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Der Mitbegründer der Selektionstheorie.

Wenn Darwin gerühmt wird, geziemt es sich, auch des Mannes zu gedenken, der vor einem halben Jahrhundert, ganz unabhängig von ihm, zu den gleichen Ideen über die Artenentstehung mittels natürlicher Auslese gelangte. Dieser Mitbegründer. der Selektionstheorie ist der greise Forscher Alfred Russell Wallace (spr. ŭólles), der erst vor drei Jahren eine zweibändige Selbstbiographie (» My life, a record of events and opinions«) veröffentlicht hat. Er ist am 8. Januar 1823 zu Usk in Monmouthshire geboren, wurde zuerst Landvermesser und 1846 Hilfslehrer in Leicester, wo ihm eine gute öffentliche Bibliothek die Möglichkeit bot, die Lücken der eigenen unzureichenden Schulbildung auszufüllen. Neben Alexander v. Humboldts Schriften machte vor allem einen tiefen Eindruck auf ihn des englischen Nationalökonomen R. Malthus damals berühmter »Versuch über die Prinzipien der Bevölkerung«, nach dem es jeweilig eine vom Stande der Technik und der Kultur abhängige Grenze für die Vermehrung der Bevölkerung gibt, deren unbedingte Zunahme schließlich zu einem Mißverhältnis zwischen Bevölkerung und Unterhaltsmitteln führen müßte. Die aus gesteigerter Fruchtbarkeit entspringende Übervölkerung ist die eigentliche Ursache für den Daseinskampf oder verschärft ihn zum wenigsten sehr. »Bis dahin hatte ich noch kein Werk gelesen,« schreibt Wallace, »das sich mit Problemen philosophischer Biologie beschäftigte; seine hauptsächlichen Grundsätze verblieben mir als dauerndes Besitztum und gaben mir zwanzig Jahre später den lange gesuchten Schlüssel zu dem wirkenden Faktor in der Entwicklung organischer Arten.« Sehr merkwürdig ist es, daß auch Darwin durch dasselbe Werk auf die Selektionstheorie gekommen zu sein bekennt. Er las es im Oktober 1838, »und da ich hinreichend darauf vorbereitet war,« heißt es in seiner Selbstbiographie, »den überall stattfindenden Kampf um die Existenz zu würdigen, namentlich durch lange fortgesetzte Beobachtungen über die Lebensweise von Tieren und Pflanzen, kam mir sofort der Gedanke, daß unter solchen Umständen günstige Abänderungen erhalten zu werden neigen und ungünstige zerstört zu werden. Das Resultat hiervon würde die Bildung neuer Arten sein. Hier hatte ich denn nun endlich eine Theorie, mit der ich arbeiten konnte; ich war aber so ängstlich darauf bedacht, Vorurteile zu vermeiden, daß ich mich entschloß, eine Zeitlang auch nicht einmal die kürzeste Skizze davon niederzuschreiben. Im Juni 1842 gestattete ich mir erstmals die Befriedigung, einen ganz kurzen Abriß meiner Theorie, 35 Seiten lang, mit Bleistift niederzuschreiben, und dieser wurde dann während des Sommers 1844 zu einem zweiten von 230 Seiten erweitert.«

Wallace machte in Leicester die Bekanntschaft des durch seine Forschungen über Mimikry (Schutzfärbung und -zeichnung, sowie Nachäffung einer Tierart durch die andere) bekannten Entomologen H. W. Bates, der ihm seine Sammlungen zeigte, und mit dem er auch, nachdem Bates jene Stadt verlassen hatte, im Briefwechsel blieb. Schon damals beschäftigte ihn angelegentlich die Frage nach Konstanz der Arten und der Entstehung neuer Arten. Im September 1848 schiffte sich Wallace mit Bates nach Pará in Brasilien ein und durchforschte nun von dort vier Jahre lang das Stromgebiet des Amazonas und des Rio Negro. 1852 ging er nach England zurück, büßte aber auf der Überfahrt durch den Brand des Schiffes seine wertvollen Sammlungen von Vögeln und Insekten und seine Aufzeichnungen ein. Kaum in London angelangt, entwarf er bereits neue Reisepläne, die Zeit bis zu ihrer Ausführung mit Studien und der Anknüpfung von Beziehungen zu den Männern der Wissenschaft ausfüllend.

