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3.

Ich bezweifle, ob sich je ein unschuldiger Mensch in einer so schrecklichen Lage befunden hat wie ich in jenem Augenblick. Mir schwindelte es vor den Augen; meine Lippen brachten keinen Laut hervor – die grausige Situation hatte mich völlig übermannt.

Der Zollbeamte warf mir einen scharfen, durchdringenden Blick zu, dann winkte er mit kaum merklichem Heben der Brauen jemandem, der hinter mir stand. Gleich darauf trat ein Polizist unauffällig an den Tisch.

Inzwischen hatten sich bereits eine Anzahl Neugieriger, die merkten, daß etwas nicht in Ordnung war, sie vermuteten wahrscheinlich geschmuggelten Tabak – an den offenen Koffer herangedrängt. Der Beamte warf daher rasch den Deckel zu.

»Ich werde Sie gleich abfertigen, mein Herr«, sagte er zu mir. »Sie warten wohl, bis wir die anderen Stücke durchgesehen haben.«

Ich begriff, was er meinte. »O gewiß!« erwiderte ich zustimmend. »Selbstverständlich werde ich warten.«

Dieser Aufschub gab mir Zeit, meine Fassung wiederzugewinnen; gleichzeitig erkannte ich aber auch, in welch schwierige Lage ich geraten war.

Zehn Minuten verstrichen. Der letzte Reisende mit seinem Gepäck hatte sich entfernt. Ich sah nur noch den Polizisten an meiner Seite, den schrecklichen Kasten mit seinem grausigen Inhalt und den Zollbeamten. Letzterer rief zwei Gepäckträger herbei.

»Tragen Sie das ins Büro zum Stationsvorsteher«, wies er die beiden an, winkte mir zu folgen und schritt den Bahnsteig entlang nach dem Dienstlokal des Inspektors. Der Polizist blieb an meiner Seite, während die Kofferträger mit ihrer Last folgten. Als sie dieselbe abgestellt und sich entfernt hatten, trat der Inspektor ein.

»Was ist's?« fragte er den Zollbeamten. »Tabak?«

»Schlimmeres!« entgegnete dieser kurz, indem er den Deckel des Kastens zurückschlug.

Wieder vernahm ich den entsetzten Ausruf: »Großer Gott!« und sah, wie der Beamte mit dem Daumen nach mir wies. Der Vorsteher musterte mich von oben bis unten, als sei ich das neueste Verbrecherphänomen.

»Was soll das bedeuten?« fragte er mich mit strenger Amtsmiene.

»Ich habe keine Ahnung«, erklärte ich.

»Ist das Ihr Koffer oder nicht?«

»Bis vor einer Viertelstunde habe ich ihn nie gesehen«, lautete meine Antwort.

»Wie kommen Sie dann zu dem Gepäckschein und zu dem Schlüssel?« warf der Zollbeamte dazwischen.

»Ich erhielt beides von einer Dame in Calais, die mich bat, den Koffer hier aufbewahren zu lassen und ihr einen Schein darüber zu schicken.«

Die Beamten hörten diese Erklärung in heller Verwunderung an; der Polizist jedoch legte den Finger an die Nase und lächelte vor sich hin mit der Überlegenheit eines Experten, der alle Schliche und Kunstgriffe der Verbrecher kennt.

»Das ist ja eine sehr merkwürdige Angabe«, äußerte der Inspektor.

»Allerdings«, gab ich zu, »trotzdem ist sie wahr.«

»Dann wissen Sie auch nicht, wo der Tote hingehört?«

»Im Gegenteil – ich weiß es ganz genau. Es ist mein Vetter und Mündel Reginald Bracebridge von Twyford Hall in der Grafschaft Suffolk.«

So sprechend, legte ich dem Inspektor meine Karte vor, indem ich ihm meine Reiseerlebnisse mitteilte. »Ich begreife aber«, schloß ich, »daß ich mich als verhaftet betrachten muß, bis ich meine Aussagen bestätigen kann.«

»Ich fürchte«, entschuldigte sich der Vorsteher, auf den meine Worte Eindruck gemacht zu haben schienen, »daß unter diesen Umständen nichts anderes übrig bleibt. Es ist unsere Pflicht, die Sache der Polizei zu übergeben. Der Tote muß ins Leichenhaus gebracht werden, wo die gerichtliche Totenschau stattfinden wird. Inzwischen muß ich Sie in Haft nehmen. Sie begreifen das, nicht wahr?«

»O gewiß!« erwiderte ich. »Sie können ja nicht anders handeln. Wahrscheinlich nach Bow Street?« wandte ich mich an den Polizisten.

