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8.

Pünktlich um elf Uhr erschien ich am nächsten Morgen im Grand Hotel. Man führte mich unverzüglich zu dem Direktor, der mich diesmal weit höflicher empfing als am Abend zuvor. Er ließ sich sogar herbei, aufzustehen, mir einen Sessel heranzurücken und mich mit einer Verbeugung zum Sitzen einzuladen.

»Die Geschichte ist mir stark im Kopf herumgegangen«, begann er, sich an sein Pult setzend. »Ich war daher eifrig bemüht, Erkundigungen einzuziehen, die Licht in das Dunkel bringen und Ihnen nützen könnten. Sie begreifen wohl, daß in einem so großen Betrieb, bei dem ewigen Kommen und Gehen der vielen Gäste, der einzelne ziemlich unbeachtet bleibt. Das sagte ich Ihnen ja schon gestern. Nun also, ich habe Ermittelungen angestellt, soweit ich dieselben erlangen konnte, möchte aber, daß Sie die betreffenden Aussagen direkt von den Zeugen erhalten und dann nach Ihrem eigenen Ermessen davon Gebrauch machen.«

Er klingelte und beauftragte den eintretenden Kellner, ihm das Zimmermädchen Lucille Lefarge zu schicken.

Es entstand eine Pause. Nach wenigen Minuten erschien die Gerufene. Sie war der echte Typus des französischen Stubenmädchens, lebhaft, kokett und zierlich gekleidet. Sie knickste vor dem Direktor und warf mir einen forschenden Blick zu, in dem sich eine gewisse Ängstlichkeit und Unruhe spiegelte.

»Dieser Herr«, redete der Direktor sie in sehr strengem Ton an, »wünscht Ihnen einige Fragen zu stellen. Ich rate Ihnen, genau bei der Wahrheit zu bleiben, Sie könnten sich sonst große Ungelegenheiten zuziehen.«

Wieder knickste sie und wandte sich dann erwartungsvoll zu mir.

»Sie kennen natürlich die Baronin Slavinsky?« begann ich das Verhör.

»Gewiß, mein Herr! Sie hatte im ersten Stock die Zimmer Nummer zweiundvierzig und dreiundvierzig.« Ihr Blick glitt scheu zu dem Direktor hinüber, der ihr ermutigend zunickte. »Die Dame«, fuhr sie fort, »wohnte drei Wochen hier. Erst vor einigen Tagen reiste sie ab.«

– »Hatte sie eine Jungfer bei sich?«

»Ja, mein Herr.«

»Wie hieß diese?«

Die Französin zuckte geringschätzig die Achseln. »Susanne – ihren Familiennamen kenne ich nicht. Die Frau Baronin nannte sie stets nur Susanne. Mehr weiß ich nicht.«

»Das genügt«, nickte ich zufrieden. »Also weiter – empfing die Baronin viel Besuch?«

»Nein, mein Herr.«

»Das wissen Sie bestimmt?«

»Ganz bestimmt, da die Zimmer in dem Korridor unter meiner Obhut stehen.«

»Schön. Das wird die Untersuchung sehr vereinfachen. Einige Personen sah sie aber doch wohl bei sich?«

»Nur wenige, mein Herr – höchstens eine oder zwei.«

»Öfters?«

»Nein, mein Herr. Nicht mehr als zweimal.«

»Jedesmal dieselbe Person?«

»Ja, mein Herr.«

»Ein Mann oder eine Frau?«

»Ein Herr – ein ganz junger Mann.«

Ich hielt ihr nun Reginalds Photographie vor.

»Sah er etwa so aus?« fragte ich.

»Ja, wahrhaftig!« versicherte das Mädchen.

»Sind Sie dessen ganz sicher? Sehen Sie das Bild noch einmal an.«

»Gar nicht nötig«, wehrte Lucille ab. »Ich habe das Gesicht sofort erkannt.«

»Weshalb?«

Sie errötete und blickte zögernd auf den Direktor. »Nur weiter!« mahnte dieser. »Sagen Sie ohne Scheu die Wahrheit. Jedenfalls erhielten Sie Trinkgelder von dem jungen Mann. Doch das ist jetzt Nebensache. Wir wollen alles genau wissen.«

Ihr Gesicht hellte sich zusehends auf. »Nun ja«, erwiderte sie in entschuldigendem Ton, »Sie erinnern sich doch selbst, Herr Direktor, wie er immer herkam und die Baronin zu sehen versuchte.«

»Ja – ja!« nickte der Wirt. »Ich habe ihn selbst einmal ermahnt, nicht beständig hier herumzubummeln. Den meinen Sie also?«

»Es war nie ein anderer da als dieser«, behauptete Lucille.