Im Februar 1854 ging Wallace nach dem Malaiischen Archipel und dort gewann er nun die Überzeugung, daß das Problem der Artentstehung durch das Überleben des Passendsten im Kampfe ums Dasein zu lösen sei. Sofort machte er sich an die Ausarbeitung dieses Gedankens und sandte die Abhandlung. »Über die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt von dem Originaltypus abzuweichen« an Darwin, der sie im Juni 1858 erhielt. Er richtete an ihn die Bitte, von dem Manuskript Kenntnis zu nehmen und es dann an Lyell zur öffentlichen Vorlesung in einer Sitzung, der Linnean Society zu London weiterzugeben. Darwin hatte inzwischen seine eigene Skizze einigen vertrauten Freunden mitgeteilt, sich aber trotz Lyells Mahnungen immer noch nicht entschließen können, mit einem größeren Werke über seine Theorie an die Öffentlichkeit zu treten. Nun sah er, daß Wallace durch ganz unabhängiges Denken zu der gleichen Anschauung, von der Artentstehung durch natürliche Zuchtwahl gekommen sei, die er selbst in dem Werke aussprach, an dem er noch arbeitete. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich seine ganze moralische Größe: trotzdem er Gefahr lief, daß ihm der Ruhm der Priorität entrissen, daß ihm das Hauptergebnis zwanzigjähriger Forschung in der Öffentlichkeit vorweggenommen wurde, wollte er zugunsten von Wallace zurücktreten. »Ich würde viel lieber mein ganzes Buch verbrennen,« schrieb er an Lyell, »als daß er oder irgend jemand anders denken sollte, ich hätte mich in einer elenden Weise benommen. Glauben Sie nicht, daß mir durch die Zusendung dieser Skizze die Hände gebunden sind?« Lyell und Hooker aber bestanden darauf, daß. gleichzeitig mit dem Aufsatze von Wallace auch ein Auszug der von Darwin 1844 niedergeschriebenen Skizze in der Linnéschen Gesellschaft vorgelesen würde. Dies geschah dann am 1. Juli, und beide Abhandlungen wurden auch in dem Journal der Gesellschaft veröffentlicht. Wallace, selbst ein makelloser Charakter, hat, nachdem er den Sachverhalt erfahren hatte, Darwin das Zeugnis ausgestellt, vollkommen tadellos gedacht und gehandelt zu haben. Im Jahre 1870 schrieb ihm Darwin, dessen Werk über die »Entstehung der Arten« Wallace mit höchster Bewunderung erfüllt hatte: »Ich hoffe, es ist Ihnen eine Genugtuung zu denken – und sehr wenig Dinge in meinem Leben haben mir größere Genugtuung bereitet –, daß wir niemals eine Spur von Eifersucht gegeneinander gehegt haben, obgleich wir doch in gewissem Sinne Rivalen sind. Ich glaube, ich kann das von mir selbst in Wahrheit sagen, und ich bin absolut gewiß, daß es von Ihnen wahr ist.«

Obwohl Wallace, der im Frühjahr 1862 nach England zurückgekehrt war, in mancher Hinsicht von Darwins Theorien abweicht, muß er doch als der Mitbegründer der Selektionstheorie anerkannt werden, die er durch wertvolle Untersuchungen wesentlich gefördert hat. Von der Aufzählung seiner zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, von denen die späteren namentlich die geographische Verbreitung der Tiere behandeln, können wir hier wohl Abstand nehmen. Eifrig hat er, dem Gerechtigkeit als das höchste Gesetz der Menschheit gilt, sich auch auf sozialpolitischem Gebiete betätigt und ist, durch Spencer und Stuart Mill beeinflußt, nachdrücklich für Bodenreform eingetreten. Seit 1889 aber hat er sich, nachdem Bellamys utopischer Roman » Looking backward« tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte, von der individualistischen Wirtschaftspolitik ganz abgewendet und ist Sozialist geworden. Zur Vervollständigung dieser Skizze muß endlich noch angeführt werden, daß Wallace – wie sein Landsmann, der Physiker und Chemiker W. Crookes, der französische Astronom C. Flammarion und der verstorbene deutsche Astronom und Physiker J. [= Johann] K. Fr. Zöllner – überzeugter Spiritist ist und für die Realität der sogen, spiritistischen Erscheinungen mit aller Entschiedenheit eintritt.

I. Paul

Miszellen.

