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Einleitung

 

von Friedrich von Oppeln-Bronikowski.

Die Entwicklung des »jungen Frankreich« führt durch zunehmende Entartung zum Wert. Der erste grosse nachromantische Lyriker, Charles Baudelaire, ist der erste bewusste Dekadent.

»Von Dummheit, Irrtum, Wollust, Geiz verpestet,
Sind Leib und Seele gleicherart geplagt.
Die Reue füttern wir, die an uns nagt,
Just wie ein Strolch sein Ungeziefer mästet.« ...

Mit diesen verletzenden Worten, die Empörung erregen sollen, hebt seine lyrische Giftblütensammlung, die »Fleurs du Mal« an. Gleich ihm waren die zwei folgenden Dichtergenerationen Rebellen gegen ihren Zeitgeschmack, Sittenlose in einer Ära bourgeoiser Ehrbarkeit, Feinde des Nützlichen in der Blütezeit von Handel und Industrie, Verfechter der Extreme gegen die allgemeine Mittelmässigkeit, »Unzeitgemässe«, die am Konflikt mit ihren Zeitgenossen krankten oder an ihm zugrunde gingen, mit dem Kainsmal Gezeichnete, Entartete ... Und doch hat der Baum, der seine Wurzeln so tief in das Erdreich des Bösen senkte, seine Blüten schliesslich in den Himmel des Guten erschlossen; aus dem krankhaften »goût de l'infini« Baudelaires ist zuletzt das freudige mystische Allgefühl der vlämischen Dichtergruppe geworden, aus seiner Überreizung der Sinne ein neues differenziertes Empfinden und Schönheitsgefühl, aus seinem düsteren Todessehnen eine freudige Hingabe an den Weltprozess, eine neue Gesundheit. Die Geschichte dieser Entwicklung ist also im Grossen und Ganzen die der neufranzösischen Lyrik.

Charles Baudelaire (1821-1861) war der Freund und Zeitgenosse der älteren «Parnassiens« (Gautier, Banville, Leconte de Lisle), deren formenstrengen Schönheitskult auch er in seinen Versen trieb. Aber das Formenraffinement schlug bei ihm nach innen und ward zum Gefühlsraffinement, zur Sucht nach dem Aussergewöhnlichen im Höchsten wie im Tiefsten. So wurde er sein Leben lang hin und hergerissen zwischen Gott und Satan, Venusberg und Wartburg, Madonnenkult und Ausschweifung. Er blieb Jahre lang der platonische Liebhaber einer schönen hochstehenden Frau, an die er zarte Minnelieder richtete und lebte in wahrhaft »wilder« Ehe mit einer kleinen mulattischen Grisette, die er hasste und verachtete, deren Reize er in seinen Liedern glutvoll pries und an die er ohnmächtig gekettet blieb, weil sie ihn an die Wunder des Orients gemahnte, die er als Jüngling auf einer langen Reise kennen gelernt hatte.

»Là tout est ordre et beauté,
Luxe, calme et volupté«.

Vor allem aber ergab er sich dem fluchwürdigsten orientalischen Laster, dem Haschischgenuss, der ihm die künstlichen Paradiese seiner weltflüchtigen Schönheitssehnsucht erschloss. Aber diese lasterhaften Extasen zerrütteten seine Seele wie seinen Leib, ohne dass er sich zu einer Umkehr aufraffen konnte. Er blieb eine Beute Satans, verstockt wie sein »Don Juan in der Unterwelt« und doch schmerzlich bewusst, dass er ein Harmonieverderber der Weltordnung war, »ein falscher Akkord in der göttlichen Symphonie«, ein mit dem Kainsmal Gezeichneter.

»Ich bin die Wunde und der Pfeil,
Das Opfer und der Überwinder,
Der Henker und der arme Sünder,
Ich bin der Hals und bin das Beil.

