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Ein stummer Bericht über einen Schiffbruch

Von Holger Drachmann

Wenn die Hoffnungslosigkeit sich jemals einen Gewerbeschein gelöst hätte, um sich in einer Kommune niederzulassen, so müßte es in dieser Strandgemeinde gewesen sein, Traurige Sandmeiler, langgedehnt und einförmig wie die Traurigkeit selbst; halbausgewischte Dünen gegen das Meer zu; Wrackstücke als Wegweiser, wo kein Weg war; eine unablässig nervös sich wiegende Möwe als Belebungsmittel, die ewigen Regenschauer eines unbeständigen Himmels, der an einem Tage ebenso oft weinte, wie ein kränkelndes Kind; hie und da zwischen den Meilern einige Häuser und Halbhufen von herzlich verzagtem Aussehen; Andeutungen von Weiden mit einem Gespenst von einer Kuh und zwei Schafen, so mager wie Windspiele; ein säuerlicher oder ganz saurer Geruch von stillstehenden Wasseransammlungen zwischen den Dünen – und schwenkte man dann hinaus durch die Düne und gelangte man hinab zum flachen Strand, so war hier diese Brandung, die beständig über die Riffe hinweg hineinrollte gegen den Sand, und brauste und Atem holte, wie ein Mensch, der zu schnell gegangen ist und eine Begebenheit erzählen will, eine sehr ernste Begebenheit – kurz gesagt: eine schlimme Nachricht; aber er kann nicht dazu kommen; es ist etwas, das zurückhält. Und er verdreht die Augen im Kopfe, und seufzt, und stöhnt: Aa … aa … mein Gott! mein Gott! …

Der Wagen hatte keine Federn – natürlich; aber der breite Wagenstuhl hing an seinen Lederriemen, und es war gut Platz für den Landdoktor und mich. Es war zu gut Platz, und unsere Schultern und Mützenschirme kamen öfter in eine engere Berührung miteinander, als es bei einer Wagenfahrt unter gewöhnlichen Umständen der Fall zu sein pflegt.

»Entschuldigen … ah, entschuldigen … das ist aber doch …!«

Und dann mußten wir lächeln, wurden aber doch gleich wieder ernst. Und dann wollten wir unsere Pfeifen aufs neue anzünden.

Wir machten gerade die Schwenkung zum Strande hinab, und ich vergaß, die Pfeife wirklich anzuzünden; der Doktor aber ließ sich nicht genieren.

»Sie sind nicht daran gewöhnt!« sagte er und klappte den Deckel wieder zu. – »Ja, ich gestehe, es ist hier traurig, besonders an einem Herbsttag. Aber wenn man beinahe täglich diesen Weg hier macht – und auch oft in der Nacht – dann – ist schon wieder ausgegangen – bak, bak, bak – dann – Sie verstehen – Gewohnheit ist die halbe Natur – und außerdem – gegen was werden wir auf die Länge nicht abgestumpft?«

»Haben Sie jemals eine Strandung gesehen? – mit eigenen Augen?« fragte ich.

»Massenhaft! Das heißt – hm! genau gesprochen – ich bin beinahe immer erst später dazu gekommen – zur Leichenbeschau und dergleichen.«

»Ja, ich auch!« antwortete ich.

Wir fuhren schweigend weiter. Der Wagen wurde von den armen Pferden durch den Sand gezerrt; unser Kutscher schlug auf sie ein, ohne etwas zu sagen. Es fiel mir ein, daß er mit demselben Resultate es auch hätte sein lassen können, die Peitsche zu gebrauchen; allein ich konnte die nötigen Worte nicht hervorbringen; ich war gedrückt, dumpf, irritiert, leidend und stumm, vor allem stumm, karg mit der Sprache. Und ewig spülte diese Brandung gegen uns herein, mit dem eigentümlichen kurzatmigen Laute, der sich zwischen der Grabesstummheit der Dünen verlor. Wie längs dem eingesunkenen Erdwall eines Friedhofes fuhren wir dahin; und auf der entgegengesetzten Seite immer dieses Meer mit seinem unveränderlichen: »aa mein Gott – mein Gott!«

»Na, bearbeiten Sie den Stoff?« fragte mein Nebenmann.

»Welchen Stoff?«

»Strandungen!«

»Ich habe, wie gesagt, noch keine gesehen, und Sie ja auch nicht, sonst könnten Sie mir wenigstens von einer solchen erzählen!«

»Nichts ist leichter als dies! Ich habe in diesen vier Jahren genug darüber gehört – man hört ja nur darüber. Man spielt sein L'hombre und spricht von Strandungen bei uns. Da war zum Beispiel die letzte …«

Die Pferde waren stehen geblieben. Sie mußten Atem schöpfen. Der letzte Regenschauer war über uns hinweggegangen, und wir hatten jeder die Pfeife eingesteckt. Das Meer hatte begonnen sich zu erheben; es stöhnte nicht mehr, es schrie mir etwas laut zu, ich konnte es aber nicht verstehen. Durch die Düne, aus den Gräbern heraus, dicht vor dem Wagen, kam eine Gestalt mit einer aufgewundenen Rolle Leine über den Schultern. Als die Pferde stehen blieben, blieb auch die Gestalt stehen. Es war ein hoher, magerer, kräftig aussehender Mann, etwas nach vorne gebeugt, wie es der Bewohner dieses Strandes leicht wird. Er ging hierauf ganz in den Schwemmsand hinab, wickelte die Leine ab und blickte in die hohen Wogen hinaus, als ob er denselben etwas sagen wollte – oder als ob er horchte, was sie schrien. Dann wirbelte er die Windungen der Leine hinaus in das zischende Wasser, zog sie wieder ein, schien zu stutzen, lief ein wenig zurück, warf sie wieder aus und stieß während dieses seltsamen Spieles ein fast unmenschliches Grunzen aus. Er gebärdete sich bei diesem Spiele wie ein Kind. Ich betrachtete ihn: sein Haar war eher weiß als grau, und doch deutete nichts bei ihm auf einen Greis. Er stierte uns an und zeigte sich ziemlich gleichgültig gegen unsere Anwesenheit. Dann begann er sein Spiel von neuem.

»Da haben wir ja Matz!« sagte der Doktor. Und er fuhr mehr zu mir gewendet fort: »Sehen Sie, Matz wäre der richtige Mann für Sie. Er befand sich eines Abends allein auf diesem öden Strich in der Düne, als ein großes Schiff strandete. Er wohnte dem ganzen Drama vom Anfang bis zum Ende bei. Es war allerdings eine besonders schreckliche Strandung. Er hätte Ihnen darüber erzählen können. Aber leider …« – »Nun? warum leider?« fragte ich. – Der Doktor blickte mich verstohlen an und stopfte von neuem die Pfeife. »Er ist nach dieser Nacht irrsinnig geworden – wie Sie sehen. – Und, sonderbar genug, die Sprache hat er auch verloren. Ich will gar nicht sprechen von der Farbe der Haare: – sie waren früher feuerrot.« – »Er wurde verrückt?« fragte ich leise. – »Ja, – und stumm. Er muß wohl Anlage dazu gehabt haben …!« meinte der Landdoktor und blies eine Rauchwolke vor sich hin.


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