Bischof und Naturforscher. Nur selten ist das Werk eines Naturforschers mit eurem solchen Sturm von Haß, Entrüstung und ähnlichen Empfindungen aufgenommen worden, wie Darwins Buch über die Entstehung der Arten. Überall erhoben sich neben den wissenschaftlichen Vertretern der alten Anschauungen die eifernden Frömmler, um es, als gegen die heil. Schrift gerichtet, zu verdammen und seinen Verfasser mit ihm. Auch in einer Versammlung der British Association zu Oxford gab es am 28. Juni 1860 einen heftigen Redekampf für und gegen Darwin, und am 30. entbrannte die Schlacht mit verdoppelter Wut anläßlich einer Abhandlung des amerikanischen Gelehrten J.[= John] W. Draper: »Die intellektuelle Entwicklung Europas in bezug auf die Ansichten Darwins.« Man wußte, daß der redegewandte Bischof von Oxford, Wilberforce, der bereits in einem für die » Quarterly Review« geschriebenen Artikel voll Anmaßung und Dünkel über Darwin hergefallen war, die Hauptrede halten würde, und die allgemeine Spannung war so groß, daß der zuerst in Aussicht genommene Hörsaal nicht entfernt ausreichte. Die Zuhörer begaben sich daher nach der Bibliothek des Museums, wo schließlich 700 bis 1000 Personen sich versammelt hatten. Darwin war nicht anwesend, auch sein Freund, Prof. Huxley, hatte nicht hingehen wollen; erst als ein zufällig auf der Straße getroffener Bekannter dies so deutete, als ob er die Sache des Fortschritts im Stiche lassen wollte, begab er sich in die Versammlung. Der Bischof redete eine halbe Stunde lang ebenso lebhaft wie oberflächlich und ungerecht. Sachverständige hörten deutlich heraus, daß er nichts aus erster Hand wußte, sondern einfach das wiedergab, was der Paläontologe Owen ihm eingegeben hatte. Zuletzt ging er zum Spott über und meinte: »Ich möchte Prof. Huxley, der neben mir sitzt und im Begriffe steht, mich in Stücke zu reißen, wenn ich mich niedersetze, über den Glauben an seine Abkunft von einem Affen befragen. Treten die Affen-Vorfahren auf der großväterlichen oder großmütterlichen Seite auf?« Er schloß mit der voll Salbung abgegebenen Erklärung, daß Darwins Ansichten den Offenbarungen Gottes in der heil. Schrift widersprächen. Huxley hatte mit Vergnügen die Blößen wahrgenommen, die der Würdenträger der Hochkirche sich in seiner Rede gab, und als dieser sich mit seiner unverschämten Frage an ihn wandte, flüsterte er seinem Nachbar zu: »Der Herr hat ihn in meine Hand gegeben.« Er wartete, bis er von der Versammlung aufgefordert wurde, zu entgegnen, und wies dann in seiner schneidigen Art nach, wie wenig kompetent überhaupt der Bischof zur Erörterung des Gegenstandes sei. Die Frage der Erschaffung berührend, fuhr er dann fort: »Sie sagen, die Entwicklungslehre beseitige den Schöpfer, behaupten aber, daß Gott den Menschen gemacht habe; und doch wissen Sie, daß Sie selbst ursprünglich ein kleines Stückchen Substanz gewesen sind, nicht größer als die Spitze dieses goldenen Bleistifthalters.« Zuletzt kam er auf die Abstammung vom Affen zu reden und fertigte den Bischof ab mit der Erklärung: »Ich würde mich auch nicht eines solchen Ursprungs schämen. Wenn es aber einen Vorfahren gäbe, dessen zu erinnern ich mich schämte, so wäre dies ein Mann von rastlosem und beweglichem Verstande, der – nicht zufrieden mit dem zweifelhaften Erfolge in seiner eigenen Tätigkeitssphäre – sich in wissenschaftliche Fragen einläßt, die er wegen unzureichender Kenntnis und durch eine zwecklose Rhetorik verdunkelt, indem er die Aufmerksamkeit der Hörer von dem wirklich in Rede stehenden Punkte durch beredte Abschweifungen und geschickte Berufung auf religiöses Vorurteil ablenkt.« Nach der Bekundung eines Augenzeugen war diese Zurückweisung so wohlverdient und unnachahmlich in ihrer Art, daß alle Anwesenden einen unvergeßlichen Eindruck von ihr empfingen. Es ist wohl zu verstehen, weshalb im Verein mit den »konservativen« Naturforschern die orthodoxen Glaubenseiferer es für nötig hielten, Darwins neue Lehren scharf zu bekämpfen, die ein solches Aufsehen erregten, daß die erste, am 24. Nov. 1859 ausgegebene Auflage von mehreren tausend Exemplaren des Werkes über die Entstehung der Arten im Handumdrehen vergriffen war. Auf die anfängliche erregte Zeit folgte dann die Epoche der ruhigen Kritik, und als Darwin gestorben war, beugte sich auch die Geistlichkeit seines Heimatlandes vor dem Genie des großen Gelehrten. Strenggläubige englische Geistliche bekannten offen, daß die neue Lehre sich sehr wohl mit dem alten Glauben vertrage, daß das Gesetz der Naturzüchtung » keineswegs im Gegensatz zur christlichen Religion stehe

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