Der Vampir bin ich meines Lebens!
Verdammt bin ich durch alle Zeit,
Zu lachen bis in Ewigkeit –
Und will ich lachen, ist's vergebens.«

Ewige Unbefriedigtheit, unerfüllbares Sehnen – das ist das Leitmotiv dieser tief am Leben krankenden Seele. Die Unmöglichkeit, sein Ideal zu verwirklichen, und der Ekel vor seinem zerrütteten Dasein führten ihn schliesslich zum Nihilismus. Der Tod erscheint ihm in einer grausigen Vision als Sieger über alles Leben, als Mors imperator – ein Motiv, das durch die ganze Decadence erklingt –, und ebenso erscheint ihm die Liebe als todbringende Macht, das Weib als Vampir, bestimmt, dem Manne die Kraft auszusaugen, und der Mann als sein feiger Sklave:

»Esclave de l'esclave et ruisseau dans l'égout.«

»Sie haben ein neues Grauen erfunden« schrieb Victor Hugo an Baudelaire. Er hat unerhörte Bilder, neue Ausdrucksformen in die französische Poesie eingeführt und ihr neue Schaffensgebiete erschlossen. Sein berühmtes Sonett von den »Zusammenklängen« (Correspondances), worin er durch krankhafte Vertauschung von Sinnesreizen mystische Beziehungen zwischen Mensch und All knüpft, wurde so zur Grundlage für den späteren Symbolismus; nach diesem Rezept schwelgt der neurasthenische Held in Huysmans' Roman »A Rebours«, diesem Handbuch des Decadence, in Sinnes- und Gehörhalluzinationen, die er aus Parfumen und Likören zieht; und das ganze Schaffen von Baudelaires Bewunderer Rodenbach beruht auf Vertauschung von Sinnesreizen. –

Wie Baudelaire in seinen Versen der formenstrenge Parnassien blieb, so trug er im Leben bis zuletzt die Maske des unnahbaren Dandy. Erst Paul Verlaine (1844-96), in Vielem sein Geistesbruder, stieg im Leben die letzte Stufe der Decadence, die zum haltlosen Zigeuner, herab; und ebenso ging er in seiner Kunst über Baudelaire hinaus. So revolutionierend dessen Gedichte ihrem Inhalt nach waren, in der Form blieben sie doch virtuose Kunstprodukte. Erst bei Verlaine schuf sich der Gefühlsinhalt seine eigne, oft reimlose Versgestalt, wie es das Gedicht Ars poetica (›Dichtkunst‹) programmatisch verlangt.

»De la musique encore et toujours!
Que ton vers soit la chose envolée,
Qu'on sent qui fuit d'une âme en allée
Vers d'autres cieux à d'autres amours.«

So rief seine Lyrik denn auch in der französischen Poesie eine viel tiefere Umwälzung hervor als die seines Vorgängers. Er befreite die gallische Dichtung vom spanischen Stiefel eines prästabilierten Metrums und von rhetorischer Pose; er machte den Freivers zum Träger zartester Seelenschwingungen, zum Vermittler intimsten Stimmungszaubers. Er zwang die französische Sprache zu schluchzenden, jubelnden, träumerischen Naturlauten, zum Hervorsprudeln alles Heiligsten und Verworfensten in der Menschenbrust. Aus den Tiefen des Gemüts quellend, bisweilen schlicht wie eine Volksweise mit ihren schwermütigen Kehrreimen, kommt diese Lyrik dem deutschen Lied mit seiner grundlosen Wehmut, seinem »Ich weiss nicht, was soll es bedeuten«, oft viel näher als dem französischen Kunstgesang; nur in dem girrenden Liebesgetändel der »Fêtes galantes,« in den schwülen Perversitäten der Sammlung »Parallèlement« und anderen Verirrungen verrät sich der Franzose und Decadent.

Es ist heute ein Gemeinplatz, dass diese Entartung, die seinen Wandel befleckte, den grossen Lyriker in ihm entband, ja dass er viele seiner besten Gedichte im Absinthrausch auf die Marmorplatte seines Cafétisches schrieb – ebenso wie Baudelaire seine Verzückungen im Haschischrausch gefunden hatte. Wie dieser ward auch er zwischen Venus und Elisabeth, Gott und Teufel hin- und hergerissen, gleich aufrichtig in seinen Reuetränen wie in seinen Wollustextasen; und gleichwie Baudelaire endete auch er als Überwundener des Lebens – als unheilbarer Trinker im Greisenhospiz ...