Ich spitzte die Ohren. »Wissen Sie das ganz sicher?«

»Ganz sicher«, beteuerte die Französin. »Ich wenigstens habe nur diesen Herrn gesehen.«

»Und er gab Ihnen manchmal ein Trinkgeld?«

»Ja, mein Herr.«

»Warum?«

»Warum?« wiederholte sie, indem sie mich mit erstaunten Blicken maß und ihre Lippen in einer Weise aufwarf, daß mir ganz unbehaglich zumute wurde.

»Nun ja«, sagte ich, einen strengen Ton anschlagend. »Weshalb tat er es?«

»Na«, entgegnete sie mit eigentümlicher Betonung, »das braucht man doch nicht näher zu erklären. Er war toll verliebt in die Baronin und dachte, ich könnte – –«

»Schon recht!« unterbrach ich sie. »Ich verstehe, was Sie meinen. Sie empfing ihn also ein- oder zweimal?«

»Ja, mein Herr.«

»Das erstemal war wann?«

Sie überlegte einen Augenblick. »Vor ungefähr vierzehn Tagen.«

»Blieb er lange bei ihr?«

»Wie soll ich das wissen? Doch halt – ja – ich erinnere mich – etwa eine halbe Stunde.«

»Hielten Sie sich gerade im Korridor auf?«

»Ja – ganz zufällig.«

»Und er gab Ihnen ein Trinkgeld?«

»Das tat er immer.«

»Sah er vergnügt aus?«

»Nein – im Gegenteil. Er war furchtbar verdrießlich, schimpfte vor sich hin und sagte, er würde nie wieder ins Hotel kommen.«

»Ah! Er kam aber doch wieder. War er das zweitemal besser aufgelegt?«

»Es schien so; Susanne erwartete ihn vor der Tür der Baronin, und da lief er so rasch ins Zimmer, daß er mich gar nicht bemerkte. Das ist alles, was ich weiß. Ich habe ihn seitdem nicht wieder gesehen. Den nächsten Tag reiste die Baronin ab.«

»Mit Susanne?« warf ich ein.

»Nein. Susanne sagte mir, sie habe ihren Dienst gekündigt, um zu heiraten.«

»Wen? Bibi?«

»Ich glaube, sie sagte Bibi; sicher weiß ich es aber nicht.« Sie sann einen Augenblick nach. »Ja, ich meine doch, es war Bibi.«

Diese überraschende Erklärung brachte mich für einen Augenblick so aus der Fassung, daß ich vergaß, eine weitere Frage zu stellen. »Ich – ich danke Ihnen, mein Fräulein«, sagte ich nach einer Pause. »Was Sie mir berichtet haben, genügt. Doch bitte, noch eins!« hielt ich sie zurück, als sie mit einem Knicks das Zimmer verlassen wollte. »Sie waren gewiß oft in den Gemächern der Baronin – hatte sie viel Garderobe?«

»Oh, prächtige Toiletten, mein Herr! Ganz wundervoll! Seidene Kleider und herrliche Spitzen – man konnte sich blind dran sehen.«

»So? Das wollte ich nur wissen«, sagte ich, das Mädchen entlassend. Im stillen aber fragte ich mich, ob es mir jemals gelingen würde, die Lösung dieser verwickelten Geschichte zu finden.

Inzwischen hatte der Direktor wieder geklingelt. Diesmal trat ein Portier in goldverschnürter Livree herein.

»Die Aussagen dieses Mannes«, bemerkte der Wirt, »dürften Sie zweifellos sehr interessieren.«

Ich sah ihn mir genauer an und erinnerte mich plötzlich, daß ich ihn früher oft als Portier im Hotel Metropole in London gesehen hatte. Auch er erkannte mich, denn er legte die Hand grüßend an die Stirn, indem er auf Englisch sagte: »Ich hoffe, mein Herr, es geht Ihnen gut.«

»Danke!« entgegnete ich. »Habe aber viel Verdruß mit dieser Geschichte. Sie wissen wohl, um was es sich handelt.«

»Allerdings«, nickte er. »Es steht ja in allen Zeitungen. Muß gestehen, daß ich sehr erstaunt war, als ich's gelesen hatte.«

»Warum?« fragte ich, von seiner Bemerkung überrascht.

»Weil ich nicht begreifen kann, wie das geschehen sein soll. Jedenfalls nicht in der Nacht, ehe die Baronin abreiste.«

»Weshalb nicht?« forschte ich, aufmerksam werdend.

