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5.

Die Sonne brannte schon heiß herab, als wir am folgenden Morgen um sechs Uhr aus dem Nordbahnhof in Brüssel traten, um ein Kaffeehaus zu betreten, wo wir frühstücken konnten.

Ein solches war bald gefunden, und von dem gesprächigen Kellner erfuhren wir ohne Mühe Näheres über den Unfall des geheimnisvollen jungen Mannes, dessen Leiche ich besichtigen sollte. Das Unglück hatte sich keine hundert Meter von dem Ort, an dem wir uns befanden, zugetragen. Der Verstorbene war, als er eben vom Boulevard du Nord in den Platz einbog, einem Automobil, das von der Rue Neuve her scharf um die Ecke fuhr, zu nahegekommen. Ob er augenblicklich verwirrt gewesen oder das Winken des Chauffeurs mißverstanden hatte, blieb unaufgeklärt. Jedenfalls geriet er gerade vor den Wagen, der ihn niederwarf und überfuhr.

So berichtete der Kellner, der Augenzeuge des Unglücks gewesen war. »Jawohl, meine Herren«, schloß er, »ich habe es selbst gesehen und stand dabei, als man den Ärmsten nach dem Hospital da drüben« – er wies aus ein mächtiges graues Gebäude, jenseits des Platzes am Ende des Boulevard – »transportierte. Gestern fand die gerichtliche Untersuchung statt, der Chauffeur wurde aber freigesprochen, da ihn keine Schuld traf. Vielleicht möchten die Herren den Zeitungsbericht lesen?« Und diensteifrig brachte er uns ein Exemplar der »Indépendance Belge«, mit dem Finger auf den betreffenden Artikel deutend.

Diese meldete den Unfall eines jungen Engländers, namens Reginald Bracebridge, der seit einigen Tagen im Grand Hotel wohnte. Es folgte dann eine genaue Beschreibung des unglücklichen Ereignisses sowie die Anmerkung, man habe eine beträchtige Summe Geldes bei dem Verunglückten gefunden und seine Verwandten in England benachrichtigt.

Der letztere Satz brachte mich plötzlich zum vollen Bewußtsein meiner Lage, die ich bisher gar nicht so ernst ins Auge gefaßt hatte, Inspektor Walter, wie mir schien, ebenfalls nicht. Doch hier in den Spalten eines angesehenen Brüsseler Blattes waren gewisse bestimmte Angaben gemacht worden, die ich unbedingt widerlegen mußte. Unterließ ich es, so konnte ich mich auf meiner Rückreise nach London im Besitz einer zweiten Leiche in nette Verwicklungen bringen. Das waren aber schließlich Mutmaßungen, über die ich selbst lachte.

Nach beendigtem Frühstück zahlte ich und sah auf die Uhr. »Ist wohl noch zu früh, ins Hospital zu gehen?« bemerkte ich zu meinem Gefährten. »Wollen wir einen Gang über die Boulevards machen und im Vorbeigehen das Grand Hotel aufsuchen?«

»Das könnten wir tun«, nickte Inspektor Walter, nach seinem Hut greifend.

Eine Viertelstunde später betraten wir das Grand Hotel. Ich erklärte dem Portier, ich sei soeben von London herübergekommen, um mich nach einem Herrn Bracebridge zu erkundigen.

»Der vor zwei Tagen durch einen Automobilunfall Verunglückte?« fragte der Mann.

Ich bejahte.

»Leider kann ich Ihnen nur wenig Auskunft geben«, bedauerte er. »Der Herr kam am Einundzwanzigsten nachmittags von Paris hier an. Zwei Tage später wurde er von einem Auto überfahren, und seine Leiche befindet sich im Hospital St. Jean. Es hieß, man habe seine Verwandten in England benachrichtigt.«

»Jedenfalls«, entgegnete ich, »das heißt, wenn seine Identität zweifellos festgestellt worden war.«

»Gewiß«, versicherte der Mann mit halbem Lächeln. »Das ist ja die Hauptsache.«

Warum ich auf einmal so nervös wurde, weiß ich nicht, aber ich empfand eine merkliche Beklommenheit, als ich die Frage stellte, ob der Verstorbene seinen Namen und seine Adresse ins Fremdenbuch eingetragen habe.

»Selbstredend. Möchten Sie es sehen?«

»Ja.«

Im nächsten Augenblick lag das offene Buch vor mir. Was ich da sah, machte mich geradezu schwindlig. Da stand es deutlich in Reginalds eigener Handschrift:

Reginald Bracebridge,
Twyford Hall. Suffolk. England.

Das war in der Tat eine Bombenüberraschung!