Fast ganz in seinem Schatten stehen blieb der geniale Vagabund Arthure Rimbaud (1854-91,) sein jüngerer Freund, der ihn zeitweise ganz seinem eigenen künstlerischen Einfluss unterwarf und mit ihm in einem lasterhaften Vagantenleben die Früchte reifer Künstlerschaft sammelte. Schon als siebzehnjähriger Jüngling brachte er von einer seiner Landstreichereien ein so künstlerisch reifes, visionäres Gedicht heim, wie das vielbewunderte »Trunkene Schiff«. Eine andre Probe seiner Excentrizitäten, das Sonett »Die Vokale«, ist als tolle Ausgeburt der Decadencepoesie viel verspottet worden. Eine Schöpfung dichterischen Übermuts, offenbart er trotzdem einen tiefen Sinn für die Klangwunder der Poesie. Rimbaud hat sich frühzeitig aus dem tinteklexenden Europa verbannt, nachdem er seine Gedichte dem Feuer überantwortet hatte; er hat im schwarzen Erdteil als Kolonisator ein praktisches Tätigkeitsfeld für seinen dämonischen Machtwillen gesucht und gefunden – bis er unter den übermenschlichen Anstrengungen in einem feindlichen Klima zusammenbrach. Sein »trunkenes Schiff« war gleichsam eine poetische Vorwegnahme seines späteren Lebensschicksals: ein Schiff, in trunkener Lust von den Wellen umhergeschleudert, von Blitzen umloht, an den Küsten blutgierige Feinde, unter sich die frassbereiten Räuber des Meeres, so hat er nach A. Eloessers schönem Wort »die Wollust des Lebens empfunden und so ist er zu Grunde gegangen«.

Als Nachfolger Baudelaires erscheint neben Verlaine auch Stéphane Mallarmé (1842-1898), der eigentliche Vater des Symbolismus, gleich Baudelaire ein Bewunderer Richard Wagners, für dessen Kunst er in Wort und Schrift eintrat und auf dessen Musik er seine ganze Ästhetik aufbaute. Er wollte – wie Wagner – die verwirrende Fülle der Dinge metaphysisch durchdringen, das Einzelne an das All anknüpfen, es zum Symbol ewiger Ideen machen und auch formell eine synthetische Gesamtkunst schaffen, die alle Kunstgattungen vermählte. So strebte er nach emotionellerem Ausdruck, nach plastischer, bildlicher und musikalischer Wirkung seiner Verse; und besonders in seiner späteren Lyrik suchte er wie Verlaine ›Musik zu machen‹. Dadurch freilich erhielt seine Poesie eine orphische Dunkelheit; und wenn Wagners Tondramen sich ganz Europa eroberten, so wurde Mallarmés Lyrik, der die Anschaulichkeit des scenischen Vorganges fehlte, zu einer Geheimschrift für wenige Auserwählte, die sich in spitzfindigen Deuteleien ergingen, während das grosse Publikum Meister wie Jünger verhöhnte. Trotzdem gebührt ihm der Ruhm, dass er in der Blütezeit des französischen Naturalismus sich von den Banalitäten des Alltags und der zersplitternden Detailschilderung ab wandte und nach Verinnerlichung, nach religiöser Sammlung strebte. Die Kunst war ihm ein frommer Gottesdienst, eine mystische Vereinigung mit dem Ewigen; und dadurch überwand Mallarmé nicht allein den verflachenden Naturalismus der Modeschriftsteller, sondern auch die tiefschmerzliche Selbstzerrissenheit Baudelaires und Verlaines und bereitete so den Boden für ein neues Alleinheitsempfinden, eine neue Lebensbejahung vor. Hier ist Mallarmé freilich mit Bewusstheit stehen geblieben; er empfand sich – ganz wie Verlaine – als letzten Spross einer müden Überkultur und überliess es jüngeren, frisch herandrängenden Kräften, in sein Erbe einzutreten.