Dieser bejahte.

Und nun folgte das sensationellste Ereignis meines Lebens: Ich wurde nach strenger Polizeivorschrift am Arm durch die Straßen nach dem weltbekannten Gerichtshof eskortiert. Die Vorübergehenden starrten mich neugierig an; da es aber noch sehr frühzeitig war, so begegneten mir auf diesem peinlichen Wege zum Glück keine Bekannten. Dennoch atmete ich auf, als ich mich endlich – so lächerlich es auch klingen mag – hinter den schützenden Mauern befand. Es war allerdings keine ehrenvolle Situation, hinter Eisengittern das Verhör eines nicht höflichen Polizeikommissärs erdulden zu müssen, allein im Bewußtsein meiner Unschuld empfand ich keine Furcht, mit einem Gerichtsbeamten zu verhandeln, den ich überdies noch persönlich kannte.

Was in den nächsten Stunden geschah, brauche ich nicht näher zu erörtern. Für mich war es natürlich etwas ganz Neues, einem Verhör zu unterstehen, doch bewahrte ich meine Fassung, und nachdem ich in gedrängter Kürze mein seltsames Reiseerlebnis berichtet hatte, stellte ich es der Behörde anheim, zur Bestätigung meiner Aussagen Erkundigungen einzuziehen, ob am Bahnhof in Calais ein Telegramm an eine Baronin Slavinsky ausgeliefert worden sei und ob die Adresse, die sie mir gegeben – Grand Hotel in Paris – richtig war.

Ich bat dann, mich in der Zwischenzeit gegen Kaution – einerlei in welcher Höhe – freizugeben; der Beamte lehnte dies jedoch ab, weil die Sache zu ernst sei, um eine Kaution zuzulassen. So mußte ich mich wohl oder übel in mein Schicksal ergeben, und am Nachmittag wurde ich mit anderen Gefangenen im grünen Wagen nach dem Hollowaygefängnis überführt.

Dem ungemütlichen Tag folgte eine noch ungemütlichere Nacht, die ich hier nicht näher beschreiben will. Nur dies eine muß ich erwähnen: gerade als die Gefängnisglocke zum Abendgebet rief, durchzuckte mich jäh der Gedanke, daß ich, nun Reginald tot war, das Vermögen meines Onkels erben würde. Sollten sich nun meine Aussagen nicht bestätigen lassen, so lag in diesem Umstand – für den Richter wenigstens – ein klarer Beweis, daß ich der Ermordung meines unglücklichen Vetters nicht fern stand. Augenscheinlich hatte mich die schöne Baronin hintergangen, obgleich unsere Begegnung eine ganz unvorhergesehene war. Ein reiner Zufall brachte mich in ihre Nähe, denn ich wäre lieber in ein Raucherabteil gestiegen.

Wie töricht war es überhaupt von mir gewesen, nach Paris zu fahren! Warum hatte ich – es geschah zum erstenmal in meinem Leben – einem anonymen Briefe Glauben geschenkt? Und was bedeutete das Telegramm aus Brüssel, das gerade während meiner Anwesenheit im Hotel Scribe eintraf? Derartige Erwägungen durchkreuzten unablässig mein Hirn, bis meine Zelle geöffnet wurde und ein mürrisch aussehender Wärter mich in die traurige Wirklichkeit meiner Lage zurückrief, indem er mir einen Besen, Wassereimer und Scheuerlappen einhändigte und mich in der Arbeit einer Putzfrau unterwies. Zwei schreckliche Tage erlebte ich in dem Gefängnis – dann winkte mir die Freiheit. Die polizeilichen Erhebungen hatten nämlich die Richtigkeit meiner Aussagen insofern festgestellt, als wirklich eine Frau, die meiner Beschreibung genau entsprach, bei der Ankunft des Schnellzuges in Calais ein Telegramm erhalten und auch persönlich den Koffer mit der Leiche meines Vetters, am Pariser Nordbahnhof aufgegeben hatte. Unter dem Namen einer Baronin Slavinsky war sie mit einer Jungfer mehrere Wochen im Grand Hotel gewesen. Ein Hoteldiener sowie der Chauffeur, der sie zur Bahn gefahren, hatten den Koffer genau beschrieben. Ein Mann war an jenem Tage nicht in ihrer Gesellschaft gesehen worden.

