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15.

Mir schwindelte es sekundenlang vor den Augen; als sich der junge Mann jedoch umwandte und der Baronin die Hausnummer zeigte, erkannte ich mit begreiflicher Erleichterung, daß es meine überreizten Nerven waren, die mir einen bösen Streich gespielt hatten.

Der junge Mann war mir völlig fremd; flüchtig gesehen hatte er in der Größe und äußeren Erscheinung allerdings eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Vetter Reginald.

Nachdem er, wie es schien, dem Chauffeur geboten hatte, zu warten, grüßte er die Baronin und entfernte sich raschen Schrittes.

Nun erst kam es mir zum Bewußtsein, daß die schöne Frau, an die ich seither unablässig gedacht, zu mir heraufkam, und dieser Gedanke machte meine Pulse so heftig schlagen, benahm mir derart den Atem, daß ich fürchtete, keines zusammenhängenden Wortes fähig zu sein, wenn ich der Baronin jetzt wieder gegenüberstehen würde.

Um einigermaßen die Fassung zu bewahren, setzte ich mich an mein Pult, tat, als sei ich eifrig beschäftigt und brachte es fertig, als die Dame mir gemeldet wurde, mit äußerer Ruhe zu sagen, daß ich bitten ließe.

Gleich darauf wurde die Tür wieder geöffnet.

Ich hatte die Baronin nie bei Tageslicht gesehen, und was mir jetzt am meisten auffiel, war ihre große Jugendlichkeit. Trotz meiner Verlegenheit sagte ich mir: Sie kann nicht älter als zweiundzwanzig Jahre sein.

Mit bezauberndem Lächeln kam sie auf mich zu, mir die Hand entgegenstreckend.

Ich sprang sofort in die Höhe und wäre in der Hast beinahe über meinen Stuhl gefallen.

»Ist es möglich, daß ich noch einmal das Vergnügen habe?« begann ich stotternd, indem ich ihre Hand fest umschloß. »Wirklich – ich – ich – es ist so unerwartet, ich – ich hätte das nie gedacht – und darf ich Ihnen einen Sessel anbieten?«

Sie lachte und ließ sich mir gegenüber nieder.

»Anfangs wollte ich Ihnen schreiben«, sagte sie, »allein dann zog ich es vor, Sie zu überraschen.«

Ich stammelte verwirrt, diese Überraschung sei entzückend – wirklich ein sehr glücklicher Gedanke.

»Wie liebenswürdig von Ihnen!« entgegnete sie. »Offen gestanden – ich fürchtete mich zu kommen und habe wirklich Herzklopfen gehabt, als ich die Treppe heraufstieg. Ich dachte nämlich, Sie würden furchtbar böse auf mich sein.«

»Ich böse auf Sie?« rief ich, augenblicklich die verflixte Geschichte mit ihrem Koffer völlig vergessend. »Wie können Sie so etwas Ungeheuerliches von mir denken?«

»Weil ich mich bei unserer letzten Begegnung so abscheulich gegen Sie benommen habe.«

»Sie, abscheulich?« protestierte ich mit wachsender Kühnheit.

»Nun ja«, erklärte sie, »ich verließ Sie doch damals in Calais in höchst unhöflicher Weise. Was müssen Sie von mir gedacht haben?«

»Gedacht? Oh, ich dachte, das heißt, ich bedauerte natürlich, Ihre angenehme Gesellschaft zu verlieren, aber ich merkte, daß sich etwas Ernstes ereignet hatte und bedauerte lebhaft, Sie so beunruhigt zu sehen.«

»Das war sehr freundlich von Ihnen. Sie sind das immer gegen mich gewesen. Wenn ich denke, wie ich Sie mit dem Riesenkoffer belästigt habe! Ich kann Ihnen dies jetzt nur noch dadurch lohnen, daß ich Ihnen offen berichte, was sich in jener Nacht zutrug. Vorerst muß ich Ihnen aber einiges über mich erzählen. Sie haben ein Recht, es zu erfahren. Meine Mutter war Französin, mein Vater gehört der altrussischen Aristokratie an, die törichterweise auf die Romanoffs als auf einfache Parvenüs herabblickt.

Ich habe noch einen, am Petersburger Hof sehr beliebten Bruder und eine ältere Schwester, die im Ursulinerinnenkloster zu Amiens lebt.

Baron Slavinsky entstammt einer alten polnischen Familie; als ich ihn heiratete, bekleidete er einen verantwortlichen Posten im Auswärtigen Amt in Petersburg.