Mallarmé war formal von der parnassischen Schule ausgegangen; ebenso wie wir ihn anfangs von der ziellosen Sehnsucht Baudelaires verzehrt sehen (»Meeresbrise«). Doch allmählich entwächst er seinen Vorbildern, durch Streben nach grösserer Klangwirkung, nach suggestiver Bildlichkeit, durch kunstvolle Steigerung des Ausdrucks und feinfühlige Abtönung der Lichter und Schatten. Sein Bestes sind unstreitig zwei wundervolle lyrisch-epische Fragmente, »Herodias« und der berühmte »Nachmittag eines Fauns«, das erste Denkmal seines eigenen Stils (1876), der in seiner Anmut und Frische an die antiken Bukoliker gemahnt – unbeschadet seiner apart-symbolistischen Note. »Es ist der Monolog eines lüsternen Fauns«, sagt Gio. Pica in einer feinsinnigen Studie, »der sich an einem heissen Sommernachmittag zweier Nymphen erinnert, die er beim Baden überrascht hat, und die vor ihm entflohen sind – so flüchtig, dass er sich fragt, ob jene Frauen nicht etwa bloss die Verkörperung eines Wunsches seiner Sinne waren. Mit seiner Hirtenflöte (Syrinx) Bekanntlich hat Pan nach der Sage die Nymphe Syrinx, die vor ihm entflieht, in Schilfrohr verwandelt, und das Lied der Rohrflöte, auf der er spielt, ist das Seufzen der Verwandelten. Mallarmé hat dieses mythologische Motiv in sein Gedicht verwoben. versucht er nun, das wollüstige Bild der Beiden zurückzuzaubern; die süsse, buhlerische Musik der Verse wird gellend, wo die Sinnenglut des bockfüssigen Schwärmers wild aufschäumt. Er glaubt sie zu umfassen – da entgleiten sie von neuem seiner Umarmung – in Gedanken – und nun wird er sich bewusst, dass alle Visionen nur Wünsche und Träume unserer Seele sind. Und von der Hitze überwältigt, sinkt der Faun in Schlaf, um von den Nymphen weiter zu träumen.«

Mallarmés dunkler, orphischer Symbolismus wurde künstlerisch weitergebildet durch seinen viel fruchtbareren Schüler Henri de Régnier (geboren 1864), durch dessen Jugendlyrik hindurch Mallarmés Kunst Manchen erst gerechtfertigt und verständlich erscheinen mag. Wer den Urwald dieser schwermütigen, herbstlich-schönen Lyrik durchquert, dem begegnen da die gleichen Gestalten und Dinge wie in Mallarmés Gedichten: die symbolischen Fabelwesen, Verkörperungen der Naturkraft und Unschuld, die magischen Spiegel der Quellen und Brunnen, die den Menschen zur Selbstvertiefung – aber auch zur Selbstbespiegelung – einladen, die herbstliche Staffage, das Abbild der herbstlich-müden Dichterseele, die scheuen Einsiedler, die in alten, halb verfallenen Schlössern hausen, von seltenen, vergangenen Dingen umgeben wie von einem Museum. In seiner Dichtung »Le Seuil« (Die Lebenschwelle) hat de Régnier das Milieu besungen, in das er hineingeboren ward und das seinem jungen Geiste den Stempel aufgedrückt hat; und seine ganze Jugendlyrik ist erfüllt von Vergangenheiten, von unvergesslichen Erinnerungen, in die sich der Dichter aus dem Lebensbankrott wehmütig zurückzieht wie in ein Asyl.

»Schlaf denn, o Bruder, träume hold,
O bleicher Schläfer, einsam hingeneigt
Vor eines Spiegels Ebenholz und Gold,
Der Deine Seel' im Zeitenschoss Dir zeigt.«