Infolgedessen wurde mir eröffnet, daß man mich gegen Hinterlegung von tausend Pfund vorläufig aus der Haft entlassen wolle, daß ich jedoch innerhalb fünf Tagen vor Gericht erscheinen müsse.

Das Merkwürdigste in der ganzen Sache war das spurlose Verschwinden der Baronin. Sie war weder ins Grand Hotel zurückgekehrt, noch hatte jemand in Calais sie nach Paris fahren sehen. Unmittelbar nach der Abfahrt des Dampfers hatte sie den Bahnhof verlassen, doch niemand konnte sagen, wohin sie sich gewandt. Dieser beunruhigende Zustand trat jedoch völlig in den Hintergrund gegenüber der Tatsache, daß ich mich jetzt halbwegs wieder als freier Mann fühlen durfte, und daß auch nicht der geringste Beweis gefunden worden war, der mich in Zusammenhang mit dem Verbrechen hätte bringen können. Ich war deshalb fest überzeugt, bei meinem bevorstehenden Erscheinen vor dem Gerichtshof in ehrenvollster Weise freigesprochen zu werden. Bevor dies jedoch geschah, hatte ich noch eine harte Probe zu bestehen. Die wirklichen Schwierigkeiten für mich begannen erst jetzt.

Die erste Prüfung erwartete mich bei der Totenschau, zu der ich nach meiner Haftentlassung vorgeladen wurde. Zuerst führte man mich in die Leichenkammer, um den Körper des armen Reginald zu identifizieren, was meine Nerven außerordentlich angriff. Ich hatte zwar ein ruhiges Gewissen und brauchte mir eigentlich keine Vorwürfe zu machen – trotzdem, als ich das stille Gesicht vor mir erblickte, das Gesicht eines Jünglings, der mitten aus dem blühenden Leben hinweggerissen worden war, drängte sich mir die Frage auf, ob ich meinen Pflichten als Vormund auch genügend nachgekommen war. Hatte ich mich in meinem Urteil über Reginald doch vielleicht getäuscht? Hatte ich alles getan, ihn von seinen Irrwegen zurückzubringen? Ein qualvoller Zweifel stieg zeitweise in mir auf, und ich war froh, als ich den unheimlichen Ort verlassen konnte.

Vor der Jury als Zeuge aufgerufen, bestätigte ich, daß der Tote mein Vetter und Mündel Reginald Bracebridge sei. Auf welche Weise er ums Leben gekommen war, konnte ich nicht angeben; nur eins schien gewiß, daß er in schlechte Gesellschaft geraten sein mußte und so seinen Tod gefunden hatte. Diese meine Annahme stützte sich auf den anonymen Brief, den ich erhalten hatte und der Jury jetzt vorlegte.

Wer der Absender dieses Briefes gewesen, davon hatte ich keine Ahnung; da es jedoch ersichtlich war, daß der Schreiber ziemlich Genaues über die Lebensweise meines Vetters wußte, so hielt ich es als Vormund für meine Pflicht, sofort nach Paris zu eilen, um ihn, wenn möglich, aus den Klauen der Harpyien, die ihn bedrängten, zu befreien. Ich erzählte dann meine Pariser Erlebnisse und wie ich nach Kenntnisnahme des Telegramms aus Brüssel beschloß, mit dem nächsten Zug nach London zurückzufahren.

»Dies ist die klare und ungeschminkte Darstellung der Tatsachen, soweit sie mir bekannt sind«, schloß ich. »Eine andere Auslegung als die gegebene vermag ich nicht zu finden, hoffe aber, es wird der Polizei gelingen, dies mir unergründliche Rätsel zu lösen.«

Hier warf einer der Geschworenen die Frage ein, wer durch den Tod meines Vetters materiellen Vorteil erlangen würde, und als ich einräumen mußte, daß ich selbst sein Erbe wäre, bemerkte ich, wie die Mitglieder der Jury die Augenbrauen hochzogen; selbst der Vorsitzende murmelte betroffen: »Ah, wirklich?«

Ich erklärte darauf, daß dies eine Testamentsangelegenheit sei, die mit der vorliegenden Sache nichts zu tun habe, und verließ dann die Zeugenbank, auf der nun Inspektor Walter von Scotland Yard, ein intelligenter junger Mann, erschien. Er bestätigte meine Aussagen nach jeder Seite hin, und zwar in so überraschender Weise, daß ich seine eigenen Worte wiedergeben will.