»Gütiger Himmel!« wandte ich mich zu dem Inspektor. »Was soll das nun bedeuten? Der Junge selbst hat das geschrieben – darauf könnte ich schwören.«

»Dann sitzen Sie ja gewaltig in der Klemme«, bemerkte er, »nach dem, was Sie in London beschworen haben.«

»Allerdings. Mir steht der Verstand still. Puh. ich fühle den Schweiß aus meiner Stirn – aber sicher nicht von der Hitze. Doch halt! Das wird die Sache aufklären!« Und einer plötzlichen Eingebung folgend, zog ich Reginalds Porträt hervor.

Der Portier erkannte es sofort. »Ah, der arme junge Mann!« murmelte er.

»Ist das Herr Bracebridge?« fragte ich ihn.

»Es ist eine ausgezeichnete Photographie von ihm«, erwiderte er ohne Zögern.

Nun war ich so klug wie zuvor, und da der Mann mir keine weitere Auskunft zu geben vermochte, so verabschiedete ich mich und sagte, daß ich später noch einmal wiederkommen wollte.

Es schlug gerade acht Uhr, als ich am Hospitaltor klingelte. Der Portier nahm meine Karte in Empfang und führte mich alsdann zu dem Direktor. Diesem stellte ich den Inspektor als »meinen Freund, Herrn Walter« vor, worauf er uns einlud, Platz zu nehmen.

»Freut mich, Sie hier zu sehen, Herr Bracebridge«, sagte er höflich. »Wir fanden Ihre Adresse unter dem Gepäck des Verstorbenen.«

»Hat er sie Ihnen nicht selbst mitgeteilt?« fragte ich.

»O nein. Nach dem Unfall hat er die Besinnung nicht wiedererlangt; wir erfuhren aber bald, wer er war, und da wir, wie gesagt, Ihre Adresse bei ihm fanden, so hielten wir es für das Richtigste, Sie gleich zu benachrichtigen. Die Ähnlichkeit dieses etwas außergewöhnlichen Namens ließ mich vermuten, daß Sie miteinander verwandt seien.«

Ich nickte bejahend, und er fuhr fort: »Eine rasche Identifizierung war dringend geboten, weil er eine bedeutende Summe Geldes bei sich trug, die wir natürlich der Polizei in Verwahrung geben mußten. Es war daher mehr als bloße Höflichkeit, daß wir Ihnen sofort telegraphierten.«

Ich dankte ihm für seine freundliche Bemühung, obgleich ich dunkel fühlte, daß mich dieselbe noch in große Verlegenheit bringen würde.

»Und nun«, schloß der Direktor, »wäre es vielleicht gut, bevor wir die Leiche besichtigen, wenn Sie seine Effekten durchsetzen wollten.«

Damit war ich einverstanden, und nach wenigen Minuten legte ein Hospitalbeamter verschiedene Gegenstände vor uns auf den Tisch. Unter ihnen befand sich auch Reginalds Repetieruhr mit eigenartiger Mechanik, die ich gleich so richtig handhabte, daß der Direktor befriedigt lächelnd die Bemerkung machte: »Ich sehe, Sie kennen die Uhr genau.«

Außer einigen kostbaren Schlipsnadeln war noch eine Zigarettentasche, die Reginalds Monogramm in Diamanten zeigte, vorhanden, wodurch jeder Zweifel gehoben wurde. In der Brieftasche lagen noch achtzehn 50-Pfundnoten, deren Nummern wir mit der von Herrn Harris gegebenen Liste verglichen.

»Sie stimmen genau«, bestätigte der Direktor, nachdem er sie verglichen hatte, »nur zwei Scheine fehlen. Demnach scheint alles in Richtigkeit zu sein.« Für ihn – ja, aber nicht für mich, denn was ich nun sah oder berührte, verwickelte die Sache immer mehr. Was mich jedoch am meisten überraschte, war ein geschlossener Brief in Reginalds Handschrift an – meine Adresse.

»Ah ja!« nickte der Direktor, als ich das Schreiben in die Hand nahm. »Durch diesen Brief erfuhren wir, wo Sie wohnten.«

»Sie gestatten wohl, daß ich ihn lese?« fragte ich.

»Selbstverständlich. Er ist ja an Sie gerichtet.«

Der Bogen trug den Stempel des Hotel Scribe in Paris; das Datum war der 20. Juli, der Tag vor meiner Ankunft in der Seinestadt, und der Inhalt lautete folgendermaßen:

»Lieber Frank! Ich sitze furchtbar in der Klemme und gestehe gleich von vornherein, daß ich kolossale Dummheiten gemacht habe und daß es unter der Sonne keinen größeren Esel gibt wie mich. Natürlich wirst Du die Achseln zucken und sagen: ›Das stimmt!‹ Mit vollem Recht. Ich versichere Dir aber ehrlich – einerlei, ob Du's glaubst oder nicht – daß ich, wenn ich mit heiler Haut aus dieser Klemme herauskomme, mit der Vergangenheit abschließen und ein neues Leben beginnen werde. Ich denke eine kleine Nordpolfahrt oder dergleichen wäre ein guter Anfang zu einer besseren Lebensweise.