Aus diesem in sich selbstversunkenen Traumleben aber erwächst dem Dichter schliesslich die Genesung. In ihm wachsen »die Früchte der Vergangenheit, gereift von Traum und Schatten«. Er wird zum objektiven Nachbildner vergangener Zeitalter, vornehmlich des französischen ancien régime, das dem Spross eines alten Adelsgeschlechtes so nahe lag. In seinen Novellen und Romanen lebt er das Leben, das er als Mensch nicht hat leben können; als Künstler hat er den Weg zur Genesung gefunden. Seine letzten lyrischen Gedichtsammlungen zeigen ihn – freilich mit einem bleibenden Einschlag müder Resignation – auch als Menschen mit Welt und Leben versöhnt; das stille Glück echter Liebe und die weihevolle Ruhe der Künstlerwerkstätte geben ihm Zufriedenheit. Auch formal heben sich diese letzten Gedichte von den kühnen Versneuerungen ab, die er in seiner Jugend gewagt hatte; er ist durch die strenge akademische Schule seines Schwiegervaters, des grossen Verskünstlers de Hérédia gegangen, und seine Dichtungen atmen fortan die abgeklärte Ruhe und Gemessenheit der parnassischen Kunst. Trotzdem ist auch ihm – wie seinem Meister Mallarmé – die eigenartige symbolistische Note, der symbolische Ausdruck verblieben. –

Eine ähnliche Wandlung hat auch Jean Moréas durchgemacht (geboren 1856). Anfangs das Schulhaupt der Symbolisten, »Der Ronsard des Symbolismus« wie ihr Anatole France nennt, belebte er in seiner Lyrik die Poesie des Mittelalters und die Renaissancedichtung der »Plejade« – jener Begründer und Verfechter der neufranzösischen Dichtkunst, deren Haupt eben Ronsard war – um schliesslich zu antiken Stoffen und parnassischen Formen überzugehen, die ihm, dem geborenen Griechen, doch schliesslich am nächsten lagen. In Frankreich misst man seinen früheren kritischen Waffengängen für den Symbolismus wohl zu grosse Bedeutung bei; im Grunde steht er dieser mit der deutschen Romantik verschwisterten Bewegung wesensfremd gegenüber und ist für den Aussenstehenden kein so starker Faktor ihrer Entwicklung, wie man in seinen Adoptivvaterland meint.

Mehr theoretisch als praktisch möchte ich auch die Bedeutung des früh verstorbenen, exzentrischen Jules Laforgue (1860-1887) bewerten, obwohl gerade er deutschen Einflüssen hingegeben war (er war jahrelang Vorleser der Kaiserin Augusta). Wie Mallarmé sich an Richard Wagner inspiriert hatte, so liess sich Laforgue durch Eduard von Hartmanns »Philosophie des Unbewussten« zu seiner »metaphysischen« Lyrik bestimmen, – wiewohl dieser tolle Tanz von Abstraktionen mit ironischen Seitensprüngen weit mehr an die abstrusen Poesieen eines Paul Scherbart als an den weltumspannenden Geistesflug des Philosophen gemahnt. Laforgue ist die fortwährend sich selbst überschlagende Spitze der lyrischen Freiheitsbewegung Jungfrankreichs. Formal geht er der traditionellen Lyrik mit seinem aus Deutschland importierten Freivers ohne Reim und Rhythmus zu Leibe – eine unerhörte Neuerung, die auch nur wenige Nachahmer fand –; inhaltlich bekämpft er die Goldschnittlyrik durch trockne Abstraktionen und grelle Ironieen oder durch boshaft eingeschobene Gemeinplätze. Man hat Laforgue nicht übel einen »metaphysischen Pierrot« genannt; und ihm selbst erschien sein mondsüchtiges Hirn als ein »Treibhaus von Anomalien«. Seine tollen und doch eiskalten Fieberträume haben nur noch einmal, in den »Treibhausblüten« des jungen Maeterlinck, ein ebenbürtiges Gegenstück gefunden.