»Ich hatte Frühdienst in Scotland Yard«, sagte er, »als uns gemeldet wurde, es sei am Charing Croß-Bahnhof eine Leiche in einem Koffer gefunden worden. Ich eilte sofort hierher in die Leichenkammer und nahm in Gegenwart des Distriktsarztes eine sorgfältige Untersuchung der Kleider des Toten vor.«

»Zeigten dieselben Spuren eines Kampfes?« fragte der Vorsitzende. »Waren sie zerrissen oder in Unordnung?«

»Keineswegs«, entgegnete der Inspektor, »alles an ihm war funkelnagelneu. Auch der Körper trug keine Merkmale von Gewalttätigkeit. Man konnte meinen, er sei eben erst von der Tafel aufgestanden und habe sich zum Scherz da hineingelegt. Seltsamerweise jedoch fand sich nichts vor, was seine Identität hätte feststellen können – – nicht das kleinste Blättchen Papier. Seine Taschen waren so leer wie meine Hände hier. Kein Schmuckgegenstand, keine Uhr, kein Geldstück. Nicht einmal seine Wäsche war gezeichnet. Nur bemerkte ich, daß die Kleidung bis zu den Stiefeln herab französisches Fabrikat zu sein schien. Nachdem ich mir alles notiert hatte, ging ich in die Bow Street, wo ich von den Aussagen des Angeklagten hier hörte. Ich verschaffte mir eine stenographische Aufzeichnung derselben, kehrte damit nach Scotland Yard zurück und erhielt vom Chef die Anweisung, über Calais nach Paris zu fahren.

In Calais hatte ich eine Unterredung mit dem Stationsvorsteher, dessen Angaben mit denen des Angeklagten vollständig übereinstimmten. Es ist richtig, daß vor dem Eintreffen des Pariser Zuges eine an ›Baronin Slavinsky, Reisende im Londoner Expreß‹ adressierte Depesche ankam und nachher von der Dame, die der gemachten Beschreibung entsprach, in Empfang genommen wurde. Auch von diesem Telegramm erhielt ich eine amtliche Abschrift. Der Inspektor reichte dem Vorsitzenden ein Blatt Papier, das dieser wiederholt durchlas und dann kopfschüttelnd den Geschworenen einhändigte.

»Hm!« bemerkte er. »Das ist französisch und klingt sehr rätselhaft. In der Übersetzung muß es heißen: ›Wieder da – fahre nicht weiter – komm – heimlich – Ursula.‹«

Das war allerdings höchst unverständlich.

»Darf ich mir eine Abschrift davon machen?« fragte ich den Präsidenten. Es wurde mir bereitwillig gestattet, und ich notierte mir den französischen Wortlaut der Depesche: Retourné – ne vas plus loin – viens – dérobé – Ursule.«

Auch ich vermochte mir den Sinn dieser unzusammenhängenden Worte nicht zu erklären.

»Dies Telegramm«, fuhr der Inspektor fort, »brachte nicht viel Licht in die Sache; es legte nur die Vermutung nahe, daß sie auf vorherige Verabredung nach Paris zurückgekehrt war, die Leiche dem Schicksal überlassend. Bei weiterer Nachforschung stellte es sich aber heraus, daß sie die französische Hauptstadt nicht wieder betreten hatte. Darüber waren alle Eisenbahnbeamten einig. Unmittelbar nach der Abfahrt des Dampfers war sie verschwunden, und obgleich ich mich mit der Polizei in Calais in Verbindung setzte, hat man bis jetzt noch keine Spur von ihr gefunden.

Ich fuhr dann nach Paris weiter, begab mich sofort nach dem Hotel Scribe und verlangte den Direktor zu sprechen.

›Ich möchte mich nach einem Herrn erkundigen‹, sagte ich, als dieser erschien, ›der einige Zeit bei Ihnen gewohnt hat. Es war ein junger Engländer namens Reginald Bracebridge.‹

›Oh‹, fiel mir der Direktor ins Wort, ›vor einigen Tagen kam ein Verwandter von ihm, der ihn durchaus sehen wollte.‹

›Wie hieß derselbe?‹

Er stutzte, weil er nicht wußte, wer ich war; dennoch antwortete er höflich: ›Ich weiß es augenblicklich nicht, will aber nachfragen.‹ Er trat ans Haustelephon, und nach zwei Minuten gab er mir die gewünschte Auskunft. ›Der Herr hieß Frank Bracebridge, wohnhaft Brunswick Square 210 in London‹, berichtete er. ›Er war der Vormund des jungen Mannes, der sich jetzt in Berlin befindet.‹

›O nein‹, widersprach ich, ›dort ist er nicht.‹

Wieder sah er mich verdutzt an. ›Darf ich wissen, mit wem ich das Vergnügen habe?‹ fragte er dann.