»Hm – weil sie gar nicht im Hotel war. Wenigstens nicht zwischen acht Uhr abends und ein Uhr morgens.«

Ich stutzte. »Woher wissen Sie das?«

»Weil sie um acht Uhr in einem geschlossenen Wagen fortfuhr. Gegen ein Uhr morgens kam sie in demselben Wagen zurück.«

Der Direktor beantwortete meinen fragenden Blick mit einem halben Lächeln. »Dachte mir wohl, daß Sie erstaunt sein würden«, sagte er. »Ich war's auch.«

»Können Sie beschwören, daß es die Baronin gewesen ist?« wandte ich mich zu dem Portier.

»Mit gutem Gewissen«, versicherte dieser. »Bei einer so schönen Frau kann man sich nicht leicht irren.«

»Wie war sie gekleidet?«

»Sehr einfach. Das fiel mir auf.«

»Als etwas Außergewöhnliches?«

»Ja.«

»War sie jedesmal ganz allein im Wagen?«

»Bei der Rückkehr ja. Als sie wegfuhr, habe ich eine Nonne oder barmherzige Schwester mit ihr gesehen.«

»Ah!« machte ich verwundert. »Hörten Sie, welche Adresse sie dem Chauffeur gab?«

»Sie gab ihm gar keine. Er fuhr einfach vor und fuhr fort, sobald ich den Wagenschlag geschlossen hatte. Wußte wahrscheinlich schon, wohin's ging. Es wurde kein Wort gesprochen.«

»Sahen Sie die Baronin am nächsten Tage?«

»Gewiß. Zwei- oder dreimal sogar. Sie ging früh fort und kehrte erst gegen neun Uhr abends zurück. Dann kam sie herunter und beauftragte mich, ein Auto zu holen. Nachdem ich das getan, half ich ihren großen Koffer sowie das kleinere Gepäck heruntertragen. Es ging nicht alles auf das Auto, und so mußte ich noch ein zweites holen. Alsdann fuhr sie nach dem Nordbahnhof. Das ist alles, was ich von dieser Sache weiß.«

Ich dankte ihm für seine Auskunft. »Die Geschichte wird immer rätselhafter«, sagte ich zu dem Direktor, sobald der Mann sich entfernt hatte. »Haben Sie noch weitere Überraschungen für mich?«

»Ich könnte Ihnen allerdings noch einen Zeugen vorführen«, entgegnete er, »weiß aber nicht, ob seine Angaben Ihnen nützen werden.«

»Wen meinen Sie?«

»Den Portier am zweiten Hoteleingang in der Rue Scribe. Er hat Ihren Vetter gut gekannt. Um die Frage zu vereinfachen, zeigen Sie ihm gleich die Photographie.«

Auf sein Klingeln erschien ein zweiter Pförtner, der Reginalds Bild sofort erkannte, als ich es ihm vorhielt. Von dem schrecklichen Ereignis schien er jedoch noch keine Ahnung zu haben. Er behauptete, den jungen Mann mehrere Wochen hindurch täglich ein halbes dutzendmal gesehen zu haben. Seit der Abreise der Baronin jedoch habe er sich nicht mehr blicken lassen. Diese Aussage war nicht von besonderer Bedeutung; wohl aber erfaßte mich nahezu ein Schwindel, als er meine Frage, wann er Reginald zuletzt gesehen, beantwortete.

»Es war am Abend, bevor die Baronin abreiste«, erklärte er mit großer Bestimmtheit, »ungefähr um halb elf. Der Herr kam hastig den Korridor entlang, drückte mir, ohne ein Wort zu sprechen, einen Louisdor in die Hand, sprang an der Ecke des Boulevards in ein Auto und fuhr davon. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen.«

»War er in Gesellschaftstoilette?« fragte ich.

»Nein, in seinem gewöhnlichen Anzug.«

Ich entließ den Mann und schaute fragend auf den Wirt. Der schien meine Bestürzung zu merken, denn er zuckte die Achseln und sagte in ratlosem Ton: »Es wird immer ärger! Was sagen Sie dazu?«

»Nichts!« erwiderte ich, indem ich mich erhob und nach meinem Hut griff. »Ich bin noch genau so sehr im Dunkeln wie zuvor.«

»Ich auch!« stimmte er bei, mich zur Tür begleitend.

Fünf Minuten später befand ich mich auf dem Boulevard, unschlüssig, was ich tun sollte. Statt Aufklärung zu erhalten, war ich nur noch mehr mystifiziert worden.


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