Diese lyrische Erstlingsgabe von Maurice Maeterlinck (geboren 1863), die der junge Dichter im Sturm und Drang seines ersten Pariser Lehrjahres schuf, ist in der Tat ein Übertrumpfen-wollen der französischen Decadencepoesie; er hat sie in gerechter Selbstkritik »Treibhausblüten« (Serres chaudes) betitelt. Es sind Fiebervisionen voll greller Kontrastbilder in einer lallenden Traumsprache, die nach Worten für das Unsagbare ringt. Vor allem aber taucht immer wieder das Bild des Treibhauses auf, aus dessen schwülem Dunstkreis sich die Blumen der Seele hinaussehnen in die wirkliche Welt, ohne ihren gläsernen Kerker sprengen zu können. – Über dieses non plus ultra hinaus gab es nur den Wahnsinn oder die Abkehr. Maeterlinck fand die Genesung – nicht wie Henri de Régnier als Künstler, sondern als Philosoph; er rang sich aus dem tiefen Pessimismus seiner Jugenddramen Schritt für Schritt zur höchsten Weltbejahung durch. Doch seine Lyrik ist ganz in seine Dramen übergeflossen, und ausser seinen Jugendgedichten hat er nur noch ein Dutzend Lieder geschrieben, die zehn Jahre später entstanden sind und in denen er mit dem Hyperästhetizismus der ersteren resolut bricht. Mit den denkbar einfachsten Mitteln, denen des Volksliedes, sind hier tiefe seelische Motive gestaltet. Vor allem ist es das Schicksal der Frau, das der Dichter mit so rührender Innigkeit versinnbildlicht; ein Gedicht wie »Der Ungetreue« darf man als Perle neufranzösischer Lyrik getrost neben Verlaines »Mondschein« stellen. Inhaltlich steht diese Lyrik auf der Scheidegrenze zwischen dem Fatalismus der Jugendjahre und dem frohen Optimismus der Manneszeit, und darum ist der Ton noch so schwermutsvoll.

Maeterlincks »todgeweihter« Jugendfreund Georges Rodenbach (1855-98) ist noch ganz im Banne des Pessimismus verblieben. » Das tote Brügge«, die Stadt seiner ältesten Kindheitserinnerungen, ward zur Hauptfigur seiner Kunst. In Vers und Prosa besang er den mystischen Zauber, den die alte, müde, geheimnisvolle Stadt auf sein gleichgestimmtes Gemüt ausübte. Er war eine weiche, weibliche sensualistische Natur, ganz wie Verlaine; auch sein Katholizismus ist ein »Katholizismus des Gefühls«, eine wollüstige Todesmystik; und so leistete auch er sein Höchstes in der Lyrik, diesem Spiegel unwillkürlicher Seelenregungen und Impressionen. Hier knüpfte er nach Baudelaires Vorbild jene mystischen Beziehungen zwischen den Seelen und Dingen, die seiner Kunst ihr eigenartiges Gepräge geben: er war, wie sein Romanheld Viane, »vom Dämon der Analogie besessen«. Formal schwankt seine Lyrik zwischen dem strengen Vorbild Baudelaires und dem Verslibrismus Verlaines hin und her; eine charakteristische Probe dafür ist die prachtvolle, bald in Stimmungsschwelgerei zerfliessende, bald zum grossen Pathos anschwellende Dichtung »In der Kirche«, die unstreitig sein Meisterwerk ist. Seine ewige Analogiesuche wirkt jedoch letzten Endes unfruchtbar, als ein modernes Alexandrinertum.

Trotzdem war es die belgische Gruppe der jüngeren Symbolistengeneration, der auch er angehörte, aus der die Überwinder der Decadence hervorgingen. In ihrer Geistesbildung dem französischen Kulturkreis angehörend, aber Germanen von Geburt, besassen die Söhne des mystischen Brabanter Weltwinkels das pantheistische Allgefühl, Baudelaires goût de l'infini, zu dem die französische Decadence nur aus Überdruss an der Gegenwart, nur mit Hilfe künstlicher Reizmittel und Ausschweifungen gelangt war, als eingeborenes Erbteil, und so traten sie – wie die nordischen Barbaren einst die Erbschaft der untergehenden Antike – die der französischen Décadence an, verjüngten sie durch ihr frisches Blut und führten sie aus dem müden Pessimismus einer neuen zukunftsfreudigen Weltauffassung entgegen.