Unsere Ehe war von Anfang an ein häßlicher Irrtum. Nie paßten zwei Menschen so schlecht zusammen. Wir stritten uns bereits am Hochzeitsabend. Innerhalb sechs Monaten schlug er mich zweimal.«

»Das Ungeheuer!« rief ich voll Entrüstung aus. »Ich wünschte, ich hätte ihn damals in Baden-Baden noch stärker niedergestoßen.«

»Oh, Ihre Hilfe genügte doch, mein Leben zu retten«, fiel sie ein. »Bei jener Gelegenheit plante er wirklich, mich zu ermorden, und ich weiß noch gar nicht, wie ich Ihnen Ihren Dienst jemals lohnen kann. Nun, das wird sich im Laufe der Zeit finden, Herr Bracebridge. Der Lohn soll jedenfalls nicht ausbleiben. Nein, nein«, wehrte sie ab, als ich sie unterbrechen wollte, »nicht ein Wort! Vergessen Sie aber nicht, was ich Ihnen gesagt habe.

Nun also, nachdem er mich das zweitemal mißhandelt hatte, fand ich Gelegenheit, mich an ihm zu rächen. Als ich heimlich seine Papiere durchstöberte, fielen mir gewisse Schriftstücke in die Hände, die ihn einer Verschwörung gegen den Zaren schuldig machten.

Diese Papiere übergab ich eigenhändig dem Kaiser. Mein Gatte erfuhr zu seinem Glück rechtzeitig, was ich getan – um Haaresbreite entrann er dem Schicksal, nach Sibirien verbannt zu werden, indem er schleunigst über die Grenze floh.

Seitdem heißt es: sein Leben oder das meine. Er hat geschworen, mich zu töten, und ich strebe danach, ihn bei erster Gelegenheit den russischen Behörden auszuliefern.«

Mir schlug das Herz bei diesen Worten. Ich wußte, daß der Baron in London war – sollte es mir da nicht möglich sein, sie auf irgendeine Weise in ihrem Vorhaben zu unterstützen? Das war jedoch nur ein flüchtiger Gedanke, den ich rasch unterdrückte, als sie fortfuhr: »Es wurde bald entdeckt, daß Slavinsky sich nach Paris geflüchtet hatte, und auf Vorstellung der russischen Regierung wies ihn die französische Republik aus Frankreich aus. Ich glaube, er hat sich während des letzten Jahres in Amerika aufgehalten, ist aber immer in Fühlung mit den Führern der russischen Revolutionspartei geblieben.

Aus meiner Begegnung mit ihm in Baden-Baden läßt sich schließen, daß er vor seiner Abreise nach Amerika kurze Zeit in Deutschland zubrachte. Nach dem furchtbaren Schreck, den ich ausgestanden, reiste ich damals sofort zu meiner Tante, die in Paris in der Rue Vanneau wohnt. Bei ihr blieb ich bis vor wenigen Wochen und übersiedelte dann aus Privatgründen nach dem Grand Hotel. Um mich kurz zu fassen: einige Tage, bevor ich Sie in der Eisenbahn traf, hatte ich einen Brief von meiner früheren englischen Erzieherin erhalten, worin sie mir mitteilte, sie habe eine ansehnliche Erbschaft gemacht und würde sich außerordentlich freuen, wenn ich sie in London besuchen wolle.

Diese Einladung nahm ich an.

Den Abend vor meiner Abreise verbrachte ich bei meiner Tante. Meine Schwester, die aus Amiens gekommen war, holte mich im Grand Hotel ab und fuhr mit mir nach der Rue Vanneau. Dort traf ich den russischen Gesandtschaftssekretär, der mir erzählte, einer seiner Agenten sei einem Manne begegnet, der meinem Gatten sehr ähnlich gesehen habe. Da der Sekretär die Sache scherzend behandelte, so dachte ich nicht weiter daran. Am nächsten Abend reiste ich, wie Sie ja wissen, von Paris ab. Das Telegramm, das ich in Calais erhielt, war von meiner Schwester, die darin bestätigte, mein Gatte sei wirklich in Paris, und da er mir wahrscheinlich nachspüre, so möge ich sofort zurückkehren und auf einem Umweg zu ihr ins Kloster nach Amiens kommen. Verstehen Sie die Geschichte jetzt, Herr Bracebridge?«

»Vollkommen«, nickte ich. »Es ist mir nun alles völlig klar, und ich begreife, wie aufgeregt Sie sein mußten.«

»Nachdem Sie Ihre Reise fortgesetzt hatten«, erzählte sie weiter, »verließ ich aus Furcht vor neuen Gefahren den Bahnhof und erkundigte mich bei einem Schutzmann, wo ich einen Wagen nach Fréthun, einem an der Hauptlinie gelegenen Örtchen, erhalten könne. Unbehelligt gelangte ich dorthin, fuhr mit dem ersten Frühzug nach Amiens und suchte meine Schwester auf. Bei ihr bin ich geblieben, bis ich vor drei Tagen die Nachricht erhielt, ich könne jetzt ohne Gefahr meine Reise nach London fortsetzen. So bin ich nun hier«, schloß sie, »und mein erster Besuch gilt Ihnen.«

»Wie stolz mich das macht!« sagte ich, dabei errötend wie ein Schulknabe.