Ich nannte ihm meinen Namen, indem ich hinzufügte: ›Die Leiche des jungen Mannes ist in London. Warum sagen Sie, er sei in Berlin?‹

Sichtlich betroffen ging er nochmals ans Telephon. ›Ich werde Ihre Frage gleich beantworten‹, äußerte er, zu mir zurückkehrend. Nach ein paar Minuten brachte ein Buchhalter ein Blatt Papier. Es war eine Depesche. Hier ist sie«, und der Inspektor legte das Telegramm auf den Tisch, das man mir damals auch gezeigt hatte.

Der Präsident las es laut vor, während mir das Herz vor Freude schlug, lieferte doch diese Depesche den vollgültigsten Beweis für meine Unschuld, von der die Jury nun auch völlig überzeugt zu sein schien.

Was der Inspektor noch weiter berichtete, sprach ebenfalls zu meinen Gunsten. Seine Nachforschungen im Grand Hotel stellten unzweifelhaft fest, daß die Baronin Slavinsky mehrere Wochen dort gewohnt hatte und an dem Tage meiner Ankunft in Paris mit einem großen Rohrplattenkoffer nach London abgereist war. Seitdem hatte man sie nicht mehr gesehen.

Soweit stand die gerichtliche Untersuchung äußerst günstig für mich, doch noch wartete meiner eine große Überraschung. Aus verschiedenen Gründen interessierte mich die Aussage des nächsten Zeugen, eines Geldverleihers namens Harris, dessen Büro sich unweit Piccadilly befand.

Er hatte die Leiche ebenfalls besichtigt und in ihr sofort einen Klienten erkannt, dem er mehrere tausend Pfund Sterling vorgeschossen hatte. Der Name dieses Klienten war, so gab er an – Reginald Bracebridge von Twyford Hall in der Grafschaft Suffolk. Da Harris das Testament von Reginalds Vater in Sommerset House gesehen hatte, so wußte er, daß die einfache Unterschrift des jungen Mannes ihm genügende Sicherheit für die geliehenen Summen bot. Den letzten Vorschuß von tausend Pfund hatte er vor zehn Tagen in englischen Banknoten als eingeschriebenen Brief nach dem Hotel Scribe in Paris geschickt.

Der Distriktsarzt, der mit einem bekannten Kollegen zusammen die Sektion der Leiche vorgenommen hatte, gab an, daß es ihm trotz sorgfältigster Untersuchung nicht möglich gewesen sei, mit Sicherheit die Todesursache zu konstatieren. Der Körper des Toten wies keine Spuren von Gewalttätigkeit auf; die inneren Organe befanden sich in vollkommen gesundem Zustand; demnach mußte der Tod infolge einer äußeren Veranlassung eingetreten sein. Gewisse Anzeichen deuteten auf einen Gehirnschlag; wodurch derselbe aber verursacht worden war, ließ sich nicht feststellen. Der Arzt erklärte, daß dieser Fall ein ganz außergewöhnlicher sei, dessen weitere Untersuchung er befürworte.

Seine Aussage wurde von seinem Kollegen in allen Punkten bestätigt, und dann kam die Überraschung – eine noch nie dagewesene – von der ich vorhin sprach.

Der Arzt hatte noch nicht die Zeugenbank verlassen, als ich meinen Bürovorsteher Barker bemerkte, der sich einen Weg durch die Menge bahnte und rasch auf mich zukam. Ohne ein Wort zu reden, reichte er mir ein offenes Kuvert. Ich nahm das darin enthaltene Blatt heraus und las nun in höchster Verblüffung das nachstehende, aus Brüssel datierte Telegramm:

»Bracebridge. Brunswick Square 210. London.

Junger Mann, namens Reginald Bracebridge, starb hier heute früh infolge eines Automobilunfalles. Ihr Name und Adresse bei ihm gefunden. Ebenso Juwelen und große Geldsumme. Können Sie sofort kommen? Leiche wird achtundvierzig Stunden aufbewahrt.

Dr. Regnault, Hospital St. Jean. Brüssel.«


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