Bei Maeterlinck vollzieht sich dieser Umschwung – wie schon betont – in Philosophie und Drama; sein belgischer Landsmann Emile Verhaeren (geboren 1865) zeigt die gleiche Entwicklungslinie auf lyrischem Gebiet, und darum besitzt er, wiewohl seine Lyrik weit weniger Beachtung fand als Maeterlincks erfolgreiche Bühnenwerke, die gleiche fundamentale Bedeutung wie dieser. Seine ersten Gedichte sind durchaus Heimatskunst; sie schildern die strotzende Kraft seiner flandrischen Heimat mit dem Pinsel eines Jordaens oder Rubens. Dann aber greift er zurück in die Vergangenheit; in den »Moines« ist es die geistlich-asketische Kultur des Mittelalters, in »Aux Bords de la Route« die weltliche Feudal-Kultur, die er mit kraftvollen männlichen Strichen zeichnet. Dann befällt auch ihn eine Nervenkrisis – die physiologische Grundlage der ganzen Decadence-Dichtung. Er tritt aus der Vergangenheit in die Gegenwart ein und rekapituliert alle die Hypochondrieen und Müdigkeiten, alle Selbstqual und alle äusseren Leiden seiner Zeitgenossen. Er beklagt die Landflucht und schilt auf die grossen Städte mit ihrem ungesunden, hastenden Treiben und ihrem Proletarierelend; er lebt den Tod des alten Gottes, den uferlosen Pessimismus der Moderne durch. Auch seine Seele flüchtet sich schliesslich im Übermass ihrer Empfindlichkeit in den Wahnsinn wie in ein Asyl des Friedens ... Aber nicht wie sein gemütskranker Landsmann Rodenbach endet der männlichere Verhaeren seine Laufbahn im Wahnsinn. An seinem von Angstbildern verdunkelten Himmel erscheint Sankt Georg, der Drachentöter des romantischen Weltschmerzes – und ein neuer Himmel lacht über der wiedergeborenen Erde.

»Alle Dinge sind mit mir in Frieden«, singt der Dichter; und alsbald erklingt durch seine Seele das Lied der lichten Stunden (Les Heures claires), das Lied der grossen befreienden Liebe. Es war in demselben Jahre, wo auch Maeterlinck durch die Liebe den Weg zu einer neuen Weltbejahung fand. Verhaerens Illusionskraft, die sich so schmerzlich in sich selbst verbohrt hatte, wirft sich nun auf die Aussenwelt und ordnet sich der wiedergewonnenen Vernunft unter. Er lauscht dem fiebernden Pulsschlag des modernen Lebens, dem Streben der Gegenwart, die Materie zu bezwingen, der Zyklopenarbeit der Fabriken jetzt mit Stolz und Freude. Die ewigen Ideen ordnen das Chaos und geben ihm einen Menschensinn. Der Schaffende allein lebt; Leid und Schmerz sind ihm nur noch Mittel zur Auslese, zur Erhöhung der Menschheit.

»La vic est à monter et non à descendre,
Et qu'importe souffrir si c'est pour s'exalter.«

Und so stimmt er in seiner »Multiple Splendeur« ein Hohelied des Lebens an, mit so männlichen Tönen, wie sie der Leyer der französischen Poeten lange nicht mehr entlockt wurden. Mystisches Einsgefühl mit allem, was lebt und dem Schicksal trotzt, durchpulst seine letzten Werke wie die Maeterlincks; das Chaos der Moderne ist zum Kosmos umgewandelt, und beide Dichter stehen da als leuchtende Repräsentanten eines neuen, befreiten Menschentums.

Auch formal prägt sich die Kraftnatur Verhaerens in seinen oft rauhen, schwerflüssigen Versen aus, die – ohne den Reim zu verschmähen – sich immer individueller und wuchtiger ausgestalten. Dem französischen Ohr klingt diese herbe Sprache freilich fremd genug, und so manches kleine Talent wird in Frankreich der rauhen Grösse Verhaerens vorgezogen, ohne sich doch irgendwie mit ihm messen zu dürfen.