Sie sah mich mit einem ihrer strahlenden Blicke an und dann fragte sie: »Was ist denn aus meinem großen Koffer geworden, Herr Bracebridge? Sandten Sie den Gepäckschein, wie ich gebeten hatte, nach dem Grand-Hotel?«

Ich fürchte, mein Gesicht nahm bei ihren Worten einen sehr sonderbaren Ausdruck an, denn sie fügte in sichtlicher Besorgnis hinzu: »Hoffentlich hat er sich nicht verirrt und steht wohlgeborgen am Charing Croß-Bahnhof.«

Der kritische Augenblick war gekommen; ein Verheimlichen erschien zwecklos.

»Was enthielt der Koffer, Frau Baronin?« fragte ich so unvermittelt, daß es sie stutzen machte.

»Sie erschrecken mich ja ordentlich!« rief sie verwundert aus. »Was der Koffer enthielt? Nun – ganz einfach: Kleider, Jacken, Spitzen, einen Juwelenkasten und was weiß ich noch – den gewöhnlichen Inhalt eines Damenkoffers. So sehr viel schließlich nicht, denn der Hauptteil meiner Garderobe befindet sich bei meiner Tante in Paris.«

»Nun sehen Sie, Frau Baronin«, erklärte ich, »als die Zollbeamten in Charing Croß den Koffer besichtigten, fand man nichts von dem, was Sie mir jetzt genannt haben.«

»Dann bin ich bestohlen worden!« rief sie bestürzt aus. »Meine Jungfer packte den Koffer in meiner Gegenwart. Wie konnte das alles geschehen?«

»Ah«, entgegnete ich bedeutsam, »das ist ein Geheimnis, dem wir – Sie und ich – auf die Spur kommen müssen. Darf ich Ihnen aber zuvor noch einige Fragen stellen?«

Dies schien sie noch mehr zu überraschen, jeder Blutstropfen wich aus ihrem Gesicht.

»Fragen Sie, soviel Sie wollen«, erwiderte sie in nervösem Ton.

»Nun denn«, begann ich, »sind Sie in Paris einem jungen Manne begegnet, der denselben Namen hatte wie ich?«

»Ja«, gab sie offen zu. »Als ich Ihre Karte sah, wunderte ich mich über die Gleichheit, hielt es aber schließlich nur für ein zufälliges Zusammentreffen.«

»Jener junge Mann, Frau Baronin«, fuhr ich fort, »war mein Vetter, und ich habe Ursache, anzunehmen, daß er Ihnen im Grand Hotel unerwünschte Aufmerksamkeiten erwies.«

»Das ist richtig«, nickte sie. »Er war ein einfältiger kleiner Narr, der mich so belästigte, daß ich ihn zuletzt kommen ließ und ihm gehörig die Wahrheit sagte.«

»Sahen Sie ihn nachher wieder?«

»Nein, ich sah ihn niemals wieder.«

»Auch nicht am Abend vor Ihrer Abreise nach London?«

»Sagte ich Ihnen nicht«, lautete ihre ungeduldige Antwort, »daß ich jenen Abend mit meiner Tante und meiner Schwester in der Rue Vanneau verbrachte?«

»So haben Sie Ihrem Mädchen auch nicht aufgetragen, ihm zu schreiben, und ihn für jenen Abend einzuladen?«

Mit vor Entrüstung blitzenden Augen fuhr sie in die Höhe. »Das ist zu arg!« stieß sie hervor. »Von Ihnen hätte ich das nicht gedacht, Herr Bracebridge! Wie kommen Sie dazu, mir solch eine Frage zu stellen?«

»Diese Antwort habe ich erwartet«, versetzte ich, meine Ruhe bewahrend, »aber eben deshalb sehe ich mich zu meinem Bedauern gezwungen, Ihnen mitzuteilen, daß Ihr Koffer, als man ihn öffnete, nichts enthielt als – die Leiche meines Vetters.«

Bei dieser Erklärung schwankte die Baronin einen Augenblick, mich entsetzt anstarrend und wäre sicher zu Boden gesunken, hätte ich sie nicht in meinen Armen aufgefangen.


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