herr Bracebridge, dies ist mein Bruder, Graf Schuwaloff.«

»Ach«, lächelte der junge Mann, mir herzlich die Hand entgegenstreckend, »Herr Bracebridge und ich sind längst gute Freunde«, und sich zu seinem Begleiter wendend, fügte er hinzu: »Kaiserliche Hoheit, dies ist der Herr, der uns solch vorzügliche Dienste geleistet hat.«

Ehe ich mich von meiner Überraschung erholt hatte, war der Großfürst auf mich zugetreten und reichte mir nun mit warmen Dankesworten die Hand.

Aber auch die Baronin schien erstaunt zu sein. »Ich verstehe das nicht, Karl«, sagte sie zu ihrem Bruder. »Woher bist du mit Herrn Bracebridge befreundet? Wo habt ihr euch kennengelernt?«

»Das erkläre ich dir später«, entgegnete er. »Jetzt wollen wir uns mal erst mit diesem Schurken da beschäftigen. Ein Glück, daß er uns endlich lebend in die Hände gefallen ist. Sie haben ihm aber einen gewaltigen Stoß versetzt, Herr Bracebridge. Nun bin ich nur begierig, was er sagen wird, wenn er wieder zu sich kommt und uns hier sieht. Was fangen wir mit ihm an? Wozu raten Eure Kaiserliche Hoheit?«

»Wir hatten schon daran gedacht, die Polizei zu rufen«, bemerkte Fräulein Harcourt, die auf vertraulichem Fuß mit den beiden Herren zu stehen schien.

»Nein, nein!« wehrte der Großfürst. »Davon müssen wir absehen. Der Graf war ihm schon mehrere Tage auf der Spur und hätte ihn beinahe in Paris gefangen. Er entschlüpfte jedoch und kam vorgestern nach London. Es traf sich glücklicherweise, daß auch ich hier war. Mit Hilfe unserer Agenten fanden wir heraus, daß sich die Frau Baronin ebenfalls hier aufhielt, daß ihr schurkischer Gatte ihre Adresse erfahren und sich heute den ganzen Tag in der Nähe dieses Hauses herumgetrieben hatte. Schlimmes ahnend, fuhren wir von der Gesandtschaft hierher, kamen aber nicht rechtzeitig genug, das Leben der Baronin zu schützen. Dies war Ihr Vorrecht, Herr Bracebridge, und dank Ihrer tatkräftigen Hilfe haben wir den Elenden endlich in unserer Gewalt, der er nicht mehr entrinnen soll. In diesem Falle wollen wir lieber unsere eigene Polizei sein. Darf ich die Fensterläden schließen, Fräulein Harcourt?«

Ich kam ihm rasch zuvor und ließ die Jalousien herab.

»Danke!« sagte er. »So sind wir vor unberufenen Späheraugen sicher. Karl«, wandte er sich nun zu diesem, »haben Sie ein großes Taschentuch? Ja, das genügt. Jetzt binden Sie dem Burschen die Füße zusammen, er wird bald genug zu sich kommen, und da gilt es, jedem Fluchtversuch vorzubeugen. Wer hat noch ein Tuch?«

Ich besaß ein solches, und mit raschem Verständnis der Lage kniete ich neben dem noch Bewußtlosen nieder, seine Arme behutsam fesselnd. »Ich brach ihm den Arm«, bemerkte ich zu Schuwaloff, »als ich ihm den Dolch entriß. Er wird sicher heftige Schmerzen verspüren.«

Der Großfürst lächelte. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Herr Bracebridge.«

»Kaiserliche Hoheit dürfen nicht vergessen«, erwiderte ich kühn, »daß es sich dabei um eine Dame handelte.«

»Ah, ganz recht! Ganz recht!« nickte er. »Und nun wollen wir ihn auf einen Stuhl setzen.« Nachdem dies geschehen war, wandte er sich zu Fräulein Harcourt. »Haben Sie ein flinkes Reitpferd im Stall? Ja? Sehr gut! Und auch einen zuverlässigen Boten?«

»Glücklicherweise ja!« entgegnete sie.

Der Großfürst nahm eine Karte aus seiner Brieftasche und schrieb ein paar Worte darauf. »So –«, fuhr er fort, »wollen Sie nun gefälligst Befehl erteilen, das Pferd sofort zu satteln?«

Fräulein Harcourt verließ das Zimmer, kehrte aber gleich wieder zurück. »Mein Neffe ist soeben nach Hause gekommen«, berichtete sie. »In fünf Minuten wird er bereit sein und mit Freuden jeden Auftrag besorgen, mit dem Eure Kaiserliche Hoheit ihn beehren wollen.«

»Das trifft sich ja ausgezeichnet!« nickte der Großfürst zufrieden. »Doch still! Unser Gefangener fängt an, sich zu rühren. Ich bitte Sie alle, zu schweigen – kein Wort zu äußern – auch keine Beschuldigungen, Frau Baronin! Die Stunde des Gerichts und der Verurteilung hat noch nicht für ihn geschlagen.«

Der Baron öffnete nun plötzlich die Augen und schaute verwirrt um sich. Wir standen regungslos wie Statuen, ihn scharf beobachtend.

Ein Ausdruck des Entsetzens malte sich in seinen Zügen, als er den Großfürsten erkannte und begriff, was dessen Anwesenheit zu bedeuten hatte. Er versuchte sich zu bewegen, doch der gebrochene Arm entrang ihm einen Schmerzensschrei. Sein scheuer Blick irrte von einem zum andern, und als er unsere ernsten, kalten Mienen sah, stieß er einen Seufzer der Verzweiflung aus.