Als dritter neben ihm und Maeterlinck steht dessen Freund Charles van Lerberghe (1861-1906), der als wenig produktiver Lyriker ganz im Schatten des Grösseren stehen geblieben ist, ganz wie Rimbaud im Schatten Verlaines. Trotzdem hat auch er die gleiche Entwicklung vom angstvollen Pessimismus zur freudigen Daseinsbejahung, zur Goetheschen Hingabe an »Gott-Natur« durchgemacht. Die mystisch-keusche Madonna seiner »Entrevisions« verwandelt sich in die lebenspendende Venus zurück; und seine Eva verlässt das Paradies erst im Tode, um wieder einzugehen in das All, aus dem sie hervorgegangen war, um es zu lieben und zu bewundern. Mit Recht vergleicht Maeterlinck viele dieser »Eva-Lieder« seines Freundes in ihrer frischen Unschuld und ihrem seligen Lebensglück mit den schlichten köstlichen Gedichten der griechischen Anthologie.

Damit ist der Kreis des »Jungen Frankreich« geschlossen. Manche kleineren Dichter stellen nur einen Ausschnitt oder eine Wiederholung dieses Entwicklungsganges der Grossen dar und folgen formell meist den Spuren Verlaines. In Frankreich bewundert man ihre Technik, ihre individuelle Note, die in Übertragungen doch nie ganz zur Geltung kommt, während der Gedanken- und Gefühlsinhalt bereits geläufig ist. So bei dem feinsinnigen Albert Samain (1858-1900) die liebevolle Versenkung in alte Kulturen (»Le Jardin de l'Infante«) oder die Verlainesche Gefühlsschwelgerei und der schmerzliche Drang, sich an das All zu verlieren; so bei Fernand Gregh die wehmütige Liebe zur stummen Natur und schliesslich der Durchbruch eines neuen Optimismus (»La Beauté de vivre«), während der belgische Dichtermaler Fernand Khnopff das Ideal der Buddhistischen Erlösung vom Leiden und Fühlen preist.

Zuletzt sei noch eines Neuromantikers gedacht, der als Dramatiker – der einzige, der in Frankreich von der Bühne herab gewirkt hat – seine Lyrik freilich (ganz wie Maeterlinck) in seine Dramen überfliessen liess: Edmond Rostand (geboren 1868). Er hat alle Motive der Romantik noch einmal angeschlagen, nur sie zu persiflieren oder in Virtuosentum aufzulösen, wie er sich denn auch formal ganz in den Bahnen der Parnassiens bewegt. Shakespeareparodie und inniger Stimmungszauber, Überschwang des Gefühls und abgefeimte Theatralik stossen in seinen Dramen aufeinander; eine artige Probe dieser spielerischen Kunst ist die Duellballade seines Cyrano von Bergerac, dieses »heroischen Komödianten«, der mit seinem Opfer spielt wie die Katze mit der Maus, ehe er ihm den Todesstoss versetzt. – Rostands Jugendlyrik, die Musset'sche Grazie mit Musset'scher Leichtfertigkeit verbindet, ist von dem Dichter selbst unterdrückt worden, und so lässt sich als Talentprobe seines Schaffens nur noch ein graziöses kleines Epos geben, »Der Tageslauf einer Preziösen«, das dem Milieu seines Cyrano-Dramas entsprossen ist, jener Atmosphäre des parfümierten Schäfertums, in der d'Urfés Roman Asträa die Bibel des guten Geschmacks war. Molière hat diese Welt der »Preziösen« derb verspottet; Rostand führt uns als Romantiker in diesen geistreichelnden Kreis ein, dessen Mittelpunkt die Marquise Cathérine de Rambouillet war, die sich nach einem Anagramm ihres Vornamens Arthénice nannte. En Phébus, in Phöbus' Reich, hiessen diese poetischen Decknamen, deren wir in dieser Dichtung ja mehrere antreffen. Im Hôtel de Rambouillet (mit seiner »Kammer Arthénices« und »Zyrphäas Loge«) traf die vornehme preziöse Welt mit den bürgerlichen Schöngeistern, den Dichtern Voiture, Godeau, Gombaud, Ménage, zusammen, und in diesen poetischen Turnieren entspannen sich oft heisse Wettkämpfe um ein Sonnett.

Rostands Kunst ist eine späte, sich selbst zersetzende Virtuosenkunst, die die heroische Maske, die Pose des sterbenden Fechters liebt, ohne sie ernst zu nehmen; sie ist das Satyrspiel nach der gewaltigen Tragödie der modernen Geisteskämpfe.


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