Du wirst wahrscheinlich annehmen, daß eine Frau die Ursache meiner Verlegenheiten ist; dennoch irrst Du Dich, wenn Du daraus die üblichen Schlußfolgerungen ziehst. Ich habe mich ordentlich ausgetobt und bin – das gestehe ich beschämt ein – ein sehr lockerer Vogel gewesen; seit kurzem jedoch habe ich zum erstenmal eine echte, tiefe Leidenschaft zu einem Weibe gefaßt.

Ich sah die Herrliche eines Tages in Paris. Sie war entzückend schön und unsere Blicke begegneten sich, als sie in ihrem Wagen an mir vorüberfuhr. Ich verlor vollständig den Kopf und ging ihr nach. Sie verschwand im Grand Hotel. Ich zog Erkundigungen über sie ein und erfuhr, sie sei eine Baronin Slavinsky – dem Vernehmen nach Witwe.

Vergebens bemühte ich mich, bei ihr eingeführt zu werden. Keiner meiner Bekannten konnte mir dazu verhelfen, denn sie führte ein sehr zurückgezogenes Leben. In meiner Leidenschaft schrieb ich an sie und erklärte ihr meine Liebe – eine Liebe auf den ersten Blick. Sie sandte mir den Brief ohne eine Bemerkung zurück.

Um sie zu zwingen mich zu beachten, lauerte ich ihr überall aus, so daß sie schließlich einwilligte, mich zu empfangen. Bei dieser Zusammenkunft wies sie mich aber in einer Weise zurecht, die jeden Mann ernüchtert hätte. Sie war allerdings sehr freundlich – behandelte mich aber wie einen törichten Schulknaben. In ganz schwesterlicher Weise ermahnte sie mich, sagte mir, sie sei verheiratet und stellte mir vor, daß meine Zudringlichkeit sie nicht nur belästige, sondern sie auch ernstlich kompromittieren könne.

Ich versprach, sie künftig unbehelligt zu lassen, war aber zu verliebt, um mein Wort zu halten. Binnen vierundzwanzig Stunden versuchte ich wieder, sie zu sehen und von der Zeit an durchstreifte ich beständig die Korridore des Grand Hotel.

Daß ich sie in gewisser Hinsicht kompromittiert habe, unterliegt keinem Zweifel, denn vor einer Stunde erfuhr ich, daß ihr Gatte – ein schrecklicher Russe – in Paris sei und die ganze Stadt nach ihr durchsuche. Weshalb er so schrecklich sein soll, verstehe ich nicht recht, denn ich höre, er sähe mir sehr ähnlich. Vorläufig mache ich mal einen Sprung nach Brüssel hinüber. Sollte sich etwas Ernstes ereignen, schreibe ich Dir von dort aus. Jedenfalls ist es besser, Dich auf alle Eventualitäten vorzubereiten.

Was ich doch für ein Tor gewesen bin! Aber wirklich, Frank, ich möchte jetzt ganz ernstlich ein neues Leben anfangen und ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden. Wenn wir uns je wiedersehen, mußt Du mir in meinem Bemühen nach Kräften beistehen!

Dein aufrichtig ergebener
Reggie.«

Da dieser Brief ein ganz neues Licht auf die Sache warf, so war es vorauszusehen, daß mir noch weitere Verlegenheiten bevorstanden.

Als ich aufschaute, begegnete ich dem fragenden Blick des Direktors.

»Ist das Schreiben auch eine Bestätigung?« forschte er.

Ich konnte nur bejahend nicken.

»Dann ist's ja gut«, meinte er sichtlich erfreut. »Was nun noch übrigbleibt, ist gegenüber solch vollgültigen Beweisen nur eine reine Formalität – für Sie, Herr Bracebridge, allerdings eine schmerzliche. Wollen Sie mir gefälligst folgen?«

Mein Herz schlug höher, als wir durch mehrere Gänge und über verschiedene Treppen in eine Art Gruft hinabstiegen. Hier winkte der Direktor einem Wärter, der uns zu einer Totenbahre geleitete, auf der eine leblose Gestalt lag. Als er das Tuch wegnahm, mit dem das Gesicht bedeckt war, sah ich – – ich weiß nicht, wen.


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