Eine aschfahle Blässe, die gespenstisch von dem kohlschwarzen Bart abstach, bedeckte sein Gesicht, und nur mühsam brachte er die Worte über die bleichen Lippen: »Um Gottes willen, warum spricht niemand? Will man mich hier umbringen wie einen Hund?«

»Nein«, entgegnete der Großfürst in gemessenem Ton. »Hier ist nur ein Mörder, den sein Urteil an einem anderen Ort erwartet. Frau Baronin«, wandte er sich an diese, »ich wünsche, daß Sie sich auf eine weite Reise vorbereiten. Ihr Bruder wird uns begleiten.«

Die Baronin verneigte sich und verließ schweigend das Zimmer.

»Ich verstehe jetzt«, murmelte Graf Schuwaloff, doch mir erschien alles höchst rätselhaft. Dennoch wagte ich keine Frage zu stellen, zumal ich hoffte, bald aufgeklärt zu werden.

Jetzt vernahm man Pferdegetrappel auf dem Kieswege.

»Kaiserliche Hoheit«, meldete Fräulein Harcourt, »mein Neffe erwartet Ihre Befehle. Wollen Sie ihn selbst sprechen?«

»Ja. Inzwischen geben Sie dem Baron wohl etwas Branntwein oder Kognak. Er hat es nötig, denn es wird sicher noch eine Stunde vergehen, bevor man seinen gebrochenen Arm einrichten kann.« Er entfernte sich, und Fräulein Harcourt folgte ihm. Graf Schuwaloff zündete sich eine Zigarette an; ich tat das gleiche, aber kein Wort wurde gewechselt. Fräulein Harcourt brachte nach wenigen Minuten ein Glas Brandy, das sie dem Baron an die Lippen hielt. Er trank gierig und murmelte dann einige Worte des Dankes. Ich wußte, daß der gebrochene Arm ihm furchtbare Schmerzen verursachen mußte, aber er ertrug sie mit stoischer Ruhe und schien sich resigniert in sein Schicksal ergeben zu haben.

Nach einer Weile kehrte der Großfürst zurück. Er zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, und so rauchten wir schweigend, bis die Baronin erschien. Sie war in Reisekleidung.

»Ich bin fertig«, sagte sie. »Karl, du sorgst wohl für mein Gepäck – ich habe nur das Notwendigste mitgenommen.«

Der Großfürst trat nun auf mich zu. »Es würde mich freuen, Herr Bracebridge«, sagte er in verbindlichem Tone, »wenn Sie uns bis zu unserer ersten Reisestation begleiten wollten.«

Ich nahm diese Einladung nur zu gern an, brannte ich doch vor Neugier, zu erfahren, wie sich die Dinge weiter entwickeln würden.

»Dann lassen Sie uns gehen«, forderte der Großfürst uns auf. »Karl, Sie müssen mir helfen, den Baron in den Wagen zu bringen.«

»Wollen Kaiserliche Hoheit mir das überlassen«, bat ich, und in kaum zwei Minuten hatte ich den hilflosen Baron in einer Ecke des geräumigen Wagens untergebracht.

Wir verabschiedeten uns von Fräulein Harcourt; die Baronin nahm zwischen dem Großfürsten und mir Platz, ihr Bruder setzte sich neben den Gefangenen, und nun ging es schnell fort, wohin, das wußte ich nicht. Während dieser langen, geheimnisvollen Fahrt wurde kein einziges Wort gesprochen.

Anfangs vermochte ich mich nicht zu orientieren; erst als wir in den Old Kent Road einbogen, fand ich mich wieder zurecht. Bald darauf jagte ein Reiter in gestrecktem Galopp an uns vorüber, und ich fragte mich im stillen, mit welcher Mission der Großfürst Fräulein Harcourts Neffen wohl betraut haben mochte. Endlich hatten wir Greenwich erreicht, und als wir den Kai entlang fuhren, wurde mir allmählich klar, was meine Begleiter beabsichtigten. Die Ereignisse jenes Abends erscheinen mir jetzt noch wie ein Traum. Wir hielten in der Nähe des Themseufers. Auf dem Wasser schaukelte ein Boot, bemannt mit Matrosen in russischer Tracht.

Ein Offizier, auf dessen Uniform die goldenen Aufschläge blitzten, begrüßte den Großfürsten und meldete, daß das Schiff unter Dampf sei. Hierauf wurde der halb ohnmächtige Baron von den Matrosen in das Boot getragen.

Der Großfürst und Graf Schuwaloff nahmen herzlich Abschied von mir. Dann fühlte ich eine kleine warme Hand in der meinen, und eine süße Stimme flüsterte mir leise zu: »Wir sagen nur auf Wiedersehen! Ich werde Sie nicht vergessen.«

In gleichmäßigem Takt senkten sich die Ruder ins Wasser, und das Boot glitt in die Dunkelheit hinaus.

Wie im Traum lehnte ich an der Kaimauer, von wo aus ich die Umrisse einer schmucken Jacht in der Mitte des Stromes gewahren konnte. Sie wurde plötzlich von dem Glanze zahlloser elektrischer Lampen überflutet; dann dampfte sie in die Nordsee hinaus, dem fernen Petersburg zu.

Der Wagen des russischen Gesandten erwartete mich an der Stelle, wo wir ausgestiegen waren. Ich lehnte mich in die schwellenden Seidenpolster zurück und überdachte die seltsamen, aufregenden Ereignisse des Abends.

Auch jetzt erschien mir noch alles wie ein Traum, aus dem ich vielleicht bald erwachen würde, um möglicherweise noch größeren Schicksalswirren entgegenzugehen.


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